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Ein Weihnachtsmärchen

I'm bastardized
cursed by sin
come on down to hell
watch the flames begin

(Savatage - By the Grace of the Witch)

CoverHüters Weihnacht

Weihnachtsgeschichten aus dem Universum des Hüters

Oliver Fröhlich

Ein Weihnachtsmärchen

Kinder vermisst

Seit gestern werden der 12-jährige Jack Logger und seine 10-jährige Schwester Margret vermisst. Die Kinder hatten mit ihren Eltern den Hamburger Weihnachtsmarkt besucht. Die amerikanischen Touristen wollten einen besinnlichen Abend verleben, doch bereits nach wenigen Minuten gingen die Kinder im Menschengewühl verloren. Zeugen haben die beiden zuletzt vor dem Zelt eines Spielwarenhändlers gesehen, danach verliert sich ihre Spur.

(Hamburger Abendblatt, 22.12.2007)

***

23.12.1807

Ein Lächeln lag auf Henriettes Lippen, als sie das kleine Puppenhaus aus dem Schaufenster nahm und stattdessen mit knotigen Fingern einen hölzernen Esel auf das kleine Podest stellte.

Sie mochte Kinder! Deshalb führte sie mit ihrem Bruder Matthias einen Spielwarenladen.

Gewiss, der Laden war nichts Besonderes. Er war klein, unordentlich, staubig. Die Scheibe des Schaufensters war schmutzig, an einigen Stellen sogar blind, und das Glöckchen über der Eingangstür klang eher jämmerlich als fröhlich.

Dennoch kamen die Kinder der Stadt immer wieder gerne hierher. Gerade presste schon wieder ein Mädchen seine Nase gegen das beschlagene Glas. Große Augen starrten unter einer Wollmütze hervor auf den Esel, den Matthias’ Schnitzmesser erst gestern Abend aus einem unförmigen Stück Holz geschält hatte.

Henriette winkte dem Mädchen zu. Scheu lächelte es zurück. Seine Nase war knallrot und sein Atem kondensierte in der Dezemberkälte. Henriette überlegte gerade, ob sie das Mädchen hereinbitten sollte, da wurde es von einer ausgezehrten Frau mit stechendem Blick weggezerrt.

Wahrscheinlich die Mutter der Kleinen.

Henriette zuckte mit den Schultern. Dann eben nicht. Es würden noch andere Kinder kommen, denen sie ihre Spielsachen zeigen konnte. All die Schaukelpferde, Strohpuppen, Holzsoldaten, Trommeln und Kreisel. Sie hatte sogar ein paar Porzellanpüppchen.

Während sie den Kindern all ihre Schätze zeigte, würde sie mit ihnen Bonbons und Zuckerstangen lutschen, denn Henriette führte auch immer ein breites Angebot an Naschwerk. Schließlich wollte sie, dass die Kinder sich wohl fühlten in ihrem Laden. All die Kuchen und Plätzchen waren es vermutlich auch, die die Kleinen hierher lockte.

Oh ja, Henriette mochte Kinder.

„Ich gehe zum Weihnachtsmarkt“, hörte sie die Stimme ihres Bruders Matthias hinter sich. „Brauchst du etwas?“

Sie sah noch einen Augenblick dem Mädchen hinterher, das seiner Mutter durch den Schnee nachstapfte, dann drehte sie sich um.

„Sei doch so gut und bring mir ein schönes Stück Fleisch mit. Der Junge hat in den letzten Tagen zwar schon etwas zugenommen, aber er ist immer noch so schrecklich dünn.“

„Natürlich, Schwesterherz“, sagte Matthias. Das Glöckchen über der Tür ächzte ein blechernes Glink, als er den Laden verließ.

Henriette seufzte und runzelte die Stirn.

Was sollte sie nur mit dem Jungen machen? Seit ein paar Tagen aß er nicht mehr, wie es sich für einen Zehnjährigen gehörte. Er kränkelte, hatte Temperatur und schlief fast den ganzen Tag.

Na ja, aber Henriette würde ihn schon wieder aufpäppeln. Mit der richtigen Pflege und gutem, nahrhaftem Essen kam er sicherlich wieder zu Kräften. Morgen würde es ihm schon besser gehen und übermorgen wäre er wieder ganz der Alte. Bestimmt würde es nicht länger als eine Woche dauern, bis sie das große Festmahl abhalten konnten.

Sie musste lächeln, als sie daran dachte.

Ihr Blick wanderte zur Tür hinter dem Verkaufstresen. Vielleicht sollte sie mal nach dem Jungen sehen!

Sie ging hinter den dunklen Ladentisch und blieb vor dem Setzkasten stehen, der neben der Tür hing. In den Fächern stand ihr ganzer Stolz: fünf Porzellanpüppchen, keine größer als ein Fingerglied.

„Wo schaust du denn hin, Süße?“, fragte sie die Figur einer pausbäckigen Magd und rückte sie zurecht. „Immer zum Eingang! Immer die Kunden anlächeln!“

Sie kicherte, dann öffnete sie die Tür.

Eine kurze Treppe führte hinunter in einen felsigen Keller, der vom flackernden Licht zweier Öllampen mehr schlecht als recht beleuchtet wurde.

Der muffige Geruch nach feuchtem Heu kroch ihr in die Nase. Sicherlich, nicht gerade ein betörender Duft, aber sie hatte sich daran gewöhnt.

Und der Junge würde ihn nicht mehr lange ertragen müssen!

Im hintersten Eck des Kellers stand ein kleiner Käfig. Darin lag der Junge auf seinem Strohlager, zusammengerollt wie ein Hundebaby. Auf dem Boden vor den Gitterstäben stand ein Tablett. Der Wasserkrug war fast leer, der Becher mit der Milch ebenfalls. Aber den Apfel, den Kuchen und das frische Brot mit geräuchertem Schinken hatte der Junge nicht angerührt.

Henriette blieb vor dem Käfig stehen und seufzte.

Einige Sekunden schaute sie den Jungen an. Seine Augen waren geschlossen. Die gleichmäßigen Atemzüge verrieten ihr, dass er schlief. Schon wieder. Oder immer noch. Wer wusste das schon genau? Beide Hände hatte er unter die linke Wange geschoben und benutzte sie so als Kopfkissen.

„Ach, mein liebes Kind. Warum isst du nur so wenig? Du musst doch wieder zu Kräften kommen!“

Sie griff in den Käfig und zog behutsam eine Hand des Jungen unter dem Gesicht hervor. Er stöhnte leise und murmelte ein paar unverständliche Laute, wachte aber nicht auf.

Henriette strich über das Gesicht des Jungen, streichelte die Spuren, die die Tränen in den Schmutz der Wangen gewaschen hatten, und lächelte ihn an. Dann fühlte sie nach seinem Handgelenk und seinen Fingern.

„Was bist du nur mager! Aber das werden wir ganz gewiss ändern! Wenn nötig, werde ich dir das Essen eigenhändig hineinstopfen!“

Ja, Henriette mochte Kinder. Vor allem, wenn sie schön fett und knusprig gebraten waren.

***

23.12.2007

Christine schlug die Augen auf. Im ersten Augenblick wusste sie nicht, wo sie war.

Im zweiten Augenblick erkannte sie, dass sie im Abteil eines fahrenden Zuges saß. Sie musste eingeschlafen sein, als sie ...

Als sie was?

Christine fuhr von der Sitzbank hoch.

Im dritten Augenblick wusste sie, wo sie sich befand, hatte aber nicht den Hauch einer Ahnung, wie sie hierher gekommen war.

Sie sah aus dem Fenster. Draußen herrschte stockfinstere Nacht. Schemenhaft konnte sie ein paar Büsche und Bäume erkennen, die vorbeihuschten.

Das war aber auch schon alles. Keine Lichter einer Stadt, keine Autoscheinwerfer, nichts!

Sie musste auf einer Überlandfahrt sein.

Mitten in der Nacht!

Und ohne Mark oder Hinnerk!

Sie schüttelte den Kopf und sah an sich herab.

Sie trug einen roten Daunenanorak, Handschuhe und Fellstiefel.

Richtig! Jetzt fiel es wieder ein! Sie war mit Mark und Hinnerk über den Weihnachtsmarkt spaziert. Es war fürchterlich kalt gewesen, also hatten sie an einem Glühweinstand Halt gemacht.

Während Mark und Hinnerk dieses widerlich riechende Gesöff in sich hineingeschüttet hatten, hatte sie sich etwas umgesehen und ...

... dann war sie in diesem Zug aufgewacht.

Aber was war dazwischen geschehen?

Sie runzelte die Stirn und betrat den Mittelgang zwischen den Sitzbänken. Ihr Blick huschte einmal durch den ganzen Wagen. Niemand zu sehen. Langsam ging sie auf die Glastür zu, die den Waggon vom nächsten trennte.

Sie sah auf jeder einzelnen Sitzbank nach, ob nicht vielleicht doch ein Passagier darauf lag und schlief, so dass sie ihn bisher nur nicht hatte entdecken können. Aber da war niemand.

Als sie den Waggon durchquert hatte, drückte sie mit der flachen Hand die Glastür auf und betrat den nächsten. Auch er war menschenleer.

Vielleicht konnte sie ja weiter vorne einen Schaffner finden. Auch wenn sie nicht wusste, was sie ihm erzählen sollte, könnte er ihr wenigstens verraten, wohin ihre Reise ging.

Doch auch von einem Schaffner war nichts zu entdecken.

Das konnte es doch gar nicht geben! Irgendwer musste doch in diesem Zug sein!

Sie durchsuchte alle Waggons, sah sogar unter den Sitzbänken nach. Vergeblich.

Sie war mutterseelenallein!

Die Toiletten! Sicher war der Schaffner nur auf dem Klo!

Doch als sie vor einer der WC-Türen stand und sie öffnen wollte, erlebte sie die nächste Überraschung: Die Tür war eine Attrappe!

Der Griff war unbeweglich. Die Fuge zwischen Tür und Wand war nur durch eine wenige Millimeter tiefe Rille angedeutet.

Sie lief in den nächsten Waggon, in den übernächsten und in den danach. Überall war das Ergebnis das gleiche: Wände, in die der Anschein von Türen hineinmodelliert worden war.

Was ging hier vor? Warum war niemand hier? Was war mit diesem Zug los?

„Hallo?“, rief sie. „Ist hier jemand?“

Keine Antwort.

Tränen stiegen ihr in die Augen.

Was war nur geschehen? Wie war sie hierher gekommen? Warum hatten Mark und Hinnerk sie im Stich gelassen?

Sie ging den Weg zurück, den sie gekommen war. Erst langsam, dann schneller. Schließlich rannte sie.

„Hallo?“, rief sie immer wieder. „Ist hier jemand? Hallo? Irgendjemand?“

Sie rannte und rief. Doch mit jedem Schritt verwandelte sich das Rufen mehr in ein Schluchzen.

Christine erreichte einen Waggon, der keine Glastür auf der anderen Seite hatte.

Das Ende des Zugs!

Abrupt bremste sie ab und schlich durch diesen letzten Waggon.

„Hallo?“, wimmerte sie. „Ist da wer? Bitte, irgendjemand muss doch hier sein!“

Sie drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Dann sank sie daran herunter. Als sie auf dem Boden kauerte, umklammerte sie die angewinkelten Beine mit den Armen und vergrub den Kopf zwischen den Knien.

Ihr Körper erbebte unter stummem Schluchzen.

Was soll ich denn jetzt tun? Ich will nach Hause! Ich will nicht in diesem blöden Geisterzug sitzen! Ich will heim nach Hüll, in der Küche mit Hinnerk eine Cola trinken, etwas fernsehen oder mich tierisch langweilen. Egal was! Nur raus aus diesem dämlichen Zug! Ich bin doch nur ein Kind!

Nein, schalt sie sich im nächsten Augenblick. Du bist nicht nur ein Kind. Du bist der Schatz. Du warst schon in der Gewalt von Vampiren. Du wirst von der Schwarzen Familie gejagt, weil sie das fürchtet, was du bist! Und du hast Angst vor so einem blöden Zug? Reiß dich zusammen! Hör auf mit dem Geflenne!

Christine hob den Kopf. Der Jeansstoff war an den Knien nass von Tränen und Rotz.

Reiß dich zusammen!

Ihr Blick tastete das Innere des Waggons ab. Was konnte sie tun? Wie kam sie aus dieser ...

Da! Die Notbremse!

Aber wenn die auch nur eine Attrappe ...

Sieh nach, dann weißt du’s!

Christine rappelte sich hoch. Den roten, verführerischen Griff ließ sie dabei keine Sekunde aus den Augen.

Man darf in einem Zug nicht die Notbremse ziehen!

Ach was! Wer will es dir denn verbieten? Der nicht vorhandene Schaffner auf dem nicht vorhandenen Klo hinter der nicht vorhandenen Tür?

Auch wieder wahr!

Mit entschlossenen Schritten ging sie auf den Griff zu und streckte die Hand danach aus. Doch kurz bevor ihre Finger das Metall berührten,

(oder vielleicht doch nur Plastik?)

huschte am Zugfenster ein Licht vorbei. Dann noch eines und noch eines.

Plötzlich bremste der Zug ab. Nicht so heftig, als hätte Christine tatsächlich die Notbremse gezogen, sondern sanft und behutsam, als würde der Zug in einen Bahnhof einfahren.

Die Lichter!

Sie gehörten zu großen Masten, die die Strecke säumten, zu einer großen Werbetafel, auf der ein zahnlückiges Kind ein Eis am Stiel der Marke Schlurpi anhimmelte,

(Schlurpi? Gab es wirklich ein Eis mit so einem beknackten Namen?)

zu einem Haus aus hellen Steinen, vor dem eine Reihe ungemütlich aussehender Sitzbänke stand.

Der Zug fuhr tatsächlich in den Bahnhof ein!

Christine atmete auf. Gleich würde diese absonderliche Reise enden und mit ihr hoffentlich dieser Albtraum!

Kaum hatte Christine diesen Gedanken zu Ende gebracht, wusste sie auch schon, dass es ganz so einfach nicht werden würde. Etwas dort draußen jenseits des Fensters kam ihr ... falsch vor. Sie konnte nicht sagen, was es war, aber irgendetwas war hier ganz entschieden nicht in Ordnung.

Mit einem leichten Ruck kam der Zug zum Stehen.

Christine bemerkte, dass sie noch immer mit ausgestrecktem Arm dastand, die Fingerspitzen nur Millimeter vor dem Griff der Notbremse.

Sie ließ den Arm sinken, schnaufte tief durch und ging zu der Tür, die aus dem Waggon führte.

Nach draußen, in die Freiheit!

Tatsächlich?

Vielleicht war diese Tür genauso falsch wie die zu den Toiletten! Vielleicht waren nur die Glastüren zwischen den Waggons echt. Vielleicht gab es gar keine Welt mehr außerhalb dieses Zugs! Vielleicht ...

Noch bevor der Gedanke zu übermächtig werden konnte, drückte Christine auf den Ausstiegsknopf in der Wand, und mit einem lauten Zischen glitt die Tür vor ihr zur Seite.

Christine machte einen Schritt nach vorne, zögerte noch einen Augenblick und stieg dann aus.

Kaum hatte sie den Bahnsteig betreten, wusste sie, was hier nicht in Ordnung war. Die Erkenntnis sprang sie an wie ein hungriger Hund.

Hier (wo auch immer hier war) herrschte kein Winter!

Es lag kein Schnee, keine Eiszapfen hingen am Dach der Bahnhofshalle und es war warm.

Christine zog die Handschuhe aus und öffnete ihren Anorak.

Wo war sie hier? Wann war sie hier?

Sie zuckte zusammen, als sie hinter sich ein Zischen hörte.

Mit hämmerndem Herzen wirbelte sie herum, doch es war nur die Zugtür, die sich wieder geschlossen hatte.

Sie steckte die Handschuhe in die Seitentaschen des Anoraks und wandte sich wieder der Bahnhofshalle zu.

Nun gut, die Bezeichnung Bahnhofshalle war maßlos übertrieben. Vielmehr handelte es sich um ein kleines, zweistöckiges Gebäude aus hellen Ziegeln. Ebenerdig sah sie vier geschlossene Türen, über denen je ein Fenster mit grünen Läden war. Zwischen dem zweiten und dem dritten Fenster hing eine große, runde Uhr, die wie ein überdimensioniertes Auge auf sie herabstarrte.

Fünf Minuten vor vier.

Christine fühlte, wie ihre Knie zu zittern begannen. Als sie mit Mark und Hinnerk den Weihnachtsmarkt besucht hatte, war es gerade mal fünf Uhr gewesen, spätestens halb sechs!

Ihr fehlten fast elf Stunden!

Elf Stunden, in denen sie irgendwie in diesen gruseligen Zug geraten sein musste, der sie dann wer weiß wie weit in der Weltgeschichte herumgefahren hatte.

Unter der Uhr prangte ein rechteckiges weißes Schild, das von zwei Scheinwerfern beleuchtet wurde.

„Neufeld“, las sie mit brüchiger Stimme vor.

Aha, Neufeld also. Und wo bitte schön war das?

Der Name klang deutsch, aber warum war dann hier kein Winter?

Obwohl es nicht kalt war, fröstelte sie plötzlich.

Sie hatte Durst und wollte heim. Stattdessen stand sie verlassen auf dem Bahnhof eines Ortes, von dem sie noch nie gehört hatte. Außerdem war es mitten in der Nacht!

Das einzige Licht kam von den Lampen auf dem Bahnsteig und den Masten neben den Gleisen, von der Beleuchtung des Ortsschildes und von der Schlurpi-Eis-Tafel. Nicht einmal die Sterne oder den Mond konnte sie entdecken! Der Himmel war finster, finsterer, am finstersten. Als läge eine schwarze Decke über der Welt.

Sie hatte noch nie einen so dunklen Himmel gesehen!

Wie ein alter Bekannter klopfte ihr eine Frage auf die Schulter: Was willst du als nächstes tun?

Vielleicht fand sie irgendwo eine Telefonzelle! Dann könnte sie Mark anrufen und ihn bitten, sie in Neufeld abzuholen. Möglicherweise wusste wenigstens der Hüter, wo dieses Kaff war.

Apropos Kaff: Bereits vorhin war Christine aufgefallen, dass es außer der Beleuchtung des Bahnhofs stockfinster war. Doch erst jetzt wurde ihr die Bedeutung dieser Beobachtung klar.

Neufeld konnte zwar voller Stolz einen Bahnhof sein Eigen nennen, das war es dann aber auch schon. Von einer Stadt, von Häusern, von Straßenbeleuchtung war nichts zu sehen. Auch zu hören war nichts! Keine vereinzelten Motorengeräusche, bellende Hunde, Sirenen oder was man sonst in einer Stadt nachts alles hören konnte. Stattdessen umgab sie Grabesstille.

Doch halt! Das stimmte nicht!

Da gab es doch einen Geräuschteppich, der so gleichmäßig war, dass sie ihn gar nicht bewusst wahrgenommen hatte. Was war das? Es klang wie Stimmengemurmel. Unverständliches, andauerndes, leises Gebrabbel.

Christine hielt den Kopf schief, versuchte die Quelle des Geräuschs zu orten, aber es gelang ihr nicht. Sie drehte sich etwas nach links, dann etwas nach rechts, nach hinten, nach vorn. Das Gemurmel kam aus allen Richtungen gleichzeitig.

Wie war das möglich?

Und plötzlich hörte sie eine dröhnende Männerstimme. Von allen Seiten stürzte sie auf Christine ein wie ein brüllendes Inferno: „Jetzt sind alle beisammen!“

Christine riss den Kopf hoch, wollte schreien, wollte fragen, wer da sei, doch sie kam nicht mehr dazu.

Über ihr flammte eine Sonne auf und zerrte den Neufelder Bahnhof und alles, was ihn umgab, aus der Finsternis. Tausende greller Nadeln malträtierten Christines Augen.

Sie schlug die Hände vors Gesicht und sank mit einem dumpfen Stöhnen auf die Knie.

Als sie die Stimme erneut hörte, verkrampfte sich ihr Magen und ihr wurde kotzübel.

„Hol sie dir! Nimm dir ihre Seelen und ihr Fleisch, und dann komm zurück zu mir!“

***

23.12.1807

Henriette zuckte zusammen, als sie von oben das blecherne Glink der Ladentürglocke hörte.

Kundschaft! Ausgerechnet jetzt!

Sie ließ die Hand des Jungen los, doch selbst als seine Finger auf den Steinboden schlugen, wachte er nicht auf.

So flink es ihre alten, schmerzenden Beine zuließen, eilte sie die Kellertreppe hoch.

Es wurde Zeit, dass sie ihr Festmahl abhielt, denn dann würde das Ziehen und Reißen in ihren brüchigen Knochen und schlaffen Muskeln endlich aufhören. Selbst wenn es nur für ein paar Monate war! Wenn es dann wieder losging, würde sie sich eben das nächste Kind suchen.

„Ich bin schon unterwegs“, flötete sie nach oben. Nicht, dass ihre Kundschaft herunter kam und ihr kleines Geheimnis entdeckte!

Wenige Sekunden später hatte sie den Ladenraum erreicht und schloss die Kellertür hinter sich.

„Da bin ich auch schon!“

Auf der anderen Seite des Tresens standen zwei etwa zwanzigjährige Männer und musterten sie aus zusammengekniffenen Augen. Sie waren in schwere Wollmäntel gehüllt, auf deren Schultern noch Schnee lag. Beide hatten eine große Nase mit einem auffälligen Höcker. Auch sonst sahen sie sich sehr ähnlich. Vermutlich waren sie verwandt. Brüder vielleicht oder Cousins.

„Womit kann ich dienen?“

Der Linke öffnete den Mantel, griff hinein, holte einen Zinnsoldaten heraus und stellte ihn auf den Tresen.

Henriette warf nur einen kurzen Blick darauf und lächelte.

„Oh, das tut mir Leid“, sagte sie. „Wir verkaufen nur!“

„Wir wollen die Figur auch nicht verkaufen“, sagte der Linke. Seine Stimme klang weich und melodisch. „Erklär du es ihr, Jakob!“

„Wir suchen etwas, das zu dem Soldaten passt“, sagte der rechte Mann.

„Da kann ich den Herren einige sehr schöne Stücke ...“

„Sie versteht es immer noch nicht, Wilhelm!“, sagte Jakob.

„Nein, sie versteht es in der Tat noch nicht“, erwiderte Wilhelm. Er griff noch einmal in seinen Mantel und holte diesmal einen Holzstab hervor, dessen eines Ende rot angestrichen war.

„Vielleicht versteht Ihr besser, wenn ich Euch das hier zeige“, sagte Wilhelm.

Er legte den Stab so auf den Tresen, dass das rote Ende auf Jakob zeigte. Doch kaum hatte er das Holz losgelassen, drehte sich der Stab wie eine Kompassnadel zur Kellertür hin.

„Dieser Zinnsoldat gehört einem kleinen Jungen. Sein Name ist Johannes. Es ist sein einziges Spielzeug.“

Als Henriette das hörte, wurde ihr die Kehle eng. Sie wusste nicht, wie der Junge in ihrem Keller hieß, aber sie fürchtete das Schlimmste.

„Er wird seit einigen Tagen vermisst“, sagte Wilhelm.

„Seine Eltern baten uns, nach ihm zu suchen“, ergänzte Jakob.

Henriette schluckte. „Und wie kann ich da behilflich sein?“

„Oh, Ihr braucht uns nur sagen, wo Ihr ihn versteckt haltet!“

Henriette schnappte nach Luft. „Das muss ein Scherz sein!“

„Nein, keineswegs! Der Soldat und der Blutkompass haben uns nach Tagen der Suche hierher geführt. Es besteht kein Zweifel.“

„Aber ...“

„Ihr braucht es nicht zu leugnen. Wir wissen alles! Wir wissen, dass Johannes hinter dieser Tür ist, und wir wissen, dass Ihr eine Hexe seid.“

Henriettes Gesicht lief rot an. „Jetzt reicht es aber! Wie kommt ihr dazu, so etwas zu behaupten?“

Nun griff Wilhelm in die äußere Manteltasche.

„Das hier ist ein Hexenlicht“, sagte er und legte eine hell strahlende Glaslinse auf den Tresen.

Mit einem Mal loderte ein Flammenmeer des Schmerzes durch Henriettes Körper. Sie glaubte, ihre gichtigen Gelenke würden explodieren, ihre spröden Knochen bersten.

„Die Wirkung des Hexenlichts brauche ich Euch nicht zu erklären. Ihr spürt sie gerade am eigenen Leib“, fuhr Wilhelm fort. „Wäret Ihr keine Hexe, so wäre die Linse von milchiger Trübheit. So aber bannt sie Euch ...“

„Rkalyt vorunik“, begann Henriette zu murmeln.

„... und schützt uns vor Euren bösen Zaubern. Ihr braucht gar nicht erst versuchen, Eure magischen Kräfte gegen uns einzusetzen.“

Doch Henriette murmelte weiter. Ihre Lippen waren pelzig, die Zunge fühlte sich an wie ein aufgeplatzter Tannenzapfen.

„Zurat yb loglyk“, krächzte sie.

Wilhelm grinste Jakob an. „Sie will mir nicht glauben, wie es scheint.“

Auch Jakob lächelte. „Spar dir deinen Atem, Hexe! Spar ihn dir für deinen Todesschrei!“

Henriettes Augen weiteten sich bei diesen Worten. Dennoch hörte sie nicht auf, den Zauber über ihre Lippen zu pressen. Sie stockte nicht, als Jakob und Wilhelm die Hände auf das Hexenlicht legten. Sie stockte nicht, als auch die beiden Männer begannen, einen Zauber zu wirken. Ihre Stimmen klangen jedoch wesentlich kräftiger als Henriettes.

Sie stockte auch nicht, als das Strahlen der Linse zu einem pulsierenden, grellen Licht wurde, so hell, dass sie die Adern und Knochen in den Händen der Männer sehen konnte.

Selbst als sich das Licht zu zwei fingerdicken Strahlen bündelte und in Henriettes Augen raste, hörte sie nicht mit dem Zauberspruch auf. Sie musste ihn unter allen Umständen zu Ende bringen! Wenn sie noch eine Chance haben wollte, durfte sie sich nicht ablenken lassen.

Unerträgliche Hitze breitete sich in Henriette aus, ließ ihr Blut gerinnen und verbrannte ihre Innereien. Ihre Haare knisterten, als sie sich zu verschmorten Würmchen zusammenrollten. Ein durchdringender Gestank stieg von ihnen auf. Flammen tänzelten über ihre Fingernägel, schlugen aus dem Mund, den Nasenlöchern und den Augen.

Jetzt endlich hörte Henriette damit auf, den Zauberspruch zu murmeln. Der Schmerz hatte ihr das Bewusstsein geraubt. Dennoch sank sie nicht in sich zusammen. Der Bann des Hexenlichts hielt sie auf den Beinen.

Wie eine menschliche Fackel stand sie hinter dem Tresen. Obwohl sie eine mörderische Hitze ausstrahlte, griff das Feuer nicht auf den Laden über. Es zerstörte lediglich den gottlosen Körper der Hexe.

Noch einmal loderten die Flammen auf, umhüllten Henriettes Gestalt, wirbelten um sie herum wie ein Tornado - und rasten zurück in die Linse unter den Händen der beiden Männer.

Jakob stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte über den Verkaufstisch. Auf dem Boden jenseits des Tresens entdeckte er eine Handvoll gräulicher Asche. Das war alles, was von der Hexe übrig geblieben war.

„Das wäre geschafft“, sagte er. „Und jetzt lass uns den Jungen holen.“

***

23.12.2007

Christine nahm die Hände von den Augen und versuchte, die Schlieren wegzublinzeln, die durch die nunmehr hell erleuchtete Landschaft schwebten.

Das Licht war nicht so grell, wie sie noch vorhin vermutet hatte. Es war ihr nur so vorgekommen, weil sie genau in die Quelle der Helligkeit geschaut hatte.

Sie erinnerte sich daran, wie sie als vier- oder fünfjähriges Kind einmal direkt in die Sonne gesehen hatte, weil sie gehofft hatte, Gott dahinter zu entdecken. Connor Baigent, ihr damaliger Hüter, hatte das glücklicherweise mitbekommen und das Mädchen von seinem gewagten Plan abgehalten. Mit netten, aber doch eindringlichen Worten hatte er Christine erklärt, dass man nie, nie, nie in das grelle Licht der Sonne schauen durfte, wenn man nicht riskieren wollte, danach gar kein Licht mehr zu sehen, weil man blind geworden war. Christine hatte ihm geglaubt, denn obwohl es nur der Bruchteil einer Sekunde gewesen war, den sie ihre Augen dem Licht ausgesetzt hatte, waren noch Minuten später graue Flecken und Schatten durch ihre Wahrnehmung geschwommen.

Dieselben Flecken und Schatten sah sie auch jetzt wieder, doch nach und nach klärte sich ihr Blick.

Sie zwinkerte ein paar Mal, um die letzten Schlieren zu vertreiben. Dann hob sie den Kopf und sah sich um.

Wie sie nun erkennen konnte, hatte sie mit ihren bisherigen Vermutungen Recht gehabt: Es lag tatsächlich nirgends Schnee, und Neufeld, die Weltstadt mit Herz, bestand wirklich nur aus Bahnhof.

So weit das Auge reichte, sah sie Nadelwälder und vereinzelte Laubbäume, die alle ihre Blätter noch hatten. Neufeld lag trotz seines Namens offenbar also nicht im vom Winter heimgesuchten Deutschland. Doch es gab noch etwas Anderes, ungleich Eigenartigeres, dass sie davon überzeugte, dass es nicht einmal auf dieser Welt lag.

Der Himmel war schwarz!

Es war taghell, die Sonne stand genau über ihr, und dennoch war dieser dämliche Himmel so schwarz wie Hinnerks Tabak.

War das überhaupt die Sonne? Seit wann pflegte die einfach aufzuflammen wie ein eingeknipster Halogenscheinwerfer? Und was war mit dieser fiesen Stimme, die sie gehört hatte?

Oder einfacher gefragt: Was zum Teufel war hier los?

Christine stand auf und wischte mit einer automatischen Bewegung den Dreck von den Knien.

Die Situation war so bizarr, dass die Panik, die sie noch im Zug heimgesucht hatte, verschwunden war. Dies hier musste ein Traum sein. Natürlich, was sonst? Also brauchte sie nur abzuwarten, bis sie wieder aufwachte.

Wenn da nur nicht diese leise Stimme in ihrem Hinterkopf gewesen wäre, die ihr immer wieder zuflüsterte, dass man im Traum gar nicht weiß, dass man träumt.

War das wirklich so? Hatte sie schon jemals geträumt und war sich dessen bewusst gewesen? Sie konnte sich nicht erinnern.

Wie auch immer! Sie konnte noch stundenlang hier stehen und über die Eigenarten von Schlafphasen philosophieren, ihre Lage würde das nicht verbessern.

Christine ging langsam zum Bahnhofsgebäude.

Ihr Blick fiel auf das Glotzauge der großen Uhr. Fünf Minuten vor vier. Immer noch.

War die Uhr stehen geblieben? Oder gar die Zeit?

Da erst erkannte sie, dass die Zeiger sich gar nicht bewegen konnten, weil sie auf das Ziffernblatt aufgemalt waren. Die Uhr stammte aus der gleichen Packung lustiger Mogeleien wie die Klotüren im Zug.

Christine fehlten also keineswegs elf Stunden, wie sie vorhin noch vermutet hatte. Vermutlich waren es viel weniger. Vielleicht waren es aber auch viel mehr ...

Sie legte die letzten Schritte bis zum Gebäude zurück, ging zur linken der vier Türen und wollte den Griff hinunterdrücken.

Es ging nicht. Er bewegte sich keinen Millimeter.

Natürlich nicht!

Gab es auf diesem Scheißbahnhof eigentlich etwas, das keine Attrappe war?

Sie probierte auch die anderen drei Türen - mit dem gleichen Ergebnis.

Plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel einen Schatten über den Bahnsteig huschen und hinter dem Eck der Bahnhofshalle verschwinden.

Christine fuhr herum.

„Hallo?“

Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie konnte es sogar in den Ohren wummern fühlen.

„Ist da jemand?“

Keine Antwort.

Sie zögerte ein paar Sekunden, dann ballte sie die Hände zu Fäusten, seufzte voller Inbrunst und sagte: „Ach, was soll’s!“

Dann rannte sie zu der Ecke, hinter der der Schatten verschwunden war. Sie flitzte um die Kurve - und prallte im nächsten Augenblick gegen ... ja, wogegen?

Ihre Hüfte stand für einen Moment in Flammen.

„Aua! Mann, Scheiße!“, plärrte Christine.

Vor ihr stand ein Hydrant.

„Du dämliches Ding!“, schimpfte sie.

Als der Schmerz in der Hüfte abebbte, ließ sie ihrer Wut freien Lauf und trat mit dem rechten Fuß gegen ihren knallroten Peiniger. Das Geräusch, das dabei entstand, klang dumpf und nicht die Spur metallisch.

Christine runzelte die Stirn und klopfte mit den Fingerknöcheln gegen den Hydranten.

Kein Zweifel! Das Ding war aus Kunststoff.

„Wo bin ich hier?“, murmelte sie. Dann hob sie den Kopf und schrie in den schwarzen Himmel: „Wo bin ich hier?“

Erwartungsgemäß erhielt sie keine Antwort.

Falsche Türen, aufgemalte Zeiger einer Uhr, Schlurpi-Eis, Kunststoff-Hydranten, leises Dauergebrabbel. Was sollte das alles?

Sie trat einen Schritt zurück und bemerkte, dass der Hydrant leicht schief stand. So, als habe sie ihn bei ihrem Zusammenstoß losgerissen.

Ihr Gehirnkino zeigte ihr Ausschnitte aus verschiedenen Filmen, in denen ein Auto einen Hydranten wegreißt und eine gewaltige Wasserfontäne aus dem Boden schießt. Sie konnte sich aber an keinen Film erinnern, in dem das auch ein rennendes Mädchen geschafft hätte.

Sie machte wieder einen Schritt nach vorne und packte den vermeintlichen Wasserspender an einem seiner Armstümpfe. Tatsächlich! Er ließ sich hin und her wackeln.

Christine ging auf die Knie und drückte den Hydranten in eine so schräge Stellung, dass sie darunter lugen konnte. Sie hatte mit Wasserleitungen, Rohren oder sonst was gerechnet, aber nicht mit dem, was sie da tatsächlich zu sehen bekam.

Zwischen dem Fuß des Hydranten und dem Boden zogen sich fingerdicke Fäden in die Länge, wie bei einem Kaugummi, auf den man versehentlich getreten ist.

Fast so, als wäre der Hydrant auf den Betonboden ...

... aufgeklebt worden?

Noch bevor Christine über diese Entdeckung nachdenken konnte, entdeckte sie den Schatten wieder, den sie verfolgt hatte. Ein Gesicht hinter der nächsten Ecke des Bahnhofsgebäudes. Doch kaum fiel ihr Blick am Hydranten vorbei zufällig in diese Richtung, schon zog ihr heimlicher Beobachter den Kopf zurück.

Christine sprang aus ihrer kauernden Haltung auf.

„Hallo, Sie! Warten Sie doch!“

Sie spurtete los und rannte an der Querseite des Hauses entlang. Sie sprang über ein paar kleine Blumenbeete oder sprintete kurzerhand durch sie hindurch, wenn sie zu breit zum Überspringen waren.

Nur unterbewusst nahm sie wahr, dass der Boden der Beete nicht aus Erde bestand, sondern aus faustgroßen braunen Kugeln. Die Blumen standen in voller Blüte und strahlten in den unterschiedlichsten Farben. Wieder kam ihr etwas höchst unecht vor, doch noch bevor sie den Gedanken festhalten konnte,

(die Blumen riechen nach nichts)

war er auch schon wieder verschwunden.

Sie hetzte an ein paar Parkbuchten vorbei, die bis auf einen roten VW Golf leer waren.

Endlich erreichte sie das Eck des Gebäudes, schlidderte herum - und sah wieder niemanden. Ihr Beobachter war verschwunden.

Christines Lunge pumpte wie ein Blasebalg.

„Langsam nervt’s“, keuchte sie.

Vor dem Bahnhof verlief eine Straße, die nach links und rechts im dichten Wald verschwand. In vielleicht dreißig Metern Entfernung sah sie die Seitenwand eines Bushäuschens, an der ein riesiges Plakat das Jahrhundertereignis ankündigte: ein Konzert der Band Shrinking Sausages!

Christine hatte noch nie von einer Band mit einem so bescheuerten Namen gehört, aber sie war sich sicher, dass ihre Mitglieder die Eismarke Schlurpi bevorzugten.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen die Bäume dicht an dicht. Wenn sich ihr Beobachter dort verkrochen hatte, hatte Christine nicht den Hauch einer Chance, ihn zu finden.

„Hallo?“, rief sie noch einmal. „Kommen Sie doch raus!“

Diesmal erhielt sie eine Antwort. Na ja, zumindest etwas Ähnliches.

Ein leises Weinen drang an ihr Ohr.

Woher kam es? Christine neigte den Kopf, wandte sich in alle Richtungen, doch dieser andauernde Brabbelteppich, dieses ständige Gemurmel machte es ihr nicht einfach, die Quelle des Weinens zu lokalisieren.

Da sah sie wieder das Gesicht, das schon vorhin hinter dem Hauseck vorgespäht hatte. Jetzt lugte es aus der Bushaltestelle hervor.

Wieder zog es sich sofort zurück, als Christine in seine Richtung schaute, doch diesmal hatte sie es deutlicher erkennen können: Es war das Gesicht eines Jungen!

Mit entschlossenen Schritten ging Christine auf das Bushäuschen zu. Als sie es erreicht hatte, blieb sie einen Augenblick stehen.

Wie sie nun erkennen konnte, war das Plakat mit der Werbung für das Jahrhundertereignis nicht aufgeklebt, sondern direkt auf die Wand gedruckt. Christines Überraschung darüber hielt sich in Grenzen.

Sie sah um die Seitenwand des Häuschens herum.

Im linken Eck kauerte ein braunhaariger Junge, der vielleicht Christines Alter hatte. Er trug eine dunkelblaue Winterjacke. In den Armen hielt er ein Mädchen mit blonden Haaren, das sein Gesicht gegen die Brust des Jungen drückte und leise vor sich hin wimmerte. Auf dem Rücken des rosa Anoraks war ein mit Mütze und Schal bekleideter Snoopy abgebildet, der einen Schneeball warf.

Der Junge strich dem Mädchen mit langsamen Bewegungen über den Kopf.

Als er Christine sah, wurden seine Augen groß und füllten sich mit Angst.

Christine hob die Arme. „Ist ja gut. Ich tu euch nichts.“ Sie versuchte, ihre Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen.

Offenbar war es ihr nicht gut genug gelungen, denn der Junge zuckte zusammen.

„Gehörst du zu ihr?“, fragte er auf Englisch. Ein Zittern lag in seiner zerbrechlichen Stimme.

Da erst wurde Christine bewusst, dass sie den Jungen auf Deutsch angesprochen hatte. Seit Mark Larsen ihr Hüter war, plauderte sie bestenfalls mit dem väterlichen Butler James auf Englisch, größtenteils aber unterhielt sie sich in Marks und Hinnerks Muttersprache. Das war ihr offenbar schon so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie sich dessen vorhin gar nicht bewusst geworden war.

„Keine Angst! Ich tu euch nichts“, wiederholte sie deshalb auf Englisch.

„Gehörst du zu ihr?“, fragte der Junge noch einmal.

„Wen meinst du?“

„Die böse Frau mit dem weißen Gesicht.“

Christine schüttelte den Kopf. „Ich kenne keine böse Frau mit einem weißen Gesicht.“

Der Junge entspannte sich merklich. Die Angst verließ seine Augen. Auch das Weinen des blonden Mädchens ließ nach und versiegte schließlich ganz.

„Ich bin Jack“, sagte der Junge. „Und das hier ist meine kleine Schwester Margret. Du musst die sein, auf die die böse Frau wartet.“

Christine runzelte die Stirn. Dann stellte auch sie sich vor. „Die böse Frau wartet auf mich?“, sagte sie anschließend. „Ich weiß doch gar nicht, wer das ist. Wo sind wir überhaupt?“

„In Neufeld“, sagte Jack. Er sprach es wie Njufeld aus.

„Das weiß ich auch“, erwiderte Christine. „Aber wo ist Neufeld? Was ist Neufeld? Seit wann seid ihr hier?“

Jack zuckte mit den Schultern. „Vielleicht einen Tag. Ich kann es nicht genau sagen. Seit wir hier sind, war es andauernd dunkel. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist.“

„Einen Tag? Ihr müsst ja umkommen vor Hunger und Durst!“

„Nein. Wir haben zwar weder etwas gegessen noch getrunken, Hunger oder Durst hab ich aber trotzdem nicht.“ Er stockte, dachte einen Augenblick nach. „Komisch eigentlich.“

Christine bemerkte, dass auch sie keinen Durst mehr hatte. Dabei hätte sie noch vorhin am Bahnsteig alles für eine Cola gegeben. Oder für ein Schlurpi-Eis, was das betraf.

„Hm ... Vielleicht wird es irgendwie magisch unterdrückt“, murmelte sie vor sich hin. In dieser Hinsicht war sie ja einiges gewöhnt.

„WAS?“, fragte Jack.

„Nichts. Ich hab nur laut gedacht. Weißt du noch, wie ihr hierher ...“ Christine unterbrach sich.

Jack und Margret?

Eine vage Erinnerung kämpfte sich durch Christines Hirnwindungen ans Licht. Heute Morgen hatte sie auf dem Sofa in der Küche gelegen und Die Ringe der Macht gelesen, ein Buch, das Hinnerk ihr wärmstens ans Herz gelegt hatte. Mark und Sabrina hatten gefrühstückt und ihre Nasen dabei in die Tageszeitung versenkt. Hatte Sabrina nicht etwas von zwei Kindern erzählt, die auf dem Weihnachtsmarkt verloren gegangen waren? Auf dem gleichen Weihnachtsmarkt, der auch Christines letzte Erinnerung vor dem Erwachen im Geisterzug war?

Wie war das doch gleich wieder? Ach ja, richtig!

„Ist euer Nachname Logger?“

Erstaunen schlich sich in Jacks Gesicht. „Ja! Woher weißt du das?“

„Über euch hat etwas in der Zeitung gestanden. Ihr werdet seit vorgestern vermisst.“

„Seit vorgestern? Dann sind wir ja schon zwei Tage hier!“

Christine nickte. „Ihr wart mit euren Eltern auf dem Weihnachtsmarkt. Genau wie ich. Weißt du noch, wie ihr hierher gekommen seid?“

„Nicht wirklich. Unsere Eltern sahen sich an einem Stand gerade irgendwelche langweiligen, pummeligen Engel an, als Margret dieses Zelt entdeckte. Matthews Spielzeugparadies, oder so ähnlich. Sie hat mich an der Hand gepackt und hingezerrt.“

In Christines Hinterkopf hob ein zartes Glöckchen zu einem Lied der Erinnerung an. Aber es war zu leise, als dass sie schon etwas hätte damit anfangen können.

„Und dann?“, fragte sie.

„Die Spielsachen waren ziemlich öd. Lauter alter Krempel, ewig viel Stoffpuppen und so. Mädchenkram eben.“ Er sah Christine in die Augen, bemerkte welchen Geschlechts sie war und räusperte sich. „Sorry.“

Christine lächelte. „Ist schon gut. Aus dem Puppenalter bin ich inzwischen heraus.“

„Wir wollten gerade wieder gehen, als ein älterer Mann uns ansprach. Muss wohl der Verkäufer gewesen sein, denke ich. Auf jeden Fall hat er uns gefragt, ob wir uns nicht erst noch im Nebenzelt umsehen wollen, wo er die richtig tollen Sachen stehen hat.“

Das Erinnerungsglöckchen bimmelte nun etwas lauter. War es bei Christine nicht genauso gewesen? Langweilige Spielsachen wie aus einem vergangenen Jahrhundert und die Aufforderung ins Nebenzelt zu gehen? Aber was war danach geschehen?

„Ich wollte ja nicht“, fuhr Jack fort, „aber Margret hat so gequengelt, dass ich nachgegeben habe. Wir wollten wirklich nur ganz kurz mal schauen, schließlich waren unsere Eltern draußen und suchten uns vielleicht schon. Also sind wir durch so eine Art Tunnel aus Zeltplane nach nebenan gegangen.“

Jack hob die Achseln.

„Was dann geschah?“, sagte er. „Keine Ahnung! Plötzlich saßen wir in einem menschenleeren Zug, der uns hier abgesetzt hat.“

Das Glöckchen war inzwischen wohl an einen Verstärker angeschlossen worden (vielleicht an den der Shrinking Sausages), denn seine Erinnerungsmelodie wurde immer drängender. Genau wie bei Jack und Margret war da auch bei Christine dieser Tunnel aus Zeltplane gewesen. Sie hatte ihn durchquert ...

„Bis auf die Beleuchtung am Bahnhof war es stockfinster. Wir haben uns auf eine Bank auf dem Bahnsteig gesetzt und gewartet. Und plötzlich war da diese Frau. Wir haben sie nur von Weitem gesehen. Ich weiß nicht, was mit ihrem Gesicht los war. Es war weiß und ... und ... hat auf die Entfernung eigentlich ganz nett ausgesehen.“

... sie war in das Nachbarzelt gegangen ...

„Aber dann hat sie angefangen zu kichern. So richtig schrill und gemein. Und sie hat gesagt, wir sollen unseren Aufenthalt hier genießen.“

... sie hatte sich umgesehen, konnte aber nichts Aufregendes entdecken ...

„Denn wenn das dritte Kind ankommt, wird sie wiederkommen und ...“ Jacks Stimme wurde brüchig. „... uns fressen. Seitdem hat Margret kein Wort mehr gesprochen. Also haben wir uns in diesem Bushäuschen verkrochen. Als ich dann vorhin den Zug hörte, bin ich zum Bahnsteig gelaufen, um im Schutz der Dunkelheit zu beobachten, wer da ankommt. Doch plötzlich ist das Licht angegangen und du hast mich gesehen.“

... weil in dem Zelt nur ein einziger Gegenstand zu sehen war. Wobei das nicht einmal stimmte, denn er war nicht zu sehen, weil ...

Christine schnappte nach Luft.

Oh Gott, konnte das wirklich sein?

„Hörst du mir eigentlich noch zu?“, fragte Jack. „Die böse Frau will kommen und uns fressen!“

„Ja, toll“, murmelte Christine. Dann, mit entschlossenerer Stimme: „Hör zu, ich muss mal eben was nachprüfen. Ich bin gleich wieder zurück.“

Noch bevor Jack zu einem Protest ansetzen konnte, war Christine aus dem Bushäuschen gerannt. Sie hetzte den Weg zurück, den sie vorhin gekommen war, um das Bahnhofsgebäude herum, über die geruchslosen Blumen hinweg zu der Parkbucht mit dem VW Golf.

Vor der Fahrertür blieb sie stehen. Sie presste ihre Nase gegen die Fensterscheibe.

Das Innere des Autos bestand aus Plastik. Fahrer- und Beifahrersitz, die Rücksitzbank, das Lenkrad. Alles Plastik. Einen Schalthebel oder eine Handbremse sah sie nicht.

Christine ging auf die Knie, legte sich schließlich auf den Rücken und schob ihren Oberkörper unter den Golf.

Ihr stockte der Atem, als sie genau das sah, was sie befürchtet hatte.

Der Unterboden des Wagens war eine geschlossene Plastikplatte, in die mit großen, nach rechts geneigten Buchstaben ein Wort geprägt war: MATCHBOX.

Sie kroch unter dem Auto hervor, stand auf und atmete tief durch.

MATCHBOX!

Dieser Golf war nichts weiter als ein blödes Spielzeugauto!

Und er war nicht etwa auf die Größe eines richtigen Autos gewachsen, sondern sie war geschrumpft!

In Gedanken versunken schlurfte Christine zurück zum Bushäuschen.

Jetzt war ihr alles klar! Das Einzige, was sie im Nebenzelt des Spielzeughändlers entdeckt hatte, war ein großer Tisch. Er war von einem schwarzen Tuch verdeckt gewesen, das wie ein Moskitonetz an einem Haken im Zeltgestänge befestigt war. Nur die Tischbeine schauten darunter hervor.

Sie hatte sich gerade enttäuscht abwenden wollen, als eine Stimme hinter ihr gesagt hatte: „Unter dem Tuch ist meine Spielzeugeisenbahn. Sieh sie dir in aller Ruhe an!“

Dann hatte sie einen harten Griff an der Schulter gespürt und ihr war schwindlig geworden. Schließlich musste sie das Bewusstsein verloren haben.

Die Stimme! Es war genau die gleiche gewesen, die sie auch auf dem Bahnsteig gehört hatte. Die Stimme des Spielzeughändlers.

Er musste ein Schwarzmagier sein, der sie geschrumpft hatte, um seine Eisenbahn mit ihnen zu bevölkern.

Der Zug, der Bahnhof, die aufgemalte Uhr, die geruchlosen Blumen. Alles nur Dekoration!

Die Sonne war auch keine Sonne, sondern eine Lampe, und der schwarze Himmel war das Tuch, mit dem der Tisch abgedeckt war.

Ach ja, und das Dauergebrabbel, das sie hörte, war die Geräuschkulisse des Weihnachtsmarktes, die durch das Zelt und das Tuch nur gedämpft zu ihr vordrang.

Alles gab plötzlich einen Sinn!

Nun ja, fast alles, denn wie die böse Frau mit dem weißen Gesicht in das Bild passte, wusste sie noch nicht. Aber sie war fest entschlossen, es herauszufinden.

„Ich weiß jetzt, wo wir sind“, begann sie, als sie das Bushäuschen erreichte. „Die gute Nachricht ist: Wir sind immer noch auf dem Weihnachtsmarkt. Die schlechte ...“

Das Bushäuschen war leer.

Ein eisiger Schauer überzog sie.

Mist! Sie hätte Jack und Margret nicht alleine lassen dürfen!

„Jack? Margret? Wo seid ihr?“

Christine verließ das Bushäuschen.

„Jack?“, schrie sie. „JACK?!“

Sie ging an den Shrinking Sausages vorbei und schaute hinter das Häuschen.

„Jack?“

Sie machte ein paar weitere Schritte, spähte um das nächste Eck - und sah genau in ein schneeweißes, freundliches Gesicht. Dann schoss eine genauso weiße, aber erheblich unfreundlichere Faust auf sie zu, traf sie an der Schläfe und zerrte sie in die Finsternis der Bewusstlosigkeit.

***

23.12.1807

Matthias stellte den Korb mit seinen Einkäufen auf den Boden des Ladens und runzelte die Stirn.

„Henriette? Ich bin wieder da!“

Er hatte kein gutes Gefühl, als die Antwort ausblieb. Hatte dieser brandige Geruch schon in der Luft gelegen, als er vorhin zum Weihnachtsmarkt aufgebrochen war? Er glaubte nicht.

„Henriette?“

Vielleicht war sie unten bei dem Jungen.

Matthias ging um den Tresen herum, steuerte auf die Kellertür zu - und verharrte. Er hatte das Aschehäufchen entdeckt.

Wo kam das denn her? Warum hatte Henriette im Laden etwas verbrannt? Das war außerordentlich leichtsinnig von ihr!

„Matthias!“, hörte er ihre leise Stimme. Sie kam aus der Richtung des Kellers. Also war sie wirklich bei dem Jungen.

Er machte einen Storchenschritt über die Asche und streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Da hörte er die Stimme wieder.

„Nicht da unten, du Schwachkopf!“

Matthias zuckte zusammen. Henriette schien wieder einmal schlechter Laune zu sein. Meistens war sie sehr nett zu ihm, aber wenn etwas ihren Unmut erregt hatte, durfte er es ausbaden. Dann beschimpfte sie ihn und schlug ihn manchmal sogar.

So ging das jetzt schon seit über vierhundert Jahren und er konnte sich nicht wehren, weil er von ihr abhängig war. Sie waren Zwillinge, gezeugt von einem Schwarzmagier, geboren von einer Hexe in einer Neumondnacht. Das war es wenigstens, was Henriette immer erzählte.

Allzu viel hatte Matthias aber nicht davon, denn das Schicksal hatte sich entschlossen, alle magischen Kräfte nur Henriette zu verleihen. Zum Ausgleich dafür war er nur bis zum sechzigsten Lebensjahr gealtert, während Henriette alle paar Monate frisches, junges Leben brauchte, um den Verfall ihres Körpers rückgängig zu machen.

Andrerseits war seine Langlebigkeit an Henriettes Leben geknüpft. Starb sie, starb auch er. Er wusste nicht, warum das so war, ja, er wusste nicht einmal, ob es tatsächlich so war. Aber er hatte keinen Grund, an Henriettes Worten zu zweifeln, also half er ihr nach Kräften.

Gelegentliche Beleidigungen und Schläge waren ein geringer Preis für die Unsterblichkeit, wie er fand.

„Wo bist du denn?“, rief er.

„Links neben dir! Und hör gefälligst mit dem Geplärre auf. Das zerfetzt einem ja das Trommelfell.“

Links neben ihm? Matthias machte einen Schritt zur Seite und drehte den Kopf, aber da war niemand.

„Hör auf, deine Späße mit mir zu machen! Sag mir endlich, wo du bist!“

„Mach deine Augen auf, du minderbemittelter Nichtsnutz!“

„Aber da ist wirklich nichts!“ Seine Stimme klang fast schon weinerlich. „Nur der Setzkasten mit ...“

Ach herrje!

„Henriette? Bist du das?“

Das Püppchen der lächelnden, pausbäckigen Magd glotzte ihn mit weißem Porzellangesicht an und wedelte mit den Armen.

„Na endlich!“, sagte die Magd mit Henriettes Stimme. „Da sieht ja ein Maulwurf besser als du!“

„Was ... was ist mit dir passiert?“

„Das werde ich dir erzählen. Aber nimm vorher gefälligst den Fuß aus meiner Asche, du Trampel!“

Mit jedem Wort von Henriettes Bericht verzog sich Matthias’ Gesicht mehr zu einer entsetzten Grimasse.

„Aber ... aber du ... du kannst den Zauber doch sicher rückgängig machen“, stammelte er, als seine Schwester zum Ende gekommen war.

„Hast du mir nicht zugehört oder bist du nur zu blöd, mich zu verstehen?“, fuhr ihn die Puppe mit ihrer Flüsterstimme an. „Ich war in Panik! Mir ist in der Eile kein anderer Zauber eingefallen. Natürlich kann ich ihn rückgängig machen, aber erst in zweihundert Jahren! Das gelingt aber nur dann, wenn ich drei Kindern ihre reinen Seelen raube. Schaffe ich das nicht, muss ich noch einmal zweihundert Jahre bis zum nächsten Versuch warten.“

„Aber wie soll das gehen? Du bist so ... nun ja, wie soll ich sagen? Du bist eben so ... so ...“

„Was?“

„... klein!“

„Was du nicht sagst! Das ist mir auch schon aufgefallen. Hättest du jetzt vielleicht endlich mal die Güte, mich aus diesem Setzkasten zu befreien? Bring mich an einen Ort, an dem ich mehr Platz und Ruhe zum Nachdenken habe. Das Puppenhaus neben der Ladentür wäre gut.“

Matthias griff mit zittrigen Fingern nach der Porzellanmagd.

„Sei doch vorsichtig, du Tölpel! Lass mich bloß nicht fallen, denn das wäre auch dein Ende! Oder hast du das vergessen?“

„Nein. Natürlich nicht. Entschuldige.“

Matthias setzte Henriette in das kleine, spärlich ausgestattete Puppenhaus, das seine Schwester vorhin aus dem Schaufenster genommen hatte.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte er.

„Halt die Klappe und lass mich überlegen!“

Also hielt Matthias die Klappe und Henriette überlegte.

Sie überlegte lange, sehr lange! Mehrere Jahre, um genau zu sein.

Schon am nächsten Tag packte Matthias seine Siebensachen und seine Schwester zusammen, gab den Laden auf und zog in eine andere Stadt. Als er im Jahr 1837 dann bereits zum vierten Mal alle Zelte hinter sich abbrach und das Geschäft woanders eröffnete, überlegte Henriette immer noch. Ihr neuer Körper lebte inzwischen in einem größeren Puppenhaus. Jeden Tag baute Matthias neue Möbel und schneiderte neue Kleidchen.

Das Problem war, dass Henriettes magische Kräfte genauso geschrumpft waren wie ihre Körpergröße. Schleuderte sie einem normalen Menschen einen Zauberspruch entgegen, der ihn sonst verbrannt hätte, so würde ihr Opfer nun nur ein lästiges Brennen und Jucken spüren, nicht schmerzhafter als ein Mückenstich.

Sie musste drei Kindern nach Ablauf der zweihundert Jahre deren Seelen stehlen. Das würde sie aber nicht schaffen, so lange die Kinder normal groß waren. Folglich musste sie sie mit einem Zauber auf ihre eigene Größe schrumpfen. Einen Spruch, der das bewerkstelligen konnte, wusste sie. Nur hatte der wiederum keine Wirkung auf einen normalgroßen Menschen!

Es war ein verdammter Teufelskreis!

Im Jahr 1854 - sie waren gerade wieder umgezogen - hatte Henriette die rettende Idee.

Sie befahl Matthias, einen Fingerring zu kaufen.

Jeden einzelnen Tag legte sie sich mit gespreizten Beinen und ausgestreckten Armen in den Ring, so dass sie ihn mit Fuß- und Zehenspitzen gerade berühren konnte. Jeden einzelnen Tag wirkte sie den Schrumpfzauber und ließ ihn in den Ring fließen. Jeden einzelnen Tag ging sie dabei bis an die Grenze der Erschöpfung und darüber hinaus.

Jeden einzelnen Tag. Über 150 Jahre lang.

Die Macht des im Ring gespeicherten Schrumpfzaubers wuchs und wuchs, genauso wie Henriettes Lebensraum immer größer wurde.

Im Jahr 2006 war es endlich soweit.

Henriette lebte inzwischen in einer künstlichen Welt, die Matthias um den Bahnhof Neufeld herum errichtet hatte. Im Ring war die Kraft gespeichert, die es auch Matthias ermöglichen würde, drei Kinder zu schrumpfen.

So schlug er im Dezember 2007 sein Zelt auf dem Hamburger Weihnachtsmarkt auf, um Kinder in seine Fänge zu locken. Trotzdem war es nicht so einfach, wie er es sich vorgestellt hatte. Die meisten Kinder kamen mit ihren Eltern ins Zelt und waren deshalb keine geeigneten Opfer.

Doch am 21.12.2007 verirrten sich zwei Geschwister in sein Zelt - und sie waren alleine. Er berührte sie mit dem Ring an der Schulter, schrumpfte sie so auf Henriettes Größe und setzte sie in den Zug, der inzwischen durch Henriettes Welt fuhr.

Zwei Tage später kam Christine in das Zelt.

***

23.12.2007

Die Welt schwamm in Schmerz, als Christine erwachte.

Was war geschehen?

Die Erinnerung kam nur langsam zurück, als müsse sie sich durch Melasse kämpfen. Da war dieser falsche Bahnhof gewesen und die beiden Kinder.

Jack und Margret. Richtig. Jack und Margret.

Und die böse Frau mit dem weißen Gesicht!

Christine riss die Augen auf. Ihr hatte sie es zu verdanken, dass es sich anfühlte, als fänden hinter ihrer Stirn Sprengarbeiten statt.

Sie lag auf dem Rücken. Über sich sah sie den schwarzen Himmel, der - wie sie nun wusste - in Wirklichkeit ein Tuch war. Sie sah aber auch die Gitterstäbe!

Christine setzte sich auf. Um sie herum waren ebenfalls Gitterstäbe.

Sie saß in einem Käfig!

Na toll!

Sie stand auf, umklammerte zwei der Stäbe mit den Händen und presste das Gesicht dagegen.

Das hier war nicht mehr der Bahnhof Neufeld. Überall waren Bäume und Sträucher, alle vermutlich so echt wie die Zähne von Marks Oma. Nur die kleine Lichtung, auf der der Käfig stand, war gänzlich baumfrei.

Da hörte Christine hinter sich ein leises Knistern. Sie fuhr herum und stellte fest, dass sie auf der falschen Seite aus dem Käfig gesehen hatte. Denn die Musik spielte auf dieser Seite.

Sie sah zwei weitere Käfige auf der Lichtung. In einem stand Jack mit aufgerissenen Augen und starrte heraus. Der andere war leer.

Christine konnte das Entsetzen erkennen, dass sich tief in Jacks Gesichtszüge gegraben hatte, und sie konnte es gut nachvollziehen.

Die Käfige bildeten die Ecken eines Dreiecks, in dessen Zentrum ein mannshoher Haufen Asche aufragte. Am Rand stand Margret mit hängenden Schultern und glasigem Blick.

Alleine die Leere in ihren Augen konnte einem eine Gänsehaut über den Rücken jagen. Noch schauderhafter aber war, dass ihr Mund weit geöffnet war und ein dicker, knisternder Strahl bläulichen Lichts hervorquoll. Dieser führte geradewegs in den Aschehaufen.

Plötzlich schob sich das weiße Gesicht der bösen Frau in Christines Blickfeld. Das freundliche Dauerlächeln konnte Christine keine Sekunde darüber hinwegtäuschen, dass sie eine Hexe vor sich hatte.

„Na, mein kleines Küken, hast du Angst?“, fragte sie. „Das brauchst du nicht! Bald ist es vorbei und du hast ein gutes Werk vollbracht!“

Sie kicherte. Es war ein wahnsinniges, hysterisches Kichern, das die Freundlichkeit des Gesichts Lügen strafte.

„Warum trägst du eine Maske?“, wollte Christine wissen.

Schlagartig verstummte das Kichern. Das weiße Gesicht zuckte bis auf wenige Millimeter an Christine Gesicht heran.

„Das ist keine Maske, du vorlautes Gör!“, fauchte die Hexe. In ihrer Stimme lag blanke, schneidende Wut, und vermutlich hätte die Hexe vor Zorn gegeifert, hätte sie es mit ihrem Porzellankörper gekonnt. Denn um nichts Anderes handelte es sich, wie Christine nun erkannte.

Es war nicht zu sehen, woher die Stimme der Hexe kam. Aus dem Mund jedenfalls nicht, denn das Gesicht war starr, ein pausbäckiges, eingefrorenes, debiles Lächeln.

Warum kann sie ihren Körper bewegen, ihr Gesicht aber nicht? Im nächsten Augenblick wurde ihr klar, dass das auf der Liste der drängendsten Fragen sicher nicht sehr weit oben rangierte.

„Tut mir Leid“, log Christine und schlug den Blick zu Boden. „Ich wollte nicht ungezogen sein.“

Die Hexe zog ihr Gesicht zurück. „Das soll ich dir glauben? Sei’s drum! In wenigen Minuten ist es ohnehin gleichgültig!“

„Warum? Was ist in wenigen Minuten?“

Wieder dieses irre Kichern. „In wenigen Minuten werdet ihr alle drei um die Reste meines menschlichen Körpers stehen und sie durch die Spende eurer Seelen wiederbeleben! Mein Geist verlässt sein Porzellangefängnis, ich bekomme wieder einen Körper aus Fleisch und Blut, der Schrumpfzauber erlischt und ihr werdet rechtzeitig wieder groß, um den Hunger zu stillen, den ich in den letzten zweihundert Jahren verspürt habe. Eure leblosen Hüllen werden zwar sicher keine Delikatesse sein, aber den ersten Appetit sollten sie doch stillen, meinst du nicht auch?“

Christine musste hart schlucken. „Leblose Hüllen?“

Die Hexe giggelte und klatschte dabei in die Hände. Es klang, als würde man zwei Kaffeetassen gegeneinanderstoßen. „Natürlich, mein Kind! Meinst du denn, nach meiner Wiederauferstehung ist in euren Körpern noch recht viel übrig, das die Bezeichnung Leben verdient?“

Hätte ich nur nicht gefragt!

„So, aber nun wirst du mich entschuldigen, Kindchen. Gleich bin ich wieder bei dir!“

Die Hexe drehte sich um und ging zu Jacks Käfig.

Wie komme ich nur hier raus?

Christine sah sich um, konnte aber nirgends eine Gittertür oder gar ein Schloss oder einen Riegel entdecken.

Wie bin ich überhaupt hier reingekommen?

Die Frage wurde ihr beantwortet, als sie zu Jack hinübersah.

„Du bist der Nächste, Söhnchen“, trällerte die Hexe.

„Nein!“, kreischte Jack. „Ich komm nicht mit! Ich komm nicht mit! Niemals!“

„Natürlich wirst du mitkommen.“

Die Hexe zeichnete mit der linken Hand eine Figur in die Luft und im nächsten Moment sackten Jacks Schultern nach unten. Seine Augen verwandelten sich in trübe Murmeln.

Gleichzeitig verschwanden alle Gitterstäbe auf der Vorderseite seines Käfigs. Einfach so. Gerade eben waren sie noch da und plötzlich waren sie weg.

Mist! So lange die Hexe ihren Verschwindibus-Trick nicht auch mit meinem Käfig macht, sitze ich hier fest. Keine Chance zur Flucht!

Aber vielleicht ergäbe sich eine Gelegenheit, wenn die Hexe sie zu dem Aschehaufen führen würde. Vielleicht könnte sie sich losreißen und in die künstlichen Wälder abhauen.

Doch auch diese Hoffnung zerstob, als sie Jack beobachtete. Wie von einem betrunkenen Marionettenspieler geführt, stakste er hinter der Hexe her. Sie beobachtete ihn gar nicht und er hätte jederzeit davonlaufen können. Aber er tat es nicht.

Christine umklammerte die Gitterstäbe. Tränen schossen ihr in die Augen. Lauf!, wollte sie Jack zurufen. Mach, dass du wegkommst! Aber sie schwieg, weil sie wusste, dass sie damit nichts erreichen würde.

Also beobachtete sie durch einen Tränenschleier, was weiter geschah.

Vor dem Aschehaufen blieb Jack stehen. Die Hexe trat vor ihn, legte ihre Hände an seine Schläfen und murmelte einige unverständliche Silben. Jacks Unterkiefer sank herab und ein Strang aus blauem Licht schob sich heraus. Er peitschte ein paar Mal hin und her.

Das Bild erinnerte Christine für einen Augenblick an Knut Ukena, wenn er Spaghetti aß. Dabei schlürfte er die Nudeln so in sich hinein, dass sie vor seinem Mund hin und herschnellten und er danach Peitschenstriemen aus Hackfleischsoße im Gesicht hatte. Der Anblick des Lichtwurms, der aus Jacks Mund hing, löste nicht annähernd so viel Heiterkeit bei Christine aus.

Die Hexe trat zur Seite und gab dem Licht den Weg frei. Sofort schoss der blaue Wurm in den Haufen und bildete eine Verbindung zwischen Jack und der Asche.

Wie der Schlauch einer Zapfsäule, zuckte es Christine durch den Kopf. Letztlich war es auch nichts Anderes, denn die Asche wurde betankt mit der Lebensenergie der Kinder.

„So, mein Zuckerschnütchen“, säuselte die Hexe und kam auf Christines Käfig zu. „Dann wollen wir das Ganze mal zügig zum Ende bringen! Ich hab zweihundert langweilige Jahre hinter mir und nicht noch mehr Zeit zu verschenken.“

Wieder stieß sie dieses irre Kichern aus.

Christines Muskel spannten sich an. Sie würde nicht mitgehen, zumindest nicht freiwillig. Sie würde sich wehren, so heftig und so lange es ihr möglich war. Die Hände verkrampften sich zu Fäusten, die Fingernägel schnitten schmerzhaft in die Handballen.

Warum musste ich auch unbedingt in dieses blöde Spielzeugzelt gehen? Warum konnte ich nicht warten, bis Mark mit seinem Glühwein fertig war? Mark, mein Hüter! Großartig, da hab ich schon einen Hüter und lasse mich nicht einmal von ihm behüten. Toll gemacht, Christine, ganz toll!

Wie vorhin fuchtelte die Hexe ein Zeichen in die Luft. Im gleichen Augenblick spürte Christine, wie ihre Muskeln erschlafften, sich die Fäuste öffneten, sich der Blick eintrübte.

Streng genommen hätte sie zusammensacken müssen, aber irgendeine Kraft sorgte dafür, dass ihr Körper stehen blieb.

Nein, nicht nur stehen blieb, sondern auch loslief!

Nein!, schrie sie in Gedanken. Halt! Rühr dich nicht!

Doch offenbar konnten ihre Beine ihr Gehirn nicht hören und so marschierten sie unverdrossen Richtung Aschehaufen.

Wehr dich doch! Tu etwas! Irgendetwas!

Aber was? Was sollte sie tun?

Jede Faser ihres Körpers protestierte, stemmte sich gegen den unhörbaren Befehl der Hexe - und befolgte ihn dennoch.

Endlich blieb sie stehen. Durch einen grauen Schleier sah Christine, wie sich die Hexe vor ihr aufbaute und die Hände gegen Christines Schläfen legte. Dann murmelte sie wieder die unverständlichen Silben.

Christine versuchte die Zähne aufeinanderzubeißen. Auf keinen Fall durfte sie zulassen, dass sich ihr Mund öffnete! Auf keinen Fall!

Ihr Unterkiefer sackte herab.

Nein, verdammt!

In Christines Innerem begann es zu rumoren und pulsieren. Sie wusste genau, was das war. Ihre Lebensenergie, ihre Seele, die nach draußen gerufen wurde und den Aschehaufen betanken sollte.

Sie fühlte, wie sich etwas von innen heraus in ihren Mund schob. Das musste der Lichtwurm sein, den sie schon bei Jack gesehen hatte. Obwohl er aus nichts bestand als reiner Energie, konnte sie ihn spüren, konnte sein Zucken, sein Winden fühlen.

Sie glaubte, sich übergeben zu müssen, aber nicht einmal das ließ der Zauber der Hexe zu.

Christine verdrehte die Augen nach unten und spähte an ihrer Nasenspitze vorbei. Gleich würde sie auch ihren Lichtwurm entdecken, gleich würde sie (wenn auch nur verschwommen) sehen, wie er in die Asche einschlug.

Tatsächlich, da war er!

Er schob sich unter der Nase hervor, peitschte hin und her wie der von Jack, als wolle er sich orientieren.

Doch etwas war anders. Lag es nur an der Trübheit ihres Blickes? Nein, das was sie sah, war keine Täuschung. Ihr Lichtwurm war nicht blau wie die von Jack und Margret. Ihrer leuchtete ...

... in strahlendem Gold!

Auch die Hexe bemerkte den Unterschied. Sie stieß einen schrillen Schrei aus.

„Wer bist du?“, plärrte sie. „Warum ist deine Seele so ... anders?“

Christine war sich nicht sicher, aber sie vermutete, dass das an ihrer Abstammung lag. Schließlich war sie der Schatz, der letzte Spross der Blutlinie Jesu.

Plötzlich spürte Christine, dass die Hexe in ihrer Überraschung den Bann gelockert hatte. Sie konnte wieder klar sehen, konnte wieder die Finger bewegen und, wenn es darauf ankam, sicher noch viel mehr! Ja, selbst der Lichtwurm hatte sich zurückgezogen!

„Aber egal!“, schrie die Hexe. „Seele ist Seele! Ob blau oder golden, du wirst ...“

Christine stieß die Arme nach vorne und schlug der Hexe gegen die Brust. Als die Knöchel gegen das Porzellan prallten, loderte eine Schmerzwelle durch ihre Hände.

Christine schalt sich eine Närrin. Wie konnte sie nur vergessen, dass die Hexe aus Porzellan bestand? Schließlich sah sie es doch vor sich? Da hätte sie auch versuchen können, eine Kloschüssel mit bloßer Hand zu zertrümmern. Die Schmerzen wären sicher die gleichen gewesen.

Doch auch, wenn sie der Hexe dadurch nicht hatte wehtun können, hatte der Schwung des Schlags ausgereicht, das dauergrinsende Monstrum zurücktaumeln zu lassen - und da war der Aschehaufen!

Die Hexe kam ins Straucheln, verlor das Gleichgewicht und kippte in die Asche. Das Geräusch, das bei ihrem Aufschlag entstand, erinnerte Christine an das Pfumpf, das sie immer dann hörte, wenn Hinnerk den Bügelverschluss einer Flasche Dithmarscher Pilsner öffnete.

Und jetzt?

Nichts jetzt! Hau ab! Renn, so schnell du kannst!

Aber ...

Du kannst nichts gegen sie ausrichten. Denk an die Kloschüssel! Du bräuchtest einen Hammer, um sie zu zertrümmern. Du hast aber keinen, also lauf!

Christine drehte sich auf den Hacken herum und rannte davon. Sie warf noch einen letzten Blick auf die Kinder, die mit den Tankschläuchen aus blauem Licht mit der Asche verbunden waren.

Es tut mir Leid, aber ich kann euch nicht helfen!

Als sie sah, wie die Hexe sich aus der Asche erhob, schluckte sie den Frosch hinunter, der sich in ihrem Hals gerade breitmachen wollte, und hetzte in den Wald.

Minutenlang rannte sie geradeaus, vorbei an künstlichen Bäumen, sprang über Wurzeln aus Plastik, kämpfte sich durch Sträucher, die aus wer weiß was bestanden. Kunststoffäste schlugen ihr ins Gesicht und hinterließen schmerzhafte Striemen.

Erst als ihre Beine und ihre Lungen gleichermaßen schmerzten, erlaubte sie sich eine Pause. Sie lehnte sich gegen einen Baumstamm und schnappte nach Luft.

Wohin rannte sie überhaupt? Sie hatte keine Ahnung, wie diese Spielzeuglandschaft aufgebaut war, aber selbst, wenn sie sich auskennen würde, wo sollte sie hin? Sie konnte nicht zurück nach Hüll, sie konnte nicht zurück zu Mark an den Glühweinstand, obwohl der nur gute fünfzig Meter von ihr entfernt war.

Nun ja, fünfzig Meter, die bei ihrer derzeitigen Größe eher fünf Kilometern entsprachen.

Also, wo sollte sie hin? Auch wenn sie der Hexe entkommen war, war sie dennoch eine Gefangene. Eine Gefangene ihrer Körpergröße, eine Alice in einem künstlichen Wunderland mit einer Hexe, die der Herzkönigin in ihrer Grausamkeit in nichts nachstand.

Sie konnte nicht ständig davonlaufen. Sie würde sich der Hexe stellen müssen.

Aber was dann? Wie sollte sie sie besiegen? Sie hatte hier keinen Vorschlaghammer, mit dem sie den Porzellankörper zertrümmern konnte. Sie hatte nicht einmal einen Stein in dieser Welt aus Plastik und Kunststoff! Wie um alles in der Welt sollte sie ...?

„Wo bist du denn, mein Täubchen?“, ertönte das Keifen der Hexe.

Christine zuckte zusammen. Sie hatte gehofft, etwas länger verschnaufen zu können.

„Na, zeig dich schon, du Miststück! Du kannst dich nicht ewig vor mir verstecken.“

Was nun? Sie hatte noch nicht die Spur eines Plans. So lange sie nicht wenigstens halbwegs wusste, wie sie der Hexe gegenübertreten sollte, gab es nur eine Möglichkeit: Laufen!

„Irgendwann wirst du müde und dann kann ich dich pflücken wie eine reife Frucht. Erspar das doch uns beiden und sag mir, wo du bist. Mäuschen?“

Da hörte Christine links von sich ein Rascheln. Gleich darauf tauchte ein weißes, freundlich lächelndes Gesicht aus dem sorgfältig nachgebildeten Unterholz auf.

Mist!

Christine drehte sich nach rechts und begann ihre Flucht erneut.

„Mach es dir doch nicht so schwer!“, seufzte die Hexe. Ihre Stimme klang kein bisschen erschöpft.

Natürlich nicht! Sie war nur eine Puppe! Sie musste nicht atmen!

Christine duckte sich unter einem ausladenden Ast einer Fichte weg, der plötzlich vor ihr auftauchte.

Wenn sie nur endlich wüsste, was sie machen sollte!

Die Pause war viel zu kurz gewesen. Ihre Lunge brannte, als würde sie heißes Gas einatmen, und ihre Oberschenkel drohten jeden Augenblick zu platzen.

Trotzdem rannte sie, ignorierte ihre Lunge, ignorierte ihre Oberschenkel, dachte nur an die Hexe. Sie umkurvte eine Futterraufe mit künstlichem Heu, schlug sich durch eine Baumschonung und rutschte auf dem Kunstrasen eines kleinen Hügels hinunter.

Doch egal, wie schnell sie auch rannte, wie viele Haken sie schlug, hörte sie immer wieder die Stimme der Hexe hinter sich. „Na, Kleines, wird es langsam anstrengend, ja?“

Plötzlich stand sie vor einer dichten Hecke.

So ein Dreck! Und nun?

Links? Rechts? Oder mitten hindurch?

Christine dachte nur kurz darüber nach. Einem Impuls folgend stürzte sie sich in die Hecke.

Es war nicht annähernd so mühsam, wie sie befürchtet hatte. Die Blätter bestanden aus einem weichen Stoff, die Äste waren irgendein geschmeidiges Material und das Geld für lebensechte Dornen hatte sich der Hersteller offenbar gespart.

Vielleicht rechnete die Hexe ja nicht damit, dass sie diesen Weg genommen hatte. Möglicherweise konnte sie hinter dieser Hecke eine etwas längere Verschnaufpause einlegen und sich endlich mal einen Plan ausdenken. Möglichst einen, der aus mehr bestand als dauerndem Davonlaufen, der vielleicht sogar ...

Christine kam auf der anderen Seite der Hecke heraus und erreichte den Rand der Welt. Ihr rechtes Bein trat ins Leere. Vor ihr war nur tiefschwarzes Nichts.

Im letzten Augenblick konnte sie sich zurückwerfen und am Geäst der Hecke festklammern.

Ihr Herz führte einen wilden Stepptanz auf.

Das war verdammt knapp gewesen!

Als sich ihr Herz langsam wieder beruhigte, wurde ihr klar, was beinahe passiert wäre: Fast wäre sie von dem Tisch gestürzt, auf dem der Besitzer des Spielzeugzelts seine künstliche Welt aufgebaut hatte. Die Schwärze vor ihr war das Tuch, mit dem der Tisch abgedeckt war!

Mann, das hätte ins Auge gehen können!

Na gut, dann machte sie ihre Pause eben nicht hinter, sondern in der Hecke!

Sie stand auf und zog ihren Anorak zurecht.

Kein Wunder, dass ich so schwitze, bei den Klamotten, die ich anhabe, dachte Christine.

Sie sah noch einmal zu dem schwarzen Tuch und dachte an den Abgrund, der dahinter lag. Sie wusste nicht, wie hoch der Tisch war, auf dem sie gerade herumturnte, aber sie vermutete, dass es gemessen an ihrer derzeitigen Größe ungefähr hundert Meter nach unten ging. Doch selbst wenn sie sich verschätzte, welchen Unterschied machte es schon, ob man sechzig, hundert oder hundertfünfzig Meter in die Tiefe stürzte. Das Ergebnis war das gleiche.

Sie atmete noch einmal tief durch, dankbar, diesem Schicksal entronnen zu sein, da hörte sie hinter sich das Keifen der Hexe.

„Hab ich dich endlich, du freches Gör!“, triumphierte sie.

Christine kam nicht einmal dazu, sich umzudrehen. Sie spürte nur einen heftigen Schlag, als die Hexe sie ansprang und sich an ihr festklammerte.

Christine taumelte einen Schritt nach vorne, dann noch einen - und dann trat sie ins Leere.

Für einen Augenblick glaubte sie, das Tuch böte genügend Widerstand, um ihren Sturz zu verhindern, doch dies war eher die letzte verzweifelte Hoffnung, als eine wirkliche Möglichkeit.

Das Tuch gab nach und Christine stürzte über den Rand. In einem Reflex riss sie die Arme hoch, versuchte sich festzuhalten, irgendwo, doch da war nichts. Nur Luft und das Tuch. Genauso gut hätte sie versuchen können, sich an einer glatten Wand festzuhalten.

Doch das stimmte nicht. Plötzlich gerieten ihre Finger in eine Masche des Stoffs. Sofort krallte sie sich fest. Sie spürte das Reißen ihres Gewichts in den Fingern. Ihre Gelenke kreischten auf vor Schmerz, aber Christine verbot sich, den Schmerz zu spüren.

Halt dich fest! Halt dich einfach nur fest!

Wenigstens fiel sie nicht mehr. Aber warum bekam sie keine Luft?

Da erst wurde ihr bewusst, dass die Hexe noch immer ihren Oberkörper umklammerte und ihr das Atmen erschwerte.

Christine neigte den Kopf und schielte nach unten. Tatsächlich, da hing die Hexe und lächelte sie an.

Ihr Porzellanlächeln veränderte sich auch nicht, als sie langsam am glatten Stoff von Christines Anorak nach unten rutschte. Schon hatte sie die Jeans erreicht, doch auch dort fand sie nicht genügend Halt.

Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie in den Abgrund stürzte.

Ein Grund zu frohlocken war dies für Christine jedoch nicht, denn auch ihre Finger versagten allmählich den Dienst. Der Faden, der die Masche bildete, an der sie sich festhielt, schnitt ihr in die Hände.

Christine sah nach oben. Die Tischkante war drei oder vier Meter über ihr, was tatsächlich vielleicht drei oder vier Zentimetern entsprach.

Sie musste versuchen, sich diese Strecke hochzuziehen. Freeclimbing in einem lose hängenden Tuch! Großartig!

Aber sie wusste, dass sie es nicht schaffen würde. Sie konnte sich kaum noch festhalten, geschweige denn klettern!

Sie spürte, wie die Hexe wieder ein Stück abrutschte. Inzwischen umklammerte sie Christines Fellstiefel.

Christine wollte mit dem freien Fuß nach der Hexe treten, doch die Bewegung übertrug sich auf ihren ganzen Körper. Die Finger jaulten auf. Es fühlte sich an, als würde ihr der Faden das Fleisch von den Knochen schälen, aber sie gab nicht auf. Sie durfte nicht aufgeben, denn das wäre gleichbedeutend mit ihrem Tod gewesen!

Die Adern an den Schläfen traten ihr vor Anstrengung hervor.

Zieh dich hoch! Du schaffst es! Nun mach schon!

Sie mobilisierte ihre letzten Kräfte. Sie zog, zerrte, versuchte eine Masche weiter oben zu erreichen. Aber es war aussichtslos. So lange die Hexe an ihrem Fuß hing, hatte sie keine Chance!

Also trat sie erneut nach der Hexe. Vorsichtig zunächst. Nur nicht selbst dabei abrutschen. Doch die Tritte wurden immer heftiger.

Und endlich, endlich traf sie die Hexe genau in ihr nerviges Lächeln. Die Porzellanfinger glitten über das Fell von Christines Stiefel - und ließen los.

Ohne einen Schrei auszustoßen, stürzte die Hexe in die Tiefe.

Doch Christines Erleichterung währte nicht lange, denn kaum war sie ihren Ballast losgeworden, versagten ihr die Finger den Dienst. Sie spürte, wie sie sich öffneten, wie sie abrutschten, und konnte doch nichts dagegen unternehmen.

Oh nein! Nein! Bitte nicht!

Alles Jammern hatte keinen Zweck! Sie konnte sich nicht mehr halten und stürzte der Hexe hinterher.

Es war unglaublich, in welcher Geschwindigkeit einem im Augenblick des bevorstehenden Tods sinnlose Gedanken durch den Kopf rasten.

Wie lange wird der Sturz dauern? Vier Sekunden? Fünf? Wird Mark wieder in seinen alten Job zurückkehren, wenn ich tot bin? Wird der Aufschlag schmerzhaft werden? Kann sich Hinnerk jemals das Rauchen abgewöhnen? Verliere ich das Bewusstsein, bevor ich aufschlage? Was wird aus der Menschheit, wenn der Schatz stirbt, bevor er die Blutlinie Jesu fortführen konnte? Und noch einmal: Wird es weh tun?

Es tat weh!

Aber anders, als Christine es sich vorgestellt hatte.

Ein scharfer Schmerz durchfuhr ihr Steißbein, der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen. Das war aber auch schon alles.

Wie ...?

Verdutzt sah sich Christine um. Warum war sie nicht tot?

Sie saß auf dem Asphalt, auf dem der Spielzeugmacher sein Zelt aufgeschlagen hatte. Neben sich sah sie den Tisch, von dem sie gerade gestürzt war.

Sie war wieder groß!

Sie war keine hundert Meter gestürzt, sondern höchstens einen! Der Schrumpfzauber war erloschen und das keinen Moment zu früh!

Aber warum?

Christine wollte aufstehen und stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab. Dabei fühlte sie ein Knirschen unter der Handfläche.

Hastig zog sie die Finger weg - und sah das zerbrochene Porzellanpüppchen, das dem Geist der Hexe eine letzte Heimat geworden war. Da sie kurz vor Christine abgestürzt war, war sie auch eher aufgeschlagen.

Im Augenblick ihres Zerbrechens, im Augenblick ihres Todes musste der Zauber erloschen sein.

Christine sah sich um. Wo war der Besitzer des Zelts? Vorhin hatte er sich doch noch lautstark zu Wort gemeldet! Hatte er vielleicht die Flucht ergriffen?

Bevor Christine näher darüber nachdenken konnte, hörte sie eine Mädchenstimme sagen: „Wo sind wir? Warum sitzen wir auf einer Spielzeugeisenbahn?“

Die Antwort kam von einer Stimme, die Christine kannte. Jack! „Ich weiß es nicht. Aber wir sollten hier verschwinden, bevor jemand es bemerkt!“

***

Vermisste Kinder wieder aufgetaucht

Jack und Margret Logger, die seit letzten Donnerstag vermisst wurden (wir berichteten), sind wieder aufgetaucht. Sie gaben an, der Inhaber des Zelts für Spielwaren, vor dem sie zuletzt gesehen wurden, habe sie entführt. Inwieweit diese Angaben der Wahrheit entsprechen, wird derzeit von den örtlichen Polizeibehörden nachgeprüft. Über die Zeit ihrer Abwesenheit können oder wollen die Kinder jedoch keine Aussage machen. Ein Psychologe wurde eingeschaltet. Von dem Inhaber des Spielwarengeschäfts, der sein Zelt ohne behördliche Genehmigung auf dem Weihnachtsmarkt aufgebaut hatte, fehlt bisher jede Spur.

(Hamburger Abendblatt, 24.12.2007)

***

Epilog 1

23.12.1807

Als die Hexenjäger Jakob und Wilhelm Henriettes Laden verließen, schlug ihnen die Kälte des Winters entgegen.

„Warum bist überhaupt zu der bösen Frau in den Laden gegangen?“, fragte Wilhelm den kleinen Johannes, den er an der Hand führte.

Der Junge sah zu Boden und scharrte mit dem Fuß im Schnee. „Ich hab mich von zuhause weggeschlichen, weil ich mir die Spielsachen ansehen wollte.“ Er hatte Tränen in den Augen. „Meine Eltern sind zu arm, um mir Weihnachtsgeschenke zu kaufen, aber ich wollte die Sachen wenigstens einmal betrachten. Im Schaufenster war ein schönes Puppenhaus.“ Er hustete. „Die Frau kam aus ihrem Laden und hat mich gefragt, ob ich nicht ein viel schöneres Puppenhaus sehen möchte. Sie hat gesagt, sie hat eines, das nur aus Süßigkeiten besteht. Das könnten wir uns anschauen und dann davon naschen, hat sie gesagt.“

„Ein Haus aus Süßigkeiten?“, echote Wilhelm.

Der Junge nickte.

Wilhelm sah seinem Bruder Jakob in die Augen. „Ich glaube, mir ist gerade eine Idee für ein weiteres Märchen gekommen. Am besten gehe ich schon mal nach Hause und schreibe es auf, während du den Jungen zu seinen Eltern bringst.“

Jakob nickte. „Wie du meinst.“

Wilhelm beugte sich zu Johannes hinunter. „In Zukunft läufst du nicht mehr einfach so davon, mein Freund, sondern hörst besser auf deine Eltern.“

Johannes Gesicht wurde schamrot. „Ja. Natürlich. Und vielen Dank, dass Ihr mir geholfen habt, Herr ...“

„Grimm“, antwortete Wilhelm und lächelte. „War mir doch ein Vergnügen.“

***

Epilog 2

Als Mark von Christines Erlebnissen erfuhr, war er froh, dass Sabrina ihm eine Spielzeugeisenbahn als Geschenk für Christine ausgeredet hatte.

 

Anmerkung des Autors:

Den ersten Band ihrer Kinder- und Hausmärchen gaben die Brüder Grimm am 20.12.1812 heraus. Ich weiß nicht, wann „Hänsel und Gretel“ tatsächlich entstanden ist, aber vermutlich war es nicht der 23.12.1807. Dass die Brüder Grimm sich auch als Hexenjäger verdingten, ist nicht überliefert, aber wer kann das schon so genau wissen? Außerdem ist im Hüterversum ja alles möglich, nicht wahr?

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