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Kurt Luifs Werkausgabe - 5. Teil - Ehevertrag mit dem Tod

Kurt Luif WerkausgabeEhevertag mit dem Tod

Im Mai 2017 wäre Kurt Luif 75 Jahre alt geworden und aus dem Grund habe ich mir die Mühe gemacht und diverse Romane von ihm eingescannt und präsentiere Euch im Laufe der nächsten Monate einige seiner Werke in einer Art von Werksausgabe.

Nachdem Kurt Luif zwei SF-Romane an den Zauberkreis-Verlag verkauft hatte, sollte er 1973 einen Kriminalroman für die Silber-Krimi-Reihe schreiben.

Das Manuskript wurde aber abgelehnt und er versuchte es beim Kelter-Verlag und dort wurde das Manuskript angekauft. Es erschien 1973 unter dem Pseudonym Dick Howard als Kelter-Krimi Nr. 204 unter dem Titel "Ehevertrag mit dem Tod". - Uwe Schnabel

Ehevertrag mit dem TodEhevertrag mit dem Tod

Kelter-Krimi 204
von Dick Howard
Als John Gibbson sich vor der „American Saint Bar“ von Hentoff verabschiedete, wußte er noch nicht, daß es für immer sein sollte.
Wild schlug der Regen auf den Asphalt. John Gibbson blieb benommen stehen und blickte sich um. Er war ein schlanker, gutaussehender Mann, der einiges über den Durst getrunken hatte.
Kein Taxi war zu sehen. Fluchend stellte John Gibbson den Mantelkragen auf und bohrte die Hände in die Taschen. Grimmig ging er durch den Regen, der wie ein grauer Vorhang in die Häuserschluchten von Manhattan fiel.
Die Straßen waren leer, nur selten fuhr ein Auto an dem einsamen Fußgänger vorbei. John Gibbson zog fröstelnd den Kopf ein und versuchte, den Alkoholschleier vor seinen Augen abzuschütteln. Endlich raste ein Yellow Cab heran.
Auf seinen Wink fuhr der Fahrer an den Randstein und öffnete die Tür. Gibbson ließ sich erleichtert auf den Rücksitz des Wagens fallen. Mit unsicheren Händen schob er sein nasses Haar aus der Stirn.
„Wohin, Mister?“ fragte der stiernackige Fahrer freundlich.
Gibbson nannte seine Adresse. Der Mann gab Gas und fluchte ausgiebig über das Wetter. Die Wärme im Wagen und das Geräusch des Regens schläferten Gibbson ein.   
John fuhr auf, als sie vor seinem Haus angelangt waren. Der Fahrer drehte sich nach hinten.
„Wir sind da, Mister“, sagte er. „Zwei Dollar sechzig.“
Gibbson schnaufte und gab ihm drei Dollar.
Schwerfällig kletterte er aus dem Wagen und schlug die Tür hinter sich zu. Er stand fröstelnd im Regen und sah sinnend dem davonfahrenden Fahrzeug nach.
So kann ich nicht rein zu meiner Frau, dachte er. Verdammt noch mal, ausgerechnet heute hat sie ihre Freundinnen eingeladen. Und mir passiert diese blöde Wiedersehensfeier mit Hentoff.   
 Der Drugstore gegenüber war noch geöffnet. John Gibbson beschloß, sich dort etwas zu erfrischen.
Er hatte den Mantel halb offen, sein Hemd war zerknautscht, der Schlips gelockert. Sein schwarzes Haar klebte am Kopf, und er roch intensiv nach Whisky.
Er ging einige Schritte am Bürgersteig entlang. Unsicher drehte er den Kopf von links nach rechts. Er war zu benebelt, um den großen schwarzen Wagen wahrzunehmen, der mit laufendem Motor, abgeblendeten Scheinwerfern unweit seines Hauses stand. Er sah auch nicht den Mann mit dem tief in die Stirn gezogenen Hut hinter dem Lenkrad.
Gibbson dachte intensiv an seine Frau.
Was meine Freunde wohl anfangs gegen Judith hatten? ging es ihm durch den Kopf. Sie hätte es auf mein Geld abgesehen, behaupteten sie. Unsinn, sie ist genau die richtige Frau für mich. Schön ist sie, und vor allem so hart im Nehmen wie ich. Wir passen gut zueinander, keine Frage.
Pflichtbewußt sah Gibbson nach links und rechts, bevor er vom Randstein trat.
Unsicher begann er, die regennasse Straße zu überqueren.
Der schwarze Wagen setzte sich in Bewegung.
Endlos strömte der Regen auf den Asphalt. Gibbson beeilte sich, den rettenden Drugstore zu erreichen.
Der Fahrer in dem schwarzen Wagen senkte den Fuß tiefer aufs Gaspedal. Der Wagen schoß mit zuckenden Scheibenwischern auf Gibbson zu.
Träge wandte John den Kopf.
Er sah das Auto auf sich zurasen und starrte gebannt in die rasch näher kommenden Scheinwerfer.
Dann reagierte er. Er sprang vorwärts, litt aus und fiel dem Wagen entgegen. Es gab einen häßlichen, knirschenden Laut, als Gibbson in hohem Bogen über die Kühlerhaube flog und mit dem Kopf voran am Randstein aufschlug.
Der Wagen war vorn stark eingebeult. Das störte den Fahrer nicht besonders, da er das Auto vor zwei Stunden gestohlen hatte. Er stellte es in der übernächsten Querstraße ab und verschwand.
Zeugen gab es keine, die den „Unfall“ beobachtet hatten.

* * *

Unwillig sah Judith Gibbson von ihren Karten auf.
„Ja, was gibt's?“ fragte sie.
Die Tür öffnete sich, und das Dienstmädchen steckte den Kopf herein.
„Ein Polizist ist draußen, Madam.“   
„Was will er? Sagen Sie ihm, er soll morgen wiederkommen.“
„Das habe ich bereits getan, aber er besteht darauf, Sie unbedingt jetzt zu sprechen.“
„Dann schicken Sie ihn herein, in Gottes Namen.“ Judith seufzte. „Wahrscheinlich habe ich wieder einmal falsch geparkt. Diese Polizisten - nicht einmal abends hat man Ruhe vor ihnen. Sollten sich lieber etwas mehr um die Verbrecherjagd kümmern, anstatt dauernd harmlose Parksünder zu verfolgen.“   
„Da hast du wirklich recht“, meinte Rosemary Purdy, eine hübsche, rundliche Blondine. „Gestern fuhr ich über eine Kreuzung, es war schon beinahe grün, da steht doch tatsächlich so ein Hüter der Ordnung und hält mich auf.“   
Ein Polizeibeamter in Uniform trat ins Zimmer.   
„Guten Abend, meine Damen. Könnte ich bitte Mrs. Gibbson sprechen?“ fragte er höflich und blickte in die Runde.
„Ich bin Mrs. Gibbson“, sagte Judith unfreundlich. „Ich finde es reichlich unverschämt von Ihnen, um diese Zeit noch Leute zu belästigen. Es ist bald elf Uhr.“
„Verzeihen Sie, wenn ich Sie unterbreche“, sagte der Polizist sanft. „Es ist etwas äußerst Bedauerliches geschehen, Mrs. Gibbson. Wir mußten Sie benachrichtigen.“   
Judith stand langsam auf. Sie trug ein enges Kostüm, das ihre makellose Figur betonte. Ihr honigfarbenes Haar fiel lose über ihre Schultern.
„Was ist geschehen? Sprechen Sie!“ sagte sie, und ihre Augen wurden schmal.   
Der Polizist räusperte sich.
„Tja, Madam, es ist - es handelt sich...“
„So reden Sie doch endlich!“ Judiths  Stimme klang ungeduldig. Sprechen Sie! Ist meinem Mann etwas geschehen?“
Der Polizist nickte.
„Um Himmels willen, so sagen Sie doch, was los ist! Ist er verletzt?“ Sie stand vor dem Polizisten und sah ihn mit großen, besorgten Augen an.
„Ein Autounfall vor Ihrem Haus.“
„Wo ist mein Mann?“
Judith packte den Polizisten am Arm.
„Ist es etwas Ernstes?“ fragte sie leise und erschreckt.
„Ja.“
„Ist er schwer verletzt?“
Der Polizist sah zu Boden.
„Ist er vielleicht - tot? Nein, nein!“
Er nickte.
Judith legte entsetzt die Hand über ihren Mund. Ihre aufgerissenen Augen waren auf das Gesicht des Polizisten gerichtet, der ratlos und verlegen von einem Fuß auf den anderen trat.
Judith erbleichte. Es hatte lange gedauert, bis sie es geschafft hatte, nach Wunsch bleich und verstört auszusehen, doch jetzt gelang es ihr ganz ausgezeichnet.
„Es kann nicht wahr sein“, flüsterte sie. „Es kann und darf einfach nicht wahr sein! Sagen Sie, daß es nicht wahr ist!“ schrie sie und krallte die Hände am Ärmel des Polizisten fest.
„Ich glaube es nicht... Nein, nein...“ Tränen rannen über ihre Wangen. Sie war leichenblaß, ihr Körper bebte wie vom Fieber geschüttelt. Sie schien sich nur mit größter Anstrengung aufrecht zu halten.
Setz dich, Judith, beruhige dich!“ sagte Rosemary Purdy sanft und nahm ihre Hand.
Der Polizist blickte mitfühlend auf Judith Gibbson und überlegte fieberhaft, was er tun konnte, um ihr einen kleinen Trost zu geben.
Judith ließ sich auf die Couch nieder und legte das Gesicht in ihre Hände. Sie schluchzte herzzerreißend, und ihr schmaler Rücken hob und senkte sich krampfhaft.
Es hat geklappt, dachte sie. Eineinhalb Millionen Dollar. Im Geist malte sie die Zahl auf ihre nassen Handflächen: eins, fünf. Und fünf Nullen dahinter. Fünf Nullen, unvorstellbar.
Sanft legte sich Mrs. Purdys Arm um die bebenden Schultern Judiths. Ihre Hand strich leicht über ihr Haar, und mit feuchten Augen blickte sie auf das nasse, in den Händen vergrabene Gesicht Judiths.
Eineinhalb Millionen.
Langsam straffte sich Judiths Rücken. Sie hob das Gesicht.
„Ich danke Ihnen, Inspektor“, sagte sie leise, „daß Sie es auf sich genommen haben, mir diese traurige Nachricht zu überbringen. Ich - ich möchte jetzt - allein sein.“
Ihr Gesicht verriet mühsame Beherrschung, nur ihre Lippen preßten sich aufeinander.
Sie hat Haltung, alle Achtung. Sie trägt es mit großer Fassung, dachten Mrs. Gibbsons Freundinnen und der Polizist, als sie sie schweigend verließen.

* * *

Es war einer dieser stickigen, scheußlichen Sommervormittage, wie ich sie hasse. Ich saß in meinem hohen, mit rotem Leder überzogenen Stuhl und starrte mißmutig einer dicken, grünlichblauen Fliege nach, die quer über den Schreibtisch kroch. Sie blieb stehen, und ich bin sicher, daß sie mich hämisch angrinste.
Die Klimaanlage war ausgefallen. Ich öffnete das Klappfenster weit, aber das half nichts. Schwüle, mit Benzindämpfen verseuchte Luft strömte ins Zimmer und legte sich lähmend um meinen Körper.
Ich schloß die Augen halb. Die Fliege hob sich in die Luft und brummte aufreizend um mich herum.
Mein helles Sommersakko hing über dem Besucherstuhl. Ich hatte noch eine Stunde lang Zeit, dann mußte ich mich bei Mr. Orban melden.
Ich hasse den Sommer in New York. Bei solch einer Affenhitze sollte man irgendwo in Florida faul in der Sonne liegen.
Aber leider... Mein derzeitiges Barkapital erlaubte mir nicht mal eine Fahrt nach Long Island.
Angewidert trank ich das schale Bier aus und sehnte mich nach einem verschollenen Onkel, der mir eine Million Dollar hinterließ.
Plötzlich ertönte der Summer an der Eingangstür. Durch die Mattglasscheibe, an der in Goldbuchstaben „Richard Dee - Privatdetektiv“ steht, konnte ich die Konturen zweier Männer erkennen.
Mißmutig überlegte ich, ob ich zu sprechen war oder nicht.
Wieder schlug der Summer an, diesmal länger und eindringlicher.
Ich seufzte, richtete mir den Schlips und schlüpfte ergeben ins Jackett. Ächzend ging ich zur Tür und öffnete sie.
„Heute geschlossen, Gents“, sagte ich freundlich und drückte die Tür rasch wieder zu, um Einwände zu vermeiden. Leider hatte einer der Männer seinen Fuß dazwischengestellt.
„Reden Sie keinen Unsinn, Dee. Wir müssen mit Ihnen reden.“
Seufzend zog ich die Tür wieder auf und betrachtete meine beiden Besucher. Was ich sah, gefiel mir nicht besonders.
Es waren zwei breitgebaute, grimmig blickende Galgenvögel. Sie trugen billige Konfektionsanzüge, die sich eigenartig um die linke Achsel spannten.
„Was wollen Sie?“ fragte ich sachlich.
„Nur ein wenig Süßholz mit Ihnen raspeln“. knurrte einer der beiden.
„Kein Bedarf“, sagte ich abweisend. Mir schwante Böses.
„Hör mal zu, Hübscher“, zischte er. „Wenn du nicht friedlich bist, dann kannst du was erleben!“
Diese Sprache verstand ich. Ich legte zwar keinen ausgesprochenen Wert auf die Unterhaltung, aber, wie gesagt, es war ein scheußlicher Sommertag, und ich hatte keine Lust auf handgreifliche Auseinandersetzungen.
Ich setzte mich abwartend hinter den Schreibtisch. Die zwei Kerle blieben da vor stehen und blickten mich aufdringlich an.
Ich blickte zurück.
Einer der beiden erweckte Jugenderinnerungen in mir. Donald Duck aus meinen Kindertagen schien lebendig vor mir zu stehen.
Den anderen hatten sie wohl erst kürzlich aus einer unserer modernen Anstalten für den Strafvollzug entlassen. Sein Gesicht war mager und Sing-Sing-grau.
„Also, was wollt ihr von mir?“ fragte ich, um der Sache ein Ende zu bereiten.
Beide grinsten.
„Wir sollen Ihnen etwas bestellen, Dee.“
„Raus damit!“
„Hauen Sie ab, Dee, möglichst sofort. Jede Verzögerung wird unliebsam zur Kenntnis genommen. Die New Yorker Luft ist plötzlich ungesund für Sie geworden. Sehr ungesund.“
„Und wer hat Sie geschickt, Sunnyboy?“ fragte ich amüsiert.
Donald Duck zuckte die Achseln. „Das ist nebensächlich.“
„Und wenn ich nicht verschwinde?“ fragte ich.
„Es gibt für diesen Fall mehrere Möglichkeiten. Sie könnten zum Beispiel zufälligerweise aus Ihrem Büro auf die Straße fallen.“
Mein Blick fiel automatisch auf das Fenster. Mein Büro befindet sich im 25. Stock eines Bürohauses. Da bleibt nicht viel ganz, wenn man hinunterfällt.
„Oder Sie könnten in eine Kugel laufen. Soll ich Ihnen noch einige Möglichkeiten aufzählen?“
„Danke. Strapazieren Sie Ihr schwaches Hirn nicht weiter. Ich habe verstanden.“
„Werden Sie verschwinden?“ fragte mich der Graugesichtige.
Ich schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Wissen Sie, ich liebe den Sommer in New York.“
Die beiden Männer hoben die Schultern. „Uns soll es recht sein“, sagte Donald Duck. „Wir hatten Auftrag, Ihnen diese Warnung zu überbringen, das haben wir getan.“
Sie nickten mir zu und schlenderten zur Tür. Ich wollte mich eben erleichtert in meinem Stuhl zurücklehnen, als die beiden stehenblieben.
„Haben wir nicht eine Kleinigkeit vergessen, Hal?“ fragte Donald Duck.
Hal kratzte sich nachdenklich an de Stirn.
„Natürlich haben wir etwas vergessen.“
Sie drehten sich um und grinsten mich heimtückisch an.
Hal, der Sing-Sing-Graue, kam langsam auf mich zu und bleckte gelbe Zähne. Vielleicht war das als Lächeln zu verstehen. Neben mir hielt er an. Ich legte die Hände harmlos auf den Tisch, um Mißverständnissen zuvorzukommen, und beobachtete den Kerl aus den Augenwinkeln.
Er zog eine Schreibtischlade heraus und hob sie hoch. Dann drehte er sie um. Der Inhalt, einige Bogen Briefpapier und Kuverts, segelten auf den Boden. Die leere Lade warf er angewidert auf der Teppich.
„Zum Teufel...“, begann ich, wurde aber sofort unterbrochen.
„Schnauze! „ knurrte Donald Duck. Er richtete eine matt glänzende Automatic auf mich.
Hal zog die nächste Lade heraus.
„Was sehe ich denn da?“ grunzte er erfreut und fischte eine halbvolle Whiskyflasche hervor. Er schwenkte die Trophäe hin und her.
Ich schob meinen Stuhl zurück und wollte aufspringen. Ich bin ein geduldiger Mensch und nicht sehr leicht zu erschüttern, doch was zuviel ist, ist zuviel.
„Sitzenbleiben!“ sagte Donald Duck.
Ich setzte mich. Ich argumentiere prinzipiell nicht mit Leuten, die gebrauchsfertige Pistolen auf mich richten.
Der Graue packte die Whiskyflasche am Hals und schlug sie heftig gegen die Schreibtischkante. Das Glas zerbrach, die Splitter fielen auf den Teppich, teilweise klatschten sie auf die Schreibtischplatte. Der goldfarbene Whisky rann ölig über die Platte und tropfte auf den Boden.
„Schön brav sitzen bleiben!“  sagte Hal drohend und fuchtelte mit dem Flaschenhals vor meiner Nase herum.
Sein Kumpan ging zu meinem Aktenschrank, riß erstaunlich flink sämtliche Laden heraus und verstreute den Inhalt im Zimmer. Dann schob er den Schrank von der Wand weg und stürzte ihn um. Mit lautem Getöse krachte er zu Boden.
Schließlich holte er die Wanduhr von ihrem Platz und schleuderte sie angewidert gegen die Wand. Glas, Federn und Spiralen flogen durch die Luft.
Ich war sitzen geblieben. Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben, was mir leichtfiel, da mich die spitzen Zacken der zerbrochenen Whiskyflasche vor meinem Gesicht von jeder Unbesonnenheit abhielten.
„Das reicht vorläufig“, schnaufte Donald Duck zufrieden und grinste mich an.
Hal warf den Rest der Whiskyflasche gegen die Wand. Blitzschnell schob ich meinen Stuhl zurück und sprang auf. Damit hatte der Kerl aber gerechnet, er sah mich naiv an und hob die Faust.
Ich versuchte mich zu ducken, doch leider reagierte ich eine Sekunde zu spät. Mit voller Kraft traf mich seine geballte Rechte am Hals. Ich fiel zurück auf den Sessel und versuchte verzweifelt mich festzuklammern, doch der Sessel rutschte weiter zur Wand. Ich ging zu Boden und krachte mit dem Hinterkopf gegen die Sesselkante.
Für einige Sekunden drehten sich rote Kreise vor meinen Augen. Ich stützte mich auf und kletterte mühsam, noch halb betäubt, hoch.
Kaum hatte ich mich aufgerichtet, als mich auch schon der nächste Schlag traf. Er war hart und brutal gegen meine Leber gerichtet.
Aufstöhnend knickte ich ein. Ein weiterer Hieb traf mich am Kinn, mein Kopf wurde nach hinten gerissen. Wie durch einen Schleier sah ich meine Gegner, farbenfrohe Muster erschienen vor meinen Augen.
Durch den bunten Schleier raste wieder eine Faust auf mich zu. Ich drehte den Kopf zur Seite, und der Schlag klatschte gegen meine Nase. Blut rann mir übers Kinn und tropfte auf mein Hemd.
Abwechselnd schlugen sie auf mich ein. Ich hatte Mühe, die ärgsten Schläge abzudecken, denn die Burschen verstanden ihr Geschäft.
Endlich sah ich wieder eine Chance, in das Geschehen einzugreifen. Der Schleier hatte sich für einen Moment gelichtet. Ich sah Donald Duck vor mir, sandte meine Faust ins Volle. Er schrie auf und ging in die Knie.
Ich duckte einen Schlag von Hal ab und ging endgültig zum Angriff über. Mit der Rechten schlug ich einen trockenen Leberhaken. Der Graue lief weiß an und schnappte nach Luft.
Meine Kräfte kehrten durch den unerwarteten Erfolg sofort zurück. Ich spürte zwar, wie mein Gesicht anschwoll, aber das Blut lief mir nicht mehr aus der Nase, was meine Kampfmoral enorm hob.
Ich deckte den Grauen mit wohlgezielten Schlägen ein. Er wich zurück, und ich hatte ihn schon fast an der Wand, als Donald Duck wieder mitmischen wollte.
Blitzschnell drehte ich mich um, aber es war zu spät. Der Kerl ließ den Besucherstuhl durch die Luft wirbeln und landete ihn auf meinem Kopf.
Im Zusammenbrechen spürte ich noch die ohnmächtige Wut über die unfairen Kampfmethoden meiner beiden Besucher.

* * *

Das Erwachen war scheußlich. Meine sämtlichen Knochen schienen zerschmettert zu sein, sogar das Öffnen der Augen bereitete mit Qualen.
Außerdem war mir speiübel.
Ich richtete mich vorsichtig auf. Mit zarten Fingern betastete ich meinen mißhandelten Schädel. Die Haut war seltsamerweise nicht geplatzt, aber eine hübsche taubeneigroße Beule hatte sich gebildet.
Mit jähem Schrecken erinnerte ich mich meines Besuches bei Mr. Orban. Ich blickte auf die Uhr. Mir blieben gerade noch zwanzig Minuten. Verschwommen dachte ich über den vergangenen Kampf nach. Was man so alles erlebt in einer halben Stunde. Welch ein gesunder junger Mann ich doch vorher gewesen war, und nun lag ich als Wrack auf dem Teppich.
Ich stemmte mich hoch und hielt mich am Sessel fest, den Donald Duck, bevor er die Arena verlassen hatte, sorgsam neben mich gestellt hatte.
Das Büro sah aus, als wäre ein Tornado hindurchgerast.
Schwerfällig wankte ich zum Waschraum und hielt den Kopf unter das fließende, kühle Wasser. Ich nahm einige Aspirin und stellte mich unter die Brause. Langsam wurde ich wieder ein Mensch.
Grimmig blickte ich über die Verwüstung an der Stätte meines Wirkens: Irgendjemand, so nahm ich mir vor, würde dafür bezahlen.

* * *

Eine halbe Stunde später stand ich in der Eingangshalle von Orbans Haus.
„Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Mr. Dee“, sagte der Butler wohlerzogen.
Ein Treppenaufgang führte von der Halle zum ersten Stockwerk. Der Butler, ein gesetzter Mann mittleren Alters, der aus einem englischen Schauspiel stammen konnte, schritt vor mir die Stufen hinauf. Instinktiv setzte auch ich ein würdiges Gesicht auf und folgte ihm.
Wir kamen durch einen schmalen Gang, von dessen Wänden Orbans Ahnen in Öl blickten. Durch ein hohes Fenster fiel gedämpftes Licht.
Der Butler hielt vor einer schweren Eichentür, klopfte kurz, öffnete sie und trat zur Seite, um mich vorbeizulassen.
Das Zimmer war nicht groß. Es ließ auf den ersten Blick erkennen, daß der Mann, der mich hinter dem ausladenden Schreibtisch erwartete, Lebensart und Kultur besaß. Es war dunkel getäfelt und mit wenigen kostbaren Möbelstücken sparsam eingerichtet. Der weiche Teppich verschluckte das Geräusch meiner Schritte, als ich an den Schreibtisch trat.
„Guten Tag, Mr. Dee“, begrüßte mich Orban. Aus seinem gefurchten, markanten Gesicht blickten mich helle Augen an. Er streckte mir die Hand entgegen. „Mr. Dee, bitte, nehmen Sie Platz. Verzeihen Sie, wenn ich sitzen bleibe, aber ich bin halbseitig gelähmt.“
Ich pflanzte mich in einen der bequemen Stühle, die neben dem Schreibtisch standen. Orban musterte mich mit forschenden Augen. Ich fragte mich, ob er die Spuren der Gangsterfäuste in meinem Gesicht sah, aber glücklicherweise war das Zimmer recht düster.
„Ich bin ein alter Mann, Mr. Dee“, begann Orban unvermittelt zu sprechen, und ich erschrak. Orban schien es nicht zu bemerken. Er hatte den Blick auf seine Hände gesenkt. „Ich hätte Ihre Hilfe nicht in Anspruch nehme müssen, wenn ich selbst die Möglichkeit hätte, Nachforschungen anzustellen.“ Er lächelte bitter. „Ich werde Ihnen also die Situation kurz umreißen, und Sie sagen mir dann, ob Sie den Auftrag übernehmen.“
Ich neigte zustimmend den Kopf.
„Mein Sohn Peter lernte vor drei Monaten ein gutaussehendes Mädchen kennen. Angeblich war es vor einem halben Jahr von Baltimore nach New York gekommen. Seine Eltern sollen bei einem Verkehrsunfall tödlich verletzt worden sein. Die Atmosphäre in Baltimore hat das Mädchen bedrückt, so sagte es, deshalb verließ es die Stadt. Die Kleine hat meinen Sohn vom ersten Augenblick an fasziniert, und er heiratete sie nach ganz kurzer Verlobungszeit.
Ich war natürlich mißtrauisch. Sie verstehen, ich bin ein vermögender Mann, und Peter ist Frauen gegenüber recht naiv. Er bezweifelt, daß es Mädchen gibt, die durch ihn zu Wohlstand kommen wollen. Sie kennen die berühmte optische Täuschung, Mr. Dee.“ Er lächelte. „Ein Mädchen sagt >ich liebe dich< zu Ihnen und meint eigentlich das Geld, das Sie besitzen.“
Ich nickte verstehend. Ich war noch nie in dieser Lage gewesen, daher waren mir diese Zweifel unbekannt. Die Mädchen, die ich kannte, liebten mich bestimmt nicht meines Geldes wegen, dessen war ich sicher.
„Ich beauftragte also die Detektiv-Agentur Bade & Peace, sich eingehend über das Vorleben meiner Schwiegertochter Ruth zu erkundigen. Hier ist der Bericht.“
Er reichte mir einige Papiere.
„Lesen Sie das später durch. Bade & Peace sind überzeugt, daß Ruth tatsächlich ihr bisheriges Leben in Baltimore verbracht hat. Ich glaube, die Detektei irrt sich, und Ruth lügt. Ich gebe zu, ich stehe allein da mit meiner Meinung. Tun Sie es trotzdem nicht als wirres Geplapper eines senilen alten Mannes ab, Mr. Dee.“
„Was hat Ihren Verdacht hervorgerufen, Mr. Orban?“ fragte ich.
„Wissen Sie, Mr. Dee, ein alter Mann wie ich hat viel Zeit zum Nachdenken, zum Grübeln, zum Überlegen. Zufällig kenne ich Baltimore recht gut, ich war als junger Mann einige Jahre lang dort. So war es nur natürlich, daß ich mit meiner Schwiegertochter öfter über ihre schöne Vaterstadt sprach. Wir unterhielten uns über die Sehenswürdigkeiten, über die Theater, über Straßen und Plätze, ja, sogar über das Wahrzeichen von Baltimore, einen Adler.“
„Und?“ fragte ich gespannt.
„Tja, Mr. Dee, Baltimore scheint sich seit meiner Jugend sehr verändert zu haben. Einige der Straßen liegen jetzt in anderen Stadtvierteln als früher, die Theater stehen in anderen Straßen, und sogar das Wahrzeichen ist inzwischen gewachsen. Früher war es nämlich eine Amsel.“
Ich senkte verschämt das Gesicht. Orban lächelte amüsiert. „Sehen Sie, Ruth hat keine Ahnung von Baltimore. Da muß jeder Mensch stutzig werden, jeder - außer meinem Sohn. Übernehmen Sie den Fall, Mr. Dee?“
Ich nickte.
Orban lächelte, nickte zufrieden und lehnte sich zurück. Schweigend musterten wir einander. Ich sah einen alten Mann, den die Erfahrungen eines langen Lebens mißtrauisch gemacht hatten.
Er sah einen kräftigen jungen Mann mit blau geprügeltem Gesicht, auf den er seine ganzen Hoffnungen setzte.
Orban zog sein Scheckbuch hervor, und ich senkte die Augen, um die schwarzen Dollarzeichen, die darin erschienen waren, zu verbergen.
Vergeblich bemühte ich mich, die Summe zu entziffern, die er schrieb.
Orban riß den Scheck aus dem Heft und reichte ihn mir.
„Ich denke, das reicht fürs erste“, sagte er.
Verblüfft blickte ich auf die Zahl. 1000 Dollar.
„Ja, ja, das reicht“, antwortete ich überwältigt. „Was soll ich alles in Erfahrung bringen, Mr. Orban?“
„Ich möchte wissen, was hinter dem Bericht der Agentur steckt, und ich möchte wissen, woher Ruth wirklich kommt.“ Er unterbrach sich und griff in die Schreibtischlade. „Hier ist ein Flugticket nach Baltimore, Rückflug offen.“
Ich steckte den Bericht, das Ticket und den Scheck in meine Brusttasche und wollte mich erheben.
„Und hier ist ein Foto meiner Schwiegertochter“, sagte Orban.
Ich nahm es.
Augenblicklich war mir klar, daß es für solch ein Mädchen ein leichtes sein mußte, einen jungen Mann zu becircen. Ruth Orban hatte schwarzes Haar und eine außergewöhnlich gute Figur. Ich betrachtete fasziniert das Foto, bis Mr. Orban zu einem diskreten Hüsteln ansetzte.
Erschreckt steckte ich das Foto zu den anderen Papieren. Orban lächelte amüsiert.
„Ein hübsches Mädchen, nicht wahr, Mr. Dee?“
Ich beeilte mich mit dem Abschied.

* * *

In einer Snack-Bar bestellte ich ein Bier und versenkte mich in die Betrachtung der Papiere, die ich von Orban erhalten hatte. Ich hatte gerade beschlossen, mich vom Anblick Ruth Orbans loszureißen und mich mit dem Bericht zu beschäftigen, als die Tür aufgerissen wurde und zwei Gäste eintraten, die ich bereits kannte.
Von jäher Erinnerung gepackt griff ich an die Beule, die ich sorgfältig unter meinem Haar versteckt hatte.
Ich blickte in die Runde und bemerkte entmutigt, daß ich der einzige Gast war - außer den beiden Neuankömmlingen.
„Keine Dummheiten!“ rief Donald Duck, als ich nach meiner Waffe griff. Aber die eindeutige Drohung stoppte meine Bewegung. Beide Männer hielten in schöner Eintracht die Hände in den Taschen vergraben und kamen stiernackig auf mich zu.
Vor meinem Tisch blieben sie stehen. Das Grinsen in ihren Gesichtern war wie weggewischt. Sie starrten mich humorlos an.
Mit Genugtuung merkte ich, daß der Kampf mit mir auch in ihren Gesichtern einige Spuren hinterlassen hatte. Donald Duck hatte ein prächtiges, in allen Farben schillerndes, geschlossenes Auge.
Der Graugesichtige hatte aufgeplatzte Lippen und ein angenagtes Ohr.
„Keine hastige Bewegung, Dee!“ knurrte Donald Duck. „Unsere Kanonen sind unwahrscheinlich gereizt.“
Das hatte ich fast angenommen, denn der Wirt hatte sich in der Zwischenzeit in seine Privatgemächer zurückgezogen, der vernünftige Mann.
„Was wollt ihr von mir, meine Freunde?“ fragte ich samtig.
„Wir sollen etwas abliefern“, sagte der Sing-Sing-Graue vorlaut. Das trug ihm einen bösen Seitenblick Donald Ducks ein, der in seine Brusttasche langte und einen schmalen gelben Umschlag hervorholte. Er hielt ihn mir unter die Nase. In Blockschrift stand mein Name darauf.
Er warf den Umschlag vor mich auf den Tisch. „Das blaue Auge zahle ich dir noch mal heim, Schnüffler“, drohte er haßerfüllt.
Hal grunzte beifällig und griff instinktiv an sein lädiertes Ohr.
Ich dachte an meine Beule und grinste. Der Tausenddollarscheck gab mir eine gewisse Überlegenheit über kleinliche Rachegelüste. Trotzdem hätte ich die beiden liebend gern durch die schmierigen Fenster des Lokals geworfen. Ich prügle mich gern in Bars.
So aber siegte die Vernunft über die Urinstinkte des Menschen, und ich sah zähneknirschend zu, wie die beiden sich absetzten, nicht ohne mir von der Tür noch mal hohnlächelnd zuzuwinken.
Ich riß den Umschlag auf. Ein schäbiger Zettel mit abgebissenen Rändern lag darin:
Verschwinde sofort aus New York, Schnüffler. Solltest Du heute abend noch hier sein, so wird es Dein letzter Abend sein.
Ich verzog das Gesicht. Immer dieses häßliche Wort. Schnüffler. Dabei war es auch mir nicht an der Wiege gesungen worden, daß ich mein kärgliches Brot als Privatdetektiv verdienen würde. Wäre es nach meinem Vater gegangen, so müßte ich heute - wie er einst - meine Tage auf dem Rücken der Pferde verbringen. Nein, nicht als Nachfolger von John Wayne, sondern als Jockey. So aber hatte das Schicksal ein Einsehen mit mir und machte mich einsneunzig groß und hundertachtzig Pfund schwer und zunächst zum Sportreporter. Natürlich Pferdespezialist, mit Daddys Hilfe.
Von da schlitterte ich sozusagen geradewegs zum Lokalteil meiner Zeitung und wurde Kriminalreporter, nachdem es mir gelungen war, eine gigantische Schwindelaffäre bei den Rennen aufzuklären. Ich begann, an meine kriminalistischen Fähigkeiten zu glauben und beantragte eine Lizenz als Privatdetektiv, die ich anstandslos bekam. Dafür revanchiere ich mich bei den dafür zuständigen Herren heute noch mit heißen Tips für die Rennen.
Und nun arbeite ich eben vorübergehend als Detektiv. Seit drei Jahren. Und jeder dahergelaufene Gauner darf mich Schnüffler nennen.
Langsam zerriß ich den Zettel in kleine Stückchen und ließ sie in den Aschenbecher fallen.
Der Wirt brachte mir endlich Nachschub für mein leeres Bierglas, und während ich daran herumnuckelte, überlegte ich angestrengt, wer ein so deutliches Interesse an meinem Verschwinden haben konnte, daß er mir die beiden Typen auf den Hals hetzte.
Ich lebte zurückgezogen, war nett zu meinen Freunden, ging meinen Feinden aus dem Weg, war kein Mafiamitglied und handelte nicht mit Haschisch. Und trotzdem...
Ich zuckte die Schultern und gab es auf. Vermutlich würde ich bald wissen, wer mich aus der Stadt haben wollte.
Schließlich vertiefte ich mich in den Bericht über Ruth Orban.
Sie wurde angeblich am 15. 8. 1945 im Callmoure Hospital in Baltimore geboren. Ihr Mädchenname war Ruth Davies. Ihre Eltern kamen im März 1968 bei einem Verkehrsunfall in Ohio ums Leben. Peter Davies, Ruths Vater, war Direktor der Zweigniederlassung der „Sun Electric“ in Baltimore gewesen. Er hinterließ eine Villa, beachtliche Mengen von Aktien und einiges Bargeld. Seine Tochter war Alleinerbin.
Im Juni 1969 verkaufte Ruth über das Realitätenbüro Condeller & Co. die Villa. Sie erhielt dafür 32.563 Dollar, wobei die Gebühr der Firma Condeller & Co. bereits abgerechnet war. Mit den Aktien und dem restlichen Bargeld verfügte sie dann etwa über 60.000 Dollar.
Zur selben Zeit bezog sie in New York eine Wohnung in der Flatbush Avenue im Stadtteil Brooklyn.
Ich faltete den Bericht zusammen und steckte ihn ein. Dann zahlte ich und stand auf.
Das Telefon läutete, der Wirt ging an den Apparat. „Einen Augenblick, Sir!“ rief er mir nach. „Sind Sie Mr. Dee?“
Ich drehte mich um. „Ja, der bin ich.“
„Sie werden am Telefon verlangt, Mr. Dee.“
Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, wer mich hier anrufen konnte. Ich war zum erstenmal in meinem Leben in diesem Lokal.
Der Wirt hielt mir den Hörer hin.
„Dee“, sagte ich.
„Haben Sie die Abreibung bekommen?“ erkundigte sich eine unangenehme Stimme.
„Wen interessiert das so brennend?“ fragte ich zurück.
Der andere ließ sich nicht beeindrucken. „Und unseren Brief haben Sie auch erhalten, Dee?“
„Klar“, antwortete ich. „Bei so verläßlichen Jungs wie den Ihren. Was soll denn der Scherz, Mann?“
Mein Partner wurde giftig. „ An Ihrer Stelle würde ich das nicht als Scherz auffassen, Dee. Hauen Sie ab, wir geben Ihnen eine Frist bis zwanzig Uhr! Verstanden? Hauen Sie ab, Schnüffler!“
„Hören Sie zu, Bruder!“ brüllte ich in die Muschel. „ Wir sind hier nicht in einem schlechten Kriminalfilm. Mir fällt nicht im Traum ein, von hier zu verschwinden, weil Sie ein paar Schläger mieten, die mit ihren Kanonen unschuldigen Leuten vor der Nase herumfuchteln. Lassen Sie Ihre Schokoladenheinis im Zirkus auftreten, aber nicht in Gottes freier Natur! Ich...“
Ich unterbrach mich, denn ich hatte plötzlich das Gefühl, der andere hätte inzwischen aufgelegt. Aber er sagte: „Schade, Dee. Sehr unklug von Ihnen. Ich sehe Sie schon im Hudson schwimmen. Mit einigen Kugeln im Kopf. Ich werde einen Kranz zu Ihrem Begräbnis schicken. Und ein Beileidstelegramm an Ihre Witwe.“
„Ich bin nicht verheiratet“, sagte ich, aber er hatte aufgelegt.
Ich ließ den Hörer in die Gabel krachen. Der Wirt war zu beeindruckt, um zu protestieren. Geistesabwesend zwinkerte ich ihm zu und verließ die Bar.
Die Dreiundzwanzigste Straße glich einem Backofen. Drinnen war es verhältnismäßig kühl gewesen, aber hier heraußen war es unerträglich. Während ich noch überlegte, ob ich die unangenehme Stimme schon irgendwo gehört hatte, klebte bereits mein Hemd klitschnaß zwischen meinen Schulterblättern.
Ich machte, daß ich zu meinem Wagen kam. Er war nicht mehr taufrisch, mein verschrammter Chevy aus dem Jahr 1965. Aber wenn ich mich so in den spiegelnden Seitenfenstern betrachtete...
Ich zog mein Sakko aus und warf es auf die Rücksitze, dann setzte ich mich hinters Lenkrad und ließ alle Fenster hinunter, was natürlich vergebene Liebesmühe war.
Während ich überlegte, von wo ich das Pferd aufzäumen sollte, rauchte ich eineinhalb Zigaretten. Dann fuhr ich langsam an Orbans Haus vorbei, brauste die Dreiundzwanzigste Straße in östlicher Richtung hinunter und bog in die Ninth Avenue ein.
Der Verkehr wurde von Minute zu Minute stärker. Als ich beim US General Post Office, Ecke Ninth Avenue und Vierunddreißigste Straße, an der Ampel anhielt, sah ich im Rückspiegel einen meergrünen Cadillac. Am Steuer saß mein lieber Freund mit dem mausgrauen Gesicht, und neben ihm schwitzte Donald Duck.
Bei dem dichten Verkehr gab ich den beiden keine Chance. Trotzdem senkte ich meinen Gasfuß härter aufs Pedal und bog plötzlich mit singenden Reifen in die Eleventh Avenue ein. Gleich nach der Ecke gibt es eine Garage, die mir schon früher gute Dienste geleistet hatte. Ich fuhr hinein, und noch bevor ich bremste, sah ich Hal und Donald Duck im Rückspiegel vorbeibrausen.

* * *

Die Agentur Bade & Peace befand sich in einem alten braunen Backsteinhaus in der Fünfunddreißigsten Straße, an dem das einzig Saubere die protzige Messingtafel war, auf der Bade & Peace ihre Anwesenheit bekundeten. Ich stieg die wenigen Stufen zur Eingangstür hinauf, trat ins Haus und folgte dem Pfeil aus Messing über den Korridor.
Ich klingelte, und sofort näherten sich Schritte. Ein tadellos gekleideter Herr um die Fünfunddreißig öffnete. „Guten Tag, Sir. Womit kann ich dienen, Sir?“
Ich sah an ihm vorbei in die elegante Diele. „Mein Name ist Dee. Ich bin Privatdetektiv und derzeit in Mr. Orban Seniors Diensten. Ich möchte gern einige Fragen an Sie richten, Mister...“
„Peace“, sagte er eilfertig. „Mein Name ist Peace.“
Er öffnete die Tür weit und ließ mich vorbei. Ich folgte ihm in ein geschmackvoll eingerichtetes Büro mit einem riesigen dunklen Schreibtisch, hinter dem der dickste Mann saß, den ich je gesehen hatte.
„Darf ich Sie Mr. Bade vorstellen, Mr. Dee? Francis...“, er wandte sich an den Fetten, „dies ist Mr. Dee. Er kommt im Auftrag von Mr. Orban.“
Bade deutete schwach auf den roten Lehnstuhl, der ihm gegenüberstand. „Setzen Sie sich“, keuchte er. „Womit...?“
Ich wollte seine kostbare Atemluft nicht mehr in Anspruch nehmen, als unbedingt nötig und unterbrach ihn, nachdem ich mich in den Lehnstuhl sinken ließ: „Es ist sehr freundlich von Ihnen, meine Herren, daß Sie mir weiterhelfen wollen.“ Ich zog den Bericht hervor. „Mr. Orban hat mir Ihren Bericht über Ruth Orban übergeben. Er ist noch immer nicht von der Vergangenheit seiner Schwiegertochter überzeugt. Vielleicht können Sie mir dazu noch einige Einzelheiten geben?“
„Steht alles im Bericht, Mr. Dee. Sind eine seriöse Agentur. Immer zufriedene Kunden gehabt.“
„Das will ich keinesfalls bestreiten, Mr. Bade“, beeilte ich mich zu versichern. „Ihr guter Ruf ist mir bekannt.“ Ich lächelte verbindlich.
Der Fette grunzte zufrieden.
„Haben Sie die Ermittlungen in Baltimore selbst durchgeführt?“ fragte ich vorsichtig.
„John, Sie geben Mr. Dee hier alles bekannt, was wir wissen.“ Nach dieser Anstrengung versank er noch ein Stück tiefer in seinem Stuhl, der ein größeres Gegenstück zu dem war, auf dem ich saß, und überließ sich seinen Meditationen.
Peace brachte zwei Kognakschwenker herbei, goß in jeden einige Tropfen, schwenkte die Gläser kräftig in seinen mageren Händen, so daß das köstliche Naß vollends an den hauchdünnen Glaswänden hängenblieb, und reichte mir eins.
Ich roch daran. Mehr konnte man damit wohl nicht tun.
Er setzte sich aufrecht auf einen schmalen Sessel und schloß die Augen. „Die Ermittlungen über Ruth Orbans Vergangenheit habe ich, soweit sie in New York anzustellen waren, selbst durchgeführt. Sie hieß, wie Sie wissen, vor ihrer Heirat Ruth Davies. Seit Juli Achtundsechzig wohnte sie in der Flatbush Avenue, und zwar bis zu ihrer Eheschließung. Dort war nichts Nachteiliges über sie bekannt. Sie führte sozusagen...“, er öffnete kurz die Augen, um mir tiefsinnig zu verraten: „...ein zurückgezogenes Leben. Die Nachforschungen in Baltimore führte die Agentur Latham durch. Der Abschlußbericht Lathams ist in unserem Bericht enthalten, den Sie inzwischen von Mr. Orban bekommen haben. Das ist alles, Mr. Dee, was ich Ihnen dazu sagen kann.“ Bedauernd hob er die Schultern.
Der Fette seufzte. „Frage mich, was Orban von Ihnen erwartet.“
„Keine Ahnung, Mr. Bade. Ich führe eben meinen Auftrag durch. Aber nun weiß ich wenigstens, daß ich mich in New York nicht mehr umzusehen brauche. Bleibt noch Baltimore.“
„Die Agentur Latham ist unseres Wissens nach äußerst zuverlässig, Mr. Dee“, sagte Peace beleidigt. „Wir pflegen des öfteren mit ihr zusammenzuarbeiten.“
„Es können überall mal Unregelmäßigkeiten vorkommen.“
Ich lächelte unverbindlich. Ich wollte ihm nicht auf die Nase binden, daß ich Latham noch von meiner Zeit als Kriminalreporter kannte. Er war damals bei der Polizei und hätte für zehn Dollar seine eigene Mutter in die Gaskammer gebracht.
Ich bemühte mich, aus den Tiefen des Lehnstuhls hochzukommen. „Ich danke Ihnen, meine Herren“, sagte ich, als ich es geschafft hatte.
„Dee!“ keuchte Bade, als ich schon auf dem Weg zur Tür war.
Ich drehte mich um.
„Sollte Latham ein Gauner sein, lassen Sie es uns bitte wissen.“
„Ganz bestimmt.“
Peace begleitete mich hinaus. Als ich vor der Haustür am oberen Ende der Treppe stand, wandte ich mich nochmal um. „Vielen Dank, Mr. Peace. Sie haben...“
Hinter mir gab es ein seltsam zischendes Geräusch. Instinktiv sprang ich zur Seite, und im selben Moment steckte ein Wurfmesser im rechten Türflügel. Es zitterte leicht im Holz. Ich ging in die Knie, drehte mich um und suchte mit meiner Automatic den Meserwerfer. Aber außer einigen harmlosen Passanten und den vorbeifahrenden Autos war nichts zu sehen.
„Sie leben gefährlich“, meinte Peace beeindruckt, als ich das Messer aus der Tür zog. Ein Zettel hing daran:
Letzte Warnung. Verschwinden Sie bis zwanzig Uhr aus der Stadt und kommen Sie nicht so bald zurück, sonst trifft das nächste Messer Sie ins Herz.
Peace starrte mich an.
„Nehmen Sie“, sagte ich und drückte ihm das Messer in die Hand. „Benutzen Sie's als Brieföffner.“
„Bekommen Sie Ihre Briefe immer auf so originelle Art, Mr. Dee?“ fragte Peace und grinste schief.
„Nur solche originellen Briefe“, erklärte ich trocken. „So long!“
Ich ging die Treppe hinab und zündete mir eine Zigarette an. Die Mittagshitze lastete über der Stadt, der Asphalt war klebrig, es roch nach Teer.
Einige hübsche junge Mädchen in kurzen Höschen gingen kichernd vorbei. Ich sah ein Weilchen auf die wohlgeformten Beine. Wenigstens etwas Erfreuliches an dieser Affenhitze, dachte ich.
Die Unterredung mit Bade und Peace hatte mir kaum Neuigkeiten gebracht. Aber ich war nun sicher, daß ich mir die Nachforschungen in New York schenken konnte.
Weshalb nur die vielen Drohungen? Wer hatte ein solches Interesse an meiner Abwesenheit? Wer hielt mich für so wichtig, daß er weder Kosten noch Mühen scheute, um mich aus der Stadt zu bringen?
Je länger ich überlegte, umso sicherer wurde ich, daß es mit Ruth Orban in Zusammenhang stand.
Warum sollte ich mit meinem Flug nach Baltimore bis zum nächsten Tag warten? Ich zuckte die Schultern, schnippte die Zigarette auf die Straße und betrat eine Telefonzelle. Wenn allen so viel daran lag, daß ich verschwand - nun, so verschwand ich eben.
Meinen Flug nach Baltimore buchte ich für die Maschine um 15.45 Uhr. Dann verständigte ich Mr. Orban und sagte ihm, ich würde mich melden, sobald ich Näheres erfahren hätte.
Dann löste ich Orbans Scheck ein, fuhr nach Hause und packte mein Zweitageköfferchen.
Und wenn meine beiden Freunde Hal und Donald Duck dachten, sie hätten mich so beeindruckt, daß ich nun doch ausrückte, so war mir das egal. Ich war fest entschlossen, alles daranzusetzen, daß ihnen außer dieser nicht mehr viele Freuden des Lebens blieben.

* * *

Um 16.30 Uhr landete die Maschine der PAA am Friendship International Airport in Baltimore. Vom Flughafen zur Stadt sind es acht Meilen.
Ich nahm den Busservice eines der besten Baltimorer Hotels in Anspruch, zahlte 1,35 Dollar Fahrpreis, und nach zwanzig Minuten stieg ich beim Sheraton-Belvedere-Hotel aus. Hoffentlich waren die Klimaanlagen leistungsfähig.
Ich nahm mir ein Zimmer, ließ mein Köfferchen hinaufbringen und trank erst mal in der Hotelbar ein kühles Bier. In Baltimore war es noch heißer als in New York. Aber die Klimaanlagen hielten tatsächlich, was der Zimmerpreis versprach. Nach dem dritten Bier fühlte ich mich wieder wie ein Mensch.
Ich ließ mir ein Taxi kommen und beschloß, in die Fenever Street zu fahren.
Der Fahrer war ein bulliger Ire mit Sommersprossen und Schweißtropfen im Nacken. Er sah mich durch den Spiegel an. „Welche Nummer, Mister?“
„Fahren Sie erst mal die Straße entlang. Ich sage Ihnen dann, wo ich aussteigen will.“
Mißtrauisch fixierten mich die hellen Augen, während er durch den starken Verkehr brauste. Gerade, als ich ihn fragen wollte, wie er das schaffte, gleichzeitig die Straße und mich zu beobachten, setzte er zum Sprechen an. Ich zündete mir eine Zigarette an und wartete, aber anscheinend war es ihm zu heiß für ein erbauliches Gespräch.
Wir gerieten in eine Verkehrsstauung und kamen kaum vorwärts. Träge blickte ich aus dem Fenster. Ich kannte Baltimore von früher. Ich war schon einige Male dort und mochte die Stadt.
„Liegt die Fenever Street eigentlich in einem guten Viertel?“ fragte ich.
Er drehte sich um, und ich sah, daß er schielte. „Naja, Mister. Nicht gerade der Stolz unserer Stadt. Sind Sie aus New York?“
Ich nickte. Der Verkehrsstrom trug uns ein Stückchen weiter. „Schlechte Gegend um die Fenever Street?“
„Es gibt bessere. Schlechtere auch.“
Nach dieser erschöpfenden Auskunft schwieg ich, bis wir in die Fenever Street kamen. Ich schaute nach Villen aus, aber vergeblich. Nur Häuserreihen und ganz selten mal ein schmaler Vorgarten.
„Sagen Sie“, wandte ich mich an den Stiernacken vor mir, „gibt es hier denn keine Villen?“
Wieder drehte er sich um und sah mir voll ins Gesicht. „Wenn Sie die alten, kleinen Häuser da meinen, schon. Sonst gibt's keine hier.“
So hatte ich mir's in meinen kühnsten Träumen vorgestellt. „Halten Sie jetzt an, bitte“, sagte ich aufgeräumt.
Ich gab ihm ein anständiges Trinkgeld, und er bot mir an, auf mich zu warten.
„Danke“, sagte ich und zwinkerte. „Ist nicht notwendig.“
Er lachte verständnisvoll und brauste davon.
Die Häuser waren uralt und ungepflegt. Ich ging den Gehsteig entlang und blieb vor dem Haus Nummer 134 stehen.
Das war also die Villa, die Ruth Orban von ihren Eltern geerbt hatte: ein fünfstöckiger Alptraum einer Mietskaserne, um die Jahrhundertwende erbaut und seither gewiß nicht neu verputzt. Trübe glänzten die tristen, schmalen Fenster in der untergehenden Sonne.
Der alte Orban hatte recht: die Sache stank zum Himmel.
Im wahrsten Sinne des Wortes, wie sich erwies. Als ich das Haustor aufstieß, überfiel mich der Geruch des Abfalls, der sich im Flur stapelte. Ich überwand meinen Widerwillen und stieg zwei Stufen empor, die zu einem schmalen Gang führten, der durch zwei verschmutzte Fenster kaum erhellt wurde. Im Hinterhof schrie ein Kind.
Ich ging den Korridor entlang und kam zu einer morschen Tür. „Portier“ stand auf einer rostigen Metalltafel. Ich klopfte.
Gerade, als ich gehen wollte, hörte ich drinnen Schritte und Gemurmel. Ich klopfte wieder, und hinter der Tür antwortete eine unwillige Stimme in unverständlichem Gekreisch.
Eine alte Frau öffnete die Tür und sah mich starr an.
„Guten Abend“, sagte ich.
„Tag“, sagte sie. „Was wollen Sie? Ich brauche nichts.“
Ich setzte zum Reden an, aber aus dem Hintergrund brüllte jemand: „Wer ist da, Sally? Wer ist es?“
Die Stimme dröhnte durchs Haus, und ich traute meinen Augen nicht, als hinten eine Tür aufging und ein schmales Männchen mit weißen, strähnigen Haaren und einem schütteren Bart erschien.
„Ich möchte eigentlich nur eine Auskunft“, sagte ich. „Ich will Sie nicht lange aufhalten.“
Der kleine Mann sah mich eine Weile durch seine randlose Brille an, kniff die Augen zusammen und sagte: „Aha. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“
Ich zückte eilfertig meinen Ausweis, und der Alte studierte ihn so eingehend, als wären nackte Mädchen drauf.
„Richard Dee. Das sind Sie?“
Ich zuckte zusammen, als er mir seine neunzig Phon in die Ohren blies. „ Allerdings“, erwiderte ich schwach. „Das bin ich.“
„Privatschnüffler“, sagte er.
„Jawohl.“
Die Fensterscheiben am Korridor klirrten, als seine Stimme durchs Haus donnerte. Mit diesem Menschen in ständiger Tuchfühlung - da konnte man ebensogut in der Einflugschneise des Kennedy Airport wohnen, dachte ich.
Ich wurde ungeduldig. „Mann, ich möchte nichts als eine klitzekleine Auskunft! Ich will nicht in Ihr Privatleben eindringen oder in das irgendeines anderen Menschen. Und ich will niemand etwas zuleide tun. Dürfte ich also...“
„Sachte, junger Mann, sachte.“
Ich seufzte.
Er gab mir meinen Ausweis zurück. „Kommen Sie rein!“
Es hätte mir durchaus genügt, an der Tür meine zwei, drei Fragen zu stellen, aber mir war nun schon alles recht.
Ich trat in die Diele und von da in ein schäbiges, feuchtes Zimmer, das etwa drei Jahre lang nicht gelüftet worden war.
„Bring was zu trinken, Sally!“ dröhnte er.
„Machen Sie sich keine Mühe“, warf ich ein. „Ich gehe sofort wieder.“
Er wedelte mich mit herrischer Geste auf einen der fadenscheinigen Stühle. „Ein guter Schluck tut immer wohl.“
„Okay“, seufzte ich. Ich holte meine Zigaretten hervor und hielt die Schachtel dem Alten hin.
Er nahm eine mit spitzen Fingern heraus und roch daran. „Man kann nie wissen, was sie in diese Dinger reinmischen“, sagte er. „Ich rauche sonst nur Selbstgedrehte, wissen Sie?“
Ich nickte ergeben und reichte ihm Feuer. „Hat hier mal eine gewisse Ruth Davies gewohnt?“ fragte ich, während er an der Zigarette zog.
„Wie war ihr Name?“
„Ruth Davies.“
Er dachte scharf nach. „Ruth Davies. Hm. Wann soll das gewesen sein, sagten Sie?“
„Vor einigen Jahren.“
Er sah aus wie ein todernster Gartenzwerg, wie er so dasaß und an seinem fransigen Bart zupfte. „Die kenne ich nicht“, meinte er schließlich. „Die einzige Davies, die ich ist die Bette, die Schauspielerin Kennen Sie die? Die war vielleicht 'n Püppchen in ihrer Jugend. Aber jetzt, -“ er machte eine abfällige Handbewegung, „ne alte Schachtel.“
„Sie hat also nie hier gewohnt?“
„Die Bette?“
„Nein, die Ruth.“ Langsam kam mir der Verdacht, daß er mich verschaukeln wollte. „Ruth Davies.“
„Vielleicht vor...“ Er zog an seiner Zigarette, als ob es eine Pfeife wäre. „Vielleicht vor dreißig, vierzig Jahren. Da hätte ich's vergessen. Aber später...“ Er schüttelte langsam und bedauernd den Kopf.
Vielleicht hatte die Davies unter anderem Namen hier gewohnt. Ich holte das Foto hervor, das mir Orban gegeben hatte. „Kennen Sie dieses Mädchen?“
Er setzte seine Brille zurecht, wischte die Hände an den Hosenbeinen ab und nahm das Bild. Er betrachtete es, wie er meinen Ausweis betrachtet hatte. „Toller Käfer“, meinte er anerkennend. „Wissen Sie, ich bin ja jetzt schon zu alt dafür aber in meiner Jugend... So 'n leckerer Appetithappen...“
Hinter mir öffnete sich die Tür, und ich dachte, na endlich kommt der gute Schluck, als eine entschlossene Männer stimme hinter mir sagte: „ Nehmen Sie die Hände hoch, Dee!“
Der Alte grinste, und ich wußte, daß ich in der Falle saß. Ich nahm die Hände hoch und drehte mich um. Wie erwartet, sah ich in eine Automatic, hinter der zwei Männer standen. Als ich mich umwandte, griff auch der zweite nach seinem Schießeisen.
„Gehen Sie zur Wand, aber langsam! Nur keine hastige Bewegung, Schnüffler!“
Ich hielt mich streng an die Anweisungen.
„Er ist natürlich wegen Ruth gekommen. Ihr solltet ihn gleich erledigen“, knurrte der Gartenzwerg.
„Das kommt später“, meinte einer der beiden Besucher gemütlich. „Wer hat Sie geschickt, Dee?“
„Berufsgeheimnis“, erklärte ich kaltschnäuzig und hielt die Hände ruhig.
„Mensch, Sammy, es gibt noch Helden.“ Er trat zu mir und gab mir einen leichten Stoß mit dem Revolver. Ich lehnte mich an die Wand.
Eigentlich hatte ich genug von diesen Typen, die zu jedem Wort die Knarre brauchten. Außerdem bekam ich den Eindruck, daß ich ziemlich schwer in der Tinte saß. Außer Orban Senior wußte kein Mensch, daß ich hier war. Und Orban konnte mir nicht zu Hilfe kommen.
Andererseits hätte ich sehr gern gewußt, was Ruth Orban mit diesen Leuten zu tun hatte.
„Zieht ihm eine über“, sagte der Gartenzwerg.
„Halt's Maul“, brummte Sammy. „Wer hat dich geschickt, Schnüffler?“
Ich bezweifelte, daß sie wirklich nicht wußten, wer mich beauftragt hatte. Wer immer die beiden gesandt hatte, fürchtete sich vor einem halbgelähmten Mann: Orban.
„Also?“ drängte Sammy.
„Was soll's“, seufzte ich. „Es sollte eigentlich geheim bleiben: das Denkmalamt hat mich geschickt. Der Verein zur Erhaltung unserer schönsten Bauten interessiert sich für dieses Gebäude.“
Sammys Waffengefährte wurde hellgrün. „Soll ich ihm eine kleben?“
„Warte, Paul! Er hat nur ein großes Mundwerk. Das wird ihm schon vergehen.“
Hart und glitzernd starrten mich die schmalen Augen an, und ich sah eine besondere Art von Vorfreude darin glänzen. Und das schlimmste war: was ich auch tat und wie ich mich auch verhielt, ich konnte nichts mehr abwenden.
„Schnüffler, dreh dich mit dem Gesicht zur Wand! Und laß die Pfoten oben, wir gehen hier nicht in den Nahkampf über, wie die Kollegen in New York.“
„Paul, nimm ihm seine Kanone ab.“
Paul war ein häßliches Männchen mit einem Wasserkopf und Pusteln im Gesicht. Zwischen seinen Beinen konnte man einen Fußball durchkicken, ohne daß er die Fersen auseinandernahm. Mit geraden Beinen wäre er wohl ungefähr zwanzig Zentimeter größer gewesen. Wenn man so aussah, blieb einem kaum etwas anderes als die Gangsterlaufbahn, dachte ich.
Das war für lange Zeit mein letzter Gedanke. Denn als ich aufwachte, lag ich wohlverschnürt im Fond eines Wagens, der durch die dunklen Straßen von Baltimore fuhr. Vorn saßen Sammy und Paul, und das Radio spielte Beat.
Mein Kopf schmerzte entsetzlich, umso mehr, als ich in jeder Rechtskurve mit dem Schädel gegen die Türklinke stieß. Meine Hände waren am Rücken zusammengebunden und eingeschlafen. Ich hatte ein Gefühl, als ob ein kleiner Mann in meinem Gehirn bemüht war, die Schädeldecke von innen zu öffnen.
Ich versuchte vorsichtig, mich aufzurichten, aber es gelang mir nicht. Angestrengt blickte ich aus dem Fenster, konnte jedoch nicht erkennen, in welchem Stadtteil wir uns befanden.
Die beiden qualmten vorne wie die Schlote, und ich hatte eine Zigarette dringend nötig.
„He, Paul“, sagte ich, „gib mir doch auch 'ne Zigarette.“
Paul drehte sich um, und Sammy sah durch den Rückspiegel. „Schon aufgewacht?“
„Soll ich ihm die Fesseln abnehmen?“ fragte Paul.
Sammy nickte.
Paul beugte sich nach hinten, drehte mich um wie einen unhandlichen Holzklotz und zischelte: „Daß du keine Dummheiten machst, Schnüffler! Sonst legen wir dich um.“
Ich grinste. Es schien mir mehr als zweifelhaft, daß dem Auftraggeber der beiden Ruth Orkans Vergangenheit einen Mord wert war. Sonst wäre das vermutlich bereits erledigt gewesen.
Vorsichtig setzte ich mich auf und nahm die Zigarette, die mir Paul reichte. Wir befanden uns immer noch im Stadtgebiet von Baltimore.
„Leg ihm sicherheitshalber die Handschellen an, Paul“, riet Sammy und grinste mir durch den Spiegel zu. „Der ist ein durchtriebener Knabe. Wenn ich mich erinnere, was uns aus New York berichtet wurde...“
Paul hob die Handschellen aus dem Handschuhfach, und gerade, als ich mir überlegte, wie ich aus der Situation meinen Nutzen ziehen konnte, griff Paul in seine Jacke und zog seine Automatic heraus. „Wird's bald?“
Ich reichte ihm meine Hände. „Freundchen“, sagte er, „fange zu singen an!“
Ich stellte mich taub.
„Na?“
Wir bogen in den State Highway 445 ein. „Hat euch euer Boß nicht verraten, worum die ganze Sache geht? Oder seid ihr so schwach im Denken, daß ihr trotzdem nicht draufkommt, wer mich geschickt hat?“
„Ich haue...“
„Laß das, Paul! Also der alte Orban, wie wir's uns gedacht haben. Kann unangenehm werden für dich, Dee.“
„Wo bringt ihr mich eigentlich hin?“ fragte ich.
„Wirst schon sehen. Wir ziehen dich für eine Weile aus dem Verkehr. War ja schon einmal so ein Privatdetektiv hier, den Orban geschickt hatte. Mit dem war's einfacher, der wollte sich nicht die Finger verbrennen. Der bekam eine kleine Abreibung, ein bißchen Schmerzensgeld und durfte nach Hause. Der hält den Mund, das ist sicher. Aber du?“
Aha, Latham, dachte ich. Es ging also einzig und allein um Ruth Orban. Seltsam. Welche Fäden gingen von Ruth Orban aus, die niemand entdecken durfte? Denn daß man wegen einer erfundenen Villa reihenweise Berufsgangster auf den Plan rief, war doch zu unvorstellbar.
Wir bogen in die Gittings Avenue ein und kurz nach der Stadtgrenze in einen holprigen Feldweg.
„Es ist mir furchtbar peinlich“, sagte ich. „Aber ich muß mal.“
Die beiden reagierten nicht.
„Ich muß mal!“ sagte ich, diesmal lauter.
Jedes Schlagloch auf der holprigen Landstraße verursachte einen bohrenden Schmerz in meinen Gehirnwindungen.
Ich stöhnte laut auf. „Dauert's noch lange? So bleibt doch einen Augenblick stehen.“
„He, Paul“, sagte Sammy. „Erinnerst du dich an den von letzter Woche? Der hat doch tatsächlich vor Angst in die...“
Paul wandte sich um, blickte mir kurz ins Gesicht und sagte: „Fahr nur ruhig zu, Sammy. Er simuliert bloß.“
Ich tat mir keinen Zwang an und stöhnte laut und lustvoll vor mich hin. So ließen sie mich wenigstens in Ruhe nachdenken. Ich hatte erwartet, daß sie nicht auf diesen Trick hereinfallen würden. Das wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein. Besonders in dieser mondlosen Nacht an einer Stelle, wo es keine Straßenbeleuchtung mehr gab.
Anscheinend war ich also durchaus planmäßig zu der Adresse in der Fenever Street gekommen. Das hieß, daß Ruth Orban mit Absicht ihre „frühere Anschrift in Baltimore“ so angegeben hatte, daß jemand, der sich zu sehr für ihre Vergangenheit interessierte, bei dem Gartenzwerg und seiner Sally landen mußte. Dort wurde er dann so lange hingehalten, bis Verstärkung erschien, die den Interessenten hinausprügelte und von seiner Neugier gründlich heilte.
Der wahre Interessierte war aber Orban Senior.
Plötzlich hatte ich Angst um ihn. Ich mußte versuchen, so schnell wie möglich zu entkommen. Ich mußte den alten Mann warnen. Er hatte eine Mausefalle aufgestellt, und nun befand sich eine Hornviper drin.
Sammy verringerte die Geschwindigkeit, und wir fuhren über Kies. Er hielt vor einer einstöckigen Villa und zog den Zündschlüssel ab.
Wir stiegen aus. Die Villa lag einsam in einem kleinen Wäldchen. Nicht einmal ferner Verkehrslärm drang hierher. Ich hatte gar nicht gewußt, daß es so nahe bei Baltimore eine so einsame Gegend gab.
Es würde schwierig werden. Wenn sie mich abwechselnd bewachten, war es aussichtslos. Hier hatte ich keine Hilfe zu erwarten, ich war völlig auf mich allein gestellt.
Ich war müde.
„Komm, Schnüffler“, munterte Sammy mich auf. „Wir wollen hier keine Wurzeln schlagen.“
„Ich muß dringend“, seufzte ich. „Gleich kommt die Mama mit den frischen Windeln“, höhnte Paul.
Sammy lachte schadenfroh.
Sie führten mich die Stufen zum Eingang des Hauses hinauf. Paul sperrte die Tür auf - und ich hoffte, das hieß, daß sonst niemand im Haus war. Ich stolperte über die Türschwelle, und augenblicklich hatten die beiden ihre Schießeisen in der Hand.
Wir gingen durch eine große, mit dicken Teppichen ausgelegte Diele. An den Wänden hingen irgendjemandes Vorfahren.
„Ich...“, begann ich.
„Das wissen wir bereits. Dort ist die Toilette.“
Ich ging zielstrebig auf die Tür zu.
„Paul, du gibst auf ihn acht! Ich gehe inzwischen nach oben und telefoniere.“
Paul rammte mir warnend den Lauf in die Rippen und trieb mich durch die Tür. „Keine Mätzchen. Ich habe ein nervöses Leiden im rechten Zeigefinger“, sagte er.
Ich nickte. Als ich die Tür hinter mir zuwerfen wollte, stellte Paul seinen Fuß dazwischen. „Laß dir nicht einfallen, die Tür zu versperren, sonst jage ich ein paar Bohnen durch die Füllung.“
Ich lehnte die Tür an. Die Toilette war genügend groß für meine Pläne. Eine himmelblaue Muschel stand drinnen, ein Waschbecken, das genau dazu paßte, ein Spiegel an der Wand und eine Bürste aus gelben Nylonborsten in einer Ecke. Ich zog die Spülung, holte die Bürste und rieb sie gründlich naß, rieb noch etwas Seife nach und gab der Muschel einen festen Tritt mit dem Absatz meines Schuhs. Die Plastikbrille zersprang.
„Was ist hier los?“ schrie Paul und stürmte durch die Tür.
Ich kam hinter der Tür hervor und bohrte ihm die Bürste ins Gesicht. Er ließ die Automatic fallen, und ich stieß noch einmal fest nach.
Die spitzen Borsten drangen in seine Haut. Er schrie auf und griff mit beiden Händen nach seinen Augen. Ich ließ den Besen fallen und schlug meine Hand hart gegen seinen Hals.
Er taumelte gegen die Wand und glitt daran zu Boden.
„Was ist los, Paul?“ Sammys Stimme kam näher. „He, Paul!“
Ich war ganz ruhig.
„Paul! Bist du bei dem Schnüffler drinnen?“
Er war über die Treppe heruntergekommen und stand nicht weit von der halb geöffneten Tür entfernt.
Ich schlug die Tür zu und ging hinter dem ohnmächtigen Paul in Deckung. Augenblicklich begann Sammy von draußen durch die Tür zu schießen, und ich verkroch mich in dem Eckchen zwischen Paul und Wand.
„Komm raus, Dee!“ brüllte Sammy von draußen.
Ich schwieg.
„Komm raus, du Mistkerl!“
Ich zog die Beine ein und rührte mich nicht. Der Schweiß rann mir übers Gesicht und in die Augen. Die Kopfschmerzen peinigten mich noch mehr als vorher. Die Handschellen gaben mir wenig Bewegungsfreiheit, aber ich mußte Gott danken, daß sie mir wenigstens die Fesseln abgenommen hatten, die meine Handgelenke zusammengeschnürt hatten. Damit wäre ich hilflos gewesen.
Wieder begann Sammy zu schießen. Diesmal tiefer. Ich schielte kurz hinter Paul hervor, sah die Löcher in der Tür und zog den Kopf wieder ein. Im selben Augenblick spürte ich, wie Pauls Körper zuckte.
Hinter mir schlugen die Kugeln in die Wand. Kachelsplitter spritzten in alle Richtungen. Draußen lud Sammy seine Waffe nach.
„Komm raus, Dee! So gut kannst du dich gar nicht verstecken, daß ich dich nicht treffe!“
Wieder begann das wütende Bellen der Automatic. Systematisch und nicht zu hastig durchlöcherte Sammy die Tür. Dann drang hinter mir eine Kugel in die Wand, Wasser spritzte heraus. Sammy mußte ein Rohr getroffen haben. Langsam wurde es ungemütlich, Obwohl mir die kalte Dusche wohltat. Aber ich mußte damit rechnen, daß Sammy demnächst Verstärkung erhielt. Dann würde es mir auf alle Fälle an den Kragen gehen.
Wieder schlug eine Kugel in Pauls Körper, neben seinem Kopf bildete sich eine Blutlache.
Ich saß in der Falle, wie das sprichwörtliche Kaninchen. So konnte es nicht weitergehen, ich mußte etwas unternehmen.
Beim nächsten Schuß brüllte ich auf, duckte mich und holte mir Pauls Pistole vom Boden. Draußen hörte ich Sammys siegessicheres Schnaufen und den nächsten Schuß.
Sammy horchte, und als das Echo des Schusses verklungen war, stöhnte ich laut auf und stieß Paul gegen die Tür. Lautlos nahm ich daneben Aufstellung.
„He?“ sagte Sammy.
Ich rührte mich nicht.
Draußen schlich Sammy zur Tür und ich fühlte geradezu, wie er das Ohr ans Holz legte und horchte, ob von drinnen noch ein Laut zu vernehmen war.
Ich schloß die Augen und betete, daß er nicht sicherheitshalber noch mal sein Magazin durch die Tür entleerte. Ich hatte Angst.
Schweißgebadet lehnte ich an der Tür und preßte meinen Rücken dagegen, damit mein Zittern kein Geräusch verursachte. In den Händen hielt ich Pauls Pistole.
Als ich hörte, wie Sammy an die Klinke griff, gab ich schnell hintereinander drei Schüsse ab und warf mich flach auf den Boden.
Draußen schrie Sammy auf und fiel zu Boden. Aber ich traute der Stille nicht, was nur natürlich war. Also blieb ich eine Weile ruhig liegen und ließ mir das Wasser, das aus der Wand schoß, übers Gesicht rinnen.
Paul war tot, daran war kein Zweifel. Und Sammy?
Nur das gleichmäßige Ticken meiner Armbanduhr und das Schlagen meines Herzens war zu hören. Sogar das Rauschen des Wassers wurde davon übertönt. Zumindest bildete ich mir das ein.
Ich lag mit der linken Schläfe auf den Handschellen an meinen Gelenken, und das Metall bohrte sich in meine Haut.
Hatte Sammy den gleichen Trick angewendet wie ich zuvor?
Ich hielt immer noch die Pistole in der Hand und zielte auf die Tür. Nach einer Weile stieß ich mit den Füßen gegen die Muschel, aber draußen blieb es ruhig.
Schließlich richtete ich mich auf. Das Wasser rann durch den Abfluß in der Mitte des kleinen Raumes ab, trotzdem war ich völlig durchnäßt.
Zögernd schob ich den Toten zur Seite, öffnete die Tür und sprang in Deckung.
Aber Sammy konnte keine Tricks mehr anwenden. Er hatte mit dem Kopf an der Tür gelehnt und fiel nun nach hinten. Er war tot.
Beklommen betrachtete ich ihn. An dessen Stelle könntest du jetzt hier liegen, dachte ich. Was ihn und mich trennte, war nichts als ein bißchen Glück.
Ich holte mir die Schlüssel für die Handschellen aus Pauls Rocktasche und stieg über Sammy hinaus in die Diele.
Mit noch etwas unsicheren Fingern öffnete ich die Fesseln und zog mich aus. Auf dem Etikett meines leichten Anzugs stand „Bügelfrei“, und ich hoffte, daß das stimmte.
Ich hing den Anzug über die Stuhllehnen und zerknüllte das durchnäßte Zigarettenpäckchen. Nachdem ich mir eine von Sammys Luckies angezündet hatte und erschöpft in einem der gepolsterten Sitze lag, löste sich meine Spannung ein wenig, ich wurde ruhiger. Die Kopfschmerzen ließen nach, aber ich war unendlich müde.
Ich ging noch mal zu Paul, griff in seine Rocktasche und zog die Brieftasche hervor. Ich fand einen Führerschein, einige größere Dollarnoten und ein paar Fotos.
Dann griff ich mir Sammys Brieftasche und fand etwa das gleiche.
Flüchtig untersuchte ich die Räume des Landhauses, doch ich fand nichts Besonderes, außer einer halbvollen Flasche Johnny Walker. Die nahm ich an mich und ging wieder in die Diele zurück.
Anscheinend war das Haus mit allen Möbeln, Teppichen und Bildern zum Verkauf ausgeschrieben, denn es fanden sich keinerlei persönliche Gegenstände dort, die Rückschlüsse auf den Besitzer zuließen.
Ich setzte mich zum Telefon, ließ den Whisky in mich hineinrinnen und wählte die Nummer des Polizeihauptquartiers.
„Verbinden Sie mich bitte mit Captain Morgue!“
„ Wer spricht?“
„Richard Dee.“
„ Augenblick, bitte. Verbinde.“
Es knackte in der Leitung, und Morgue schnaufte ins Telefon.
„Guten Abend, Captain. Dee hier.“
„Ich hab's mit Begeisterung vernommen. Sind Sie etwa hier in Baltimore?“ Das klang wenig einladend, aber das war ich gewohnt.
„Nicht ganz, Captain. Am besten, Sie schreiben sich gleich den Weg zu mir auf, denn ich brauche Sie. Hier ist einiges los.“
Gequält wimmerte der Captain ins Telefon: „Nicht schon wieder, Dee! Was haben Sie denn angestellt? Soll ich den Krankenwagen oder den Leichenbeschauer mitbringen?“
„Leichenbeschauer“, sagte ich. „Also schreiben Sie: State Highway bis kurz vor die Stadtgrenze, dann einbiegen in die Gittings Avenue. Kurz hinter der Stadtgrenze zweigt rechts ein besserer Feldweg ab. Den fahren Sie rein, bis Sie zu einem großen Landhaus - eigentlich einer Villa - kommen. Dort erwartet Sie Ihr sehr ergebener Dee.“
Captain Morgue seufzte abgrundtief. „Und wer noch?“
„Die Toten heißen... Warten Sie mal! Samuel Delacourt und Paul Woolfe. Falls die Führerscheine echt sind.“
„Woolfe kenne ich nicht“, meinte der Captain. „ Aber Sammy Delacourt, ja. Da haben Sie Glück gehabt, der wird, wenn ich mich recht erinnere, wegen Mordes gesucht. Möglicherweise steht Ihnen sogar eine kleine Prämie ins Haus.“
„Und da läuft der Kerl mit einem Führerschein herum, in dem sein echter Name steht?“ fragte ich ungläubig.
„Ist er ja nicht“, erwiderte der Captain. „In Wirklichkeit hieß er anders, aber wir kannten einige seiner Pseudonyme, wenn ich so sagen darf.“ Er lachte. „Falsche Dokumente bekommt man heutzutage nicht geschenkt, mein Freund. Auch die Stars können sich nicht allzu viele davon leisten.“
„Da bin ich aber froh“, sagte ich. „Ich dachte schon, ich hätte einer darbenden Familie den Vater genommen.“
„Okay. Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen.“
Ich legte den Hörer auf die Gabel und trank den Rest des Whiskys aus. Dann wählte ich die Null.
„Operator. Was kann ich für Sie tun?“
„Geben Sie mir bitte WH-3-3657, New York City.“
Sie wiederholte die Nummer und fragte mich nach meiner, die ich vom Apparat ablas.
Während ich vergeblich nach einer weiteren Flasche Whisky suchte, läutete das Telefon. Ich ging hin und hob ab.
„Hier Dee!“
„Ich verbinde“, sagte die Stimme. Orban meldete sich.
Ich berichtete ihm ausführlich alles, was mir widerfahren war, und sagte abschließend: „Gehen Sie nicht aus dem Haus, Mr. Orban! Und lassen Sie niemanden zu sich! Absolut niemanden, klar? Meiner Ansicht nach sind Sie in höchster Gefahr. Ich komme morgen gleich nach meiner Ankunft zu Ihnen.“
Langsam legte ich den Hörer auf die Gabel. Ich hatte kein gutes Gefühl und hoffte nur, daß Orban meine Anweisungen wirklich befolgte.
Millionäre sind nicht immer folgsam.
Einige Minuten später bogen zwei Streifenwagen in das Wäldchen und hielten auf dem Kies. Captain Morgue sprang aus einem der Wagen und kam aufs Haus zu.
Ich ging ihm entgegen, nachdem ich schnell in meine feuchte Hose geschlüpft war.
Morgue sah aus wie ein Seehund, und durch sorgsame Pflege seines Schnurrbartes erhöhte sich dieser Eindruck noch. Ich wich seiner zum Willkommensschlag erhobenen Pranke aus und reichte ihm die Hand. Er nahm sie und hieb mir mit der anderen auf die Schulter, daß ich augenblicklich wieder Kopfschmerzen bekam.
„Na, Sonnyboy?“ grinste er. „Kaum sind Sie im Lande, schon gibt's Arbeit.“
Ich fletschte die Zähne. „Ihr Hintern wird sowieso zu fett, Captain.“
Der lachte dröhnend, Obwohl ich daran nichts Lustiges fand. Sein Hintern wurde wirklich zu fett.
Aber mich sollte es freuen, wenn die Mordkommission bei Laune war. Dann fielen die Formalitäten, die mich betrafen, nicht so umfangreich und langatmig aus.
Die Spurensicherung, der Arzt und die Fotografen kamen ins Haus, und ich erzählte Morgue die ganze Geschichte, bat ihn aber in Orbans Namen, die Sache geheimzuhalten und keinesfalls an die Presse weiterzugeben. Orban war ein zu bekannter Mann.
Während wir sprachen, kam ein Anruf von Morgues Leuten: Die Villa war zum Verkauf ausgeschrieben, und der bisherige Besitzer wußte angeblich nicht, was in seinem Haus während seiner Abwesenheit vor sich ging.
„Wir behalten ihn genau im Auge, Dee“, sagte Morgue. „Darauf können Sie sich verlassen.“
Nachdem die Arbeit der Mordkommission beendet war, fuhren wir in die Stadt zurück. Im Polizeihauptquartier unterschrieb ich das Protokoll. Morgue wollte sich am frühen Vormittag Latham vorknöpfen. Sally und der Gartenzwerg waren bereits verhaftet worden.
Im Augenblick jedoch interessierte mich das alles nur noch wenig. Ich sehnte mich nach einer Dusche und einem kühlen Bett.
Als der Polizeiwagen mich in mein Hotel brachte, graute es. Es war halb vier Uhr früh.

* * *
Um 15.17 Uhr landete die Maschine in New York.
Ich hatte vier Stunden geschlafen und war dann sofort ins Polizeihauptquartier gefahren, wo Captain Morgue mit bedeutend gesunkener Laune und silbern umhangenen Blick durch die Büros seiner Mitarbeiter geisterte.
Latham, so hatte das Verhör ergeben, war bedroht worden, deshalb hatte er Bade & Peace einen falschen Bericht geliefert. Kein Wort von dem „Schmerzens¬geld“, das Sammy erwähnt hatte. Ich hielt auch den Mund. Ich wollte nicht, daß man mir's als Konkurrenzneid auslegte.
Außerdem, so stand im Protokoll, hätte Latham sich weiter keine Gedanken über die Sache gemacht. Das war schon glaubwürdiger: Latham hatte sich schon bei der Polizei niemals über irgendetwas besonders viele Gedanken gemacht. Außer vielleicht, wo etwas für ihn heraussprang.
Der alte Portier war sozusagen ein Gangster in Pension. Eines Tages hätten ihn Sammy und Paul besucht und gebeten, ihnen sofort Bescheid zu geben, wenn jemand nach einer gewissen Ruth Davies fragen würde. Das hätte er getan. Aus reiner Gefälligkeit natürlich. Und die Telefonnummer, die die beiden Herren hinterlassen hatten, die hätte er verloren.
Auch er hätte sich weiter keine Gedanken gemacht.
Tja, dachte ich, als ich am Flugplatz ein Yellow Cab anheuerte, Sammy und Paul hätten uns vielleicht weiterhelfen können. Aber die waren tot.
Vierzig Minuten später stand ich vor Orbans Haus. Der Butler bat mich, eine Minute zu warten.
Ich zündete mir eine Zigarette an und ging in der kühlen Diele auf und ab.
Nach wenigen Augenblicken kam der Butler kreidebleich zurück. „Mr. Dee...“ Er rang nach Worten.
Aber er brauchte nicht weiterzureden. Ich wußte, was er sagen wollte.
„Ist Mr. Orban...?“
„Er ist die Treppe hinuntergefallen, Sir. Er rührt sich nicht.“
Eilig ging ich an ihm vorbei und stieß die Tür zur Halle auf. Orban lag mit dem Kopf nach unten am Fuß der Treppe. Der dunkelrote, seidene Morgenrock spannte sich seltsam um seinen verkrümmten Körper.
Langsam trat ich näher und beugte mich hinunter. Noch bevor ich nach der Hand des alten Mannes griff, wußte ich, daß da nichts mehr zu machen war.
Der Butler stand neben mir und beugte sich über meine Schulter. Als ich ihm ins Gesicht sah, bemerkte ich die Tränen in seinen Augen. Das sah nach ehrlicher Trauer aus.
„Er ist tot“, sagte ich leise. Irgendein Schwein hatte den alten Mann brutal über die Treppe gestoßen. Einen harmlosen, alten Mann, der nichts wollte - außer Gewißheit über die Herkunft des Flittchens, das sich seinen Sohn geangelt hatte. Seinen Sohn - den Alleinerben. War es das?
Keinen Augenblick lang kam mir die Idee, daß Orban von sich aus gestürzt sein konnte, bis der Butler sagte:
„Ich muß sofort Mr. Peter verständigen. Er hat seinen Vater so oft gewarnt, er würde in dem langen Morgenmantel noch mal stürzen. Der arme Mr. Peter.“
„Warten Sie!“ rief ich ihm nach, als er davongehen wollte. „Wo ist das Telefon?“
„In der Diele rechts, Sir. Aber wir sollten doch erst...“ Er kam hinter mir her.
Ich wählte die Nummer des Morddezernats und ließ mich mit Captain Edward Coleman verbinden. „Hallo, Ed? Dick hier. Hast du etwas Dringendes an Arbeit oder kannst du dich für eine Weile verdrücken?“
„Sicher“, sagte er. „Brauchst du was?“
„Komm hierher! Erst mal allein, wenn es geht. Ein Klient von mir, Mr. Orban, ist eine Treppe hinuntergefallen. Aber die ganze Sache kommt mir ziemlich eigenartig vor. Ich glaube nicht recht an einen Unfall.“
Er überlegte. „Aber Dick, allein kann ich dir da kaum helfen. Ich brauche doch Leute, um das festzustellen. Sag mal, meinst du etwa Orban, den Millionär?“
„Genau den.“
Ich nannte Ed die Adresse, und er versprach, ohne großen Aufhebens zu kommen. Man konnte nie wissen, wofür es gut war, wenn die Presse möglichst spät davon erfuhr.
„Sind Sie schon lange in Mr. Orbans Diensten?“ fragte ich den Butler.
„Seit acht Jahren, Sir.“
„Dann kannten Sie ja Mr. Orban recht gut, nicht wahr?“
„Das kann man wohl sagen. Keiner kannte ihn besser, außer vielleicht Mr. Peter, sein Sohn. Sir, wir sollten ihn doch...“
Ich hielt ihn am Arm fest. „Warten Sie, bis die Polizei hier ist! Der Inspektor wird sich bestimmt mit Mr. Orban Junior unterhalten wollen.“
Zweifelnd sah er mich an und zögerte.
„Ich nehme an, Mr. Orban hat sich heute nicht außergewöhnlich benommen, oder? Waren irgendwelche Besuche hier?“
„Nein, Sir.“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Im Gegenteil, Mr. Orban war recht gut gelaunt und sagte zu mir, als ich ihm das Frühstück servierte: >Coyler, ich fühle mich heute so gut wie schon lange nicht. Wenn Besuch kommt, schicken Sie ihn fort; ich möchte mir den schönen Tag nicht stören lassen<. Er stand dann wie üblich auf, kleidete sich an und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Um dreizehn Uhr nahm er, wie üblich, das Mittagessen ein.“
Das war also am Morgen, nachdem ich ihn gegen Mitternacht von Baltimore aus angerufen habe.
„Wann haben Sie Mr. Orban zum letztenmal lebend gesehen?“
„Er rief mich um fünfzehn Uhr hinauf, und ich servierte ihm den Tee.“
„Gab es Anrufe?“
„Das Telefon war in Mr. Orbans Arbeitszimmer geschaltet, also kann ich das nicht sagen.“
„Besuche?“
„Nein.“
Ich überlegte. „Wäre es möglich, daß jemand ins Haus kam, ohne daß Sie es merkten, Mr. Coyler?“
Er zögerte einen Augenblick. „Ja, das wäre möglich. Mr. Orban hat zu seinem Arbeitszimmer einen eigenen Eingang, der über eine Verbindungstreppe ins Nebenhaus führt. Es wissen nur sehr wenige Leute davon.“
„Wer zum Beispiel?“
Er hob die Hand. „ Mr. Dee, Sir - wirklich, ich weiß nicht...“
„Mr. Coyler“, unterbrach ich ihn. „Mr. Orban ist tot. Ich glaube, Ihre Skrupel sind unbegründet.“
Er senkte den Kopf. „Ich glaube nicht, daß ihn jemand umgebracht hat, Sir. Das wollten Sie doch andeuten? Er war ein guter Mensch, er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun.“
Er schwieg.
Ich wartete, bis er wieder zu sprechen begann. „Mr. Peter kannte den Eingang natürlich. Die Wirtschafterin auch.“
„Kannte Mrs. Orban ihn?“
Er sah mich kurz an. „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wahrscheinlich wußte sie davon.“
Ich wartete, daß er weitersprach, aber er schwieg.
„Und durch die Vordertür konnte niemand herein?“
„Nein. Ganz ausgeschlossen, Sir. Ich lege immer die Kette vor. Selbst Mr. Orban - Mr. Peter Orban - hätte nicht eintreten können. Vollkommen unmöglich, daß jemand durch die Vordertür kam.“
„Danke, Mr. Coyler.“
Ich fühlte mich so niedergeschlagen, wie schon lange nicht. Ich war müde und verdrossen und wünschte mir, ich wäre einsfünfzig groß und neunzig Pfund schwer und hätte als einzige Sorge die Furcht, daß mein Pferd beim nächsten Rennen schlecht vom Start kam.
Ich starrte den toten Mann am Fuß der Treppe an. Für mich war es kein Unfall. Es war kaltblütiger, gemeiner Mord. Und seine Schwiegertochter war eine Schwindlerin.
Es läutete. Coyler öffnete. Ed Coleman und seine Leute traten ein.
Ich begrüßte ihn kurz und erzählte ihm, was er wissen mußte. Der Captain sah wie immer ein bißchen schläfrig aus, aber das machten wohl seine weit auseinanderliegenden Augen. Er war einer der fähigsten Burschen der Mordkommission Manhattan West. Ich kannte ihn noch aus der Zeit, als ich ein grüner Junge bei den „New York Chronicles“ war und mich zu Beginn unserer Bekanntschaft mit ihm geprügelt hatte. Weil er mich einen grünen Jungen nannte. Später gingen wir dann regelmäßig zusammen auf den Rennplatz, und er setzte meine Tips.
Ed hörte mir ausdauernd zu und hielt mir gedankenlos seine einzige Schwäche, Eukalyptusbonbons, unter die Nase. Ich lehnte dankend ab und führte ihn in Orbans Arbeitszimmer.
Nichts deutete darauf hin, daß Orban Besuch gehabt hatte. Und natürlich auch keine Spuren eines Kampfes. Es war alles genauso wie damals, als ich hier Orbans Auftrag und den Bericht von Bade & Peace entgegengenommen hatte.
Trotzdem pfiff Ed seine Leute her und ließ sie nach Fingerabdrücken suchen.
Unten erwartete uns der Doktor. Er hatte seine erste Untersuchung vorläufig abgeschlossen.
„Irgend etwas Besonderes festgestellt, Doc?“ erkundigte sich Ed.
„Nein, Captain. Soweit ich jetzt schon etwas sagen kann, sieht es nach einem Sturz ohne fremde Mithilfe aus. Der Mann war gehbehindert, und ich nehme an, er verfing sich in dem langen Morgenrock und stürzte die Treppe hinunter. Er hat einige Abschürfungen und ein gebrochenes Genick. Keine Spuren von Gewalt. Aber wie gesagt...“
„Okay. Sie sind also der Ansicht, daß es ein Unglücksfall war?“ begann ich.
„Ich erklärte Ihnen doch, ich kann nichts Abschließendes sagen. Dazu muß ich die Obduktion abwarten. Er kann ebensogut an einem Herzschlag gestorben sein, als er die Treppe hinabgehen wollte. Oder an einer Portion Gift.“ Mißmutig schwang er seine Tasche vor meiner Nase auf einen Stuhl und fragte: „Sonst noch was?“
Ed kaute verbissen an einem Bonbon. „Hautfetzen oder Haare unter den Fingernägeln? Schlagspuren auf dem Kopf? Nichts dergleichen?“
„Captain ich bin doch kein Anfänger“, entgegnete der Polizeiarzt beleidigt. „Sorry, kein Schlag auf den Kopf. Und der Rest muß im Labor festgestellt werden. Tut mir leid, daß ich Sie enttäuschen muß.“
Murrend nahm er seine Tasche und ging.
Ich sah Ed von der Seite her an, aber er grinste nur.
„Und ich glaube trotzdem nicht an einen Unfall“, sagte ich eigensinnig. „Ich kann nicht so lange warten, bis der Doktor in aller Ruhe seine Resultate hat. Das hier waren keine Dilettanten, und ich bin überzeugt, es steckt noch mehr dahinter als einzig und allein Ruth Orban.“
Ed nickte und rieb sich seine lange Nase. „Nach allem, was du mir erzählt hast, glaube ich auch nicht mehr daran. Obwohl...“ Er sah mich von der Seite an. „Ich möchte nicht an deiner Stelle sein. Bittere Sache, wenn einem der Auftraggeber vor der Nase umgebracht wird, wie?“
Das war's wohl, was mir die Laune so gründlich verdorben hatte. Ich kaute an meinen Lippen herum und zündete mir eine Zigarette an. „Weißt du, Ed, manchmal möchte man die Klamotten packen und ein Jahr lang nichts und niemanden sehen. Ich weiß, es klingt abgeschmackt, aber irgendjemand wird dies hier bezahlen, das schwöre ich dir.“
Ich deutete mit dem Kinn auf Orbans Leiche, die gerade hinausgebracht wurde. Und ich meinte es ernst.
Ed ließ den Butler kommen und verhörte ihn kurz.
„Sagen Sie mir nur eines, Mr. Coyler“, fragte er abschließend. „Wie kommt es, daß Sie nichts gehört haben? Es muß doch ziemlichen Lärm gegeben haben, als Mr. Orban die Treppe hinunterfiel.“
„Das kann ich Ihnen leicht erklären, Captain: Mr. Orban war sehr lärmempfindlich und ließ bereits vor Jahren im ganzen Haus schalldichte Türen anbringen. Ich hielt mich am Nachmittag in der Diele und der Küche auf. Wenn Sie eine Probe machen wollen, werden Sie sich selbst davon überzeugen, daß ich nichts hören konnte.“
Prüfend sah Ed auf die dickgepolsterten Türen und verzichtete auf die Probe.
„Danke, Mr. Coyler“, sagte er. „Das wäre alles.“
„Mr. Coyler! „ rief ich, als er sich knapp verbeugte und gehen wollte. „Wenn Ihnen Mr. Orban Junior Fragen stellen sollte, erwähnen Sie vorerst nichts von meinem Besuch. Sagen Sie einfach, Sie hätten Mr. Orban gefunden und sofort die Polizei verständigt.“
„Wie Sie wünschen, Sir. Ich werde davon nichts erwähnen.“
Als er weg war, wandte Ed sich an mich. „Ich hoffe, du bist dir darüber im Klaren, daß mir die Hände gebunden sind. Der Arzt hat Unfall festgestellt. Sollte die Obduktion nichts Neues ergeben, kann ich gar nichts weiter unternehmen. Du weißt, daß unser allseits geliebter Staatsanwalt Bailey auf alles, was sich in den höheren Kreisen tut, allergisch reagiert.
Ich weiß, was du sagen willst: Es sieht wie ein Unfall aus, auch wenn ihn jemand hinuntergestoßen hat. Aber Bailey wird dafür sorgen, daß die Sache im Sand verläuft. Millionäre haben nicht aus irgendwelchen undurchsichtigen Gründen ermordet zu werden. Und ihre Schwiegertöchter haben nichts mit Gangstern zu tun.
Bailey hat in solch einem Fall schon zu Beginn die Hosen gestrichen voll.“
Ich grinste und wußte, daß er recht hatte. Ed Coleman war nur ein kleines Rädchen, und Staatsanwalt Bailey zitterte um seine Stimme bei der nächsten Wahl. Es war zum Kotzen.
Wütend blies ich Ed einen Mundvoll Rauch ins Gesicht, und er griff demonstrativ nach einem Eukalyptusbonbon.
„Wirst du weitermachen?“ fragte Ed. „Oder betrachtest du den Fall als beendet?“
Ich betrachtete angelegentlich die Asche an meiner Zigarette. „An sich überlege ich nur noch, ob ich mich in Acapulco im Sand suhlen soll, oder ob ich nicht lieber mal nach Paris...?“
„Was?“ Ed verschluckte sich an seinem Bonbon. „Und ich dachte, du wärst interessiert...“
Ich lachte. Ed konnte man so schön aufs Glatteis führen. „Keine Angst, Inspektor. Du kennst mich doch. Der alte Orban hat mir einen großzügigen Vorschuß gegeben. So was verpflichtet. Und außerdem wäre es an der Zeit, mir endlich mal mit einem größeren Fall einen Namen zu machen. Und ich rieche es: die Sache stinkt.“
Ed strahlte. „Und wo fängst du an?“
„Ich finde, man sollte beim Grundlegenden anfangen: ich treffe mich mit einer netten, jungen Dame zum Cocktail. Vielleicht wird ein Abendessen zu zweit daraus. Und vielleicht sogar mehr.“
Ed war sofort bei der Sache. „Wer ist es denn?“ fragte er neugierig, und zum erstenmal an diesem Tag öffnete er die Augen ganz. „Trixie?“
„Och“, sagte ich, steckte meine Zigaretten ein und lächelte verbindlich. „Du kennst sie nicht, 'n niedlicher Käfer.“ Ich lächelte vieldeutig.
Ed schluckte. „Und?“
„Halte deine schmutzigen Gedanken im Zaum, Ed. Es ist Nancy, von den New York Chronicles. Erinnerst du dich?“
Er grinste. „Erinnerungen auffrischen, ha? Du bist ein Lustmolch, Dick!“
„Deine blühende Phantasie würde für einige Sexromane genügen, Ed. Du solltest daraus Kapital schlagen. Versuch es doch einmal bei Midwood Books, die bringen jeden Monat einen ganzen Stoß davon heraus. Schicke ihnen mal eine Kostprobe.“
Wir wandten uns zum Gehen. „Ich treffe Nancy, weil ich vermute, daß sie mir in dieser Sache weiterhelfen kann. Sie schreibt seit Jahren die Klatschspalte bei den >Chronicles<. Vielleicht weiß sie etwas. Oder ich kann einen Blick ins Archiv werfen.“
„Na also, dann viel Glück, mein Alter“, sagte Ed zum Abschied. „Und - wie hieß doch gleich die Sexreihe, die du vorhin erwähntest?“

* * *

Kimberley legte den Hörer auf die Gabel und starrte gedankenversunken vor sich hin. Dann drückte er auf einen Knopf, und ein Mikrophon hob sich aus der Tischplatte. Kimberley drückte einen kleinen schwarzen Knopf, und eine rote Lampe leuchtete auf.
„Ja?“ meldete sich sofort eine feste Stimme.
Kimberley räusperte sich kurz. „Eben bekam ich Meldung, daß Richard Dee bei Orban eingetroffen und die Polizei im Haus ist. Was sollen wir noch unternehmen?“
„Die Leute, die Sie für Baltimore ausgesucht haben, waren ausgesprochene Stümper“, bekam er zu hören. „Dee ist umgehend auszuschalten, ohne Rücksicht auf Verluste! Eine zweite Pleite können wir uns nicht mehr leisten. Haben Sie verstanden?“
Kimberley verzog angewidert das Gesicht. Aber bisher hatte stets alles geklappt, und schließlich ging es auch um sein Geld. „Ich gebe sofort Anweisungen.“
„Hoffentlich verwenden Sie diesmal bessere Leute.“
„Und ob. Die Pleite in Baltimore konnte keiner voraussehen. Es waren zwei zuverlässige Männer. Wer konnte wissen, daß sie so versagen würden?“
„Ich keinesfalls, Kimberley. Das ist Ihre Sache. Ich kenne Ihre Männer nicht, und ich will sie nicht kennen.“
Kimberley räusperte sich wieder. „Dafür ist der Unfall mit Orban hieb- und stichfest.“
„Dann ist es gut. Wenn Dee erledigt ist, geben Sie mir sofort Bescheid. Vorher können wir nichts weiter unternehmen. Haben Sie verstanden?“
„Ja.“
Das rote Licht auf seiner Schreibtischplatte erlosch. Es war richtig, Dee durfte diesen Tag nicht überleben. Dafür würde er sorgen. Er hatte nicht vor, wegen eines neugierigen Schnüfflers auf so viele Dinge zu verzichten.

* * *

Als ich Orbans Haus verließ, war es kurz nach 18 Uhr. Dunkle Wolkenbänke zogen drohend am Himmel entlang, und es war drückend schwül.
Ich blickte nach oben und hoffte auf ein ausgiebiges Gewitter, das etwas Kühlung brachte. Ein leichter Wind kam auf, und ich ging eilig zu meinem Wagen.
Eilige Fußgänger hasteten an mir vorbei und versuchten, vor dem Regen noch nach Hause zu kommen. Mein Wagen stand seit 24 Stunden in der Einundzwanzigsten Straße.
Der Wind verstärkte sich zusehends, und plötzlich zuckt en Blitze über den nachtschwarzen Himmel. Im selben Moment rauschten die ersten Wassermassen auf den glühenden Asphalt.
Ich raste um die Ecke in die Tenth Avenue, überquerte die Kreuzung bei der Zweiundzwanzigsten Straße und jagte im Laufschritt zu meinem Wagen.
Mit einemmal lief es mir kalt über den Rücken, und es war mir augenblicklich klar, daß die Kälte nicht vom strömenden Regen kam.
Durch das Rauschen des Regens peitschte ein Schuß.
Ich sprang instinktiv zur Seite und blickte mich um. Niemand war auf der Straße. Nur ein Narr wie ich hatte es eilig genug, um sich nicht von dieser Sintflut abschrecken zu lassen.
Neben mir schlug eine Kugel in die Hauswand. Ohne zu überlegen, ging ich hinter einem Auto in Deckung. Der Schütze mußte irgendwo auf der anderen Straßenseite stehen, und ich fragte mich, wie er mich durch den dichten Regen sah. Für mich hörte die Welt drei Meter nach dem Gehsteig auf.
Die Einundzwanzigste Straße war dunkel wie das Innere einer Kirche. Irgendein Dummkopf in der Stadtverwaltung hatte vergessen, die Straßenbeleuchtung einzuschalten.
Eine Kugel bohrte sich in den Kotflügel des Wagens, hinter dem ich in Deckung gegangen war. Ich fluchte vor mich hin. Eigentlich hatte ich erwartet, daß meine Freunde annehmen würden, ich hätte nun, nach Orbans Tod, genug von dem Auftrag und interessierte mich weiter nicht mehr dafür. Und für eine bloße Warnung saßen diese Schüsse zu knapp.
Während des nächsten Blitzes versuchte ich, etwas zu erkennen, aber vergeblich. Ich kauerte verkrampft hinter dem Wagen und hielt meine Automatic umklammert. Das Wasser rann mir in die Augen und in den Kragen. Als ich wieder um die Ecke lugte, erkannte ich drüben ein Mündungsfeuer und ließ mich zu Boden fallen.
Widerwillig mußte ich mir gestehen, daß meine Möglichkeiten ziemlich beschränkt waren. Entweder ich wartete den Regen ab und mußte damit rechnen, daß man mir bei nächster Gelegenheit eine aufs Fell brannte, oder ich versuchte, den Mann da drüben aus seiner Deckung zu locken und zu erledigen, bevor der Regen aufhörte und sich eine gaffende Menge unsere Auseinandersetzung ansah.
Die dritte Möglichkeit, rüberzugehen und nachzusehen, wer mich aufs Korn genommen hatte, ließ ich verständlicherweise außer Betracht.
Da ich annahm, daß der andere wie ich den Regen ausnützen wollte, wartete ich. Der andere hatte schließlich einen Auftrag auszuführen und mußte dafür sorgen, daß er erledigt wurde. Der Auftrag und Richard Dee.
Ich blickte noch mal den Gehsteig entlang, aber keine Menschenseele war zu entdecken. Also zierte ich mich nicht weiter und legte mich auf den Bauch. Unter dem Wagen hindurch konnte ich die gegenüberliegende Straßenseite genau im Auge behalten. Das heißt, das  was ich von ihr sah.
Das war weitaus spannender, als fette, alte Ehemänner zu beobachten, die sich in fremdes Heu begaben. Oder höhere Töchter, die sich mit Haschjünglingen einließen. Das war der Pulsschlag der Zeit und, verdammt noch mal, wie im Kino.
Hinter mir schlug ein Querschläger singend auf den Gehsteig und streifte meinen Arm. Einige Schüsse folgten. Ich vermutete, daß man vis-ä-vis zum Angriff überging.
Ich starrte zwischen den Reifen des Wagens durch und sah, wie aus dem Regen zwei Füße langsam auf mich zukamen. Da ich nicht annahm, daß mich ein Unterhändler zur Waffenübergabe bewegen kam, zielte ich sorgfältig auf die Füße.
Der Mann machte einen Satz, und wie eine reife Frucht fiel seine Pistole auf die nasse Fahrbahn. Er brüllte los und griff nach seinem Fußgelenk. Ich wollte aufstehen, da kamen von drüben weitere Schüsse, und ich ließ mich wieder zu Boden fallen.
„Hal!“ schrie jemand. Hal! Bist du verletzt?“
Kein Zweifel, das war Donald Ducks Stimme. Ich versuchte angestrengt, zu erkennen, was dort vor sich ging, aber vergebens.
„Hal!“ rief Donald Duck. „Hal! Was ist los?“ Dann löste sich drüben eine Gestalt zwischen den Autos am Straßenrand und lief auf den verletzten Hal zu, der immer noch mitten auf der Straße kauerte. Aber er kam nicht weit. Aus dem Regen sauste ein Auto heran und erfaßte Donald Duck, der seinem Kumpel zu Hilfe kommen wollte.
Der Wagen hielt nicht an.
Ich hatte genug. Ich stand auf und rannte, so schnell ich konnte, zu meinem Wagen. Erschöpft steckte ich eine Zigarette zwischen die Lippen. Der Ärmel meiner Jacke war von dem Querschläger zerfetzt, das Hemd darunter auch. Sonst war mir nichts passiert, außer einer Hautabschürfung.

* * *

Eine Stunde später hatte ich geduscht, mich rasiert und ein Pflaster über den Kratzer am Arm geklebt. Ich hatte Captain Coleman von meinen Abenteuern berichtet, aber anstatt seiner Bewunderung für einen schneidigen Burschen wie mich gebührlich Ausdruck zu geben, seufzte er nur: „Okay, ich geb's zu Protokoll, Dick.“
Ich saß auf der Couch in meinem Wohnzimmer, vor mir auf dem Tisch ein Glas Whisky und im Aschenbecher die brennende Zigarette.
Grinsend wählte ich die Nummer der „New York Chronicles“.
„Hallo!“ keuchte ich, als Nancy abhob. „Gib mir mal Miß Weeks, Puppe.“ Absichtlich ließ ich die Zigarette zwischen meinen Lippen hängen. Das gibt einen großartig draufgängerischen Ton.
Nancy zögerte und sagte knapp: „ Am Apparat.“
„Puppe, wenn du heiße Neuigkeiten willst“, sagte ich mit Louis- Armstrong-Stimme, „dann pudere dir die Nase und komm ins >Black Angus<. Du wirst sehen, das bringt 'ne Gehaltserhöhung.“
„Wie ist Ihr Name?“ fragte Nancy kühl.
„Tut doch nichts zur Sache, Mädchen. Du wirst mich an meinem schwarzen Hemd und der Silberkrawatte erkennen. Also: >Black Angus<, in einer Viertelstunde.“
Ich legte auf, als mir Nancy erklären wollte, daß sie prinzipiell nicht zu Verabredungen mit Männern gehen wollte, die nicht mal ihren Namen nannten. Ich kannte die Phrase von früher.
Dann stellte ich das Telefon wieder an seinen Platz, hißte den Schlipsknoten unter dem Kinn, nahm meine Jacke und eilte aus dem Haus. Wie ich Nancy kannte, war sie früher dort als ich.
Fünf Minuten vor neun betrat ich mit festen Schritten das „Black Angus“. Der Kellner führte mich zu einem Tisch, der in einer Ecke stand.
Ich bestellte einen Martini, um den Whiskygeruch aus meinem Atem zu bekommen. Ungeduldig blickte ich auf die Uhr. Nancy war ein pünktliches Mädchen, unkokett und verläßlich. Und trotzdem - und das war wohl ausschlaggebend - sehr weiblich. Obwohl Nancy fand, daß sie sehr gut ohne Männer auskommen konnte, ganz besonders ohne Ehemänner, und ich seit fünf Jahren davon überzeugt war, dazu recht gut geeignet zu sein - besonders bei Nancy. Aber das sagte ich ihr nicht, ich wartete ab, bis die Zeit reif war.
Es wurde 9.05 Uhr. Ich blickte zur Tür, aber Nancy kam nicht. Seit dem Anruf waren fünfundzwanzig Minuten vergangen. Von Gewissensbissen geplagt, massierte ich mein Kinn. Vielleicht hätte ich doch keine dummen Scherze machen sollen. Ich sah Nancy für meinen Geschmack sowieso zu selten, und da setzte ich Idiot diesen Abend aufs Spiel.
Ein Arm legte sich von hinten um meine Kehle und drückte zu. Ich griff nach meiner Automatic, und eine weibliche Stimme säuselte in mein Ohr: „Laß die Kanone stecken, Süßer! Der Boß will keine Knallerei, während er die Beute zählt.“
Ich steckte die Automatic wieder ein. Nancy gab mir einen braven Kuß auf die Wanne.
„Hätte ich mir gleich denken können, wer da wieder hintersteckt.“ Sie setzte sich neben mich auf die weich gepolsterte Eckbank.
„Wie bist du denn hier hereingekommen, Baby, ohne daß ich dich bemerkt habe?“
„Ich war schon vor dir da. Aber ich wollte dich ein bißchen braten lassen. Von wegen schwarzes Hemd und Silberkrawatte!“
Ich war richtig froh, sie wiederzusehen, und ich sagte es ihr.
„Ich freue mich auch.“ Sie lächelte und bekam Grübchen. Das Leben sah wieder rosiger aus.
Wir bestellten noch zwei Martinis, dann Muschelsalat, Tournedos Alexandre mit zirka vierzig Beilagen und anschließend Cognac und Kaffee.
Nancy rekelte sich wie ein satter Salamander und lehnte sich in die weiche Polsterung. „Na, Dick, und jetzt, wo die Schlange gefüttert ist, schieß los! Was möchtest du gern wissen?“
Ich fiel jäh aus meiner Verzauberung und verschluckte mich fast an der letzten Kartoffel. „Nancy, Baby, wie kommst du eigentlich darauf? Nichts liegt mir ferner... Also, die Sache ist die: kennst du den Namen Orban?“
„Der Millionär, der heute zu Tode stürzte?“
Ich war verblüfft. „Wieso weißt du das?“
„Mein lieber Dick“, sagte die mitleidig, „die >New York Chronicles<...“
„...sind der Zeit voraus, ich weiß. Kaufen Sie die >New York Chronicles<, Sie bekommen für Ihren Groschen frischere Ware. Jaja.“
„Ich weiß es nicht, woher die Neuigkeit kam. Ich dachte eigentlich, daß der Mann im schwarzen Hemd“ - sie sah mich vieldeutig an - „mir Näheres mitteilen wollte.“
„Hör zu, Nancy“, sagte ich und erzählte ihr alles, was ich in den letzten beiden Tagen erlebt hatte.
Nancy war eine gute Zuhörerin. Ich entwickelte ihr meine sämtlichen Theorien, und Nancy gähnte kein einziges Mal.
„Irgendwie ist Ruth Orban die Schlüsselfigur“, sagte ich. „Obwohl ich nicht glaube, daß sie die Fäden in der Hand hält. Ich dachte schon an die gigantische Erbschaft, die Orban Senior hinterläßt. Aber die hinterläßt er doch seinem Sohn.“
Nancy ließ sich Feuer geben. „Es ist doch der einzige Sohn, oder?“
„Baby, sie kann doch nicht einfach hergehen und ihren Mann umbringen, damit sie...“
Wir saßen ganz still und sahen uns an.
„Es ist einfach absurd“, sagte ich nach einer Weile nachdenklich.
„Zu abwegig“, bestätigte Nancy. „Man müßte im Archiv nachsehen“, meinte ich.
„Ob nicht vielleicht noch andere unbekannte Mädchen reiche Männer heiraten“, warf Nancy beiläufig ein und schlug die Knie übereinander.
„Und bald danach beerbten.“
Resolut zerquetschte Nancy ihre Zigarette im Aschenbecher, und ich öffnete mir den obersten Hemdkragen.
„Richard Dee“, sagte Nancy. „Deine Phantasie geht mit dir durch.“ Aber es klang nicht sehr überzeugend.
Ich grinste. „Baby, läßt du deine Phantasie auch mit mir durchgehen?“
Sie sah mich bohrend an. „ Wir reden von reichen jungen Männern“, belehrte sie mich.
„Das war nicht notwendig“ antwortete ich gekränkt.
Seufzend zahlte ich.
Sicher, ging es mir durch den Kopf, als wir hinausgingen und Nancys Parfüm um meine Nase wehte, dies wäre eine mögliche Lösung. Ober doch ziemlich unwahrscheinlich. Andererseits - wie man gesehen hatte, ging es den Knaben, die mit den Kanonen hinter mir her waren, darum, Ruth Orbans Vergangenheit ruhen zu lassen. Daß sie selbst sie angeheuert hatte, schien mir unwahrscheinlich. Das hieß, irgendjemand hatte Interesse, Ruth Orkan makellos dastehen zu lassen. Aus Nächstenliebe, um die Orban'sche Ehe vor Schwierigkeiten zu bewahren? Doch wohl kaum. Und für mein primitives Ge-hirn gab es nur eine andere Möglichkeit: Geld.
„Dick“, sagte Nancy plötzlich und blieb stehen. „Erinnerst du dich an den Fall Gibbson im vergangenen Winter?“
Ich dachte kurz nach. „ Der Bankier, der im Suff in ein Auto lief?“
Sie nickte. „Er war kaum vier Monate verheiratet, als es passierte, wenn ich mich recht erinnere. Und sie war ein unbekanntes Mädchen. Bis zu seinem Tod. Da erbte sie dann eine runde Summe.“
Ich überlegte. „ Aber Gibbson war doch kein reicher Mann.“
„Er hatte ziemlich viel Geld in Aktien angelegt. Sein Vater war recht vermögend. Nein, nicht was du meinst. Der Vater starb bereits, als er ein kleiner Junge war.
„Seine Frau - wie hieß sie nur? Judith, glaube ich -, war die Universalerbin. Ich erinnere mich recht gut an die Sache. Die >Chronicles< berichtete ziemlich ausführlich darüber.“
Wir stiegen in meinen Wagen und Nancy sagte: „Dick, ich glaube, mir ist der Wein zu Kopf gestiegen.“
Ich griff nach ihrer Hand. „Macht ja nichts, Baby. Lehne deinen Kopf an meine Schulter - so.“
„Und vor einem Jahr ertrank Edward Turner, der 'Schöne Eddie', in der Südsee. Kurz nachdem sein Vater verstorben war. Die schöne, junge Frau, mit der Eddie sich auf der Hochzeitsreise befunden hatte, kam aus übergroßer Trauer nicht mehr in die Staaten zurück.“
Ich erinnere mich nicht an die Meldung von Turners Tod, aber ich erinnere mich daran, daß der Verkauf seiner Hochhäuser Schlagzeilen gemacht hatte:
DIE HÖCHSTE SUMME, DIE JE FÜR EIN HAUS BEZAHLT WURDE!
Und ich erinnerte mich naturgemäß an das berückend schöne Weib, auf dessen Bankkonto diese Summe kam: Mrs. Turner. Ihr Bild hatte auf allen Titelseiten geprangt. Kein Wunder: VOGUE zahlte vermutlich Unsummen für Titelblattmädchen, die Mrs. Turner nicht das Wasser reichen konnten.
„Und irgendein Playboy fiel zur gleichen Zeit vom Pferd und brach sich das Genick. Die trauernde Witwe erbte weniger, als jeder angenommen hätte. Der Playboy hatte Millionenschulden, was aber keiner gewußt hatte.“
„Künstlerpech“, bemerkte ich. „Bleib noch ein wenig wach, Baby. Gleich sind wir in der Redaktion.“
Ich parkte den Wagen und schubste Nancy vor mir her. Der Portier kannte mich noch und zwinkerte, als er uns einließ.
Fast wurde ich rührselig, als wir durch die wohlbekannten Räume gingen. Es war elf vorbei, aber hier herrschte Betrieb wie immer. Wie immer waren auch beide Aufzüge besetzt, weil die Redaktionsboten die Türen offenließen, während sie die Agenturmeldungen und fertigen Manuskripte hin und her trugen. .
Auf der Treppe rannten wir in ein Rudel Lokalreporter und Photographen, die schon vom ersten Stock aus nach einem Wagen brüllten, während ihnen vom dritten Stock der Chefreporter letzte Anweisungen nachschrie.
In Nancys Zimmer war es wohltuend ruhig. Sie setzte sich etwas ernüchtert hinter ihren Schreibtisch, bestellte aus der Kantine eine Kanne Kaffee und ließ sich dann mit dem Archiv verbinden.
Um ein Uhr früh hatten wir eine ganze Menge Material.
Wir kannten die detaillierte Liebesgeschichte zwischen Peter Orban und Ruth Davies. Zumindest den Teil der Geschichte, den Ruth beim Interview für die Klatschspalte zum Besten gegeben hatte. Danach war sie Peter Orban von einem gemeinsamen Bekannten vorgestellt worden und hatte sein Herz in der beachtlichen Rekordzeit von sechs Wochen erobert. Die Hochzeitsphotos, von denen eines in der Mappe lag, die uns der Archivleiter heraufgeschickt hatte, zeigten eine traumhaft schöne Braut. Weitere sechs Wochen später war Orban Senior tot, und seine Frau Universalerbin eines ansehnlichen Vermögens.
Wir hatten die Liebesgeschichte der Turners und seinen tragischen Tod, und wir hatten die Meldung von Mr. Gibbsons Tod im vergangenen März direkt vor seinem Wohnhaus in der Broomestreet. Nancy hatte sich an den Namen des verarmten Playboys erinnert, und wir hatten auch den Bericht über seinen Todessturz von seinem Lieblingspferd. Seine Witwe hatte sich kurze Zeit später das Leben genommen.
Alle vier Fälle wiesen verblüffende Parallelen auf: junges, wunderschönes Mädchen aus guter Familie - die jedoch jeweils zur Gänze verstorben war - kommt nach New York, lernt jungen reichen Mann kennen und endet innerhalb kürzester Zeit mit ihm auf dem Standesamt.“
 Aber der junge Orban lebt ja noch“, warf Nancy bei unseren Vergleichen müde ein.
„Noch“, betonte ich.
Ich ließ mir von allem, was mir wichtig erschien, Photokopien anfertigen. Als wir nach Hause fuhren, ging die Sonne strahlend auf. Trotzdem wurde es noch, wenn man so sagen kann, ein vergnüglicher Abend.

* * *

Um Punkt zehn setzte ich mich auf Ed Colemans Schreibtisch. Obwohl ich unausgeschlafen war und Nancy mir beim Frühstück versichert hatte, trotz aller Aufgeschlossenheit käme eine feste Bindung für sie nicht in Frage, war ich wieder bei Laune.
Ich knallte Ed meine Photokopien vor die Nase. „Schau sie durch, dürfte ganz interessant sein.“
Er grunzte, griff nach einem Eukalyptusbonbon und begann zu lesen.
Ich zündete mir eine Zigarette an und hörte fasziniert dem Geklapper von Eds Sekretärin auf der Schreibmaschine zu.
„Miß Winters“, sagte ich und trat hinter sie. „Sind Sie Mitglied einer okkultistischen Vereinigung?“
Miß Winters sah mich mit runden Kulleraugen an. „Wieso, Mr. Dee? Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?“
„Weil man der Eindruck hat, Sie warten zwischen den Anschlägen auf ein Echo aus dem Jenseits.“
Beleidigt wandte Miß Winters sich wieder ihren Tasten zu, und ich warf die Zigarette aus dem Fenster.
„Interessant“, meinte Ed und klopfte mit meinen Photokopien zur Ordnung. „Interessant, aber keine Beweise.“
Ich lachte. „Wir vermuten also beide dasselbe. Das ist mir ein Trost.“
„Warte mal“, sagte Ed und griff zum Telefonhörer. „Hallo, Mike? Schick mir doch bitte die Akte Gibbson, Verkehrsunfall Ende März.“
„Außerdem“, meinte ich, „ist es doch wirklich nicht meine Aufgabe, der Polizei einen fix und fertigen Fall zu liefern. Mit den Lorbeeren dazu.“
Ed sprang auf. „Dick, du weißt...“
„Ich weiß: Bailey. Trotzdem kannst du die routinemäßigen Recherchen so ausweiten, daß brauchbares Material zusammenkommt, ohne daß dir der Staatsanwalt einen Strich durch die Rechnung machen kann.“
Es klopfte. „Miß Winters, bitte sehen Sie nach! Ich bin nicht zu sprechen“, sagte Ed.
Miß Winters öffnete die Tür, aber es war nur die Akte Gibbson.
Wir beugten uns einträchtig darüber, während Miß Winters Kaffee bereitete.
„Na, was sagst du?“ fragte ich. „Fahrerflucht. Ein gestohlener Wagen, der anscheinend nur dazu benutzt wurde, Gibbson zu töten. Keine Hinweise auf die oder den Täter. Die Gattin hat ein Alibi. Sie war die Alleinerbin. Bis heute wurde der Fall nicht aufgeklärt.“
„Du meinst“, sinnierte Ed, „das würde deine Theorie von einer Organisation hinter all diesen Fällen stützen?“
„Tut er das denn nicht? Dazu die falschen Angaben von Ruth Orban über ihre Vergangenheit, die Berufsgangster in New York, in Baltimore, das ganze Getue, bloß um Mrs. Orbans Vorleben zu schützen. Sieht es denn nicht danach aus, als wollte irgendjemand vermeiden, daß du oder ich von Ruth Orban Rückschlüsse auf andere - frühere - Fälle ziehen?“
Ich schüttete gierig den Kaffee in mich hinein und spürte, wie wohl er mir tat.
Ed dachte nach. „Ich finde es nur naiv, anzunehmen, daß Männer wie Orban oder Turner oder Gibbson das erstbeste Mädchen heiraten, das sich ihnen an den Hals wirft.“
„Dann sieh dir die Puppen an“, rief ich und sprang auf. „Außerdem sind reiche Männer naiver, als man gemeinhin annimmt“, setzte ich hinzu und erinnerte mich an Orban Seniors Worte über seinen Sohn.
Ed seufzte. „Ich sollte mich da raushalten“, jammerte er. „Die Sache bringt nichts als Schwierigkeiten, ich spüre das in meinen Magennerven.“
Ich lächelte gewinnend. „Hauptsache, das Hirn bleibt intakt.“
Ed murmelte etwas von Nachtdienst und hundemüde und sagte laut: „Also, es nützt ja doch nichts. Betrachten wir mal diese Mrs. Gibbson aus der Nähe.“
Ed nahm einen Fetzen Papier, kritzelte das Wichtigste über den Fall Gibbson darauf, warf seine Jacke lässig über die Schultern und sagte zu Miß Winters: „Ich bin heute nicht mehr zu erreichen, wenn jemand nach mir fragen sollte.“
Miß Winters sah nicht auf, als ich mich verabschiedete.
„Ich frage mich“, sagte ich von der Tür her, „wie Ihre zarten Finger dieses Höllentempo aushalten.“
Etwas krachte an die Holztür, als ich sie kaum geschlossen hatte, und in Miß Winters eigenem Interesse hoffte ich, daß es nicht die Kaffeekanne war.

* * *

Wir parkt en den Wagen in der Woosterstreet und gingen zu Fuß in die Broomestreet 76. Eine riesige Glastür schirmte das luxuriöse Innere des Apartmenthauses gegen die Geräusche der Straße ab. Ein livrierter Portier bewachte den Eingang.
„Guten Morgen, meine Herren. Was darf ich für Sie tun?“
Eine weißlich geschminkte Dame um die Sechzig führte drei hochmütige hellgraue Pudel an uns vorbei und durch die Glastür. Die Halle roch danach wie ein mittelgroßer Harem.
Captain Coleman zückte seine „Hundemarke“, und der Portier erstarrte. „Worum handelt es sich, Sir?“ fragte er im Tonfall des Beichtvaters der Königin.
„Ist Ihnen der Name Gibbson ein Begriff?“
„Natürlich, Sir. Mrs. Gibbson wohnt hier im Haus. Und der arme Mr. Gibbson wohnte hier, bevor...“
„Seit wann sind Sie hier beschäftigt?“
„Seit sechs Jahren, Sir.“
„Sie erinnern sich an den Verkehrsunfall im März?“
„ Am siebenundzwanzigsten März. Sicher, Sir“, vervollständigte er mit hauchzartem Vorwurf in der Stimme. „Wie kann man ein solches Datum vergessen, Sir!“
„Die Polizei bemüht sich immer noch, den Fall zu lösen. Wir sind möglicherweise dem Täter auf der Spur und brauchen dazu noch einige Hinweise. Glauben Sie, daß Mrs. Gibbson zu Hause ist und uns empfangen wird?“
„Das kann ich nicht sagen.“ Sein gerader Blick strahlte perfekte Diskretion aus. „Einen Augenblick.“ Er ging in seinen Glaskäfig und telefonierte.
Ed Coleman gähnte und labte sich mit Eukalyptus. Ich lehnte an der Tür zur Portierkabine und erinnerte mich an die vergangene Nacht.
„Einen Augenblick, Sir.“ Der Portier hielt die Hand über die Sprechmuschel. „Das Mädchen von Mrs. Gibbson hat vor einer Minute ihren Dienst angetreten. Sie muß Mrs. Gibbson erst suchen... Ja?“ sagte er wieder in die Muschel und erbleichte. „Ja... ja. Gern, Mrs. Forsyth. Sofort.“
Verstört ließ er den Hörer auf die Gabel fallen. „Mrs. Gibbson“, stammelte er und sah mich an. „Mrs. Gibbson... Das Dienstmädchen hat sie gefunden.“
Interessiert trat Ed neben mich.
„Sie hat sich erhängt.“
„Wie ist die Nummer des Apartments?“ fragte Ed.
„Sechster Stock, Nummer 615.“
Ed warf ihm eine Karte hin und sagte: „Rufen Sie diese Nummer an und sagen Sie, was passiert ist! Sagen Sie, Captain Coleman sei bei der Toten und ersuche um die notwendiegen Leute der Mordkommission.“
Wir rasten zum Aufzug und fuhren in den sechsten Stock. Mrs. Forsyth stand zitternd im Türrahmen von 615 und sah uns mit großen Augen an. Sie war ein hübsches, milchkaffeebraunes Mädchen um die Fünfundzwanzig.
Ed zückte seine Marke. „Mrs. Forsyth? Wir haben unten beim Portier von Mrs. Gibbsons Tod gehört. Sie haben doch hoffentlich nichts angerührt?“
Sie sah ihn an, als hätte er gefragt, ob sie in den Schlangenkäfig gegriffen hätte.
„Natürlich nicht“, sagte sie und schauderte ein bißchen.
„Wo haben Sie die Tote gefunden, Mrs. Forsyth?“
„Im - im Bad.“
Wir traten in die Diele. Mr. Gibbson - ich nahm an, daß er es war, der für die Einrichtung der Wohnung verantwortlich war - hatte erstaunlich guten Geschmack gehabt. Alles war teuer und von gediegener Eleganz und sehr männlich. Ich erinnerte mich daran, daß der Portier erwähnt hatte, Gibbson hätte schon vor seiner Heirat hier gewohnt.
Das adrette Mädchen führte uns über weiche Teppiche in ein überwältigendes Wohnzimmer, durch eine Art Rauchsalon, in dem das größte Schachspiel stand, das ich je gesehen hatte, an einem Ankleideraum vorbei, an zwei Gästezimmer und dem Schlafzimmer vorbei ins Bad.
Die Badewanne war im Boden eingelassen und halb mit Wasser gefüllt. An der Decke darüber war eine schwenkbare Brause, an der eine Wäscheleine hing. Und an der Wäscheleine hing Mrs. Gibbson.
Mrs. Forsythe war fast so grün wie die Kacheln im Raum und schluchzte leise vor sich hin. Ed schickte sie hinaus. Erhängte sind kein besonders erhebender Anblick.
Mrs. Gibbson trug ein hauchzartes Nachthemd aus grünem Nichts, das über eine Schulter herabgeglitten war. Ihr honigfarbenes Haar fiel ihr über Rücken und Gesicht. An den Füßen trug sie flache Slipper. Unter ihr lag ein umgekippter Badezimmerstuhl aus durchscheinendem Plastik im Wasser.
Draußen hörte ich Stimmen. Ed ging hinaus.
Ich zündete mir eine Zigarette an und betrachtete Mrs. Gibbson. Unnötig zu sagen, daß sie ein wunderschönes Geschöpf war, zartgliedrig, mit durchscheinender leicht gebräunter Haut, Idealfigur und langen Beinen. So viel ich sah, war sie ungeschminkt.
Draußen hörte ich die Spurensicherungsleute und den Arzt. Einer der Fotografen riß die Tür auf und begann, ohne auch nur einen Blick an die Tote zu verschwenden, mit seiner Arbeit.
Ed trat neben mich. „Na, was meinst du?“
Ich riß mich vom Anblick Judith Gibbsons los und sagte: „Ich glaube nicht an Selbstmord, das kannst du dir denken. Sieh sie dir an! Warum sollte eine Frau, die so aussieht, sich umbringen?“
„Blödsinn“, brummte Ed, und ich wußte, daß er recht hatte. Aber ich war nun mal in meine eigene Theorien verbissen, und ein Selbstmord paßte nicht hinein.
Ich sagte nichts. Ich hätte Ed nur erklären können, daß mir mein Gefühl sagte - und weiter wäre ich vermutlich gar nicht gekommen. Das Gefühl des Kriminalisten, der sechste Sinn - das gab es bereits seit Sherlock Holmes nicht mehr. Heute brauchte man harte Beweise.
Der Arzt kam ins Bad. Ed und ich gingen hinaus, um Eds Leuten Platz zu machen.
Mrs. Forsyth wartete im Wohnzimmer auf uns. Ed stellte ihr ein paar Routinefragen, aber Mrs. Gibbson war kaum der Typ gewesen, der mit dem Dienstmädchen Geheimnisse teilt. Sie hatte ihre Arbeit getan und war täglich am Abend nach Hause gegangen. Mrs. Gibbson lebte sehr zurückgezogen, seit dem Tod ihres Mannes. Und sie wollte die Wohnung demnächst aufgeben und die Stadt verlassen. Wohin, wußte Mrs. Forsyth nicht.
Ed fragte sie, ob Mrs. Gibbson viele Bekannte hatte.
Mrs. Forsyth lächelte etwas verlegen. „Ich weiß das nicht, Captain. Ich beende täglich um siebzehn Uhr meinen Dienst. Nur wenn Mrs. Gibbson ihre Bridgeabende hatte, blieb ich länger.“
„Können Sie sich an die Namen ihrer Bridgepartner erinnern, Mrs. Forsyth?“ fragte Ed und holte sein Notizbuch heraus.
„Das waren Mrs. Gibbsons Freundinnen, Captain. Doch, ich kenne die Namen: Mrs. Rosewall, Miß Leblanc, Miß Rena Singer und Mrs. Purdy. Rosemary Purdy. Mit Mrs. Purdy war sie am engsten befreundet, soviel ich weiß. Sie war nach dem Tod von Mr. Gibbson sehr um Mrs. Gibbson besorgt.“
Ed dachte nach. „Mrs. Forsyth, Sie werden vermutlich noch eingehend einvernommen werden. Halten Sie sich bitte zur Verfügung! Sie können was möglicherweise sehr helfen.“
„Natürlich, Captain.“ Sie erhob sich und ging zur Tür.
„Sagen Sie, Mrs. Forsyth -“ ich konnte mich nicht zurückhalten - „können Sie sich vorstellen, weshalb Mrs. Gibbson sich umgebracht hat?“
Sie drehte sich um und sah mich mit großen Samtaugen an. „Nein, Sir“, antwortete sie leise. „Ich kann mir kaum vorstellen, daß sie sich überhaupt umgebracht hat.“
„Mochten Sie sie eigentlich?“ fragte ich schnell.
Sie erschrak Aber ich... Was denken Sie...?“
Ich grinste. „Nein, ich denke nicht, daß Sie sie dort aufgehängt haben. Ich wollte nur von Ihnen hören, ob Mrs. Gibbson nett war, freundlich. Eben so, daß Sie gern hier waren.“
„Sie sprach sehr wenig, Sir. Sie war nicht unfreundlich, aber sehr wortkarg. Sie richtete kaum das Wort an mich und überließ mir auch die Arbeit ganz. Seit Mr. Gibbsons Tod sprach sie noch weniger. Ich hatte das Gefühl, sie wartete sehnsüchtig auf den Tag, an dem sie von hier wegkonnte.“
Ich sah zum Fenster hinaus.
„Konnte sie denn nicht?“ fragte Ed.
„Ich - ich weiß nicht. Ich hatte so ein Gefühl, als wartete sie auf irgendetwas. Ich weiß nicht.“
Sie schwieg.
„Erinnern Sie sich vielleicht an eine dahingehende Bemerkung von Mrs. Gibbson, Mrs. Forsyth? Denken Sie nach, Mädchen, das ist sehr wichtig!“
Ich drehte mich um. Sie sah Ed an und dachte nach. „Einmal, kurz nach Mr. Gibbsons Tod, meinte sie, ich solle mich beizeiten um eine neue Stelle kümmern, denn sobald die Erbschaftssache geregelt sei, könne sie von New York weg. Und vor einigen Tagen bezahlte sie mich bis Ende des Monats im Voraus, weil sie, wie sie sagte, möglicherweise plötzlich abreisen würde.“
Ed dankte ihr, und sie versprach, die nächsten beiden Tage in dem Apartment zu verbringen, falls sie noch benötigt würde.
Sergeant Ogden war mit der Durchsuchung der Wohnung beschäftigt.
„Na, Ogden, schon was gefunden?“ fragte Ed.
„Nichts, Captain. Man möchte meinen, daß jede Frau ein paar Bilder oder Briefe oder Andenken aufhebt. Diese hier nicht. Außer ihren Kleidern, einigen Bankauszügen und zwei Scheckbüchern nichts Persönliches. Aber wir suchen weiter.“
Er kaute an seinen Bonbons und schwieg.
„Schläfst du oder denkst du nach?“ fragte ich.
„Idiot“, entgegnete Ed.
Der Arzt kam herein und sagte: „Man kann sie wegbringen, Captain. Allem Anschein nach starb sie durch Erhängen. Natürlich kann man vor...“
„…der Obduktion nichts Genaues sagen. Wir wissen, Doktor“, vollendete ich grinsend.
Der Arzt sah mich blitzenden Auges an. „Wenn Sie alles so genau wissen, Dee, dann kann ich mich wohl empfehlen. Meinen Bericht finden Sie auf Ihrem Schreibtisch, Captain.“
Verblüfft blickten wir ihm nach.
„Er muß Magengeschwüre haben“, meinte ich schließlich.
„Stimmt“, sagte Ed. „Komm, gehen wir!“
Als wir am Portier vorbeigingen, sagte Ed: „Seltsam, daß sie keine persönlichen Dinge besaß. Wir müssen einige ihrer Bekannten herausfinden. Vermutlich hast du recht, Dick. Ich glaube auch nicht mehr an Zufälle und Selbstmord. Und derjenige, der dahintersteckt, hat Angst bekommen und versucht jetzt, alle aus dem Weg zu räumen, die ihm gefährlich werden können.
Wir sollten ein Auge auf diejenigen haben, die an den anderen ähnlichen Fälle beteiligt waren. Nachdem du deine Nase so tief in den Fall Orban gesteckt hast, war zu erwarten, daß du Lunte riechst und auf den Fall Gibbson kommst. Und bevor wir sie noch in die Zange nehmen konnten, hat man Judith Gibbson beseitigt.“
„Vielleicht solltest du mal euer Archiv nach ähnlichen Fällen durchkämmen lassen. Die Unterlagen, die ich dir mitgebracht habe, sind Fälle aus der jüngsten Zeit, an die Nancy sich noch erinnern konnte. Wer weiß, ob es nicht früher schon reiche junge Männer gab, die plötzlich das Zeitliche segneten.“
„Kann ich tun“, murmelte Ed. „Und was machst du inzwischen?“
„Ich möchte mich mit Ruth Orban unterhalten, bevor sie über der Badewanne baumelt.“ Ich trat auf meine Zigarette. „Ich rufe dich später an, Ed.“

*  * *

Auf dem Weg zu Peter Orban überdachte ich noch mal den Stand der Dinge. Natürlich konnte ich mich nur auf die vier Fälle konzentrieren, die Nancy und ich aus den „Chronicles“ herausgesucht hatten.
Gibbson - beide tot. Dann der Playboy, der vom Pferd gestürzt war und seine Frau - beide tot, davon einmal Selbstmord. Dann Turner - er tot, die Witwe unbekannten Aufenthalts. Aber auch Mrs. Gibbson hatte vorgehabt, in allernächster Zeit zu verschwinden. Und wer blieb, waren die Orbans.
Die lebten noch. So Gott will, dachte ich, verzichtete auf mein Mittagessen und ging schneller.
Ein weißhaariger Bilderbuchbutler ließ mich ein. Der Portier hatte mich aus der Halle angemeldet, und der Butler führte mich sofort zu Orban Junior.
Er nahm sich nicht erst die Mühe, aufzustehen und begrüßte mich nur kurz mit einem unverbindlichen Nicken. Er war mir auf Anhieb unsympathisch. Ich mag keine bartlosen Männer mit weichen rötlichblonden Babylocken im Nacken. Besonders widerlich sind sie mir in rosa tapezierten Räumen mit unechten Louis-Quinze-Möbeln.
„Sie sind der Privatdetektiv, den mein Vater beauftragt hat, hinter meiner Frau herzuschnüffeln?“
„Mein Name ist Dee“, sagte ich. „Wie kommen Sie zu dieser Annahme?“
Einen Augenblick sah er mich verblüfft an. „Ich fand die Karte im Schreibtisch meines Vaters. Sie hing an einem Durchschlag des Berichts von Bade & Peace.“
„Beachtlich“, sagte ich. „Dann kann ich mir ja weitere Vorreden ersparen, Mr. Orban. Viel Zeit bleibt uns sowieso nicht.“
Die Fronten waren also abgesteckt. Wir haßten einander.
Ohne seine Einladung abzuwarten, setzte ich mich auf einen der Alptraumstühle und zündete eine Zigarette an. „Sie wissen von dem Bericht von Bade & Peace, Mr. Orban. Sie haben ihn vermutlich auch gelesen. Was sagen Sie dazu?“
„Ich glaube nicht, daß das Ihre Sorge zu sein hat, Mr. Dee. Ich habe ihn zur Kenntnis genommen. Das soll genügen.“
„Es genügt, Mr. Orban. Für Sie. Ihrem Vater hat es nicht genügt. Mit Recht, wie ich erfahren konnte. Ihre Frau ist eine Schwindlerin.“
Ich hielt mich an dem lächerlichen Stuhl fest, denn ich dachte, er wollte mich durchs Fenster werfen. „Bleiben Sie sitzen, Orban!“ knurrte ich wütend. „Ich habe Sie ja nicht mit ihr getraut. Und jetzt hören Sie mir zu! Ihr Vater hat mir genug Geld dafür gegeben, daß ich ihm diese Informationen beschaffe, und Sie werden sich anhören, was ich zu sagen habe! „
Er warf sich auf die zierliche Couch und legte die Füße auf die Lehne. „Ich bin aber nicht mein Vater, Mr. Dee. Mein Vater ist tot, die Treppe hinuntergefallen.“
Ich wußte endlich, was ein Lustmörder fühlt, bevor er sein Opfer massakriert. „Mr. Orban“, sagte ich schneidend. „Wir wollen da keine Zweifel aufkommen lassen: mir wäre es auch lieber, Sie wären runtergefallen und hätten sich das Genick gebrochen; aber so was kann man sich ja leider nicht aussuchen.“
Er nahm die Füße von der Lehne, schluckte ernüchtert, dämpfte die Zigarette ab und griff nach der Whiskyflasche, die die ganze Zeit über neben der Couch am Boden gestanden hatte. Ich dachte erst, er wollte sie mir über den Schädel hauen, aber er schenkte sich nur ein.
„Ja, danke, ich möchte auch einen“, sagte ich ungefragt.
Er knallte mir ein Glas auf den Tisch.
„Ich war in Baltimore“, sagte ich. „Vor der Villa Ihrer verstorbenen Schwiegereltern. Haben Sie sie je gesehen?“
Er hatte sich zurückgelegt und bohrte die Absätze seiner Straßenschuhe in den altrosa Samt. Er schüttelte langsam und ohne eine Miene zu verziehen, den Kopf.
„Die Villa ist ein stinkendes Mietshaus, fünfzig Jahre alt und verfallen. Als ich dort den Namen Ihrer Frau nannte, kamen zwei distinguierte Herren, schlugen mir eins über den Kopf, banden mir die Hände zusammen und brachten mich in ein entlegenes Haus, um mich an weitere Neugier in Sachen Ruth Davies zu hindern. Die Polizei hat mich von dort befreit.“
Er sah auf.
„Natürlich fühlte ich mich dazu verpflichtet, den Herren dort alles zu sagen, was ich wußte.“ Er sollte nicht glauben, es wäre ein Privatspaß für mich. „Rein theoretisch wäre es ja möglich, daß Sie, Mr. Orban, mit den Gangstern unter einer Decke stecken, besonders, da Ihr Vater bereits tot war, als ich von Baltimore zurückkam.“
„Sie Schwein! brüllte Orban und sprang auf. „Nehmen Sie das zurück!“
Ich hob das Glas. „Beruhigen Sie sich, Orban. Trinken wir lieber auf die Erbschaft.“
„Raus!„ Er war dunkelrot im Gesicht. „Raus! Verlassen Sie meine Wohnung, sofort!“
„Mann, seien Sie doch vernünftig!“ brüllte ich zurück. „Ich weiß, daß Sie nichts damit zu tun haben. Sie sind ein armes Opfer und werden der nächste sein, der ins Gras beißt. Darum bin ich ja hier. Ich nehme an, daß es der Wunsch Ihres Vaters war, Sie vor Unheil zu bewahren. Deshalb hat er mich beauftragt, und dafür hat er mir tausend Dollar gegeben. Für mich ist das ein Haufen Geld, und es reicht aus, daß ich auch nach seinem Tod mein Möglichstes tue, seinen verblendeten Sprößling vor dem Ärgsten zu bewahren. Verstehen Sie, Mann! Ich bin bereits bezahlt. Ich will Ihnen nichts verkaufen, außer vielleicht Ihr eigenes Leben.“
Er starrte mich an und überlegte, ob er mich ernst nehmen sollte.
Das Telefon läutete. Orban zwinkerte irritiert und hob ab. „Ja? - Ja, am Apparat... Was? Wer sind Sie überhaupt? Hallo! Wer spricht?“
Er horchte eine Weile und legte auf. Er setzte sich auf die Couch, schenkte sein Glas bis obenhin voll und sagte gepreßt: „Meine Frau ist entführt worden.“
Verdammt. Damit hatte ich nicht gerechnet. Oder... Die Gedanken spielten in meinem Kopf Verstecken. Vielleicht wollten sie sie unauffällig umbringen oder sie ebenso „unauffällig“ aus dem Geschäft ziehen. Sie konnten den jungen Orban schlecht umbringen, jetzt, wo die Sache fast am Auffliegen war. Aber er konnte erpreßt werden.
„Schade“, sagte ich. „Ich hätte mich gern mit ihr unterhalten.“
Orban hörte es kaum. Er liebte sie scheinbar wirklich. Seltsam, das hatte ich nicht erwartet. Obwohl es doch eigentlich das nächstliegende war, wenn man bedachte, daß er sie vor sechs Wochen geheiratet hatte.
Er trank den Whisky mit zwei langen Zügen aus. Ich stand auf und schenkte ihm nach. Vielleicht konnte ich ihn so außer Gefecht setzen.
„Was hat man Ihnen am Telefon gesagt?“ fragte ich.
„Ein Mann war am Apparat. Er sagte nichts weiter, als daß meine Frau entführt wurde und ich zweihunderttausend Dollar in kleinen Noten bereithalten soll. Meiner Frau geht es angeblich gut. Ich soll die Polizei nicht verständigen.“
„Hat er einen Treffpunkt für die Übergabe genannt?“
„Er sagte, er würde wieder anrufen.“ Er sah mich aus wäßrigen, hellblauen Augen an. „Erst mein Vater, jetzt meine Frau.“
Er tat mir fast leid. Ich betrachtete ihn, wie er da vor mir saß, ohne die geringste Ahnung, was er nun tun sollte, ein hilfloses, schwammiges, häßliches Kind, dem man sein schönstes Spielzeug weggenommen hatte.
Es mußte ein hübsches Stück Arbeit kosten, einen solchen Mann um den Finger zu wickeln, so fest, daß er hängenblieb und zum Standesamt ging. Er war vermutlich nicht dumm. Und nicht blind, wenn er in den Spiegel sah. Vermutlich war er auch mißtrauisch genug, sich im klaren zu sein, daß die Mädchen ihm nicht seiner Sommersprossen oder seiner schönen Seele wegen nachliefen.
In solch einem Fall, sagte ich mir, käme es darauf an, daß das Mädchen möglichst überzeugend wirkte, daß es ihm überzeugend klarmachte, seine Sommersprossen und seine schöne Seele wären so überwältigend, daß das viele Geld seines Vaters daneben verblaßte.
Und darum haßte ich Ruth Orban ganz besonders.
Orban beugte sich vor und suchte mit dem Finger etwas unter der Tischplatte. Plötzlich erschien der Bilderbuchbutler, und ich wußte, daß es die Klingel war, die an der Tischplatte saß. Ich nahm kaum Notiz von allem, bis ich Orban sagen hörte:
„Roberts, Mr. Dee wünscht zu gehen.“
Überrascht sah ich auf. Der Butler lächelte fein. Orban bohrte wieder die Schuhe in den rosa Samt. Er sah zur Decke, als ich mit dem Butler das Zimmer verließ.
Ich konnte es ihm kaum verdenken.

* * *

Kimberley drückte den kleinen schwarzen Knopf. Ein rotes Lämpchen leuchtete auf. Eine feste Stimme sagte:
„Ja?“
„Die Orban ist eben gekommen.“
„Ich will mit ihr sprechen.“
Kimberley drückte auf einen zweiten Knopf und sagte ins Mikrophon: „Bringt die Orban rein!“
Die Tür ging auf, Ruth Orban trat ein. Sie nickte Kimberley zu, der unverhohlen auf ihren Busen starrte. Langsam kam sie zum Schreibtisch, setzte sich auf die Kante und schlug die Beine übereinander, so daß der knappe, kurze Rock wenig verhüllt ließ.
„Ist sie da?“ fragte die Stimme aus dem Lautsprecher.
„Sie ist da“, antwortete Kimberley und wischte Ruth Orban von der Schreibtischplatte.
Nervös strich Ruth über das volle schwarze Haar und setzte sich auf den Stuhl, den Kimberley ihr mit dem Fuß zuschob.
„Na, Mrs. Orban, wir wollen keine Zeit verlieren“, sagte die Stimme sarkastisch. „Sprechen Sie!“
„Was soll ich sagen? Der Alte ist sowieso tot.“
„Der alte Orban“, sagte die Stimme aus dem Lautsprecher schneidend, „starb zur genau geplanten Zeit. Aber vorher hatte er noch genug Zeit, mißtrauisch zu werden und Nachforschungen anstellen zu lassen. Nachforschungen, Mrs. Orban, die sich auf Ihre Vergangenheit beziehen. Mit anderen Worten: Sie haben sich anscheinend auf Ihre Rolle so schlecht vorbereitet, daß sogar ein alter, weltfremder Mann merkte, daß etwas nicht stimmte.“
Ruth Orban verzog den Mund. „Sie kennen den Alten nicht, er ist - ich meine, er war eine Schlange. Er mußte einfach spionieren, es...“
„Bemühen Sie sich nicht, Mrs. Orban, ich kannte Mr. Orban sehr gut. Um wieder auf Ihre Person zu kommen: wir können unsere Pläne natürlich nicht mehr vollenden. Die reiche Witwe können Sie vergessen.
Wir verlangen jetzt ein Lösegeld, und Sie werden freigelassen. Ihr Anteil wird selbstverständlich entsprechend gering sein.“
„Und ich soll zurück zu der Kaulquappe?“ rief Ruth Orban entsetzt. „Zu diesem widerlichen, fetten Kerl? Das - das war nicht ausgemacht!“
„Stimmt. Es war vielmehr ausgemacht, daß Sie sich so gut auf Ihre Rolle vorbereiten, wie man nur erwarten konnte. Das haben Sie nicht getan. Die Konsequenzen haben Sie selbst zu tragen.“
„Aber...“
„Kimberley, lassen Sie sie hinausbringen! Sie soll im Haus bleiben und keinen Augenblick aus den Augen gelassen werden.“
Ruth Orban schwenkte wütend ihre vollendeten Hüften und ging zur Tür hinaus, bevor Kimberley den Knopf drücken konnte. Er sprang auf und lief hinter ihr her.
Aber draußen standen zwei schwergebaute Männer vor der Ausgangstür, und Ruth Orban lehnte bleich an der Wand.
„Ich schicke Ihnen sofort eine Wache“, sagte Kimberley grinsend. „Sie warten einstweilen hier.“
Die Orban sah weg.
Kimberley ging zurück an seinen Schreibtisch, verständigte die Wache und drückte wieder den schwarzen Knopf. Das rote Lämpchen leuchtete.
„Ja?“
„Wollen Sie die Orban nachher wirklich laufenlassen?“ fragte Kimberley lauernd.
„Das weiß ich noch nicht. Weshalb?“
„Ich glaube, das wäre ein Fehler. Sie ist zu naiv, um sich klarzumachen, daß sie selbst in der Sache drinhängt. Sie rennt bestimmt aus lauter Rachsucht zur Polizei.“
Die Stimme schwieg einen Moment lang. „Kimberley, wir sind übereingekommen, daß ich die Denkarbeit übernehme. Sie übernehmen die Ausführungen und die Organisation der praktischen Seite. Dafür bekommen Sie den gesamten finanziellen Gewinn nach Bezahlung der Mitarbeiter. Stimmt das?“
„Ja“, sagte Kimberley.
„Dann wollen wir uns auch weiterhin daran halten.“

* * *

Der Himmel war dunkelblau über der Tenth Street. Der Portier von Nummer 456 nahm eine Stärkung aus der Ginflasche, zündete sich eine Camel an und trat aus seiner Loge.
Die Straße war fast menschenleer in der Nachmittagshitze. Er knöpfte sein Hemd auf, als er den beiden Männern nachblickte, die rasch davongingen.
Er ging zurück in die Kühle des Hausflurs und betrat wieder seine Loge. Er griff nach dem Telefon und wählte ent¬schlossen eine Nummer.
„Ja?“
„Kimberley bitte!“
„Wer spricht?“
„Carl.“
Es knackte in der Leitung. Der Portier nahm wieder einen Schluck aus der Flasche.
„Was ist los, Carl?“
Schnell stellte er die Flasche unter sein Pult und wischte sich über die Lippen. „Kimberley, sie waren hier.“
Kimberley wartete einen Moment. „Ja? Na und?“
„Der Schnüffler und ein Captain von der Mordkommission.“
Wieder wartete Kimberley. „So reden Sie doch endlich, Carl!“ rief er ungeduldig. „Soll ich Ihnen die Würmer einzeln aus der Nase ziehen?“
„Jawohl, Chef“, antwortete Carl ernüchtert. „Also, sie kamen vor etwa zwanzig Minuten her und erkundigten sich, ob ich die Gibbson kenne. Ich verneinte. Dann nannten sie ihren Mädchennamen, Miß Cohen, und ich sagte, ja, die kannte ich, die hat hier gewohnt. Sie fragten, ob ich wüßte, welchen Beruf die Dame hatte. Sagte ich, soviel ich weiß, Fotomodell. Fragten sie, ob sie 'ne wirkliche Dame gewesen wäre. Sagte ich, sicher, ganz große Klasse. Gab immer 'n fettes Trinkgeld. Fragte der Schnüffler, ob sie viel Herrenbesuch gehabt hätte. Sagte ich, Mann, das war doch 'ne Dame. Aus gutem Haus und so. Fragte der Schnüffler, woher ich das so genau wüßte. Sagte ich, in meiner Branche kennt man so was. Dann gingen Sie.“
„Sonst stellten sie keine Fragen?“ erkundigte sich Kimberley.
„Lassen Sie mich nachdenken, Chef. Ja, sie fragten, ob ich wüßte, wo die Gibbson gelebt hätte, bevor sie nach New York kam. Sagte ich, das wüßte ich nicht, irgendwo in der Provinz.“
„Und das war alles?“
„Ja. Bis auf -“ er grinste - „ganz was Komisches: der Schnüffler fragte, woher ich komme. Und ob ich oft mit ihr geplaudert hätte. Ich sagte, ich käme aus Boston, Massachusetts. Und mit der Gibbson hätte ich natürlich viel geplaudert. Sie hätte ja ein Jahr hier gewohnt.“
„Hm“, seufzte Kimberley. „gut gemacht, Carl. Du machst vorläufig weiter. Wir verständigen dich, wenn du abgelöst wirst.“
„Okay, Boß.“
Kimberley unterbrach die Verbindung, und der Portier griff unters Pult nach der Flasche.

* * *

Von dem Haus in der Tenth Street, in dem Judith Gibbson vor ihrer Heirat gewohnt hatte, gingen wir direkt in Eds Büro. Wir hatten auf dem Weg hierher nicht viel gesprochen, es war dermaßen heiß, daß man den Mund nur zum Trinken aufmachen sollte.
Hier bei Edward Coleman war es angenehm kühl. Ich dachte daran, daß ich mir von Mr. Orbans tausend Dollar eigentlich eine Klimaanlage für mein Büro kaufen wollte, aber wie es aussah, würde mir davon wohl nicht viel überbleiben.
Ed sank seufzend in seinen Stuhl. „Jetzt verrate mir mal, was du dir von diesem Portier erwartet hast. Ich sagte dir doch, wir können uns den Weg sparen, es kommt nichts dabei heraus. Wie du siehst, kam auch nichts heraus.“
Ich griff nach meinen Zigaretten. „Mir genügt's.“
„Sprich dich aus, weiser Mann“, sagte Ed.
„Hast du dir eigentlich die Dokumente Judith Gibbsons genauer angesehen?“ fragte ich.
„ Sicher.“
„So?“ Ich zog die Brauen hoch.
„Worauf willst du hinaus?“ entfuhr es Ed ungeduldig. „Es sind Duplikate. Vermutlich hat sie die Originale verloren und irgendwo mit ein paar Zeugen Duplikate ausstellen lassen.“
„Das meine ich nicht. Nicht die Tatsache, daß es Duplikate sind, sondern daß sie in Boston ausgestellt wurden. Es war ein Diplom einer Mannequinschule dabei. Ausgestellt in Boston. Das heißt, sie war längere Zeit in Boston.
Und während er ein Jahr lang mit ihr plauderte, hat sie dem Portier nicht verraten, daß sie vorher in Boston war? In der Stadt, aus der er kam?
Oder er wollte uns nicht verraten, wo sie vorher lebte, um uns nicht auf die richtige Spur zu lenken. Das erscheint mir doch weit wahrscheinlicher. Als ich ihn fragte, woher sie stammte, wollte er Boston nicht nennen. Und als ich fragte, woher er stammte, sagte er die erste Stadt, die ihm einfiel: eben Boston.
„Alles ein bißchen weit hergeholt“, meinte Ed.
„Aber es paßt.“
Lieutenant O'Connor kam schwitzend ins Zimmer. „Endlich etwas Konkretes, Captain. Eine Bekannte Gibbsons, eine Mrs. Purdy, sagte aus, daß Judith Gibbson ihren Mann im >American Acapulco< kennengelernt habe. Sie selbst lernte die Gibbson kurz vor deren Heirat mit John Gibbson kennen. Nach seinem Tod verkaufte Judith fast alle Wertpapiere und trug sich mit dem Gedanken, New York für immer zu verlassen. Mrs. Purdy sagte, sie erinnere sich, daß Judith Gibbson nach Boston zurückgehen wollte.“
Ed horchte auf. „Sie sagte ganz bestimmt Boston, O'Connor?“
O'Connor sah auf; „Ja, Captain. Warum?“
Ich grinste.
Ed winkte ab. „Sonst noch etwas herausgebracht?“
O'Connor schmollte. „Sie bekommen auch nie genug, Chef.“
„Habt ihr die Konten der Gibbson überprüft?“ fragte Ed.
„Ja. Soviel die Kontenauszüge verraten, hat sie in den letzten Monaten keine größere Summe eingezahlt. Hätte sie aber eigentlich müssen, wenn sie tatsächlich die Wertpapiere verkauft hat. Man trägt doch nicht zwei Millionen Dollar mit sich herum oder steckt sie in den Sparstrumpf.“
Ed pfiff durch die Zähne. „So viel? Haben Sie das von Mrs. Purdy?“
„Ja“, antwortete O'Connor. „Aber sie machte einen zuverlässigen Eindruck.“
„Na, das kann uns eigentlich weiter nicht interessieren. Von den Banken ist keine Hilfe zu erwarten, die verstecken sich hinter ihrem Bankgeheimnis.“
Dazu würde man den Befehl des Staatsanwalts brauchen, dachte ich, und als hätte er meine Gedanken gelesen, kam er ins Zimmer. Schnaufend, knapp mittelgroß, makellos gekleidet, kahl wie eine Billardkugel.
„Sie werden verzeihen, meine Herren, wenn ich Ihr Plauderstündchen unterbre¬che“, sagte er ätzend. „Sie erlauben.“ Er warf sich in Miß Winters leerstehenden Stuhl, räusperte sich ausgiebig und wandte sich an Ed: „Sagen Sie, Captain, was denken Sie sich eigentlich so bei dem, was Sie tun?“
Ed Coleman reckte sein Kinn kampflustig vor. Ich sah die Schlagader an seinem Hals pochen.
Dicke Luft.
Nervös griff er nach seinen Eukalyptusbonbons. „Darf ich Sie um nähere Erläuterungen bitten, Mr. Bailey?“
Der Staatsanwalt grinste hinterhältig. „Wie ich feststellen darf, sind Sie doch im Besitz Ihrer geistigen Kräfte. Ich habe schon daran gezweifelt.“
„Mr. Bailey“, sagte Ed, griff nach einem Stoß Papieren und zog die rechte Braue hoch. „ Wir wollen zur Sache kommen. Ich habe viel zu tun. Sie verstehen.“
Die Stimmung zischte und brodelte. Ich schielte nach der Tür. Aber andererseits ließ ich keine Gelegenheit aus, Bailey unter Dampf zu sehen.
Die beiden maßen sich eine Weile, dann sah der Staatsanwalt zum Fenster hinaus. „Ich habe bemerken müssen, Captain, daß Sie sich mit Fällen beschäftigen, die uns nichts, aber auch gar nichts angehen. Fälle, die beide...“
„Ist schon gut“, unterbrach Ed matt. „Die Fälle Gibbson und Orban, wollen wir sie doch beim Namen nennen. Was ist damit?“
Der Staatsanwalt sprang auf. „Diese beiden sogenannten >Fälle< sind keine Kriminalfälle, Captain! Es sind abgeschlossene Todesfälle, einmal Unfall, einmal Selbstmord. Ich las den Obduktionsbefund.
Laut Dienstvorschrift sind Sie verpflichtet, mir Bericht zu erstatten, bevor Sie mit den Recherchen eines Falles beginnen. Und was tun Sie? Nicht nur, daß Sie es verabsäumen, mich zu informieren, bauschen Sie die Dinge geradezu lächerlich auf. Wenn Sie mit Ihrem eigenen Arbeitsprogramm nicht voll ausgelastet sind, so bitte ich, mich das wissen zu lassen und nicht auf eigene Faust dort nachzuschnüffeln, wo es nichts zu finden gibt.
Und wenn Sie der Meinung sind, daß die Polizei mit ihrem ganzen Apparat nur dazu da ist, den Privatinteressen eines Detektivs zu dienen, so muß ich Sie hiermit belehren, daß das nicht stimmt. So leid es mir tut, ich muß Beschwerde einbringen. Bei Ihrer vorgesetzten Dienststelle.“
Der Staatsanwalt ließ sich wieder in Miß Winters Drehstuhl fallen.
„Das würde ich nicht tun, Bailey, bevor ich mich nicht über diese Fälle genauer informiert habe.“
„Die Mordkommission hat es verabsäumt, mir Bericht zu erstatten.“
„Ich bin eben dabei, den Bericht zu schreiben, Mr. Bailey“, knurrte O'Connor hitzig und schwitzte vor Aufregung immer mehr.
Der Staatsanwalt blickte ihn über seine Brille an wie ein widerliches Insekt. „Gratuliere zu Ihrer pünktlichen Pflichterfüllung, Lieutenant.“
Ed sprang hinter seinem Schreibtisch hervor wie eine Kobra, die zubeißt, und der Staatsanwalt zog den Kopf in seine fetten Nackenfalten. „Lassen Sie meine Leute in Ruhe, Bailey!“ brüllte Ed. „Sie haben es nötig, von Pflichterfüllung zu sprechen!“
„Reden Sie nicht so mit mir!“ brüllte Bailey zurück. „Sie sind hier nicht der Chef!“
„Sie auch nicht!“ mischte ich mit. Mir konnte ja verhältnismäßig wenig passieren.
„Was machen Sie eigentlich hier, Dee?“  fauchte der Staatsanwalt.
„Ich hatte eine Besprechung mit den Herren.“
„Darf ich Sie bitten, mir zu verraten, worum es in dieser Besprechung ging?“
„Sie dürfen“, entgegnete ich und lächelte. „Es handelt sich natürlich um die Fälle Orban und Gibbson.“
Bailey und ich sind nicht gerade Freunde. Ich kannte ihn zur Genüge aus meiner Zeit als Kriminalreporter. Da hatte ich ihn in meinen Berichten stets als etwas beschränkt hingestellt. So etwas begründet gewisse Ressentiments, das war mir klar.
„Soso.“ Bailey bemühte sich, stahlharte Augen zu machen. „Dee, Sie waren ein schlechter Journalist, und Sie sind ein jämmerlicher Detektiv. Auf diese Weise werden Sie Ihre Lorbeeren nicht verdienen. Die Fälle Gibbson und Orban sind Unglücksfall und Selbstmord. Und wenn Sie sich noch so sehr bemühen, es wird kein Mord daraus.“
„Da bin ich mir gar nicht so sicher, Staatsanwalt“, erwiderte ich. „Aber wenn man natürlich nur die Oberfläche eines Falles kennt und andererseits auch nicht die High Society aus ihrer beschaulichen Ruhe bringen will, dann stellt sich die Sache so war, wie Sie sie so überzeugend schildern.“
Bailey schluckte, als ob ich in seiner Kehle steckte, und sagte umgänglich wie eine Rasierklinge: „In zwei Stunden wünsche ich den Bericht auf meinem Schreibtisch vorzufinden. Vergessen Sie nicht die Obduktionsbefunde, ich kenne sie bereits, aber ich möchte sie im Bericht haben. Sie ergeben natürlich eindeutig Unglücksfall und Selbstmord. Bis auf weiteres können Sie die Recherchen einstellen, Captain.“
Ohne Gruß verließ er das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu, daß der Kitt von den Fensterscheiben fiel.
Gerade wollte ich Ed trösten, als die Tür noch mal ausging und Baileys glänzender Schädel darin erschien. „Und Ihnen, Dee, rate ich, die Beamten des Mord¬dezernats in Ruhe arbeiten zu lassen. Sonst ist eines Tages Ihre Lizenz beim Teufel.“
Wieder krachte die Tür. Ich sprang auf, rannte auf den Korridor und brüllte ihm wütend nach: „Das ist Erpressung, Herr Staatsanwalt! Dafür habe ich zwei Zeugen!“
Ich ging zurück in Eds Büro. „Was sagst du zu der Laus? Alle Zähne sollen ihm ausfallen!“
„Bis auf einen“, meinte O'Connor grinsend.
„Weshalb das?“
„Für Zahnschmerzen.“
„Genehmigt“, sagte ich. „ Also, Ed, ich weiß: damit sind dir die Hände vollständig gebunden. Aber ich mache weiter. Und wenn ich fertig bin, werde ich gemeinsam mit Nancy in der Klatschspalte der >Chronicles< eine kleine Racheaktion starten. Noch vor der Wahl, das bin ich dir schuldig, Ed.“

* * *

Es war halb sechs, als ich von Ed Coleman wegging. Auf der Straße überfiel mich die Hitze wie eine heiße Dusche, und ich lechzte nach einem Bier. Erschöpft betrat ich die nächste Cafeteria, bestellte ein paar Sandwiches und ein Bier und hockte mich so nah zur Klimaanlage, daß ich fast Erfrierungen bekam.
Dann schloß ich die Augen und überlegte.
Ich hatte recht wenig neue Anhaltspunkte: Mrs. Gibbson hatte nach dem Tod ihres Mannes praktisch sein ganzes Vermögen zu Geld gemacht, dieses aber nicht auf ihr Konto eingezahlt. Das war sehr interessant, weil es meine Theorie bestärkte, nach der hinter den Mädchen eine Organisation stand, die den Witwen das Geld abnahm, sie vermutlich auszahlte und in die Verbannung schickte. Gut versorgt, damit sie den Mund hielten. Wie gesagt, das war interessant, brachte mich aber keinen Schritt weiter weil es nichts als eine Mutmaßung meinerseits war. Die Gibbson konnte das Geld auch einer wohltätigen Organisation übergeben haben.
Daß die Gibbson und der Portier in einem ganzen Jahr nicht auf ihre gemeinsame Heimatstadt Boston zu sprechen gekommen waren, bewies mir, daß der Portier wie der Gartenzwerg in Baltimore ein Beauftragter der Hintermänner war. Aber konnte ich hingehen und ihn bitten, mich doch mal mit seinem Boß bekannt zu machen?
Blieb das „American Acapulco“.
Das Bier war kühl und erfrischte mich. Ich bestellte ein zweites, nahm es mit in die Telefonzelle und suchte Peter Orbans Nummer aus meinem Notizbuch.
Der Bilderbuchbutler meldete sich.
„Hier Dee. Könnte ich mal den Chef sprechen?“
Er zögerte. „Ich weiß nicht, ob Mr. Orban...“
„Na, versuchen wir's doch mal, ja?“
Ich hörte, wie er den Hörer sanft hinlegte.
Nach einer Weile meldete sich Orban. „Ja. Machen Sie's kurz, Dee.“
„Nur eine einzige Frage, Mr. Orban: wo haben Sie Ihre Frau kennengelernt?“
Orban zögerte.
Ich wartete und trank mein Bier.
„Dee, ich möchte nicht, daß Sie sich noch weiter mit dieser Sache beschäftigen.“
„Ich glaube, meinen Standpunkt habe ich Ihnen bei meinem letzten Besuch klargemacht, Mr. Orban.
Sie brauchen mir meine Frage auch nicht zu beantworten, ich werde Ihnen die Antwort selbst geben. Und Sie werden mir sagen, ob sie stimmt. Ist sie falsch, verspreche ich Ihnen, die Sache aufzugeben. Ist sie aber richtig, Mr. Orban, mache ich weiter, denn dann befinden Sie sich in höchster Gefahr. Einverstanden?“
„Gut.“
„Sie haben Ihre Frau im > American Acapulco< kennengelernt.“
Er antwortete nicht.
„Mr. Orban?“
„Ja, Mr. Dee. Ich bin noch am Apparat. Darf ich Sie bitten, zu mir zu kommen?“
„Sofort?“
„Sofort.“

* * *

Wieder saß ich auf einem von Orbans Louis-Quinze-Stühlen, trank seinen Whisky und rauchte seine Zigaretten. Mit keinem Wort hatte er unsere letzte Begegnung erwähnt, und seine Selbstgefälligkeit war auch um einige Grade abgekühlt.
Während ich ihm über das Millionärssterben und besonders über den Tod der beiden Gibbsons berichtete, ging er schwerfällig über die dicken Teppiche. Ich erzählte ihm alles, was ich wußte, er war ja nicht der Staatsanwalt.
Einmal blieb er kurz stehen und fragte, weshalb sich die Polizei dieser Sachen nicht annahm. Das dürfte man doch für das viele Steuergeld verlangen.
Hocherfreut klärte ich ihn über die kleinen Eigenheiten Staatsanwalt Baileys auf und fragte: „Aber wie kommt es, Mr. Orban, daß Ihnen selbst plötzlich Zweifel gekommen sind? Denn ich nehme an, daß das der Grund für Ihren Willen zur Mitarbeit ist.“
Er trank das dritte Glas Whisky aus und schenkte sich das vierte ein. „Wissen Sie, Dee, man verschließt lange die Augen, weil man gewisse Zweifel, die sich schon früh anmelden, einfach nicht wahrhaben will. Aber kaum kratzt ein Außenstehender an der Fassade, fällt das berühmte Kartenhaus zusammen. Das schließt nicht aus, daß ich meine Frau noch liebe und bereit bin, ihr zu verzeihen, wenn - sie darauf Wert legt.“
Sein Gesicht war grau-rosa und sein Blick stumpf und gelblich. Er sollte weniger trinken, dachte ich. Stirbt bestimmt an Leberzirrhose.   
Müde ließ er seinen schwammigen Körper auf das altrosa Sofa fallen. „Es ist traurig für einen Mann, wenn er merken muß, daß er trotz aller Vorsichtsmaßnahmen auf eine Frau hereingefallen ist“, fuhr er fort. „ Aber es hat auch keinen Sinn, vor den Tatsachen davonzulaufen. Was wollen Sie also wissen?“
„Erzählen Sie mir ganz genau, wie Sie Ihre Frau kennengelernt haben!“
Orban stellte das Glas hin und legte die Hände flach auf den Tisch. Auf seinen Handrücken kräuselten sich rötliche Haare über einer Unmenge Sommersprossen. „Ich war zu einer Geburtstagsfeier eingeladen, in die Wohnung eines meiner Freunde. Allmählich kamen aber zu viele Leute, und es wurde zu eng. Wir beschlossen, die Feier ins >Acapulco< zu verlegen und fuhren hin.“
„Kennen Sie alle Leute, die damals anwesend waren?“
„Ja, alle. Es sind meist Jugendfreunde von mir, und dabei lernte ich auch Ruth kennen. Soweit mir bekannt ist, war sie allen meinen Freunden fremd. Ich habe keine Ahnung, wer sie eigentlich eingeladen hatte. - Moment! Jetzt fällt mir ein, daß der Geschäftsführer sie uns vorgestellt hat.Das Lokal war so voll wie immer, ja... Youd, der Geschäftsführer, kam an unseren Tisch und stellte sie uns vor.“
„Erinnern Sie sich ganz genau daran, Mr. Orban?“
„Ganz genau.“
Ich nahm mein Notizbuch. „Kennen Sie sich an einige Ihrer Freunde erinnern, die damals an der Feier teilnahmen?“
Orban sah auf. „Natürlich, Mr. Dee. Aber dazu muß ich Ihnen sagen, daß wir sehr oft dort waren, eigentlich dauernd. Es war - und ist es immer noch - der abendliche Treffpunkt schlechthin für unsere Clique. Man ist dort ein bißchen unter sich - Sie verstehen.“
Ich blickte ihn fragend an.
„Na, die Preise sind so hoch, daß...“
„Ich verstehe“, sagte ich. „Trotzdem, geben Sie mir einige Namen der Leute, die dort verkehren.“
„Es sind alles meine Freunde, Mr. Dee“, warnte er sanft.
Ich nickte.
„Allan Myers, Kenny Simpson und Maurie, seine Schwester. Henry Keller, Arnold und Isabel Westman, Sharon Conners, bevor sie ihren Unfall hatte. Anne Delmar, David Bergman, Edward Turner, bevor er...“ Er schwieg und starrte mich an.
„...bevor er in der Südsee ertrank“, vollendete ich leise. „Hat er seine Frau auch im >Acapulco< kenengelernt?“
„Das weiß ich nicht“, sagte Orban benommen und schwankte ein wenig. „Ich weiß nicht.“
Wir schwiegen. Er hatte die Augen geschlossen und lehnte in einer Ecke der Samtcouch, die Beine von sich gestreckt, die Krawatte auf Halbmast, den Hemdknopf über dem Gürtel offen - schlaff, willenlos und betrunken.
Ich notierte mir den Namen des Geschäftsführers und der Freunde Orbans.
„Wer ist diese Sharon Conners?“ fragte ich. Schließlich mußte es ja nicht unbedingt der Ehemann sein, der starb. Die Sache funktionierte auch andersrum.
„ Ach, die“, sagte Orban, öffnete die Augen und griff nach dem Glas. „Eine Nymphomanin. Oder ein Flittchen, wie Sie wollen. Sie ging, wenn ich so sagen darf, in unserer Runde von Hand zu Hand, bis sie ihren Autounfall hatte und von der Bildfläche verschwand. Ja, Sie brauchen nicht zu fragen, ich hatte auch für eine Weile das Vergnügen. Bei ihr konnte ich wenigstens sicher sein, daß sie es nicht auf mein Geld abgesehen hatte. Ihr Vater vererbte ihr halb Texas. Die Hälfte mit den Ölquellen.“
„Was für ein Unfall war das?“ fragte ich.
„ Autounfall, vor zwei Jahren.“
„War sie verheiratet?“
Orban schüttelte den Kopf. Ich strich den Namen.
„Haben sich in der Zwischenzeit die Entführer Ihrer Frau gemeldet?“ fragte ich.
Orban wachte auf. „Vor etwa zwei Stunden. Sie wollen sich heute noch melden und mir sagen, wo ich das Geld abliefern soll.“
„Haben Sie es?“
Er nickte.
„Ich nehme an, Mr. Orban, Sie sind sich darüber im klaren, daß Sie vermutlich weder das Geld noch Ihre Frau wiedersehen werden.“
Er sah mich aus kleinen gelben Augen an. „Ich möchte ihr wenigstens eine Chance geben, zurückzukommen“, sagte er.
Armer Narr, dachte ich. So viel Menschlichkeit hatte ich gar nicht in ihm vermutet. „Sie sollten beim nächsten Anruf der Entführer verlangen, mit Ihrer Frau zu sprechen“, sagte ich. „Vielleicht wissen Sie dann mehr. Ich werde alle dreißig Minuten anrufen, Mr. Orban. Verlassen Sie unter keinen Umständen das Haus, bevor Sie mit mir gesprochen haben!“
Er nickte, ich ging.
Der Butler öffnete mir die Tür „Mr. Orban läßt Sie bitten, den Whisky und die Gläser hinauszutragen“, sagte ich. „Gehen Sie hinein und melden Sie Mr. Orban, ich hätte es Ihnen wunschgemäß ausgerichtet!“

* * *

Das „American Acapulco“ lag in der Fünfundzwanzigsten Straße, gleich bei der Madison Avenue. Ich parkte den Wagen mitten im Halteverbot am Madison Square und ging einen Block zu Fuß.
Mißtrauisch betrachtete ich das elegante Messingschild mit der schwarzen Schrift am Eingang. Ich habe etwas gegen Lokale, die so nobel sind, daß nicht mal eine Neonreklame benötigt wird.
Ida betrachtete mich in einem Glasfenster, fuhr mir mit allen zehn Fingern durchs Haar und dachte daran, mir doch mal einen Kamm anzuschaffen. Ich zog den Krawattenknoten brav bis unters Kinn, machte ein artiges Gesicht und trat dem Portier unter die Augen.
Der sah unwillig auf meine Zigarette. Ich lächelte entschuldigend und warf sie weg.
Er öffnete die Glastür, und als ich an ihm vorbeihuschte, warf ich einen scheuen Blick auf seine Admiralsuniform.
Die Halle war mit dunklem Marmor getäfelt. Ich dachte an eine Leichenhalle. An den Wänden hingen Glasvitrinen, in denen aztekische Tonkrüge standen.
Beeindruckt betrat ich das eigentliche Lokal. Eine lange Bar zog sich durch den ganzen Raum, an der messingglänzende Barhocker standen. Hinter der Theke tummelten sich zwei Dutzend Mädchen. Die Bar war noch fast leer, es war noch zu früh, kaum acht. Ich blickte auf die Uhr und erinnerte mich an Orban.
Ich lief hinaus und rief ihn an, aber er hatte noch keine Nachricht erhalten.
Ich ging wieder zurück ins Lokal und schwang mich auf einen Hocker. Ein Mädchen in einer hochgeschlossenen Bluse kam auf mich zu und lächelte mich gewinnend an. Ich betrachtete es näher und sah zu meiner großen Freude, daß die Bluse sehr durchsichtig und das Mädchen darunter nackt war. Da lächelte ich gewinnend zurück und fragte: „Kann man Sie auch bestellen, schönes Kind?“
Sie hatte schwarzglänzendes Haar, und ich hätte mich gern geschäftlich mit ihr unterhalten.
„Bedaure, Sir“, erklärte sie und lächelte weiter. „Ich gehöre zum Inventar. Ich bin nur für die Getränke verantwortlich. Was nehmen Sie?“
„Einen doppelten Whisky“, seufzte ich.
Ich drehte mich auf meinem Hocker um und durchforschte das Lokal nach Animiermädchen. Oder Animierdamen. Das war ein vornehmer Ort. Aber vergeblich. Hier gab es so was anscheinend nicht.
Woher sollte ich dann meine Informationen bekommen?
Weit im Hintergrund spielte eine Band diskrete Weisen. Von High Society war weit und breit nichts zu sehen, nur ein müder Mittsechziger unterhielt sich zu meiner Linken mit meiner barbusigen Schwarzhaarigen.
Plötzlich saß aus dem Nichts ein hübsches, freundliches Wesen neben mir und fragte: „Darf ich Ihnen ein wenig Gesellschaft leisten?“
Hocherfreut bestellte ich ihr einen Drink, bot ihr eine Zigarette an, gab ihr Feuer und überlegte. Wenn ich mich auf dem Instanzenweg bei ihr hochturnte, konnte ich bestenfalls am nächsten Morgen einige Informationen aus ihr herausquetschen. Dann war es aber vermutlich zu spät. Also unterdrückte ich meine Skrupel, setzte mein umwerfendstes Lächeln auf und flüsterte: „Goldstück, was halten Sie von hundert Dollar?“
Sie sah mich ein wenig schockiert an, überwand ihrerseits ihre Skrupel und flüsterte zurück: „Ich muß bis drei Uhr hierbleiben. Aber nachher...“
„Das habe ich nicht gemeint, Goldstück.“
„Ach so“, sagte sie enttäuscht, was meinem Selbstbewußtsein wohltat.
„Wir können aber gern ein andermal darüber reden“, beeilte ich mich zu versichern. „Heute bin ich geschäftlich hier. Ich würde die hundert Dollar spendieren, wenn Sie mir einige Fragen beantworten.“
„Mann“, flüsterte sie eindringlich. „Das ist ein vornehmes Lokal hier! Hier gibt's nichts zu schnüffeln.“
„Können wir uns nicht an einen der Tische setzen und weiterverhandeln? Hier ist es doch ungemütlich“, sagte ich.
Sie glitt geschmeidig vom Barhocker und ging voran. Dezent schwenkte sie die Hüften, und ihr Gang war anmutig und sicher. Offensichtlich legte man hier Wert auf jedes Detail.
Wir setzten uns an eines der Tischchen.
„Wer sind Sie überhaupt?“ fragte sie und sah mich scharf an.
„Mein Name ist Dee, und ich möchte mich gern an diesem Geschäft hier beteiligen. Sie werden verstehen, Goldstück, daß ich mich hier ein wenig umsehe, bevor ich mein Geld riskiere.“
Sie sah mir skeptisch ins Gesicht. „Soso“, sagte sie. „Sie wollen sich hier beteiligen. Und ich bin der Weihnachtsmann.“
„Sie nicht“, erwiderte ich lächelnd und legte fünf Zehner auf den Tisch. „Aber ich.“
Sie sah sich rasch um, ob niemand herblickte und steckte die Scheine in die unergründlichen Tiefen ihres Halsausschnitts.
„Dasselbe noch mal nach erfolgter Dienstleistung“, sagte ich leise.
„Sie haben Glück, daß ich den Job demnächst aufgebe, um zu heiraten. Sonst hätten Sie mich mit dem Doppelten nicht zum Reden bringen können. Ich bin immer eine loyale Angestellte gewesen.“
„Davon bin ich überzeugt“, sagte ich schnell.
„Also, was möchten Sie gern wissen?“
„Alles über Mr. Youd.“
Wieder der scharfe Blick. „Kennen Sie ihn?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Etwa Fünfzig“, sagte sie. „Eleganter, älterer Herr mit grauen Schläfen, wie er im Buche steht. Verläßt sein Büro nur, um Stammgäste zu begrüßen oder sich die Mädchen anzusehen.“
„Casanova der Ältere?“
Sie schüttelte den Kopf. „Für ihn findet sich hier im Geschäft kaum etwas Geeignetes. Sobald ein Mädchen die Achtzehn überschritten hat, gehört es für ihn zum alten Eisen.“
„ Ach?“ machte ich interessiert und beugte mich vor.
Sie nickte. „Ich weiß das natürlich nur vom Hörensagen. Aber 'ne untere Altersgrenze soll es für ihn nicht geben. Daß er noch nie in Schwierigkeiten mit den Gesetzen war, wundert mich.“
Ich wartete.
„Außerdem vermittelt er Mädchen an reiche Männer.“
„Wie kommen Sie zu dieser Vermutung?“ fragte ich ungläubig.
„Ach ja“ sagte sie lebhaft. „Hin und wieder kommt ein gewisser Fred, bringt ein hübsches Mädchen mit und läßt es bei Youd. Diese Mädchen arbeiten aber nie hier. Plötzlich tauchen sie dann als Gäste im Lokal auf. In Begleitung von reichen Stammgästen.“
„Vielleicht eine Art Spezialservice“, warf ich ein.
„Vielleicht“, sagte sie gleichgültig. „ Kann mir ja auch egal sein. Aber soweit ich mich erinnern kann, haben zwei von ihnen diese reichen Knaben auch geheiratet.“
Plötzlich fiel mir Orban ein. Ich bestellte dem braven Mädchen noch einen Drink und entschuldigte mich für einen Augenblick.
Aber Orban hatte noch keinen Anruf erhalten. Es war halb neun.
„Wie lange arbeiten Sie schon hier, Goldstück?“ fragte ich, als ich mich wieder an den Tisch setzte.
„Etwas mehr als ein Jahr“, sagte sie abwesend. „Erinnern Sie sich an den schönen Eddie. Als er ertrank, habe ich hier angefangen. Ich weiß es so genau, weil alle hier über nichts anderes sprachen. Er wohnte ja beinahe hier. Hat seine Frau auch hier kennengelernt.“
„Soso“, sagte ich gelassen und rieb mir innerlich die Hände. „Kannten Sie eigentlich auch John Gibbson?“
„Den Bankier? Kaum. Er war recht selten hier. Der hatte doch vor kurzem einen Unfall, oder?“
Ich nickte. „Lukrativer Job hier?“
„Das möchte ich glauben“, meinte sie begeistert. „Bei den Preisen! Das hier -“ Sie deutete auf unsere leeren Gläser -“kostet Sie so viel wie meine Antworten auf Ihre Fragen.“
Ich schluckte einen Zentner Luft und beschloß, sofort an die Arbeit zu gehen. Ich ließ mir noch den Weg zu Youds Büro erklären, bat sie, nicht gleich den anderen Mädchen von meiner Fragerei zu erzählen und gab ihr den zweiten Teil ihrer Gage.
Nach kurzem Überlegen entschloß ich mich, meine Zeche so lange offen zu lassen, bis ich mit Youd gesprochen hatte. Vielleicht erübrigte sich dann das Bezahlen.
Ich quetschte mich durch die Tischreihen zum Seitenausgang, der auf den Korridor führte. Inzwischen hatte sich das Lokal gefüllt, und die Musik spielte etwas flotter.
Ich ging über den schmalen Korridor, an den Toiletten vorbei und eine enge Treppe hinauf.
An der Bürotür blieb ich stehen und horchte. Drinnen rührte sich nichts. Ich drückte die altmodische Messingklinke nieder und trat ein.
Mit dem Rücken zu mir saß ein Mann, und ihm gegenüber, hinter seinem Schreibtisch, saß Youd, nicht zu verkennen, nach der Schilderung des Mädchens. Er blickte überrascht auf, als ich eintrat. Der andere bewegte sich nicht.
„Was wollen Sie hier?“ herrschte mich Youd an. „Dies ist ein Privatbüro.“
„Ich weiß, Mr. Youd“, sagte ich sanft. „Ich habe auch durchaus privat mit Ihnen zu sprechen.“
„Scheren Sie sich raus!“ rief Youd nervös. „Raus! Ich habe zu tun! Was erlauben Sie sich eigentlich? Sie sind doch kein Stammgast hier, daß Sie sich solche Freiheiten rausnehmen.“
„ Aber ich könnte es werden“, entgegnete ich drohend.
Youd erwog die Möglichkeit einen Augenblick lang und sagte dann unsicher zu seinem Gegenüber: „Warte nebenan auf mich, Fred.“
Sieh mal einer an, dachte ich und bemühte mich, Fred ins Gesicht zu sehen, aber er ging geradewegs durch eine Seitentür in den angrenzenden Raum. Das konnte ungemütlich für mich werden.
„Mr. Youd“, sagte ich laut und bewegte mich langsam in den toten Winkel neben der Tür, durch die Fred verschwunden war. „Wie Sie vielleicht wissen, untersucht die Polizei die beiden Mordfälle Gibbson und Orban. Wie zu erwarten war, führten die Spuren eindeutig in dieses Lokal. Auch der Fall Turner...“
Die Tür sprang auf, und ich hechtete zurück. Bevor ich nach meiner Automatic greifen konnte, erschien ein dunkler Fleck auf Youds makelloser Hemdbrust. Die Tür schlug wieder zu, draußen entfernten sich eilige Schritte.
Ich stürzte hinaus, aber alles, was ich zu Gesicht bekam, waren Füße, die die enge Treppe hinaufliefen. Ich zielte, verfehlte aber. Die Kugel bohrte sich in den dunkelroten Läufer, der auf der Treppe lag. Ich rannte die Treppe hoch, hetzte hinter Fred her. Die Treppe war endlos.
Plötzlich krachte es über mir, und als ich um die letzte Biegung kam, wußte ich den Grund: eine Falltür führte aufs Dach. Fred war da oben. Er brauchte sich nur bequem neben die Tür zu setzen und zu warten, bis ich meine neugierige Nase hinaufsteckte und konnte mich in aller Ruhe abknallen.
Na gut, dachte ich, setzte mich hin und verschnaufte. Auch ich habe Zeit, mein Sohn.
Nach einer Weile erhob ich mich leise und sah mich hier oben um. Der Korridor war hier ziemlich breit und lief, soviel ich sehen konnte, über die ganze Länge des Hauses. Es war ziemlich dunkel, und ich konnte nicht erkennen, ob es noch andere Türen zum Dach gab.
Also schlich ich langsam an der Mauer entlang und horchte nach oben, ob von Fred irgendein Geräusch kam. Aber Fred saß vermutlich grinsend wie eine Katze vor dem Mauseloch und wartete auf den fetten Happen.
Nur hatte die Sache für ihn einen gewissen Haken: ich konnte ihn da oben verhungern lassen. Früher oder später fanden sie den toten Youd und kamen herauf. Und dann würde Fred das Grinsen vergehen.
Am Ende des Korridors gab es eine zweite Falltür und eine Treppe, die hinaufführte. Ich überlegte, was ich tun sollte. Es war ein Risiko, aufs Dach zu gehen und sich der Gefahr auszusetzen, daß man hinunterfiel. Andererseits konnte ich nicht die ganze Nacht hier sitzen und mit meiner Automatic auf die Falltüren zielen, wenn ich Orban vor einer Dummheit bewahren wollte.
Ich sandte ein Gebet zum Himmel, daß Fred bei der anderen Falltür lauerte, und es wurde erhört.
Als die Tür hinter mir zukrachte, sah ich ihn am anderen Ende des Daches aufspringen und davonrennen. Ich schoß hinter ihm her und er tat, was ich mir gewünscht hatte: er warf sich in Deckung. Wäre er davongerannt, hätte ich ihn nie getroffen, die Entfernung und die Dunkelheit waren einfach zu groß.
Ich benutzte alles, was es auf dem flachen Dach gab, als Deckung. Sogar die Fernsehantennen. Einmal schoß Fred hinter seinem Schornstein hervor, und ich deckte ihn sofort mit einer mittleren Lieferung Blei ein, während ich weiterlief.
Als ich über ein Eisenrohr fiel und schmerzhaft auf dem Boden aufschlug, hörte Fred mich fluchen und sprang hinter seinem Schornstein hoch. Während ich mich zur Seite rollte, leerte er sein Magazin in meine Richtung und kam näher. So nahe, daß ich es klicken hörte, als der Bolzen leer aufschlug.
Ich wartete ganz ruhig, daß er noch näher kam, aber er sprang hinter einen Haufen Ziegel, die hier auf bessere Zeiten warteten. Bevor er nachladen konnte, sprang ich auf und rannte vor. Ich drückte einmal ab. Er ließ die Pistole fallen und warf sich auf mich.
Meine Automatic fiel irgendwohin, also machte ich mit den Fäusten weiter. Aber Fred verstand etwas vom Geschäft und war außerdem ebenso groß wie ich. Ich war außerdem ebenso groß wie ich. Ich versuchte, ein paar Handkantenschläge anzubringen, doch Fred lachte nur.
Da wurde ich wütend, hob ihn ruckartig hoch und stieß ihn von mir weg. Er landete in den Ziegeln, war aber sofort wieder in der Höhe und knurrte böse. Während er sich auf mich stürzte, kickte ich ihn ins Schienbein und trat zur Seite. Er brüllte auf und verpaßte mir eins in die Magengrube, daß ich aufjaulte.
Während ich verzweifelt nach einem Ziel für meinen nächsten Schlag Ausschau hielt, traf mich seine Faust an der Schläfe. Ich ging zu Boden.
Als er sich bückte, um mir zur Sicherheit noch eins nachzugeben, warf ich ihm eine Handvoll Ziegelstaub in die Augen und zog ihm die Beine weg. Er krachte zu Boden, und ich legte meine Hände um seinen Hals.
Er wehrte sich. Wir rollten kreuz und quer über das Dach, rissen Antennen um und stießen gegen allerlei harte Gegenstände.
Er bearbeitete mich ausgiebig, und ich spürte, daß meine Widerstandskraft nachließ.
Plötzlich hörte ich in einiger Entfernung Stimmen, eine eiserne Tür fiel zu.
Fred versetzte mir noch einen ordentlichen Hieb hinters Ohr, blickte sich kurz um, sprang auf und rannte davon. Ich sah ihn über eine Mauer setzen, die ich nicht mal in ausgeruhtem Zustand bezwungen hätte, schloß die Augen und blieb liegen.
Die Schritte und Stimmen kamen näher. Ich erkannte erleichtert, daß es Ed Coleman und seine Leute waren.
„Dick! He, Dick!“ Ed beugte sich über mich. „Wo ist der Kerl?“
Ich rappelte mich auf und zeigte benommen auf die Mauer.
Ed rannte hinüber, seine Leute mit gezogenen Pistolen hinter ihm her.
Ich lehnte mich an irgendetwas und schloß die Augen wieder.
Ed kam zurück. „Dick“, sagte er mit seltsamer Stimme.
Ich sah ihn an.
„Dick, hinter der Mauer ist nichts. Absolut nichts, nur die Straße unten.“
Mir wurde kalt.
„Bist du sicher, daß er über die Mauer sprang? Sie ist sehr hoch.“
Ich nickte.
Ed schickte seine Leute nach unten und half mir auf. Von der Straße herauf drangen Verkehrsgeräusche und Schreie einer Menschenmenge.
Ed gab mir eine Zigarette, und wir gingen die enge Treppe hinab in Youds Büro. Ich ließ mich in einen Stuhl fallen und hätte Orbans tausend Dollar für ein Bett gegeben. Ich war staubig und zerschlagen, und zwischen den Zähnen hatte ich Sand.
Youd hing noch immer vornübergeneigt in seinem Sessel, während Eds Leute sich mit ihm beschäftigten.
„Captain“, sagte ein junger Lieutenant von der Tür her, „wir haben die Leiche draußen. Er hieß Alfred Gornall.“
Ich lehnte mich zurück. „Ed, er ist der Mann, der die Mädchen brachte, die Youd dann an die Knaben verkuppelte. Ich habe das von einem Mädchen draußen. Die Unterhaltung mit ihr war eine richtige Fundgrube.“
„Wir werden sie später noch mal vernehmen“, sagte Ed.
Die Tür wurde aufgerissen, Bailey stürmte herein, das Gesicht mit einer cholerischen Röte überzogen, atemlos vor Aufregung. Als er mich sah, vertiefte sich die Röte, wenn das noch möglich war.
„Dee!“ keuchte er. „Schon wieder Sie! Was tun Sie hier? Kann denn die Polizei nirgends in Ruhe arbeiten, ohne Ihre Anwesenheit ertragen zu müssen? Ich frage mich, wie kann ein Mensch so allgegenwärtig sein wie Sie?“
„Da fragen Sie am besten den lieben Gott“, antwortete ich, und meine Laune kehrte zurück. „Er ist außer mir der einzige, der das kann.“
Der Staatsanwalt war einen Augenblick lang ruhig. „Dee!“ brüllte er dann. „Was tun Sie hier?“
„Mr. Bailey“, gab ich ihm gelassen zu verstehen. „Ich bin der Tatzeuge für einen Mord. Keinen Selbstmord, Mr. Bailey. Und keinen Unglücksfall. Sondern sauberer Schuß ins Herz, abgegeben von dem Mann, dessen zerschmetterte Leiche draußen auf der Straße liegt. Wollen Sie die ganze Geschichte hören?“

* * *

„Haben Sie Orban die Summe genannt und den Ort angegeben, wo er das Geld abliefern soll?“ fragte die Stimme aus dem Lautsprecher.
Kimberley drückte seinen Knopf. „Er wird keine Schwierigkeiten machen. Um Punkt elf wird er sein Päckchen bereithalten. Er hat anscheinend wirklich Angst um seine Frau.“
„Der Idiot“, sagte die Stimme zynisch. „Um Mitternacht gehen Sie persönlich zu dem vereinbarten Treffpunkt und übernehmen das Geld!“
„Muß das sein?“ fragte Kimberley unwillig. „Ich sehe nicht ein, weshalb ich mich persönlich in Gefahr begeben soll.“
„Feigling“, kam es verächtlich aus dem Lautsprecher. „Wenn Sie an dem Treffpunkt ankommen, haben unsere Leute das Terrain abgesucht. Es kann Ihnen dabei nichts geschehen. Und ich will kein weiteres Risiko mit unfähigen Leuten eingehen.“
„Na gut“, seufzte Kimberley. „Und die Orban?“
Die Stimme schwieg einen Moment lang. „Hat sie bereits mit ihrem Mann gesprochen?“
„Natürlich, das war das erste, was er wollte: hören, daß es seinem Täubchen gutging. Ich mußte ihr die Pistole in die Rippen drücken, damit sie spurte. Sie war dann ganz brav und spielte zum letztenmal das liebende, verängstigte Weibchen.“   
„Dann brauchen wir sie nicht mehr. Erledigen Sie das, Kimberley!“
„Jawohl“, sagte Kimberley, und das Licht auf dem Schreibtisch erlosch.   
Er stand auf, griff in eine Schublade und holte eine bläulich funkelnde Achtunddreißiger hervor. Zärtlich ließ er sie in seine Jackentasche gleiten und verließ das Zimmer.
Er trat in die große Halle, durchquerte  sie und ging den Korridor entlang. Ohne anzuklopfen trat er in eines der Zimmer.
Ruth Orban fuhr auf und knöpfte schnell ihren dünnen Morgenrock zu. Kimberleys Augen leuchteten kurz auf.
„Was wollen Sie hier?“ fragte Ruth Orban.   
Kimberley trat näher und grinste.
„Was - was wollen Sie hier?“ fragte Ruth Orban.
„Was - was wollen Sie hier?“ wiederholte sie mit entsetztem Gesichtsausdruck.   
 „Nicht das, was du glaubst, Süße“, antwortete Kimberley hämisch.
„Verschwinden Sie! „ fauchte sie. „Machen Sie, daß...“   
In Kimberleys Hand lag die Waffe.   
Ruth erstarrte.   
Als sie den Mund zu einem Schrei öffnen wollte, war sie bereits tot.

* * *

Bailey war nicht dumm. Außerdem hatte die Beschützerrolle für einen Millionär in Lebensgefahr etwas Publikums wirksames an sich.
Als ich mit der Entführung Ruth Orbans geendet hatte, sagte er sofort: „Verbinden Sie mich mit Mr. Orban!“
Ich griff nach dem Telefon.
„Sehr freundlich von Ihnen, Staatsanwalt. Ich meldete mich, und Orban sagte: „Gut, daß Sie anrufen, Dee. Die Entführer...“
„Mr. Orban“, unterbrach ich ihn. „Der Staatsanwalt hat jetzt endlich erkannt, daß wir doch nicht an Hirngespinsten leiden, und will seine Pflicht tun. Bitte, informieren Sie ihn selbst.“
Bailey warf mich vor Eifer fast vom Sessel. „Mr. Orban!“ säuselte er. „Wie gut, daß wir uns rechtzeitig einschalten konnten. Wie ich dieses Unglück bedaure! Darf ich Sie nun ersuchen, mir zu sagen, was die Entführer wollen?“
Bailey wedelte mich aus meinem Sessel, setzte sich selbst darauf und griff nach Papier und Bleistift. „Einen Augenblick, Mr. Orban! Ja, ich schreibe mit... Highway 95 Richtung Port Chester. die Abfahrt nach Harrison und diese Straße immer geradeaus. Bei der Gabelung nach rechts... Nach einigen hundert Metern eine Shell-Tankstelle, dort halten. Hinter den drei Kastanien, jawohl. Jawohl, Mr. Orban, ich habe alles. Eine Frage noch, Mr. Orban: wann wird Ihre Frau freigelassen? - Erst morgen früh? Das will mir gar nicht gefallen... Wir rufen Sie in zehn Minuten zurück, Mr. Orban. Bitte, bleiben Sie solange beim Apparat! Vielen Dank, Mr. Orban... Natürlich.“
Umständlich legte der Staatsanwalt den Hörer in die Gabel und wandte sich zu uns.
„Um dreiundzwanzig Uhr soll Orban das Geld in Harrison hinterlegen. Das heißt -“ er blickte auf die Uhr - „daß wir uns sputen müssen, meine Herren. Einen Stadtplan!“
Mit einem ergebenem Seufzer zog Ed Coleman seinen Plan aus der Tasche, entfaltete ihn und breitete ihn auf Youds Schreibtisch aus. Youds Leiche wurde gerade zum Abtransport vorbereitet.
 „Dick, glaubst du, daß Orban zu trauen ist? Er konnte als einziger annehmen, daß du zu Youd unterwegs warst, vergiß das nicht. Theoretisch könnte er in die Sache verwickelt sein.“
Ehe der Staatsanwalt mit großer Geste Eds Worte wegwischen konnte, sagte ich: „Ich habe den Eindruck, Orban ist okay. Obwohl er natürlich vom Tod seines Vaters materiell profitiert. Aber diese krummen Sachen traue ich ihm nicht zu Dazu ist er zu träge.“ Eigentlich hätte ich meine Antwort beendet gehabt, aber da Bailey tadelnd die Stirn runzelte, setzte ich hinzu: „Und zu belämmert.“
Der Staatsanwalt brüllte auf: „Captain! Lieutenant! Verständigen Sie Ihre Männer, und legen wir endlich die Fahrtroute fest!“
Ed und ich hielten uns wimmernd je ein Ohr zu und verzogen das Gesicht.
„Mann“, sagte ich vorwurfsvoll, „wir haben auch ein hartes Tagewerk hinter uns und wären lieber daheim im Bettchen.“
Ed Coleman ließ sich mit dem Polizeihauptquartier verbinden und gab den Einsatzplan durch, während er auf dem Stadtplan die Route einzeichnete.
Bailey wartete zappelig darauf, daß Ed sein Gespräch beendete und ließ sich dann eiligst mit Peter Orban verbinden.
„Mr. Orban!“ sagte er, als hätte er den verlorenen Sohn wiedergefunden. „Mr. Orban, haben Sie Papier und Bleistift bei der Hand?“
Ich hörte, wie Orban unwillig grunzte. Vermutlich ging ihm der fetttriefende Staatsanwalt hart an die strapazierten Nerven.
„Ich werde Ihnen nun genau unseren Schlachtplan durchgeben.“ Er lachte selbstgefällig in sich hinein, und ich nahm an, Orban zersprang am anderen Ende des Drahtes, denn Bailey sagte beschwichtigend: „Aber, aber, Mr. Orban! Ja, natürlich, ich verstehe vollkommen. Also, Sie fahren praktisch sofort los, Richtung Roosevelt Drive, den Drive entlang und biegen in der Bronx in den Bruckner Expressway ein. Dann fahren Sie den Hutchinson River Parkway weiter, bis zur Auffahrt zur Autobahn Nummer 95. Sie nehmen die Fünfundneunziger und fahren weiter bis Harrison. Dort halten Sie sich an die Anweisungen der Kidnapper. Anschließend kommen Sie direkt ins Polizeihauptquartier. Ich werde Sie hier erwarten. Haben Sie noch Fragen, Mr. Orban?“
Er blickte wohlgefällig ins Telefon, sagte in Abständen von drei Sekunden abwechselnd „ Sicher, Mr. Orban, natür¬lich, Mr. Orban! Gewiß, Mr. Orban“, und „ja.“
Ed gähnte und schickte Lieutenant O'Connor, der inzwischen gekommen war, um Kaffee für uns holen zu lassen.
„Gut, Mr. Orban“, sagte der Staatsanwalt. „Sie können versichert sein, daß die Gangster nicht merken, daß wir Sie begleiten. Es sind vollkommen neutrale Wagen, und sie wechseln alle zwei Kilometer. Sollte Ihnen ein Fahrzeug der Gangster folgen, so werden wir darauf Rücksicht nehmen und öfter wechseln... Natürlich, Sir, mit Rücksicht auf die Sicherheit von Mrs. Orban. Und zu Ihrer eigenen... Jawohl.“
Er legte auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Captain“, sagte er zu Ed. „Ich nehme an, daß der Wagen, der Orban vom Haus aus folgen soll, bereits zur Stelle ist.“
Im selben Augenblick kam der Fahrer des Wagens herein, der uns zur Verfügung stand.
„Also, Captain“, sagte der Staatsanwalt und mühte sich ein schneidiges Grinsen ab. „Machen Sie's gut und bleiben Sie über Funk mit mir in Verbindung! Ich bin für Sie jederzeit in der Leitstelle zu erreichen.“
Wir tranken unseren Kaffee und gingen zum Wagen.

* * *

Im Einsatz befanden sich nur neutrale Wagen mit je zwei Beamten besetzt. Der erste Wagen folgte Orban bis zum Roosevelt Drive, wurde knapp vorher abgelöst. Der zweite folgte ihm ein kurzes Stück den Drive entlang und übernahm auch das nächste Stück, wenn Orban nicht anderweitig beschattet wurde. Die Lage wurde dauernd über Funk an die anderen Wagen durchgegeben. Ein dritter, oder - wenn die Kidnapper hinter ihm her waren - ein vierter, fünfter und sechster folgten ihm bis in die Bronx, ein nächster bis zur Fünfundneunziger. Ein Wagen stand an der Tankstelle und behielt die drei Kastanien im Auge, hinter denen Orban seine zweihunderttausend Dollar deponieren sollte. Außerdem waren mit Einverständnis des Tankstellenbesitzers zwei FBI-Beamte an den Pumpen.
Von der Tankstelle aus konnten sie den Feldweg, der zu den drei Kastanien führte, gut im Auge behalten. Der Feldweg hörte nach fünfhundert Meter auf. Hier konnten die Kidnapper also nicht entkommen.
Fuhren die Gangster mit dem Geld nach New York zurück, empfingen wir sie mit offenen Armen. Fuhren sie in die andere Richtung, so kamen sie nicht weit. In den wenigen Minuten, die sie brauchten, um das Geld zu holen und den Feldweg wieder zurückzufahren, wurde die Straße wegen unmittelbar bevorstehender Sprengungen gesperrt, und sie mußten einfach Richtung New York - zumindest ein Stück. Und das genügte, um weitere Befehle durchzugeben.
Kurz vor elf hielten Captain Coleman und ich an der vorgesehenen Stelle. Ed fuhr, und ich bediente das Sprechfunkgerät.
Wir standen in der Harrison Avenue, kurz vor der Auffahrt zur Autobahn, in Richtung Bronx-New York.
Es war heiß, der Himmel war bewölkt, und wir waren ziemlich nervös. Bisher war Orban von niemandem - außer den Polizeiautos - verfolgt worden, was die Sache außerordentlich vereinfachte.
Ich kurbelte die Wagenfenster herunter, aber nicht die geringste Brise verfing sich in dem stickigen Wagen. Zu unserem Leidwesen hatte die Klimaanlage nach einigen Kilometern ihren Geist aufgegeben.
Wir rauchten Kette.
„Orbans Wagen hat die Tankstelle erreicht“, meldete Wagen NK 66. „Er steigt aus und geht den Feldweg entlang. Er hat fast die drei Kastanien erreicht... Ich kann ihn nicht mehr erkennen...“
Ed und ich sahen uns an. Einen bangen Augenblick lang dachten wir beide das gleiche: was, wenn Orban nicht mehr auftauchte? Was, wenn man ihm dort in der Dunkelheit auflauert und ihn umbringt? Was dann?
„Jetzt kommt er wieder zur Straße.“ Ed und ich sanken erleichtert zurück.
„Er geht langsam zu seinem Wagen. Er hat den Koffer hinter den Kastanien gelassen und ist jetzt bei seinem Wagen angelangt. Jetzt steigt er ein... Nichts Außergewöhnliches ist zu melden. Alles ruhig, keine Verfolger, keine Kunden an der Tankstelle.“
Ich schnipste die Zigarette aus dem Fenster.
Ed sagte: „Stell dir vor, sie hätten ihn dort hinter den Bäumen erledigt und wären in der Dunkelheit verschwunden. Stell dir das bloß vor.“
Bailey hätte Ed eigenhändig erwürgt, dachte ich.
Wir rauchten eine Zigarette nach der anderen und schwiegen. Irgendwo weit entfernt wetterleuchtete es.
Ich hoffte, es würde bald regnen.
„Elf Uhr fünfzig“, sagte Ed und trommelte nervös mit den Fingern aufs Lenkrad. „Wann werden Sie das Geld holen?“
Ich zuckte die Schultern.
Wir standen fast eine Stunde lang in der Dunkelheit und waren müde. Die Sorge um Peter Orban war fürs erste vorbei, und wir waren ungeduldig, die Sache zu Ende zu führen.
„Achtung! Achtung! Meldung aus der Tankstelle! An alle Wagen! Ein heller Chevrolet 1964 hat hier gehalten, nachdem er aus Richtung New York City kam! Es sieht so aus, als ob es der Mann wäre, auf den wir warten... Jawohl! Der Mann steigt aus und geht eilig zum Feldweg und biegt hinein. Achtung an alle! Der Mann, auf den wir warten, fährt einen hellen, vermutlich hellbraunen Chevrolet 1964 mit folgender Nummer: NY-A-24221. Außer dem Fahrer befindet sich niemand im Wagen.
Der Mann kommt mit Orbans Koffer von den Kastanien zurück, legt den Koffer auf den Beifahrersitz und steigt ein... Er fährt Richtung New York City davon. Ich wiederhole die Kennzeichennummer: NY-A-24221.“
„Achtung, an alle!“ meldete Bailey sich aus dem Hauptquartier. „Jeder Wagen meldet seine Bereitschaft!“
„Wagen AR 55 bereit... Wagen XB 75... NK 66...“
Alle Wagen bestätigten ihre Bereitschaft.
„Hier Wagen AR 55! Eben hat uns der Chevrolet passiert! Er fährt weiter in Richtung Autobahnauffahrt New York City!“
„ Wagen AR 55!“ meldete sich Bailey. „Fahren Sie Richtung Harrison los, verstanden?“
„Verstanden, Ende.“
„Achtung, hier Wagen XB 75, Der Chevrolet biegt in die Halstead Avenue ein und fährt nun die Harrison Avenue entlang! Immer noch Richtung Autobahn New York.“
„Achtung!“ meldete sich Bailey. „Wagen NK 66 zurück zum Hauptquartier! Wagen RA 95 melden!“
„Wagen RA 95“, meldete ich mich.
„Fahren Sie auf die Autobahn und übernehmen Sie von XB 75!“
„Verstanden, Ende.“
Ed Coleman startete den Wagen und fuhr gemächlich auf die Autobahn. Wir fuhren weiter Richtung New York. Es herrschte nicht viel Verkehr auf der Fünfundneunziger. Ein roter Jaguar überholte uns.
Weit vor uns konnte ich einige Stopplichter erkennen. Ed fuhr etwas schneller. In weitem Bogen zog sich die Autobahn vor uns hin.
Es begann leicht zu regnen, nur einige schwere Tropfen, die gegen die Windschutzscheibe klatschten, aber mir wurde sofort um einige Grade kühler. Ed stellte den Scheibenwischer an.
Nacheinander kamen die Meldungen herein. Der helle Chevrolet hatte die Autobahn erreicht. Vor uns fuhr ein weiteres Polizeifahrzeug und direkt hinter uns kam der Chevrolet. Dahinter fuhren weitere drei Polizeiwagen.
Bailey bemühte sich unauffällige Überholmanöver durchzuführen. Wir bekamen laufend Anweisungen, welches Tempo wir halten mußten.
Der Regen wurde stärker. Die Fahrbahn war naß und dampfte. Das Wettereuchten wurde zu einem Gewitter, das aber noch weit entfernt war.
Im Strahl unserer Scheinwerfer sahen wir die Schlußlichter von Wagen BC 23.
Ed hatte den Mund voll Eukalyptus und rauchte dazu wie ein Schlot. Ich rauchte ohne Eukalyptus. Meine Müdigkeit war verschwunden, und Ed sah verbissen in den Strahl der Scheinwerfer.
Knapp vor der Stadtgrenze erhielten wir den Befehl, zurückzufallen und dem Chevrolet Gelegenheit zum Überholen zu geben, was er auch sofort tat.
Einen kurzen Augenblick sah ich den Mann am Steuer: ein Adlerprofil mit einem sehr energischen Kinn.
Nun war nur noch Wagen BC 23 vor dem Chevrolet. Wir und die anderen drei Verfolger erhielten Befehl, dichter aufzuschließen. Der Regen wurde etwas schwächer, der Himmel hellte sich auf.
Wir waren in New York City.
Der helle Chevrolet bog in den Hutchinson River Parkwav ein. Bailey postierte einen Wagen an der Ausfahrt zum Bruckner Expressway und einen am Whitestone Expressway nach Queens.
Der Wagen, der noch vor dem Chevrolet gewesen war, war auf der Autobahn geblieben. Bailey pfiff ihn zurück ins Hauptquartier.
„Der Chevrolet biegt in den Whitestone Expressway ein!“ meldete sich ein Wagen.
„Wagen AR 55, XB 75 und RA 95 dichter aufschließen! Wagen KM 72, übernehmen Sie die Führung!“
Vor uns bog KM 72 in den Whitestone Expressway ein. Er blieb dicht hinter dem Chevrolet.
Wir schlossen auf. Als wir am Flushing Meadow Amphitheater vorbeikamen, beschleunigten wir, fuhren den Van Wyck Expressway entlang. Der helle Chevrolet hatte es sehr eilig.
„Wagen AR 55, überholen Sie RA 95!“
Ich drehte mich um. Der schwarze Ford überholte uns. Ed heftete sich an seine Fersen. Hinter uns kam Wagen XB 75.
Nach einer Weile bog der Chevrolet in die 78th Road ein und fuhr langsamer. Vor einer Gartenmauer blieb er stehen.
Wagen AR 55 fuhr weiter und bog in die 138. Straße ein. Ed war am Beginn der 78th Road stehengeblieben und hatte die Wagenbeleuchtung abgedreht.
„Wir sind jetzt in Kew Gardens Hill“, gab ich durch. „Wir stehen am Anfang der 78th Road, gleich neben dem Union Park. Der grüne Chevrolet steht vor uns, zwei Blocks entfernt, an einer Gartenmauer. Dahinter befindet sich, soweit ich es erkennen kann, eine Villa, eine einstöckige Villa in einem Garten. Die Steinmauer ist etwa drei Meter hoch.“
Wagen XB meldete sich. Der Driver hatte hinter uns noch vor der Ecke gehalten, als er sah, daß der helle Chevrolet anhielt.
Der Mann stieg aus dem Chevrolet und trat zum Eingangstor, drückte eine Klingel.
Bailey postierte alle Wagen, die in der Nähe waren, um den Block. Ich hoffte, daß der Mann im Chevrolet nicht gemerkt hatte, daß wir ihm folgten. Vor allem hoffte ich, daß die Villa keinen zweiten Ausgang hatte, von wo der Mann auf Nimmerwiedersehen verschwinden konnte.
Der Mann holte den Koffer aus dem Wagen und trat durchs Gartentor.
Ed lehnte sich zurück und schloß die Augen.
Bailey befahl, nichts zu unternehmen, bevor er persönlich erschien. Ausgenommen natürlich den Fall, daß jemand das Haus verließ: er war sofort festzunehmen.
„Mr. Bailey, haben Sie feststellen lassen, wem das Haus gehört?“ fragte Ed.
„Natürlich!“ rief Bailey gereizt. „Ich in doch kein Greenhorn, Captain!“
Das obere Stockwerk der Villa war erleuchtet.
Das Gewitter hatte sich verzogen, es war heißer als vorher.
Von fern drangen Motorengeräusche vom Van Wyck Expressway, und ich spürte, wie meine Lider immer schweres wurden.
Es war zwei Uhr vierzig.
Ein Cadillac fuhr langsam an uns vorbei. Ed und ich sahen nervös auf, aber es war nur ein blasser junger Mann, der sein Mädchen nach Hause brachte.
Irgendwo schrie eine Katze steinerweichend. Es begann wieder zu regnen. Alle Fenster in der 78th Road waren dunkel.
„Ed“, sagte ich, „kommen wir in das Haus hinein?“
Ed fuhr sich mit dem Handrücken über die Bartstoppeln. „Über die Mauer natürlich.“
„Wo Bailey bloß bleibt?“ seufzte ich. Ich fühlte mich sehr zerschlagen, die Warterei zerrte an meinen letzten Nerven.
„Gleich drei“, murmelte Ed.
Ich sah auf die Uhr. Drei Minuten vor drei. Ich bildete mir ein, daß es bereits hell wurde. Es kann aber auch eine optische Täuschung gewesen sein.
Zwei Streifenwagen hielten vor uns.
„Wir parken in der 138. Straße“, meldete Bailey sich über Funk. „Die Besatzungen der Wagen AR 55, XB 75 und RA 95 zu mir!“
Ed ließ die Fenster hoch und stieg aus. Ich kletterte, aus dem Wagen und drückte die Tür leise zu.
Wir begrüßten die Besatzung des einen Streifenwagens, der vor uns gehalten hatte. Alles war ruhig.
Als wir zur Ecke vorgingen, kamen uns bereits Bailey und Orban entgegen.
„ Alles okay?“ fragte der Staatsanwalt schneidig. Sein rundes Gesicht war ein wenig eingefallen und bleich wie Käse.
Ich war viel zu müde für ätzende Bemerkungen. Meinetwegen konnte er vor Orban den schnittigen Helden spielen, solange er wollte.
Ed nickte.
„Wir sind mit fünfzehn Mann da“, sagte Bailey. „Ich glaube, die einzige Möglichkeit, die uns bleibt, ist, über die Mauer zu klettern und zu versuchen, unbemerkt ins Haus zu kommen.“
Wieder nickte Ed. Also nickte ich auch.
Die Männer des einen Streifenwagens waren bereits instruiert. Sie holten Leitern aus dem Wagen und stellten sie gegen die Mauer.
Die ersten Männer kletterten hoch.
„Sie umstellen erst mal das Haus selbst“, sagte Bailey und deutete mit dem Kopf auf die Männer. Bailey ging zu den Leitern. „Kein Risiko eingehen, Leute! Wenn einer den Helden spielen will dort drinnen, dann...“
Er vollendete den Satz nicht. Schließlich war er Staatsanwalt.
„Wem gehört das Haus eigentlich?“ flüsterte Ed.
„Einer gewissen Sharon Conners. Miß Sharon Conners.“
Ich runzelte die Stirn. Den Namen kannte ich irgendwoher. Es war zwecklos, mein Gehirn funktionierte nicht mehr so richtig.
Orban trat näher.
„Wie sagten Sie, Mr. Bailey? Wie war der Name?“
Plötzlich fiel es mir ein.
„Miß Sharon Conners“, sagte der Staatsanwalt. „Kennen Sie sie? Sie kommt aus Ihren Kreisen, Mr. Orban. Die Tochter eines Millionärs.“
„Natürlich kenne ich sie. Sehr gut sogar, wenn man so sagen kann. Aber sie kann mit dieser Sache nichts zu tun haben.“ Er lachte leise und eitel. „Für sie sind zweihunderttausend Dollar ein Trinkgeld.“
Da war ich nicht so sicher.
Der Staatsanwalt wurde unruhig. „Na, wir werden ja sehen.“ Er trat zur Leiter. „Mr. Orban und ich warten hier“, sagte er zu Ed, der eben über die Leiter kletterte.
Ed hob die Hand.
Ich folgte ihm.
Auf der anderen Seite der Mauer war ein Garten. Wir sprangen so leise wie möglich auf den weichen Rasen und liefen über die Wiese zum Haus. Die Polizisten hatten es umstellt.
Kein Wort wurde gesprochen. Die Polizisten hatten ihre genauen Instruktionen erhalten, und es waren geübte Männer, die das nicht zum erstenmal machten.
Ich blickte zurück zur Mauer. Sie war etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt. Ein Kiesweg führte zu einem Gartentor.
Die einstöckige Villa lag vollkommen im Dunkel.
Die Polizisten warteten auf Ed Coleman.
„Öffnen Sie das Haustor“, flüsterte er einem der Männer zu.
Ich entsicherte die Automatic.
Leichter Regen fiel auf unsere müden Gestalten und erfrischte uns ein wenig.
Ich trat neben Ed und wartete. bis der Mann das Schloß geöffnet hatte. Zwei Polizisten mit Maschinenpistolen gingen voraus, dann kamen Ed und ich. Uns folgten weitere fünf Männer. Die restlichen Leute umstellten das Haus.
Geräuschlos huschten wir in die Halle. Es war unheimlich dunkel.
Ich knipste die Taschenlampe an und ließ ihren Strahl schnell durch den Raum gleiten. Es war alles ruhig.
Im flüchtigen Schein der Taschenlampe konnten wir drei Türen erkennen, die von der Halle wegführten. Eine breite, protzige Treppe führte in den ersten Stock. Wo die Treppe eine Wendung machte, leuchtete ein buntes Glasfenster im Licht er Lampe. Am Fuß der Treppe lag ein riesiger Teppich.
Wenige kostbare Möbel standen in der Halle.
Ed ließ drei Männer am unteren Ende der Treppe, und wir gingen durch die erste der Türen. Dahinter lag ein Empfangszimmer, nicht groß, aber verschwenderisch eingerichtet. Es hatte keinen anderen Ausgang.
Wir öffneten die nächste Tür, die zur Küche und dem Keller führte. Von der Küche führte eine Tür in eine leere Kammer und aus dem Haus. Ed klopfte leise an die Tür, und der Polizist, der davor wachte, klopfte in vereinbarten Zeichen zurück.
Die dritte Tür war versperrt. Der Schlüssel steckte innen.
Ed überlegte einen Augenblick lang, dann ließ er einen Mann vor der Tür und ging mit den anderen die Treppe nach oben.
Die Treppe war aus Holz und mit einem dunklen Läufer belegt, der jedes Geräusch schluckte.
Kaum waren wir am oberen Ende der Treppe angekommen, wurde unten in der Halle das Licht angedreht.
Wir blieben sofort stehen.
Unten hörten wir die Stimme des Polizisten, einen Schrei, zwei Schüsse, und dann war Ruhe.
Ed lief die Treppe hinunter bis zur Kehre und blickte vorsichtig zur Halle. Alles okay, Captain!“ rief der Mann unten gedampft. „Ich habe ihm eins übergezogen.“
Hinter einer der Türen wurde es lebendig. Wir liefen den finsteren Korridor entlang und stellten uns zwischen den Türen auf. Ed stand am Treppengeländer und knipste die Beleuchtung genau in dem Moment an, als die Tür aufging und ein Mann in einem dunkelblauen Pyjama heraustrat. Ich traute meinen Augen nicht, es war der Fahrer des hellen Chevrolet.
Er hatte in einer Hand eine Pistole und legte die zweite geblendet über die Augen.
„Werfen Sie die Waffe weg!“ rief Ed.
Die Männer richteten ihre Maschinenpistolen auf den Mann im Pyjama. Er ließ die Waffe fallen.
„Stellen Sie sich mit dem Gesicht zur Wand und heben Sie die Hände hoch!“
Er folgte dem Befehl, und die Polizisten konzentrierten sich auf die anderen Türen.
„Wie viele Leute befinden sich im Haus?“ fragte Ed den Mann.
Er schwieg.
„Wo ist Ruth Orban?“
Der Mann schwieg weiter.
Ich trat neben ihn und riß ihm ein Büschel Haare aus. Wenn man sich in unserer Verfassung befindet, hat man keinen Sinn für neckische Spielchen.
„Wenn du nicht sofort den Mund aufmachst, skalpiere ich dich!“ knurrte ich und warf ihm die Haare ins Gesicht.
Der Mann erschrak. Ich weiß nicht weshalb, ob vor dem Gedanken, skalpiert zu werden oder vor meinem Anblick.  „Drei Leute befinden sich im Haus“, sagte er wütend. „Und die Orban ist weg…“
„Wo ist sie?“ fragte Ed drohend.
Der Mann lachte, und ich trat ihm gegen das Schienbein. Nicht besonders stark, da er ja mit dem Gesicht zur Wand stand.
Er jaulte auf und sagte: „Tot.“
Es war für jeden von uns eine Überraschung.
„Wo sind die anderen?“ fragte Ed mit harter Stimme.
„Einer ist unten, einer hier oben.“
„Wo?“ fragte Ed. „In welchem Zimmer?“
„Rate mal, Cop!“ Der Mann grinste.
„Laß ihn“, seufzte Ed, als ich meine Hand im Haar des Gauners verkrallen wollte.
Ich ließ ihn los.
Ed ging den Korridor entlang.
„Gebt acht auf ihn!“ befahl er den Männern, die immer noch die Maschinenpistolen in Anschlag hielten.
Ed und ich begannen, die Zimmer systematisch zu durchsuchen. Alle waren offen. Wir begannen auf der linken Seite und arbeiteten uns voran bis ans Ende des Ganges.
Es waren unpersönliche, karg eingerichtete Räume. In einigen von ihnen standen Betten.
Die Zimmer sahen unbewohnt aus, bis auf den letzten Raum an der linken Seite. Er war ähnlich verschwenderisch und teuer eingerichtet wie der Empfangsraum unten in der Halle. Ja, man könnte sagen, es war ein Luxuswohnzimmer für ein verwöhntes Wesen.
Wir sahen uns sorgfältig um, aber da niemand in dem Raum war, hatten wir dringenderes zu tun, als ihn nach Hinweisen auf den Charakter seines Bewohners zu durchsuchen.
Blieb noch das Zimmer an der Stirnseite des Korridors, bevor wir uns an die andere Reihe Türen machen konnten.
Wir traten ein. Ed knipste nach kurzem Suchen den Lichtschalter an.
„Lassen Sie sofort die Waffen fallen!“ sagte eine Stimme aus einer Ecke hinter uns.
Es klang wie ein Diamant, der Glas schneidet.
Die Tür hinter uns klickte lautlos ins Schloß.
„Und jetzt nehmen Sie die Hände hoch, alle beide!“
Wir gehorchten und drehten uns in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
Ein blondes Mädchen in einem Rollstuhl richtete zwei Pistolen auf uns.
Eine der Pistolen fiel zu Boden. Die Gestalt im Rollstuhl zuckte zusammen.
„Versuchen Sie nicht, sich zu bewegen“,  sagte sie. Ihre Stimme war so gleichmäßig, als gäbe es keine Tonleiter, und so kalt wie Eis. „Ich versichere Ihnen, ich kann mit der einen Hand besser zielen als Sie mit beiden.“

* * *

Da erst bemerkte ich, daß die Hand, der die Pistole entfallen war, in einem weißen Handschuh steckte und offensichtlich eine Prothese war.
Das Mädchen war etwa achtundzwanzig, möglicherweise auch jünger. Es war schwer zu sagen. Das starre Gesicht und die kalten hellen Augen widerstanden jeder Schätzung.
Neben dem Rollstuhl stand ein niedriges Tischchen, auf dem eine Unmenge Schalter, Druckknöpfe und Kontrolllämpchen beinahe die ganze Platte bedeckten.
War das Sharon Conners, von der mir Orban erzählt hatte? Ich blickte auf ihren Rollstuhl. Über den Beinen lag eine leichte dunkle Decke.
„Miß Conners“, sagte ich. Meine Stimme war sehr rauh. Plötzlich tat mir das arme Ding unendlich leid, obwohl sie immer noch einen Fünfundvierziger Colt auf uns gerichtet hatte.
Sie grinste höhnisch. .Im selben Augenblick drangen von draußen die Stimme Orbans und des Staatsanwalts zu uns.
„Keinen Laut!“ sagte sie, und ich wußte, daß dieses Mädchen mein Mitleid nicht brauchte.
Draußen wurden die Stimmen lauter.
„Ja, Mr. Bailey“, hörte ich Lieutenant O'Conners. „Hier drinnen. Captain Coleman und Mr. Dee. Jawohl.“
Wir blickten das Mädchen an.
„Nein, Mr. Orban“, sagte Bailey. „Ich kann nicht gestatten...“
„Mr. Bailey, meine Frau.“
Die Klinke wurde niedergedrückt, aber erfolglos.
Eilig betätigte das blonde Mädchen einen ihrer Druckknöpfe. Die Tür sprang auf.
Als Bailey und Orban neben uns standen, war es bereits zu spät.
Ed grinste stärker.
„Hände hoch!“ schrie das Mädchen. Aber weder Orban noch Bailey waren bewaffnet. Und die Polizisten hinter uns hatten uns vier im Schußfeld.
„Sharon! rief Orban entsetzt.
„Raus mit den Polizisten!“ rief sie. „Sonst hat der Captain ein Loch im Kopf!“
Die beiden Männer, die hinter uns gestanden hatten, traten zurück auf den Korridor, nachdem Ed ihnen mit dem Kopf angedeutet hatte, das Zimmer zu verlassen. Ed war ruhig wie ich. Wir wußten instinktiv, daß es hier nicht um uns ging. Hier ging es um Orban.
Die kalten hellen Augen fixierten Peter Orbans Gesicht.
Der Schweiß darauf glänzte.
„Du kommst wie gerufen“, sagte sie mit flacher Stimme. „Du warst der letzte auf meiner Liste. Und ich werde dich erledigen, Peter Orban, bevor jemand mit einem Lid zucken kann.“
Der Staatsanwalt wurde unruhig.
„Keine Bewegung, meine Herren!“ zischelte Sharon Conners, ohne den Blick von Orbans Gesicht zu nehmen und ohne den Tonfall ihrer Stimme zu verändern.
Orbans Atem ging schneller. Aus den Augenwinkeln sah ich sein schwabbeliges Kinn zittern.
„Sharon“, stammelte er. „Sharon, was habe ich dir getan?“
Ed Coleman wollte blitzschnell nach seiner kleinen Pistole im Gürtel greifen, die er zur Sicherheit für Fälle wie diesen bei sich trug.
Ohne den Blick von Orban zu lassen, feuerte Sharon Conners. Die Kugel streifte Eds Ärmel.
„Tun Sie das nicht wieder, Captain!“ sagte Sharon. „Ich fürchte mich nicht davor, einen Polizisten zu töten. Ich weiß, was mich erwartet.“
Orban schluckte hart und machte einen Schritt auf das Mädchen zu. Die Pistole zeigte sofort auf seine Stirn, und er blieb stehen.
„Du willst wissen, was du mir getan hast?“ Sie lachte unheimlich. „Das fragst du mich? Peter Orban, du bist ein Schwein!“
Ich sah zu Orban. Und wenn ich ihn so betrachtete, hatte die Behauptung des Mädchens etwas für sich.
„Aber ich werde dir sagen, was du mir getan hast, Peter, bevor du stirbst. Und ich sage es noch einmal laut und deutlich: bei der nächsten Bewegung, die einer von Ihnen macht, ist Peter Orban tot!“
Ich überlegte fieberhaft. Das Mädchen sah durchaus entschlossen aus.
Bailey war einer Ohmacht nahe.
„Du warst einer von jenen, Peter, für den Sharon Conners nichts als ein billiges Flittchen war, gut genug für eine wilde Nacht, hin und wieder, oder für ein paar nette Stunden tagsüber. Du und deine Freunde, Peter, ihr wart alle gleich. Und das einzige Mal, als ich mehr brauchte, als ich zu euch kam und Trost wollte, damals, als mein Vater starb, ein paar Stunden Trost und Gesellschaft, da habt ihr mich fast ausgelacht. Sharon Conners war etwas fürs Bett, aber ihren Kummer sollte sie gefälligst bei sich behalten.
Erinnere dich, Peter: ihr wart auf der Jagd, damals, in Arizona. Ich kam an, als ihr in der Jagdhütte ein wüstes Saufgelage hattet. Du und Kenny Simpson, Eddie Turner, John Gibbson, Allan Myers, Dave Bergman. Alle meine lieben Freunde. Als ich ankam, gab es ein wüstes Hallo und die Aussicht auf eine wilde Nacht, nicht wahr. Peter? Sharon, die macht bei allem mit. Sharon, die ist bei jedem Spaß dabei, aber auch bei jedem. Sharon, die nicht genug kriegen kann.
Als ich euch sagte, weshalb ich gekommen wäre, wurdet ihr plötzlich nüchtern. Ihr habt geglotzt wie die Schafe, und der schöne Eddie sagte plötzlich: >Aber Sharon, du bist doch kein Kind von Traurigkeit. Wir sterben doch alle mal. Komm, laß dich trösten.< Und dann habt ihr gelacht, und Eddie brüllte: >Komm, Sharon, hab dich nicht so, wir wissen schon, weshalb du gekommen bist!<
Ihr habt geröhrt und gebrüllt, und Eddie hielt mich fest. Aber ich konnte mich losreißen und davonfahren.
Ich wollte mich damals umbringen. Doch dazu kam es nicht. Ich wollte zu schnell weg von euch Kreaturen, und dabei flog ich von der Straße über eine Böschung.“
Sie machte eine heftige Bewegung, und die Decke glitt von ihren Beinen zurück. Entsetzt bemerkte ich, daß es zwei Prothesen waren.
Orban glotzte bleich in dieselbe Richtung.
Aber die Idee mit den Mädchen war gut, nicht wahr?“ sagte sie zynisch. „Und so war jedem geholfen: den Mädchen, die euch beerben durften, und mir, weil ich meine Rache hatte. Es ist nicht einfach, geeignete Mädchen zu finden. Aber ich habe gute Leute, Peter. Gut bezahlte Leute!“
Sie richtete sich auf. „Und jetzt weißt du, Peter Orban, weshalb du stirbst. Als einziger von allen weißt du es. Und leider als letzter. Mit der Zeit hätte ich euch alle umbringen lassen. So bist du leider der letzte.“
Sie hob die Pistole.
Mit einem gewaltigen Satz sprangen Ed und ich nach vorn und warfen uns auf Sharon Conners. Die Waffe fiel zu Boden.
Orban taumelte bleich gegen die Tür. Sharon Conners fauchte wütend, ihre Fingernägel rissen Streifen aus meinem Handrücken. Ich gab dem Rollstuhl einen Stoß, und Ed kickte die Pistole außer  Reichweite.   
Der Staatsanwalt wischte sich den Schweiß von der Stirn und stöhnte: „Das war knapp.“   
Ed probierte die Druckknöpfe auf Sharons Schalttischchen durch, bevor sich die Tür öffnen ließ.
Zwei Polizisten traten ein und holten Sharon Conners. Ich sah sie an und war überzeugt davon, daß sie mehr Gedanken an die Tatsache verschwendete, dass Orban noch lebte, als an ihr weiteres Schicksal.
„Wir haben die Leiche der Orban gefunden“, sagte Lieutenant O'Connors.   
Orban fuhr herum.
„Sie lag in einem der Kellerräume - erschossen.“   
Ed und ich gingen gemeinsam die breite Treppe hinab. Durch die bunten Glasfenster fiel Licht.
„Viertel nach vier“, sagte Ed.
Ich nickte. Alles, woran ich in jenem Augenblick denken konnte, waren Betten. Weiche, weiße, große, kühle Betten.
Ich gähnte.
„Hätte der alte Orban nicht seine Schwiegertochter durchschaut, hätte die Conners die halbe High Society umbringen lassen.“
„Stimmt. Hätten sie Orban Senior zwei Tage früher umgebracht, hätte nichts sie aufhalten können.“
Wir traten aus dem Haus und gingen über den Kiesweg zum Gartentor.
Der Regen hatte aufgehört, und es war Tag.

E N D E

© by Kurt Luif 1973 & 2017

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