Marvel Exklusiv Band 2: Kravens letzte Jad
Spider-Man: Kravens letzte Jagd
Von J.M. DeMatteis und Mike Zeck
Im Jahr 1987 erscheint die wohl kontroverseste Spider-Man-Story, die je erschienen ist. Spider-Man tritt gegen seinen Erzfeind Kraven, dem Jäger, an und durchbricht die üblichen Strukturen eines Superheldencomics. In eindringlichen Texten und Zeichnungen erzählen die beiden Autoren eine Geschichte, die nach über 35 Jahren immer noch Teil der Continuity ist und nicht durch einen Retcon oder anderen Kunstgriff außer Kraft gesetzt worden ist.
Nach dem Sturz des russischen Zaren 1917 fliehen die Kravinoffs in die USA. Es gelingt der Familie nur schlecht, sich in die neue Umwelt zu integrieren. Vor allem ihrem Sohn Sergei bereitet die Anpassung an die neue Umgebung erhebliche Schwierigkeiten. Er fühlt sich von den Menschen nicht angenommen und Bestätigung findet er nur in der Jagd nach wilden Tieren.
Es entwickelt sich ein Konflikt mit Spider-Man, in dem er sich als Kraven, der Jäger, eine jahrelange Auseinandersetzung mit der Spinne liefert.
Nach vielen Jahren des Kampfes ist Sergei desillusioniert und müde. Ein letztes Mal tritt er gegen den Spinnen-Mann an und es gelingt ihm tatsächlich, den alten Feind zu besiegen. Er begräbt den Ohnmächtigen auf einem Friedhof und übernimmt seine Rolle als Spider-Man. Zwei volle Wochen wird er Jagd auf die Gegner seines Erzfeindes machen und schafft es sogar, den rattenähnlichen Vermin zu besiegen. Einige Zeit zuvor war dies Spider-Man nicht gelungen, obwohl er Unterstützung von Captain America hatte. Er will beweisen, dass er besser ist als Spider-Man.
Spider-Man kann sich aus dem Grab herauswühlen und sucht die Konfrontation mit Sergei. Der kostetet seinen Sieg voll aus und lässt Vermin frei. Spider-Man lässt von Sergei ab und verfolgt das rattenartige Wesen, denn augenscheinlich scheint der die größere Gefahr für die Öffentlichkeit zu sein.
Sergei ist mit letzter Kraft an seinem Ziel angelangt. Er hat Spider-Man besiegt und seine Rolle als Superheld besser ausgefüllt, als dieser selbst. Dieses Gefühl will er sich nicht nehmen lassen. Er greift zu einer Waffe und richtet sie gegen sich selbst. Er drückt ab und Kraven, der Jäger, ist tot.
Es gelingt Spider-Man Vermin zu besiegen. Aber all das spielt keine Rolle mehr. Sergei ist dem ewigen, ermüdenden Kreislauf aus Kampf und Fremdheit entkommen und krönt seinen Sieg mit dem Tod.
Fazit
Spider-Man besteht seine Abenteuer seit mehreren Jahrzehnten in zahllosen Serien und Einzelabenteuern. Die Geschichten sind durch Auseinandersetzungen mit den verschiedensten Gegnern geprägt, die sich bei genauerer Betrachtung in ihrer Struktur ähneln. Superheldenserien sind im Kern nach einer gewissen Zeit auserzählt. Bei Spider-Man mag dies Anfang der 70er gewesen sein. Der Leser erkennt das daran, dass der Held sein Kostüm niederlegt oder stirbt. Im nächsten Schritt werden Planeten hin und her geschoben oder Dimensionen miteinander vermischt. Diese Handlungskniffs erlauben den Autoren, den Ballast der vergangenen Jahre über Bord zu werfen und die Serienhandlung wieder auf null zu stellen, um die Geschichte um den Helden neu zu erzählen: Peter Parker ist Spider-Man und Mary Jane seine Freundin. Er ist der unbekümmerte junge Mann, der sein Geld als Fotoreporter verdient oder zur Universität geht. So entsteht ein ewiger Kreislauf, in dem Helden und Schurken sterben und wiederauferstehen.
Keine Figur bleibt in der Regel wirklich tot. Vor allem bei Spider-Man ist das Beziehungsgeflecht der Hauptcharaktere über die Jahre derart verworren, dass selbst Langzeitleser Schwierigkeiten haben werden, die Figuren genau einzuordnen; und selbst dann ergeben sich noch Widersprüche.
Bereits nach den ersten Seiten von „Kravens letzte Jagd“ merkt der Leser, dass hier etwas anders ist. Sergei kündigt bereits relativ früh an, dass er sterben will. Aber wie oft hat man derartige Sätze schon gelesen, als dass man sie noch ernst nehmen könnte. Und selbst sollte er sterben, kommt er später durch einen Kunstgriff oder einen Retcon wieder zurück. Doch weit gefehlt dieses Mal.
Sergei setzt seinem Leben durch einen Suizid ein Ende. Er schlüpft zuvor in die Rolle Spider-Mans und erkämpft sich den ultimativen Sieg. Den krönt er mit seinem Tod, den ihm nun keiner mehr nehmen kann. Die Geschichte wird zu einer Methapher, einem Sieg des Suizides über die Einfachheit und Trivialität des Lebens.
Die Storyline erscheint im Jahr 1987 innerhalb der normalen Seriencontinuity. Der Leser mag vermuten, dass der tote Jäger in absehbarer Zeit zurückkehren mag, aber es geschieht das Unfassbare. Kraven, der Jäger, bleibt tot. Bis heute widersteht Marvel der Versuchung, ihn zurückzubringen und dieser Umstand verleiht der Geschichte eine ganz besondere Note. Die Radikalität und Konsequenz, in der Sergei auf seinen Suizid hinarbeitet und schließlich auch vollendet, führt vielleicht erst in der Nachbetrachtung zu der wahrscheinlich intensivsten Spider-Man-Geschichte, die je erzählt worden ist.
Derartige Geschichten sind allerdings nicht ganz unproblematisch. Es gibt in Film und Buch einige Beispiele, in denen der Verdacht naheliegt, dass Konsumenten dem Vorbild der Figur nacheifern und sich ebenfalls das Leben nehmen. Erstmalig wurde dieses Phänomen bei der Veröffentlichung eines Briefromanes von Göthe vermutet. Im Jahre 1774 erscheint „Die Leiden des jungen Werther“, in dem Göthe in Briefform den jungen Werther über seine nicht erwiderte Liebe zu einer Frau berichten lässt und in deren Folge er sich suizidiert. Der Stadtrat von Leipzig verbietet den Roman im darauffolgenden Jahr, da es zu einer erhöhten Anzahl an Selbsttötungen kommt und ein Zusammenhang zu Göthes Roman vermutet wird. Dieses Phänomen ist bis in die heutige Zeit zu beobachten und wird seit Göthes Roman als „Werther-Effekt“ bezeichnet.
Göthe überarbeitet seinen Roman und erweitert ihn um die Zeile „ sei ein Mann und folge mir nicht nach“. 1992 veröffentlichen DeMatteis und Zeck die Einzelgeschichte „Soul of the hunter“. Spider-Man versucht darin, Erlösung am Grab Kravens zu finden, da er sich die Schuld an dessen Tod gibt. Es kommt zu einem Zwiegespräch mit dem toten Jäger und zu einem versöhnlichen Ende. Der Leser mag selbst entscheiden, ob er „Soul of the hunter“ für einen würdigen Abschluss eines schwierigen Themas hält oder doch nur für eine fadenscheinige, nachgeschobene Abschwächung der Geschichte. Der Wucht von „Kravens letzte Jagd“ tut dies jedoch keinen Anbruch.
Die Storyline erscheint in sechs Bänden innerhalb der drei regulären Serien (Web of Spider-Man, Amazing Spider-Man, Spectacular Spider-Man). Sergei nimmt sich am Ende des fünften Kapitels das Leben und Spider-Man geht auf die Jagd nach Vermin. Sergei hat sein großes Ziel erreicht und die Geschichte ist eigentlich zu Ende. Im letzten Band folgt der finale Kampf zwischen der Spinne und Vermin, der nach dem Suizid Sergeis regelrecht in der Bedeutungslosigkeit verschwindet. Es ist ein kluger Schachzug DeMattis` den Suizids Kravens nicht an das Ende der Storyline zu setzen. Damit verschärft er noch einmal den konsequenten Sieg des Jägers, indem er den Leser den überflüssigen Kampf Spider-Mans mit Vermin ein ganzes Comicheft lang mitlesen lässt.
Stan Lee schreibt im Vorwort des Sammelbandes, dass die Zeichnungen Mike Zecks die Story in einer wunderbaren Weise ergänzen würden. Hier muss dem Großmeister widersprochen worden. J.M. DeMatteis ist ein Autor, der für seine genialen Skripte bekannt ist, die zuweilen einen Hauch von Esoterik mit sich tragen. Es steht sicherlich für sich, dass er eine derart gut strukturierte Geschichte abliefert. Aber Mike Zeck ergänzt die Geschichte nicht nur, sondern er bringt eine eigene Erzähldynamik mit in die Seiten hinein. Auf der einen Seite sind es die klar strukturierten Bilder, die einen stellenweise harten Realismus erzeugen. Auf der anderen Seite sind es die Passagen, die das Innenleben der Charaktere darstellen. Die Sequenzen, in denen sich Sergei seinen Fantasien hingibt, gleiten dabei ins surreale über. Der grafische Höhepunkt sind sicherlich die neun Seiten, in denen sich Peter langsam aus seinem Grab herauswühlt. Hier zeigt sich das hohe zeichnerische Können Zecks und dass er den Fortgang der Geschichte mit Bildern erzählen kann.
Diese Sequenzen erinnern an die legendären Szenen aus Amazing Spider-Man 33 aus dem Jahr 1966, die von Steve Ditko gezeichnet sind. Dort ist Peter unter Tonnen von Stahl begraben, und über vier Seiten hinaus schafft er es aufzustehen und die Massen von sich zu stemmen. So ist diese Szene als eine wunderschöne Hommage an diese alte Geschichte zu verstehen.
Der Schwerpunkt der Charakterzeichnung dieser Ausgabe liegt bei Spider-Man und vor allem Kraven, dem Jäger. Das Ensemble der Figuren in dieser Storyline ist gering, dafür erhalten alle relevanten Figuren hinreichend Screentime. Der Leser darf die inneren Gedanken Vermins miterleben und entwickelt vielleicht sogar ein bißchen Mitleid für dieses Wesen. Peter ist zwei Wochen lang verschwunden und Mary Jane begibt sich auf die Suche nach ihrem Lebensgefährten. Es wird deutlich, wie schwierig es ist, an der Seite eines Superhelden zu leben. Die Ungewissheit zu haben, ob der Geliebte zu ihr zurückkommt oder tot ist.
Superheldengeschichten werden oft mit Superlativen angepriesen. Zu lesen sind Ankündigungen, dass nichts mehr so sein wird, wie früher oder dass wenn nur eine Geschichte gelesen werden würde, es unbedingt diese eine sein müsste. In diesem Marketing schwingt Humor mit, der immer Teil von Superheldencomics gewesen ist. „Kravens letzte Jagd“ ist kein typischer Superheldencomic. Solltet ihr aber nur einen Spider-Man-Comic in eurem Leben lesen wollen, dann lest diesen.
Auf den letzten beiden Seiten wird der Jäger zu Grabe getragen. Bereits auf den ersten Seiten beginnt ein Mann aus Grab auszuschaufeln. Nun weiß der Leser, es ist das Sergeis gewesen. Die Szenerie verläuft wortlos, bis auf die letzten Panels, die versehen sind mit den Worten:
Spinne! Spinne! Brand entfacht
In den Wäldern tiefer Nacht
Welch unsterblich Aug` und Hand
Hat dich in dein Maß gebannt
Spider-Man: Kravens letzte Jagd
Marvel Exklusiv 2
Erscheinungsdatum: 1998
Preis: 24,95 DM
Autor: J.M. DeMatteis
Zeichner: Mike Zeck
Tuscher: Bob McLeod
Farben: Mike Zeck, Jan Tetrault
Marvel Deutschland
© Torsten Pech 01/ 2024