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Milk & Honey

Zauberspiel - KatzengeschichtenMilk & Honey
 

Gedankenverloren steckte ich mir den Zeigefinger meiner rechten Hand zwischen die Lippen und lutschte den Honig ab, der vom Brötchen auf dem Teller vor mir stammte und an meinem Finger kleben geblieben war.

Ich saß im Café Jüngst an einem der runden Bistrotische im warmen Licht des Frühherbstvormittags und genoss das bevorstehende Frühstück namens „Milk & Honey“.

Das Jüngst war in der ganzen westfälischen Universitätsstadt für seine zahlreichen Frühstücksvariationen bekannt und hatte mit zwei Besonderheiten aufzuwarten ... nein, im Grunde waren es drei: Da war zum einen die hauseigene kleine Kaffeerösterei, die Touristen und Einwohner gleichermaßen anlockte, und die beiden Inhaber des Jüngst: Frank und Klaus.

Das schwule Pärchen hatte vor einigen Jahren noch als exotisches Paradiesvogelgeschwader für Aufsehen in der Kleinstadt gesorgt. Mittlerweile waren sie aus dem Leben der Stadt nicht mehr weg zu denken – sie waren einfach wahre Goldschätze.

Selbst vor einigen Jahren von außerhalb zugezogen, war ich rasch zu einem Stammgast des Jüngst geworden, und mehr als einmal hatten die beiden mir einen kostenlosen Kaffee ausgegeben oder ein schmackhaftes Buttercroissant wortlos vor mir abgestellt, wenn es bei mir wieder einmal besonders knapp war.

Als das feinwürzige Aroma des Kastanienhonigs meinen Gaumen berührte, schloss ich für einen Moment genießerisch die Augen und hätte vor Wonne am Liebsten zu schnurren begonnen.

Genau DAS war das Besondere an „Milk & Honey“. Zum einen die Milch eines Biobauern, die mehrmals pro Woche frisch angeliefert wurde, und dann diese Offenbarung an Honigsorten. Klaus, der große Honigliebhaber, entdeckte immer wieder außergewöhnliche Sorten, die dann als Kostbarkeit das Frühstück verwandelten.

Von hinten legte sich eine Hand auf mein Schulterblatt und ließ mich zusammenfahren. Ich bin – das muss ich gestehen – ausgesprochen schreckhaft, und es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ich in einer solchen Situation herumfuhr und ausholte.
 
„Na, Liebchen“, spöttelte Frank liebevoll „du bist ja heute wieder förmlich auf dem Sprung. Was ist los?“

Ich blieb Frank eine Antwort schuldig. Er hatte Recht. Ich war ziemlich nervös in den letzten Wochen, eigentlich schon seit jener Nacht, in der ich Klaus "getroffen" hatte...

„Weißt du,“ begann Frank mit einem Mal fast gedankenverloren. Seine Stimme war ernst geworden „dein Frühstück ist die letzte Portion Kastanienhonig. Ich bin am Überlegen ob ich ‚Milk & Honey’ auf der Speisekarte lassen soll – oder ob ich es von der Karte nehme. Es schmerzt mich jedes Mal aufs Neue wenn ich mir klar mache, dass ich neuen Honig bestellen muss.“

Ich beobachtete wie Frank wie kraftlos auf das Polster des Stuhls schräg neben mir sank. Sein Gesicht war grau.
Mit einem kurzen Blick durch die großen Flügeltüren ins Caféinnere vergewisserte ich mich, dass Myriam, die Auszubildende von Klaus und Frank, alles im Griff hatte. Ohne sie wäre das Café inzwischen ziemlich in Schräglage geraten.

Vorsichtig berührte ich Franks Hand und spürte, wie er mühsam die Tränen unterdrückte.
„Ich kann es manchmal gar nicht fassen, dass er tot ist, Katja.“
Eine einzelne Träne blitzte in seinem Augenwinkel auf.

„Es ist auch schwer zu verstehen“, gab ich ihm Recht. „Ich warte ständig darauf, dass er durch die Tür kommt, Brutus auf dem Arm, und darüber lamentiert, dass es heute einfach viel zu regnerisch sei um die Bienen fliegen zu lassen.“

Frank musste bei der Beschreibung lachen, die so typisch für Klaus gewesen war. Es war ein unglaublich trauriges Lachen.

„Brutus weigert sich irgendwo anders als in Klaus Sessel zu schlafen. Weißt du das, Katja?“
Ich nickte.
 
Brutus, ein wunderschöner Abessinier-Kater, dessen Name alles andere als passend für den kleinen, verschmusten Wirbelwind war, hatte sich sehr verändert seit Klaus Tod. Frank hatte ein paar Mal versucht ihn mit ins Café zu bringen, allerdings war der Kater die meiste Zeit zitternd in einer Ecke gehockt, wenn er sich nicht auf meinem Arm verkrochen hatte, die Schnauze unter meiner Achsel vergraben. Inzwischen ließ Frank den Brutus lieber im Appartement – dort jedoch war es dem Kleinen zu einsam.

„Du wirst vermutlich einen Begleitkater für Brutus suchen müssen, Frank.“ Ich verspürte großes Mitgefühl für beide – für Frank ebenso wie für Brutus.

Frank nickte: „Ich weiß. Ich bin tagsüber einfach zu viel hier. Brutus fühlt sich einsam. Aber ich kann mich einfach nicht überwinden.“

„Gibt es etwas Neues von der Polizei?“
Es gelang mir nicht die Frage hinunter zu würgen. Seit man Klaus vor knapp sechs Monaten tot am Waldrand in seinem BMW aufgefunden hatte, ermittelte eine Sonderkommission der Polizei und ging den Hinweisen nach, die in nicht unerheblicher Zahl eingegangen waren. Ich versuchte mich immer wieder darüber zu informieren, wie weit die Polizei mit den Ermittlungen war. Für mich konnte sich das zu einer Frage über Leben und Tod entwickeln. Hin und wieder hatte ich einen gewissen Sinn für Dramatik. Es war einfach für mich ... ausgesprochen wichtig.

Allerdings stand es nicht besonders gut. Ein als Kleinkrimineller bekannter Heroinabhängiger war in den Tagen vor Klaus Tod mehrfach in der Nähe des Appartements der beiden Caféinhaber gesehen worden. Der junge Mann mit knallbunt gefärbten Haaren, der sich als Stricher in der nächstgrößeren Stadt das Geld für seinen nächsten Schuss verdiente, war unwillkürlich mit Klaus Tod in Verbindung gebracht worden. Dies war unvermeidlich gewesen nachdem ein Zeuge unter Eid ausgesagt hatte, dass er Klaus in der Nachbarstadt gesehen hatte – am „Stammplatz“ des jungen Mannes in Bahnhofsnähe, im Gespräch mit Matts Kröning. Es war zu erwarten, dass man bald die aktiven Ermittlungen einstellen würde. Zumal man Matts Kröning nicht fand – auch nicht an seinen einstigen Stammplätzen.

War es ein Fehler gewesen, dass ich mich nicht gemeldet hatte? Ich hatte Klaus ebenfalls im Gespräch mit Matts gesehen, etwa eine Woche vor seinem Tod, am Handy, hier im Café. Was hätte es gebracht? Es hätte nur dafür gesorgt, dass man die Suche nach Klaus wahrem Mörder eingestellt hätte. Und Matts war nicht der Mörder von Klaus.

Deutlicher als noch vor ein paar Minuten nahm ich die dunklen Schatten unter Franks Augen wahr, seine roten Augen, die Blässe. Er hatte deutlich abgenommen.
„Ach, Katja. Was für einen Unterschied würde das machen?! Klaus ist tot, er kommt nicht wieder. Ich weiß nicht was es bringen soll wenn man den Täter schnappt.“
„Vielleicht wirst du dann etwas zur Ruhe kommen.“
Frank schüttelte den Kopf.

„Nein, nein. Ich will einfach nur in Ruhe trauern, Katja. Trauern und mein Leben neu einrichten.“

Ich griff nach meinem Schlüssel und spielte mit meinem Schlüsselanhänger, einem Geschenk meiner Patentante anlässlich meiner Taufe. Es war ein einzigartiges Stück: Ein knapp fünf Zentimeter langer schmaler Stab aus dünnem Eisen, auf dem fünf Holzperlen aufgereiht waren. Ich drehte sie zwischen meinen Finger. Die Kugeln aus fünf unterschiedlichen Holzarten waren schon ganz abgegriffen vom Spielen damit. Zuunterst war eine Kugel aus Pinienholz. Zwei Kugeln fehlten bereits, es waren einst sieben gewesen.

„Was wirst du heute noch unternehmen, Katja?“ Frank versuchte das Thema zu wechseln, ich konnte ihn gut verstehen.
„Nicht viel“, murmelte ich und trank den letzten Schluck meines Kaffees. Frank bemerkte es, winkte Myriam herbei und bedeutete ihr, mir einen neuen Kaffee zu bringen, und einen Espresso double für sich selbst.
„Ich habe heute Abend noch eine Verabredung“ fügte ich hinzu.
„Ah.“ Frank begann zu grinsen. „Ein Date?“
Ich nickte. „Hm .. könnte man sagen.“
„Es ist schon eine ganze Weile her, dass du einen Freund hattest, was?“
Ich nickte wieder. „Ja, es ist nicht ganz einfach heutzutage. Vor allem nicht, wenn man...“ ich zögerte einen Moment „ein bisschen speziell ist.“
Ja, ich gebe zu, dass ich nicht unbedingt sehr redselig bin.
Frank tätschelte meinen Arm. „Mach dir nichts draus, Katja. Heterosexuelle Kerle sind einfach zu dumm um das Besondere an einer Frau zu schätzen zu wissen.“

Ich streifte ihn mit einem skeptischen Blick. Wir lachten beide, hoben darauf unsere frisch zubereiteten Kaffeebohnen und tranken uns zu.
„Man soll bekanntlich die Hoffnung nie aufgeben, Liebchen.“ Frank lachte noch immer, zündete sich einen Zigarillo an und ließ nachdenklich einen Ring aus Rauch in die Luft schweben.

„Wie geht es dir, Frank?“ Ich wusste nicht genau ob ich mir Sorgen um ihn machen sollte. Frank war wohl um die fünfzig, er hatte mir sein Alter nie verraten, einige Jahre älter als Klaus, und der ruhige, geschäftsorientierte von den beiden. Wenn es nicht so albern geklungen hätte, wäre ein Vergleich mit dem „La Cage aux Folles“ durchaus nicht ganz undenkbar gewesen.

„Es geht so“, Frank seufzte. „Ich weiß gar nicht was ich tun würde, wenn ich das Jüngst nicht hätte. Die Vorstellung das Liebste nach Klaus verlieren zu können...“ er schüttelte sich. „Daran möchte ich gar nicht denken.“
„Ich bin so schrecklich indiskret, entschuldige“, murmelte ich – und fragte weiter. „Wer erbt denn Klaus Anteile?“
Frank war erstaunt. „Weißt du das denn gar nicht? Mama Klaus hat alles geerbt und mir überschrieben, da es keine weiteren Nachkommen gibt. Aber es war nicht sehr viel. Ich war ja Hauptinhaber und Klaus hat sich vor einigen Jahren einen ganzen Teil seines Eigentums schon auszahlen lassen.“ Seine Stimme wurde immer leiser, ich hatte jedoch keine Probleme damit jedes Wort zu verstehen, ich verfügte schon immer über ein gutes Gehör. „Es war ja im Grunde egal gewesen. Es gab kein ‚deins’ und ‚meins’. Schrecklich, wenn ich jemand anderen ins Geschäft mit hinein hätte nehmen müssen.“

Ich hatte „Mama Klaus“, so hatte sich die Mutter von Klaus bei ihren häufigen Besuchen hier im Café nennen lassen, kennen gelernt. Sie war eine tolle Frau, hartnäckig sowohl in ihrer Akzeptanz der geschlechtlichen Ausrichtung ihres Sohnes als auch in ihrem Bemühen darum, auch im Alter selbständig zu bleiben. Sie lebte etwa 100 Kilometer entfernt, inzwischen in einer altersgerechten Wohnung. Für sie war Frank immer wie ein zweiter Sohn gewesen. Es war kein Wunder, dass sie ihm die Anteile an Klaus Erbe zugesprochen hatte.
 
***
 
Snickers, mein Kater hatte es sich auf meinem Schoß bequem gemacht, grunzte zufrieden und streckte mir sein weiches Bauchfell entgegen. Der Kater war schrecklich. Noch nie hatte ich einen Hausgenossen gehabt, der in solcher Weise Freiheitsliebe und Anhänglichkeit in sich vereinte. Eine Wohnung zu finden, in der ich ihn als Freigänger halten konnte, war nicht ganz einfach gewesen, aber mit der mir eigenen Hartnäckigkeit war es dann letzten Endes doch gelungen. Schließlich konnte ich mir lebhaft vorstellen was für ein Leben es sein musste, nur in einer Wohnung gehalten zu werden.
 
Man wusste nie, wann ihm die Streicheleinheiten zu viel wurden und man seine Krallen in der Hand hatte. Im Moment allerdings war er wohl ausgesprochen liebesbedürftig und streckte seine Pfoten nach mir aus.
 
Ich hatte schon immer ein besonderes Händchen für Katzen, im Tierheim vor Ort war ich ein gern gesehener Gast, da ich bei einem Notfall eine Katze als Pflegetier bei mir aufnahm, hin und wieder aushalf und in der Regel eine Antwort hatte, wenn eine Katze auffällig geworden war. Dafür hatte ich eine sehr gespaltene Beziehung zu Hunden. 
 
Mein Blick glitt hinüber zur Uhr, die über dem kleinen Esstisch in der Küchenecke hing. Es war nach 21 Uhr, inzwischen war es dunkel geworden. Der Sommer war in der Tat vorbei. Bald würde ich die Pflanzen von der Terrasse herein holen und Snickers würde fast jeden Tag mit einem feuchten Bauch und dreckigen Pfoten von seinen Ausflügen zurückkommen.
 
Der Briefumschlag lag auf der Küchentheke, ich hatte es noch nicht über mich gebracht, mich ihm zu widmen. Die Adresse war mit verstellter Schrift geschrieben - ein anonymer Brief, wie in einem billigen amerikanischen Krimi. Was sollte ich tun? Einfach so tun als wäre nichts geschehen? Ich wusste, was darin stand. Und mir war klar, dass ich, wenn der Brief erst einmal geöffnet worden war, die ganze Geschichte nicht mehr würde ignorieren können.
 
Also würde ich nicht umhin kommen eine Entscheidung zu treffen. Ich wurde unruhig und begann mit den Füßen zu wippen. Wenn ich in einer ausweglosen Situation war, beschloss ich in der Regel einfach eine Entscheidung zu treffen und zu handeln, auch auf die Gefahr hin später feststellen zu müssen, dass es eine falsche Entscheidung war. Also ... Katja, was willst du tun?
 
Snickers blieb meine Nervosität nicht verborgen, er hasste das! Mit einem quengelnden Maunzen setzte er sich auf, sprang zu Boden, streckte sich und blickte mich mit einem strafenden Gesichtsausdruck an. 

"Es tut mir ja leid, Snickers. Aber ich muss ..." 
 
Snickers wandte mir sein Hinterteil zu und verschwand durch die Tür hinüber ins Schlafzimmer. Offensichtlich würde er sich in seinem Katzenkorb zu einem Schläfchen zurück ziehen. 
 
"Du hast ja Recht", rief ich hinter ihm her "ich werde also etwas tun. Einverstanden."
 
Ich sprang meinerseits auf, räkelte mich um die leichte Schläfrigkeit abzuschütteln, und schlüpfte in meine Stiefel.
 
***
 
„Du?“ Ich starrte ungläubig auf den Mann, der im Halbdämmerlicht vor mir stand. Ich hatte schon immer eine ausgesprochen gute Nachtsicht gehabt, so fiel es mir nicht schwer den Mann zu erkennen, der sich im Gegenlicht der Türöffnung aufgebaut hatte.

„Katja!“ Frank war nicht weniger erstaunt darüber mich zu sehen.
 
„Ich hatte es nicht glauben wollen. Ich habe gehofft, dass du hier nicht auftauchst und ich morgen mit dir wieder im Jüngst sitzen kann und darüber diskutieren ob der Kaffe mit Vanille oder Orangenöl besser schmeckt.“
 
Frank zögerte etwas zu sagen. Offensichtlich hatte er etwas Ähnliches gedacht.
 
"So wie es aussieht, wird es solche Unterhaltungen für uns wohl nicht mehr geben, was?" Seine Stimme klang rauh. "Ich hätte von Anfang an wissen sollen, dass du dahinter steckst, Katja. Warum hast du das getan?"

„Ich habe mit ihm gesprochen.“ Meine Antwort fiel knapp aus.

„Mit wem?“

Ich bewegte mich langsam ein Stück nach vorne. Frank konnte mich im dämmrigen Halbdunkel des Lagerraums hoffentlich nicht gut erkennen.

„Mit Matts. Ich habe Matts getroffen. Vor ein paar Wochen ... hier. Er kam eines Abends kurz nach Ende der Öffnungszeit her und suchte nach Klaus."
 
Frank gab einen Laut von sich, den ich nicht einordnen konnte. Langsam wuchs meine Angst. 
 
"Du warst schon weg. Ich saß in meinem Auto und fluchte weil der Motor nicht anspringen wollte. Ich habe mich ziemlich darüber gewundert, dass Matts nach Klaus suchte, wenn er ihn doch angeblich ermordet haben soll.“

Frank stand noch immer wie festgewachsen, inzwischen hielt er sich am Türrahmen fest. Warum kam er – verdammt nochmal – nicht herein? Ich kam nicht an ihm vorbei. Wenn er so stehen bleiben würde, hatte ich keine Chance gegen ihn.

„Klaus war ein Idiot", schnarrte Frank. "Er glaubte doch tatsächlich, dass Matts für ihn etwas empfinden würde. Phh. Er war bereit alles zu riskieren was wir uns geschaffen hatten."
 
Ich spannte meine Muskeln an und machte mich zu einem Sprung in eine der dunkleren Ecken bereit. Ob es so eine gute Idee gewesen war zu glauben, ich könnte Frank zu einem Geständnis bringen und ihn dann davon überzeugen, sich selbst der Polizei zu stellen?
 
Glaubte Frank allen Ernstes, dass ich ihm seine Geschichte abnahm?
 
"Ich weiß, dass Klaus keine Affäre mit Matts hatte, Frank." Er griff mich nicht an.

Seit wann hatte Frank davon gewusst, dass Klaus einen Sohn hatte? Aus der einzigen Beziehung zu einer Frau, die Klaus je gehabt hatte? 
 
"Die Leute glauben, dass es so war. Das reicht doch aus, oder etwa nicht?" 

Frank wagte sich einen weiteren Schritt in die Halle hinein, in die ich ihn bestellt hatte. 
 
"Warum tust du das, Katja?" Fragte er lauernd und ich konnte nur noch ahnen, wo er inzwischen stand. Verdammt, ich hatte nicht damit gerechnet, dass das Streulicht so gering sein würde. 
 
Ich musste Zeit gewinnen und versuchen aus der Halle zu kommen.
 
"Warum ich dir den Brief geschrieben habe?" Glaubte Frank allen Ernstes, dass ich zulassen würde, dass Klaus Tod ungesühnt bleiben würde? Nicht nur, dass er die Leute glauben lassen wollte, Klaus hätte eine Affäre mit einem Stricher gehabt. Er hatte Klaus getötet.
 
"Es gab keinen Grund dich einzumischen. Das war eine Angelegenheit zwischen Klaus und mir. Ich habe die ganzen Jahre nicht vollkommen umsonst gekämpft um das Café, unsere Wohnung, um Klaus. Und immer wieder dieser verdammte Kerl, der auftauchte und um Geld bettelte. Klaus hat ihm immer wieder Geld gegeben. Er hat das Jüngst gefährdet. Das konnte ich doch nicht zulassen."
 
Wo war dieser Mann nur? In diesem Moment spürte ich einen heftigen Schlag gegen die Schulter, gerade noch rechtzeitig hatte ich eine Bewegung bemerkt und war ihm - so gut es mir noch gelang - ausgewichen. Wenn nicht, hätte der Schlag mich im Nacken getroffen, und ich wäre mit Sicherheit ohnmächtig geworden. Frank besuchte regelmäßig das Sportstudio und war kräftig.
 
Der Schlag warf mich dennoch zu Boden, ich prallte heftig gegen den Betonboden und schnappte nach Luft. 
 
Frank hatte sich über mir aufgebaut und betrachtete mich. Ich wagte es nicht, mich zu rühren. 
 
"Was fange ich jetzt mit dir an, Katja?" Die Frage war hypothetisch, er hatte schon längst eine Antwort für sich gefunden.
 
"Wenn ich dich am Leben lasse, dann wirst du doch noch zur Polizei gehen." 
 
Darauf konnte er wetten.
 
"Wenn du mich umbringst, wird dir das nichts bringen, Frank."
 
Er lachte. "Du hast uns selbst immer wieder erzählt, dass du keine Familie mehr hast, Katja, und es niemanden geben würde, der dich vermissen würde."
 
Ich überlegte fieberhaft. Wie konnte ich ihn dazu bringen von mir ab zu lassen? "Man wird mich bestimmt finden, man wird mich vermissen. Matts und Mama Klaus wird merken, dass etwas passiert ist, wenn ich mich nicht mehr melde."
 
Frank erstartte für einen Moment. "Matts? Mama Klaus? Was hast du mit den beiden zu schaffen?"
 
Ich atmete auf. Vielleicht würde das ja helfen. "Ich habe Matts zu Mama Klaus gebracht, zu seiner Großmutter. Damit niemand auf die Idee kommen kann, dass er etwas mit dem heute Abend hier zu tun hat."
 
Auch wenn Frank durch seinen häufigen Sport wendig und kräftig war, ich war gelenkiger, daran hatte ich keinen Zweifel. Ich musste ihn zu Fall bringen können. Ich musste... Ich schloss die Augen für einen Moment und sammelte meine Kraft.
 
Genau in diesem kurzen Augenblick entsicherte Frank eine Waffe, die er mitgebracht hatte. 

"So", murmelte Frank "es hilft alles nichts, Katja. Ich muss handeln, verstehst du?"
 
Bevor ich etwas sagen oder tun konnte, gab es ein leises ploppendes Geräusch, und mein letzter bewußter Gedanke war, dass Frank nicht nur über eine Waffe verfügte, sondern sogar einen Schalldämpfer davor angebracht hatte.

Und dann ... war ich tot.
 
***
 
Wie an so vielen Morgen saß ich vor dem Café Jüngst und hielt mein Gesicht in die Sonne.

Der Milchkaffee, der vor mir in der großen Tasse stand, war inzwischen kalt geworden.  Es war erst das zweite Mal, dass mir ein Kaffee im Jüngst nicht schmeckte. Das erste Mal war der Tag gewesen an dem ich erfahren hatte, dass Klaus tot war.

Myriam kam vor die Tür und blickte sich suchend um. „Frank kommt heute gar nicht. Normalerweise holt er Dienstags frische Ware aus dem Großmarkt. Seltsam, was?“

Ich schwieg, nippte an dem kalten Kaffee und hielt meinen Schlüsselbund in der Hand, an dem der Schlüsselanhänger baumelte.
 
Frank hatte mir den Rücken zugewandt, das war sein letzter Fehler gewesen. Langsam, katzengleich, um ihn nur ja nicht auf mich aufmerksam zu machen, hatte ich mich aufgerichtet.

Das Blut an der Wunde, die in meiner Brust war, schmerzte noch ein kleines bisschen, auch wenn man nichts mehr von außen sah. Die Wunde war bereits wieder verschlossen. Spätestens morgen würde auch das leichte Ziehen nachlassen, das wusste ich aus Erfahrung.

Der Mann, der für mich über Jahre ein Freund gewesen war, hatte sich in einen Doppelmörder verwandelt – Fastdoppelmörder, aber das hatte er an diesem Abend in der Halle feststellen können.
 
Da Frank sich nun wieder im Gegenlicht der offenen Tür befunden hatte, hatte ich seine Gestalt deutlich sehen können. Mir war in diesem Moment klar gewesen, dass es keine großen Schwierigkeiten geben würde.  
 
Mit einem geschmeidigen Satz hatte ich mich abgestoßen, war in seinen Rücken gesprungen, wütend gefaucht und mich in seinen Nacken, verbissen. Um sicher zu sein, dass er mich nicht abschütteln konnte, hatte ich meine Fingernägel, die ich sorgsam pflegte, in seine Schultern gekrallt.
 
Mein Kiefer war hart und stabil, problemlos durchtrennte  mein Biss die Halswirbelsäule, die Blutgefäße, die Nervenbahnen. Ich hatte noch nie mit meiner Beute gespielt, tat es auch dieses Mal nicht, auch wenn es mich sehr verlockte.
 
Ich hatte mich darum bemüht möglichst wenig Blut zu hinterlassen, sowohl auf mir selbst als auch auf dem Boden der Halle.
 
Und, wie jedes Mal, war es mir nicht um das Trainieren von Fangtechniken oder den Reiz des Spiels gegangen - ich genoss es nie, wenn ich jemanden tötete. In dieser Hinsicht war ich durchaus kein normaler Katzenmensch. Aber dies klang so als würde ich ständig jemanden ermorden ... dem war nicht so. Nur hin und wieder nutzte ich meine Fähigkeiten.
 
Ich war ungesehen aus der Halle verschwunden, hatte mich meiner Kleidung entledigt und mich sorgsam gesäubert. In den Momenten, in denen Katzenmenschen ihre Felidaeseite auslebten, veränderte sich ihre DNA so sehr, dass man mit keinen Tests feststellen würde, dass es sich um mich gehandelt hatte.
 
Wie lange würde es dauern, bis die Besitzer der Halle, ein kleiner Schrotthändler, die Leiche entdeckten? Sicher würde es nicht mehr als einen Tag dauern.
 
Langsam drehte ich an der Unterseite des Metallstabes die Verriegelung auf und ließ die unterste Kugel in meine Handfläche rutschen.

Zu Beginn meines Lebens, bei der Menschentaufe, als ich den Schlüsselanhänger erhalten hatte, waren es sieben Kugeln gewesen. Bis vorgestern waren es noch fünf gewesen -  nun nahm die Perle aus Birke vom Stab. Ein weiteres Leben.

Meine Patentante, Cate, hatte mir bei meiner Menschentaufe den Sinn der Perlen erklärt: „Jede dieser Perlen, Katja, steht für eines deiner Leben. Es ist eines der großen Vorrechte von uns Katzenmenschen, dass wir über sieben Leben verfügen. Umso wichtiger, dass du ehrenvoll und respektvoll mit diesem Geschenk umgehst. Um dich an die Kostbarkeit deiner Leben zu erinnern, hast du diesen Schlüsselbund.“ Sie hatte die Verriegelung geöffnet und mir die sieben Perlen einzeln in die Handfläche gelegt. „Bei jedem Leben, das dir genommen wird oder das du verschenkst, nimmst du eine Perle vom Stab. Mit jeder Perle wird das Holz der nächsten Perle härter, um dich daran zu erinnern, dass deine Zeit vergeht. Deine Aufgabe wird es sein, mein Kätzchen, dafür zu sorgen, dass unsere Familie nicht untergeht und du Kinder hast bevor du deine Kugeln verbraucht hast.“

Dann hatte sie mir gezeigt wie man die Perlen auffädelte. Sorgsam und bedacht.

„Ich glaube ich fahre mal rüber zur Wohnung. Was meinst du, Katja?“

Ich nickte.

„Ich kann das Café nicht allein lassen,“ Myriam sah sich um „auch wenn gerade nicht viel los ist. Kannst du einspringen?“
Ich nickte wieder und stand auf.

Als ich Myriam ins Café folgte um mir in aller Kürze die neue Kaffeemaschine erklären zu lassen, öffnete ich meine linke Hand.

Langsam rollte die Birkenperle davon und verschwand im Rinnstein.  
 
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Kommentare  

#1 Melanie Pechter 2008-09-21 18:20
Was mich interessieren würde ... wann hattet ihr den Verdacht, dass diese Katja kein "echter" Mensch ist?
Ich find die Geschichte etwas ... verwirrend.

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