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Überlegungen zu einem Genre namens Phantastik

Simon SpiegelÜberlegungen zu einem Genre namens
Phantastik

Die in meinen Auge zentrale Frage stellt Ihr in Eurem Fragebogen nicht, nämlich: Was ist überhaupt ein Genre resp. was muss eine Genredefinition leisten? Von dieser Frage hängt aber alles Weitere ab, und solange nicht geklärt ist, was man unter einem Genre versteht, ist es müßig, sich Gedanken darüber zu machen, was Phantastik sein könnte.

Genres sind, ganz allgemein formuliert, Gruppen zusammengehöriger Texte (oder Filme oder Musikstücke etc.).


Die Kriterien, nach denen diese Gruppen gebildet werden, können sich allerdings stark unterscheiden. Das können inhaltliche, formale, vermarktungstechnische oder noch einmal andere Kategorien sein. Wichtig ist, dass Genres immer Bezeichnungen sind, die ihnen von ihren „Benutzern“ (Zum Beispiel Buchhändler, Filmverleiher, Kritiker, Wissenschaftler oder Fans) gegeben werden. Genres sind also keine Einheiten, die an sich existieren, sondern sie entstehen erst durch ihre Bezeichnung.


Genres sind eine vertrackte Angelegenheit: Einerseits weiß selbst ein theoretisch völlig unbeschlagener Laie, was ein Genre ist. Wer in der Buchhandlung ein Buch aus der Sparte Fantasy kauft, hat in der Regel gewisse Vorstellungen davon, was ihn erwartet; ebenso der Kinogänger, der sich eine romantische Liebeskomödie oder einen Western anschaut. Und normalerweise werden diese Erwartungen auch erfüllt: So spielt ein Western an einem klar definierten Schauplatz – dem amerikanischen Westen der Pionierzeit – und verfügt über ein festes Repertoire von wiederkehrenden Elementen wie Cowboyhüten, Revolvern, Pferden, Indianern, Prügeleien in Saloons, Duellen etc. All diese Dinge sind dem Publikum wohl bekannt, ja sie werden von ihm erwartet. Die meisten Zuschauer wären von einem Film, der in einem Westernstädtchen spielt, in dem aber kein Schuss fällt, zweifellos enttäuscht. Es gibt also ein Genrebewusstsein, ein Wissen darüber, was ein bestimmtes Genre beinhaltet, und über dieses Wissen verfügen auch und gerade ganz ‚normale‘ Zuschauer, die sich nicht weiter mit gattungstheoretischen Fragen beschäftigen. Die Filme selbst – respektive die Filmemacher – sind sich dessen auch bewusst, sie wissen, dass ein Western Teil einer langen Tradition mit etablierten Konventionen ist.

Allerdings sind Genres keineswegs so stabil und eindeutig bestimmt, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheinen mag. Wir meinen zwar, dass jeder weiß, was Western, Horror oder Fantasy sind und dass diese Genres immer mehr oder weniger gleich bleiben – dem ist aber keineswegs so. Ein typischer Western der 1920er Jahre unterschiedet sich in vielen Punkten von einem typischen Western der 1970er Jahre. Zwar gibt es zweifellos Genretraditionen, also ein anhaltendes Genrebewusstsein. Wer heute Fantasy schreibt, wird Tolkien und Rowling kennen, wird in irgendeiner Art und Weise von einer existierenden Werken beeinflusst sein. Aber dieser Einfluss ist nicht überall gleich; dass sich Genres verändern, dürfte unbestritten sein. Heutige Mainstream-SF ist anders als Golden-Age-SF.

Es kommt hinzu, dass Genrebezeichnungen keineswegs universell sind, sondern sich über die Zeit verändern können. Unter „Melodram“ verstand die US-Fachpresse in den 1940ern beispielsweise Filme, die wir heute wahrscheinlich als Thriller bezeichnen würden, heute wird Melodram meist für emotionale „Frauenfilme“ verwendet. Die Bezeichnung ‚Science Fiction‘ wiederum taucht erstmals Ende der 1920er Jahre auf dem amerikanischen Zeitschriftenmarkt auf, für Filme wird sie sogar erst nach 1950 gebräuchlich. Was bedeutet das nun etwa für die Romane von Jules Vernes oder H. G. Wells, die heute von vielen als SF bezeichnet werden? Vernes Bücher wurden bei Erscheinen beispielsweise als voyages extraordinaires beworben, sie standen, wie der Name schon nahelegt, in einer Literaturtradition von Reiseberichten an exotische Schauplätze. Autoren wie Verne und Wells schrieben jeweils innerhalb eines anderen Gattungbewusstseins, sie verstanden sich– im Gegensatz etwa zu Isaac Asimov oder Arthur C. Clarke – nicht als SF-Autoren.

Auch wenn sich eine Genrebezeichnung einmal etabliert hat, herrscht selbst ‚innerhalb‘ des Genres oft kein Konsens darüber, wie sich dieses genau definiert. Im Bereich der SF  und Phantastik machen sich Fans und Autoren seit jeher regelrecht einen Sport daraus, immer wieder von Neuem festzulegen, was SF respektive Phantastik denn wirklich ist. Pikanterweise kommt es hierbei selten zu einer Übereinkunft, bilden sich regelmäßig verschiedene Lager, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen.

Entscheidend ist, dass keine dieser Definitionen richtig oder falsch ist. Es gibt keine Instanz, die das regeln könnte. Es gibt nur Definitionen, die mehr oder weniger verbreitet sind. Wobei das dann allerdings selten klar definierte Definitionen sind, sondern eher diffuse Vorstellungen, die bei genauerem Hinschauen oft Unterschiede aufweisen (wie sich gerade auch bei Diskussionen unter Fans zeigt).

Im Falle der Phantastik ist die Situation noch komplizierter: Umgangssprachlich wird ‚phantastisch‘, wenn es um Filme oder Literatur geht, im Deutschen meist als Überbegriff verwendet, der SF, Fantasy, Märchen, Horror und Geistergeschichten miteinschließt. Tatsächlich ist der Begriff als Gattungsbezeichnung aber relativ jung und wird erst ab 1950 regelmäßig – und dazu noch sehr unterschiedlich – gebraucht. In der wissenschaftlichen Diskussion werden dagegen teilweise abweichende Ansätze verwendet.

Damit wären wir bei der Frage, wie die Wissenschaft mit Genres umgeht. Die Einsicht, dass Genres keine fixen Einheiten sind, hat sich nur allmählich durchgesetzt hat. Bis in die 1980er Jahre hinein, war es auch in der Wissenschaft sehr beliebt, Genres abschließend zu definieren (manche versuchen das noch heute). Solche Ansätze sind mittlerweile aber definitiv überholt. Ein Literatur- oder Filmwissenschaftler, der heute eine definitive Klassifikation anstrebt, ist genretheoretisch schlicht nicht auf dem aktuellen Stand. Streng genommen kann man aus wissenschaftlicher Sicht Genres nur historisch untersuchen und schauen, wie sich die Genres verändern

Das heißt nun aber nicht, dass strenge Definitionen vollkommen unnütz sind. In der Praxis wird jemand, der SF, Horror oder Fantasy untersucht, auf jeden Fall mit einer mehr oder weniger scharfen Definition arbeiten müssen, denn irgendwie muss er seinen Untersuchungsgegenstand ja abgrenzen. Er muss sich dabei aber stets bewusst sein (und dies auch offen legen), dass das eben eine bestimmte Definition ist, die er – idealerweise – benutzt, weil sie ihm bei seinem Forschungsvorhaben nützt.

Beispiel: Wenn ich untersuchen will, wie im SF-Fandom über SF diskutiert wird, werde ich mich wohl an den Definitionen orientieren, welche von den Fans benutzt werden. Wenn ich dagegen untersuchen will, wie das Motiv des künstlichen Menschen zu unterschiedlichen Zeiten behandelt wird, werde ich eine ganz andere Definition anwenden.

Theoretisch PhantasttischNoch zu Todorov (dessen Name in Eurem Fragebogen zwar nie genannt wird, der aber dennoch sehr präsent ist): Todorovs sehr eng gefasste Definition, die den Bruch der realistischen Ordnung ins Zentrum rückt, ist aus verschiedenen Gründe so einflussreich geworden. Zum einen ist seine Introduction à la littérature fantastique zu einem Zeitpunkt erschien, als der Strukturalismus, zu deren Vertretern Todorov gehört, sehr en vogue war. Zudem ist seine Definition präzise und deshalb gut handhabbar ist.

Bei Todorov sieht man deutlich, wie stark Definitionen vom Kontext abhängen, denn ihn interessieren primär Schauergeschichten des 19. Jahrhunderts. SF und Fantasy behandelt er dagegen praktisch vor; es geht um eine ganz bestimmte literarische Tradition in der Nachfolge der Gothic Novel. Dies dürfte ein weiterer Grund für den Erfolg seines Modells sein: Es passt gut auf „hochliterarische“ Texte von Autoren wie Hoffmann, Poe oder Balzac, also der Literatur, für die sich Literaturwissenschaftler traditionell interessieren. Da SF und Fantasy für die Germanistik lange kein Thema waren, spielte es auch keine Rolle, dass Todorov zu diesen Genres wenig zu sagen hat.

Da die Geisteswissenschaften oft ein bisschen träge sind und etablierte Positionen gerne wiedergekäut werden, ist Todorovs Ansatz im deutschen Sprachraum noch heute weit verbreitet. Es ist aber keineswegs die einzige oder „offizielle“ Variante. Und wenn man sich etwa die englische Forschung anschaut, sieht die Sache schon ganz anders aus. Da ist Todorov insgesamt eine Randerscheinung und der Begriff „fantastic“ weniger gebräuchlich. Fantasy wiederum, das gemeinhin mit Geschichten à la Tolkien assoziiert wird, ist ein Begriff, der erst in den 1970ern entsteht. Als Lord of the Rings erschien, wurde das Buch noch von niemandem als Fantasy bezeichnet und Tolkien selbst sprach von „Faery Stories“.

Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Genrebezeichungen sind nicht stabil, sondern hängen maßgeblich davon ab, wer sie wann zu welchem Zweck verwendet. Genres wie der Western, die – scheinbar – über einen längeren Zeitraum unverändert bleiben, bilden insgesamt die Ausnahme. Wenn wir einen Roman von Jules Verne heute als SF bezeichnen, ist das aber keineswegs ‚falsch’, sondern drückt lediglich aus, dass wir das Buch vor dem Hintergrund eines anderen Gattungsbewusstseins einordnen und somit auch andere Aspekte betonen als Vernes Zeitgenossen. In diesem Sinne kann es auch keine abschließende Definition der Phantastik geben.
Simon Spiegel
Zur Person
Simon Spiegel hat Germanistik und Filmwissenschaft in Zürich und Berlin studiert und ist heute als Journalist Dozent für Filmwissenschaft tätig. Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen in Zürich. Wichtige Veröffentlichungen: «Die Konstitution des Wunderbaren. Zu einer Poetik des Science-Fiction-Film». Marburg: Schüren 2007, «Theoretisch phantastisch. Eine Einführung in Tzvetan Todorovs Theorie der phantastischen Literatur». Murnau am Staffelsee: pmachinery 2010 (zur Leseprobe)

Spiegel veröffentlicht regelmässig Texte auf Simifilm.ch.

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