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Heyne Science Fiction Classics 25 - Vercors

Heyne Science Fiction ClassicsDie Heyne Science Fiction Classics
Folge 25: Vercors
Das Geheimnis der Tropis

Von den sechziger bis Anfang der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen als Subreihe der Heyne Science-Fiction-Taschenbücher mehr als hundert Titel unter dem Logo „Heyne Science Fiction Classics“. Diese Romane und Kurzgeschichten werden in der vorliegenden Artikelreihe vorgestellt und daraufhin untersucht, ob die Bezeichnung als Klassiker gerechtfertigt ist.

Eines der beliebtesten Themen der Science Fiction ist die Weiterentwicklung des Menschen. Hier gibt es die unterschiedlichsten Varianten wie Entstehung einer neuen Spezies durch einen Evolutionssprung, positive und negative Mutationen aufgrund von atomarer Strahlung oder die Anpassung an die Umwelt fremder Planeten mittels Genmanipulation. Auch Entwicklungen durch Menschenzucht werden geschildert. Im Roman, den wir heute kennenlernen, wird das Thema von ener ganz anderen Seite angegangen, und zwar: Was macht den Menschen zum Menschen?

Heyne Science Fiction ClassicsNach Yves Gandon ist Vercors (1902 – 1991) der zweite französiche Schriftsteller, der mit einem Werk in den Heyne Science Fiction Classics vertreten ist. Vercors ist ein Pseudonym für Jean Marcel Adolphe Bruller. Der Pariser mit ungarischen Wurzeln väterlicherseits machte eine Ausbildung zum Elektroingenieur und war beruflich als Grafiker tätig. Bereits in den zwanziger Jahren erschienen erste literarische Arbeiten von Bruller. Seine pazifistische Einstellung gab er nach dem Münchner Abkommen auf, die Besetzung Frankreichs durch Nazideutschland brachte ihn in die Résistance. Er gründete den Untergrund-Verlag „Editions de Minuit“ (Mitternachts-Editionen). Hier erschien auch 1942 seine Novelle La Silence de la mer (Dt.: Das Schweigen des Meeres), welches eigene Erlebnisse während der Besatzungszeit verarbeitete und ihm internationales Renommee verschaffte. Nach dem Krieg war Bruller einige Jahre Präsident des nationalen Schriftstellerkomitees und Mitglied im Weltfriedensrat. Er unterzeichnete auch das Manifest der 21, welche die französische Kriegsführung im Zug des algerischen Unabhängigkeitskrieges kritisierte. Sein Roman Les Animaux dénaturés (Dt: Das Geheimnis der Tropis) fand weit über die Anhängerschaft von Science Fiction-Literatur hinaus Anerkennung. Der Roman wurde auch als Grundlage für das Theaterstück Zoo ou l’Assassin philanthrope verwendet.

Heyne Science Fiction ClassicsDouglas Templemore hat sich verliebt. Seine Angebetete ist die junge Frances, wie er eine Angehörige der schreibenden Zunft, allerdings als Schriftstellerin mit bisher mäßigem Erfolg. Seltsamerweise traut sich der sonst gar nicht schüchterne Douglas nicht, sich Frances zu erklären, sondern die beiden verbringen ihre Zeit hauptsächlich mit tiefschürfenden Diskussionen. Um ihr zu imponieren, berichtet er ihr, dass er die Möglichkeit erhalten habe, sich einer Forschungsreise von Paläontologen nach Neuguinea anzuschließen. Dort ist ein Schädelfragment eines Vormenschen entdeckt worden, der möglicherweise einem „Missing Link“ zwischen den Affen und den Menschen angehört. Eine wissenschaftliche Sensation steht im Raum. Frances ermutigt Doug, an dieser Mission als Berichterstatter teilzunehmen, und so schifft er sich mit seinen Reisegefährten, den Professoren Creame und Kreps, dem Benediktinerpater Dillingham, und Creames Frau Sybil ein.

In Neuguinea angekommen, macht sich die Expedition auf in die Berge und ist auch schnell erfolgreich, was den Fund weiterer Vormenschenknochen betrifft. Doch die Überraschung ist groß, als sich klar herausstellt, dass es sich um keine Versteinerungen handelt, sondern um Knochen erst vor kurzer Zeit verstorbener Wesen. Noch größer wird die Überraschung, als lebendige Exemplare auftauchen! Der Anthropopithekus, die Übergangsform zwischen Menschen und Affen ist nach wie vor am Leben, inmitten der Siedlungsgebiete der einheimischen Papuas!

Sie haben unverhältnismäßig lange Arme, und obgleich sie sich für gewöhnlich aufrecht halten, passiert es ihnen, wenn sie sehr schnell laufen, daß sie sich noch auf die Rückseite der Finger stützen, wie es die Schimpansen tun. Ihr Körper ist mit Haaren bedeckt, doch ich muß sagen, daß er merkwürdig anzusehen ist, besonders bei den Weibchen. Diese sind zierlicher als die Männchen, haben weniger lange Haare, richtige Hüften und eine sehr weibliche Brust. Das Haar ist kurz und samtartig, ein bißchen wie bei Maulwürfen. Alles das verleiht ihnen ein graziöses und zartes Aussehen – etwas Rührendes, fast Sinnliches; aber das Gesicht ist schrecklich. Denn es ist nackt wie das der Menschen.

(Zitiert aus: Vercors: Das Geheimnis der Tropis. München 1976, Heyne SF 3483, S. 42)

Was ist Das Geheimnis der Tropis, wie die Wesen bald von den Europäern genannt werden? Sind das noch Affen, oder sind sie bereits Menschen? Es tun sich nicht nur juristische Fragestellungen auf, sondern auch theologische, die Pater Dillingham in schwerste Gewissensnöte bringen:

Er richtete den Kopf wieder auf und sah Doug mit einem Blick an, aus dem unerträgliche Angst sprach.

„Es sind noch keine zwanzig Jahrhunderte seit dem Erscheinen Jesu vergangen“, sagte er, „und schon sei fünftausend Jahrhunderten existieren Menschen. Fünftausend Jahrhunderte, in denen sie in Unwissenheit und Sünde gelebt haben. Verstehen Sie, was das bedeutet? Und unsere Nächstenliebe ist so gering, daß wir niemals daran denken! Wir müßten, wenn wir an sie denken, schwitzen vor Angst und Liebe. Aber wir lassen es uns vollkommen genügen, uns um das Heil einiger weniger Lebender zu kümmern.“

„Sie setzen voraus, daß Gott sie verdammt hat? Ich glaube, daß das Dogma lehrt, solange sie im Stande der Unschuld sündigen ...“

„Ich weiß wohl … ich weiß das wohl … vielleicht sind sie in den Vorhöfen. Damit will man uns nur beruhigen … Aber glauben Sie, daß es weniger furchtbar ist, in alle Ewigkeit in der schrecklichen Leere der Vorhöfe unherzuirren, als in der Hölle zu braten? Unser alter Gerechtigkeitssinn empört sich bei diesem Gedanken … Aber die Gerechtigkeit Gottes ist nicht die unsere. Wir kennen die Absichten nicht.“

Er murmelte: „Glauben Sie, daß dies alles mich ruhig läßt? Welches Glück könnte ich darin finden, wenn meine Sünden vergeben sind, daß ich zur Rechten Gottes sitze, wenn ich wüßte, daß Millionen weniger begünstigter Seelen in Ewigkeit Feuer und Schwefel erleiden? Ich käme mir vor wie ein Nazi, der im Kreise seiner Familie Weihnachten feiert und sich an Konzentrationslagern ergötzt ...“

Er reckte seinen Arm gegen das >Gehege<, in dem man die gefangengenommenen Tropis untergebracht hatte. „Was soll man mit denen da machen?“ sagte er, und es klang wie ein leiser Schrei. „Soll man sie im Stande der Unschuld belassen? Befinden sie sich überhaupt darin? Wenn es Menschen sind, so sind sie Sünder: Und sie haben kein Sakrament empfangen! Soll man sie ohne Taufe leben und sterben lassen, mit alledem, was sie im Jenseits erwartet, oder soll man ...“

„Woran denken Sie, Pop?“ rief Doug verblüfft aus. „Doch wohl nicht daran, sie zu taufen!“

„Ich weiß nicht“, murmelte Pop. „Ich weiß wahrhaftig nicht, und es zermalmt mich.“

(Zitiert aus: Vercors: Das Geheimnis der Tropis. München 1976, Heyne SF 3483, S. 45)

Anderen Leuten sind solche Gewissenskonflikte komplett fremd. Als die sensationalle Entdeckung der Öffentlichkeit bekanntgegeben wird, reist ein Wust von Wissenschaftlern an, um weitere Untersuchungen über die Lebensweise und „Zivilisation“ der Tropis aufzunehmen. Es kommen bald auch wirtschaftliche Überlegungen zum Tragen. Nachdem die Tropis nicht als Menschen anerkannt sind, aber Geschick im Verrichten bestimmter Tätigkeiten aufweisen, eine rudimentäre Sprache besitzen und lernfähig sind, könnte man sie doch ohne irgendeinen Einfluss von Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen und anderen unerwünschten Kreisen ohne Bezahlung für niedere Arbeiten einsetzen, quasi als Sklaven, wenngleich nicht explizit so genannt. Diese Überlegungen werden in einem Konzern angestellt, der in der Gegend Landeigentum erworben hat und glaubt, damit auch Ansprüche an die dort vorhandene „Tierwelt“ anmelden können.

Douglas reicht es. Um die neu Entdeckten vor dem Untergang zu bewahren, den er und seine Expeditionskollegen möglicherweise durch ihre Forschungsreise ausgelöst haben, entwickelt er einen - je nach Denkweise kühnen oder verzweifelten – Plan. Er lässt ein Tropisweibchen mit seinem eigenen Sperma künstlich befruchten. Sie bringt ein gesundes Kind zur Welt, welches Doug selbst mit einer Giftspritze tötet. Er ruft den Amtsarzt, den den Tod feststellt und widerwillig eine Totenbescheinigung ausstellt, denn er ist sich selbst nicht darüber klar, welches Wesen da gestorben ist. Doug provoziert auf diese Weise eine Anklage wegen Mord gegen ihn selbst, um den menschlichen Status der Tropis feststellen zu lassen. Aber diese Vorgehensweise kann ihn den Kopf kosten, was auch dem Richter bald klar ist!

Er ging langsam und mit sehr ruhigen Schritten am Themseufer entlang und dachte an die Verhandlung, die eben zu Ende gegangen war. Was für ein seltsamer Prozeß, dachte er. Der Richter kannte sehr wohl die Gründe, die der Angeklagte hatte, sich dem Gericht zu stellen. Er fand sie mutig und pathetisch. Doch es läuft darauf hinaus, dachte er, daß die Anklage gegen ihn von dem Gebrauch macht, was eigentlich seine eigene Behauptung ist. Die Tropis sind Menschen. Während die Verteidigung gezwungen ist, uns vom Gegenteil zu überzeugen, und, um zu beweisen, daß sie Affen sind, Zeugen vorzuführen, die sich zur Rassendiskriminierung bekennen, gegen die gerade der Angeklagte unter Einsatz seines Lebens eintritt. Er hat sich also dazu entschließen müssen, ein System der Verteidigung zu wählen, das dem von ihm verfolgten Ziel entgegengesetzt ist … Welches Durcheinander!

(Zitiert aus: Vercors: Das Geheimnis der Tropis. München 1976, Heyne SF 3483, S. 118f)

Im Prozess werden unterschiedliche Wissenschaftler als Gutachter befragt, um herauszufinden, welchen Status die Tropis bekommen sollen. Die Meinungen gehen total auseinander, und die Geschworenen sehen sich außerstande, ein Urteil zu fällen. So wird der Prozess unterbrochen, um im Auftrag des englischen Parlaments eine Kommission zusammenzustellen, welche die Frage klären soll. Auch hier wogt der Streit hin und her.

„Herr Professor Rampole hat diese Qualitätsänderung näher erläutert: Die Verschiedenheit zwischen der Intelligenz des Neandertalmenschen und der eines Menschenaffen konnte quantitativ nicht sehr groß gewesen sein. Aber sie mußte in ihrem Verhältnis zur Natur gewaltig gewesen sein. Das Tier hat sie weiter hingenommen. Der Mensch hat plötzlich angefangen, sie zu befragen.

„Na also ...“, riefen gleichzeitig der Alterspräsident und der Gentleman mit den Manschetten, aber Sir Arthur ließ sich nicht unterbrechen.

„Nun, zum Befragten gehören zwei: der, der fragt, und der, den man befragt. Das Tier, verschmolzen mit der Natur, kann nicht fragen. Und hier ist, scheint mir, der Punkt, den wir suchen. Das Tier und die Natur sind eins. Der Mensch und die Natur sind zwei. Um von der passiven Unbewußtheit zur fragenden Bewußtheit zu gelangen, bedurfte es dieser Spaltung, dieser Scheidung, mußte sich dieses Losreißen vollziehen. Ist dies nicht gerade die Grenze? Tier vor der Loslösung, Mensch nach ihr? Naturentfremdete Tiere, das ist es, was wir sind.“

(Zitiert aus: Vercors: Das Geheimnis der Tropis. München 1976, Heyne SF 3483, S. 171)

Somit ist auch der Titel des Romans klar. „Die entarteten Tiere“, wie die wörtliche Übersetzung heißt, bezieht sich nicht auf die Tropis, sondern auf uns Menschen der Standardvariation Homo sapiens sapiens, die wir uns von Mutter Natur entfremdet haben.

Letzten Endes wird den Tropis der Status als Mensch zuerkannt, weil sie durch die rituelle Übung des Feueranbetens Zeichen einer Art religiösen Geists entwickelt haben. Doug wird freigesprochen, weil zum Zeitpunkt seiner Tat die Tropis noch nicht als Mensch anerkannt waren, aber eine nachträgliche Gesetzesänderung einem Beschuldigten nicht zur Last gelegt werden kann.

Ich glaube mich erinnern zu können, dass der Roman einmal als Satire eingeordnet worden ist. Meiner Meinung nach hat der Rezensent nicht verstanden, worum es geht. Zwar tauchen dann und wann satirische Elemente auf, beispielsweise in der Schilderung der oft schrulligen Diskussionskultur der Engländer, aber das ist nur ein Stilmittel, um auch den Unterhaltungswert nicht gänzlich zu vernachlässigen. Die Absichten von Vercors sind klar. Seine Sympathie für die Unterdrückten, die Diskriminierten, die Versklavten, die Ausgebeuteten kommt deutlich zum Vorschein. Die Erklärung der Menschenrechte betrifft uns alle, ob wir nun kleine äußerliche Abweichungen voneinander haben oder nicht, welche Sprache wir sprechen, welchen Glauben wir haben, falls wir einen haben, welche sexuelle Orientierung die unsere ist und so weiter. Entscheidend ist allerdings, dass wir die Toleranz, welche wir für uns einfordern, auch anderen Menschen entgegenbringen. Jedenfalls ist Das Geheimnis der Tropis einer der absoluten Spitzentitel der Heyne Science Fiction Classics und hätte sich eine Neuauflage beispielsweise in der Reihe Meisterwerke der Science Fiction auf jeden Fall verdient.


Titelliste von Vercors

Anmerkung:
Es werden die Ausgabe in den Heyne Science Fiction Classics sowie die deutsche  Erstausgabe und die Originalausgabe des Werks angeführt.


1976

3483 Das Geheimnis der Tropis
deutsche Erstausgabe: Berlin 1958, Aufbau-Verlag
Originalausgabe: Les Animaux dénaturés, 1953


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Tags: Science Fiction and Fantasy

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