Die Landkarte des Himmels
Die Landkarte des Himmels
Man erinnere sich an den unscheinbaren, hochintelligenten Herbert George Wells, der den Roman „Die Zeitmaschine“ schrieb. Man denke dann an Gilliam Murray, den „Herrn der Zeit“, der die Zeitreise tatsächlich möglich machte und den staunenden Passanten aus dem Jahre 1896 – die es sich finanziell leisten konnten – an Bord der „Chronotilus“ die Reise ins Jahr 2000 zugänglich machte, wo sie Zeuge des Entscheidungskampfes des wackeren Hauptmanns Derek Shackleton gegen den Maschinenmenschen Salomon wurden.
Wirklich – das hat Seinesgleichen in der Welt nicht, oder?
Nun, zu dumm, dass diese spannenden Dinge offenbar nicht real waren. Der „Herr der Zeiten“ ist im Jahre 1896 verstorben, vorgeblich von den Ungeheuern der vierten Dimension gefressen. Anschließend wurden die Pforten des Unternehmens „Zeitreisen Murray“ geschlossen. Und H. G. Wells musste eingestehen, dass er selbst, zwar Autor eines Zeitreise-Romans, durchaus nicht im Besitz eines solchen Apparates war (Bis hierhin befinden wir uns im Handlungshorizont des ersten Palma-Romans „Die Landkarte der Zeit“.)
Welch eine Enttäuschung!
Aber Wells´ pfiffiger Verstand hört hier ja nicht auf, nein, nein, weit gefehlt! Er hat stattdessen ein weiteres unerhörtes Abenteuer ausgetüftelt. Diesmal spielt die Geschichte im England des Jahres 1898… und auf dem Anger der Ortschaft Horsell landet am 1. August desselben Jahres eine ungeheuerliche Maschine, die geradewegs vom Himmel fällt: leibhaftige Marsianer landen auf der Erde und beginnen ihre Schreckensherrschaft. So der Inhalt seines neuen Romans „Krieg der Welten“.
Welch ein Glück, dass das nur eine Phantasmagorie ist… nun, so denkt etwa H. G. Wells wenigstens noch immer, als ihm bekannt wird, dass ein amerikanischer Autor namens Garrett P. Serviss sich doch tatsächlich erdreistet hat, eine Fortsetzung dazu zu schreiben… und zwar dergestalt, dass in seinem Roman „Edison erobert den Mars“ die Erdmenschen zurückschlagen und unter amerikanischer Führung den Spieß umdrehen (man glaubt sich ein wenig beim Film „Mars Attacks!“, und das ist sicherlich kein Zufall).
Schlimmer noch: Serviss vergöttert Wells und trifft sich schließlich mit ihm auf einen oder mehrere Drinks… und im Verlauf dieser Diskussion, die buchstäblich die Weltgeschichte verändert, beichtet ihm Serviss schließlich, er habe schon einen leibhaftigen Marsianer gesehen! Und zwar in einem geheimen Gewölbe unter dem Naturgeschichtlichen Museum in London.Zu dumm: Wells lässt sich überreden, mit Serviss dort einzubrechen. Und zu seinem Schrecken sieht er tatsächlich das perfekt erhaltene Wrack eines Alien-Raumschiffs… und eine leibhaftige Alienleiche. Das macht ihn umgehend wieder nüchtern. Dennoch widerfährt ihm ein Malheur, und er verliert ein paar Tropfen seines Blutes in dem Sarg, in dem die außerirdische Leiche ruht. Dummerweise ist sie nicht tot, sondern Wells´ Blut erweckt sie nach langer Ruhephase zu neuem Leben.
Doch woher, so fragt sich der Leser rätselnd, mag diese Kreatur nur stammen? Dies führt uns zum nächsten Handlungsstrang, der rund 70 Jahre zuvor seinen Anfang nahm und uns für recht viele Seiten an die Seite von Jeremiah Reynolds führt, seines Zeichens Missionskommandant des Walfängers „Annawan“, die unter dem Kommando des Kapitäns MacReady im Südpolarmeer im Eis eingeschlossen wird, während sie versucht, einen Eingang in das Innere der Erde zu finden, die laut Reynolds eine Hohlwelt sein soll, mit Öffnungen an beiden Polen.
Statt dieser Hohlwelt finden sie jedoch einen Schrecken jenseits ihrer Vorstellung – ein abgestürztes Alienschiff und eine grässliche Kreatur jenseits alles Begreiflichen. Als sie zu verstehen beginnen, dass das außerirdische Wesen imstande ist, jede menschliche Gestalt anzunehmen, ist der Schrecken schon an Bord, und ein gnadenloser Kampf ums Überleben beginnt.
Und dennoch… das Schiff und die Kreatur finden schließlich ihre letzte Ruhestätte unter dem Londoner Museum. Bis H. G. Wells sie annähernd 70 Jahre nach dem Absturz und blutigen Amoklauf im Südpolareis wieder weckt. Damit beginnt eine Maschinerie des Entsetzens zu laufen…
Im zweiten Teil des Romans begegnen wir einer jungen, verwöhnten und gründlich desillusionierten Amerikanerin namens Emma Harlow und machen hier die Bekanntschaft der titelgebenden „Landkarte des Himmels“ (was es genau damit auf sich hat, möchte ich hier nicht vorwegnehmen). Emma hat einen ganz besonderen Kampf auszufechten, nämlich den gegen ihre vielfältigen Verehrer. Als Frau, die nicht an die Liebe glaubt, ist sie besonders von der penetranten Aufdringlichkeit eines gewissen Mr. Gilmore erzürnt. Um ihm schließlich eine Lektion zu erteilen, soll er nichts Geringeres realisieren als eine Invasion der Marsmenschen, exakt so, wie sie in H. G. Wells´ Roman „Krieg der Welten“ ausformuliert wurde. Er habe bis zum 1. August 1898 Zeit… und verliebt, wie Gilmore ist, meint er auch fest, das realisieren zu können – hat er doch früher schon das Kunststück fertig gebracht, durchaus kluge Menschen Glauben zu machen, sie würden dank seiner Hilfe direkt ins Jahr 2000 reisen und dort dem Kampf des wackeren Hauptmann Shackleton gegen den Maschinenmenschen Salomon beiwohnen…
Moment… ihr denkt, ihr seid im falschen Film? Nein, durchaus nicht. Der Film steckt noch in den Kinderschuhen, die Gebrüder Lumiére experimentieren noch… ah, aber ich weiß, was ihr denkt. Ihr denkt: Gilliam Murray, der „Herr der Zeit“, der ist doch tot. Nun, offensichtlich nicht, wie ihr herausfinden werdet, wenn ihr weiterlest. Er lebt nun in Amerika und ist bis über beide Ohren in Emma verliebt – und genau deshalb will er ihren unmöglichen Wunsch erfüllen, selbst wenn er mit seinem Intimfeind Wells wirklich nichts mehr zu tun haben möchte.
Zum allseitigen Entsetzen landet am 1. August 1898 auf dem Anger bei Horsell tatsächlich eine Fliegende Untertasse. Aber nicht Murray alias Gilmore ist dafür verantwortlich, sondern echte Aliens. Und das Inferno nimmt seinen Lauf…
Ja, man kann sagen, dass dieser Roman sehr viel zeitiger als der erste Band der Trilogie auf originär phantastisches Terrain torkelt (torkelt deshalb, weil die Protagonisten, als sie das tun, wirklich ziemlich sturzbetrunken sind). Und es steigert sich mehr und mehr zu einem veritablen und schließlich auch außerordentlich blutrünstigen Alptraum. Da werden Hunde niedergemetzelt, Schiffe in die Luft gesprengt, Menschen in Asche verwandelt oder in Stücke gerissen… falls jemand in Teil 1 Action vermisst hat, Palma macht das in diesem Buch wirklich sehr gründlich wieder wett.
Auch hier sieht man natürlich an vielen Stellen die Vorlagen durchschimmern. „Das Ding aus einer anderen Welt“ steht Pate für die „Annawan“-Katastrophe. H. G. Wells eigener Roman „Krieg der Welten“ ist dann quasi die Blaupause für weite Teile des zweiten Drittels, aber wirklich wahnhaft wird dann der dritte Abschnitt des Romans, in dem das Chaos eskaliert und die Lage absolut trostlos zu werden beginnt. Dort verliert der Autor auch ein wenig die Übersicht über die Handlungsfäden (indem er etwa behauptet, Andrew Harrington aus Band 1 sei damals ins Jahr 2000 gereist, was natürlich nicht stimmt. Seine Geliebte Claire Haggerty und sein Cousin Charles Winslow taten dies). Und so gibt es noch ein paar perspektivische Klippen, die der allwissende Verfasser nur knapp umschiffen kann. Man sieht es ihm aber nach, angesichts des prächtigen Bilderzyklus, den er mit diesem Roman entworfen hat.
Besonders schön ist es dann, Bekanntschaft mit alten Freunden zu schließen. Wir treffen Claire Haggerty wieder, Charles Winslow und Andrew Harrington. Und dann ist da tatsächlich auch wieder „Hauptmann Derek Shackleton“, der nun angeblich die Menschheit im Jahre 1898 vor den Aliens retten soll, die natürlich nicht vom Mars kommen.
Was dann jedoch geschieht, das sollte man sich wirklich selbst gönnen. Es sei empfohlen, vielleicht während der Lektüre der letzten dreihundert Seiten nicht zu gut zu essen… das könnte unschön enden, wenn ihr zu Scotland Yard kommt… spätestens dann.
Wie schon im ersten Roman dreht sich sehr viel auch in diesem Roman im Grunde genommen um eine unmögliche Liebe und alles, was damit notwendig an bizarren Vorfällen verbunden wird. Die letzten dreihundert Seiten strahlen jedenfalls eine solche Sogwirkung aus, dass ich warnen muss – man sollte sie nicht am späten Nachmittag in Angriff nehmen, wenn man vor Mitternacht im Bett sein möchte!
Eindeutige Leseempfehlung, mehr noch als bei Band 1. Und ich bin sehr gespannt auf „Die Landkarte des Chaos“…