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Michael Ende und seine Bücher: Ophelias Schattentheater

Michael Ende - Seine BücherOphelias Schattentheater
illustriert von Friedrich Hechelmann
„In einer kleinen alten Stadt lebte ein altes Fräulein mit Namen Ophelia. Als sie zur Welt gekommen war- und das war nun freilich schon lange her-, hatten ihre Eltern gesagt: Unser Kind soll einmal eine große, gefeierte Schauspielerin werden. Deshalb hatten sie ihr den Namen einer berühmten Gestalt aus einem Schauspiel gegeben.
Das kleine Fräulein Ophelia hatte zwar die Bewunderung ihrer Eltern für die große Sprache der Dichter geerbt aber sonst nichts.
Und eine berühmte Schauspielerin konnte sie auch nicht werden. Dazu war ihre Stimme zu leise. Aber irgendwie wollte sie doch der Kunst dienen, wenn auch auf ganz bescheidene Weise.
In der kleinen Stadt gab es ein hübsches Theater. Ganz vorn am Bühnenrand befand sich ein Kasten, der zum Zuschauerraum hin verdeckt war. Dort drin saß Fräulein Ophelia allabendlich und flüsterte den Schauspielern die Worte ihrer Rollen zu, damit sie nicht stecken blieben...
(1)

Ophelias SchattentheaterEines Tages muss das Theater aus finanziellen Gründen geschlossen werden. Das nun alt gewordene Fräulein Ophelia kann sich nur schwer von der Bühne trennen. Am letzten Abend nach der letzten Vorstellung bleibt sie noch lange in ihrem Kasten sitzen. Nachdem alle gegangen sind und es dunkel wurde im Theater, taucht ein herrenloser Schatten auf. Er nennt sich Schattenschelm und weiß, genau wie Ophelia, nicht wohin. Also nimmt sie ihn bei sich auf.

Doch Schattenschelm ist nur der erste von vielen. Schon bald spricht sich herum, das Ophelia einsame Schatten aufnimmt. Rasch werden es immer mehr, die ihre kleine Wohnung bevölkern.

Um den ständigen Streitereien der Schatten untereinander ein Ende zu bereiten, bringt ihnen das alte Fräulein die großen Worte der Dichter bei. Da die Schatten jede Gestalt annehmen können, schlüpfen sie voller Freude in die unterschiedlichen Rollen. Und Ophelia flüstert ihnen die Worte zu.
Inzwischen halten die Nachbarn das alte Fräulein für wunderlich und nicht mehr ganz richtig im Kopf. Der Vermieter ihrer Wohnung kündigt ihr sogar. Daraufhin streift Ophelia ohne Ziel durch das Land. Die Schatten trägt sie in ihrer Handtasche bei sich. Als sie ans Meer kommt, ist sie müde und erschöpft. Schon bald schlummert sie ein.

Den Schatten tut Ophelia Leid. Sie wollen ihr helfen und fassen einen tollkühnen Plan. Sie wollen die Tragödien und Komödien der großen Dichter als Schattentheater vor Publikum aufführen. Und Ophelia soll ihnen wieder die Worte zuflüstern.

Gesagt, getan. Bei ihrem ersten Auftritt in einem kleinen Dorf haben sie großen Erfolg. Als Belohnung gibt jeder aus dem Publikum, was er geben kann. Nun zieht das alte Fräulein von Ort zu Ort. Ophelias Schattentheater gelangt zu einigem Ruhm und die alte Dame zu bescheidenem Wohlstand. Jetzt reist die kleine Truppe in einem alten Auto weiter von Auftritt zu Auftritt.

Eines Tages blieb das alte Fräulein Ophelia in einem Schneesturm mit ihrem Wagen stecken. Plötzlich stand ein riesengroßer, sehr dunkler Schatten vor ihr, der auch zu niemandem zu gehören schien. Er stellt sich ihr als der Tod vor. Und auch ihn nimmt Ophelia an.

Der Tod bringt sie zur Himmelspforte. Hier verwandeln sich Ophelias Schatten in wunderschöne Gestalten in farbenprächtigen Kleidern. Gemeinsam durchschreiten sie die Himmelspforte. In einem wunderbaren Palast, der wie das schönste und prächtigste Theater aussieht, führen sie seither die Stücke der großen Dichter auf Ophelias Lichtbühne auf...
„...Und dort spielte sie nun seither vor den Engeln die Geschicke der Menschen in der großen Sprache der Dichter, die auch die Engel verstehen und die daraus lernen, wie elend und wie großartig, wie traurig und wie komisch es ist, ein Mensch zu sein und auf Erden zu wohnen.
Und Fräulein Ophelia flüstert ihren Darstellern die Worte zu, damit sie nicht stecken bleiben. Übrigens heißt es, das auch der liebe Gott manchmal kommt, um zuzuhören. Aber ganz sicher weiß das niemand.“
(2)
Diese kleine tief berührende Erzählung über die Dichtung, das Alter und den Tod erschien 1988 zum ersten Mal im Thienemann Verlag. In Michael Endes Leben hatte es zwei dramatische Einschnitte gegeben, die ihn mit der Vergänglichkeit des Lebens und aller irdischer Güter konfrontiert hatten.

Am 27.März 1984 starb seine Frau, die Schauspielerin Ingeborg Hoffmann, die für Ende Muse und hilfreiche Kritikerin seiner Werke war. Er verlässt daraufhin seinen Wohnsitz in Italien und geht zurück nach München, um neu anzufangen.

Drei Jahre später erfährt der Schriftsteller, dass ihn sein Steuerberater betrogen und mit Schulden in Millionenhöhe zurückgelassen hat.

In dem Maler und Illustrator Friedrich Hechelmann, den Ende noch in Italien kennengelernt hatte, findet der Autor einen Künstler, der mit seinen Licht- und Schattenbildern die Erzählung kongenial umsetzt und bereichert.
Ophelias Schattentheater ist ein wunderbares literarisches und künstlerisches Kleinod, das in keiner Bibliothek fehlen sollte.

Zitate:
  • (1)    Ende / Hechelmann: Ophelias Schattentheater, Thienemann Verlag, 1988, 2008, Seite 2
  • (2)    ebenda Seite 24

Bibliographie:
  • Ende / Hechelmann: Ophelias Schattentheater, Thienemann Verlag, 1988, 2008
  • Duo Pianoworte: Ophelias Schattentheater, Hörbuch mit Musik, Bella Musica
    enthalten in:Von Schmetterlingen und weisen Elefanten, Michael Endes schönste Bilderbücher, Thienemann Verlag, 2011
  • Michael Ende: Die Zauberschule und andere Geschichten, Thienemann Verlag, 2008
  • Michael Ende: Die Zauberschule und andere Geschichten, Taschenbuch, Carlsen Verlag, 2011 Michael Ende: Die Zauberschule und andere Geschichten, Hörbuch, gelesen vom Autor u.a., Universal, 2008

Kommentare  

#1 Kerstin 2011-12-20 13:45
Das ist bestimmt eine sehr schöne Geschichte, über die man nach dem Lesen noch lange nachdenkt.
#2 Torshavn 2011-12-24 09:48
Das stimmt, Kerstin.
Als ich die Geschichte im (Weihnachts-)Literaturkreis vorgelesen habe, waren danach alle in Gedanken versunken.
Ein schönes Kompliment für den Autor, finde ich.

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