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Kurt Luif - Ritt in die Vergangenheit

StoryRitt in die Vergangenheit

Vor fünf Jahren ist Kurt Luif am 21. April 2012 gestorben. An seinem 5. Todestag möchte ich euch seine letzte längere Arbeit, den Anfang einer Novelle mit dem Titel »Ritt in die Vergangenheit« präsentieren. Kurt Luif fing mit dem Schreiben 1996 an. Einen Abnehmer hatte er im Heyne-Verlag schon gefunden. Ich bringe den Briefverkehr zwischen Kurt Luif und Wolfgang Jeschke in einem gesonderten Artikel. Leider schrieb Kurt Luif die Novelle nicht zu Ende, aber da der »Anfang« 38 Seiten umfasst, bekommt Ihr ihn heute zulesen. - Uwe Schnabel

Ritt in die Vergangenheit
Das Attentat
auf Se. Majestät
Kaiser Franz Josef I.
18. Februar 1853
von Neal Davenport (Kurt Luif)

Die Frage: Was wäre geschehen, wenn das und das nicht eingetreten wäre? wird fast einstimmig abgelehnt, und doch ist sie die kardinale Frage. Dieser Satz Nietzsches von 1875 gilt unverändert.
Mutmaßungen über ungeschehene Geschichte sind in den historischen Wissenschaften verpönt. Erwägungen zu nicht eingetretenen Möglichkeiten, hypothetische Alternativen zum wirklich Geschehenen erscheinen als müßiges Gedankenspiel, als unseriöse Spekulation. Wie es auch hätte kommen können, das ist kein Thema für einen Historiker.

Ungeschehene Geschichte von Alexander Demandt
Kleine Vandenhoeck-Reihe Nr. 1501

 

Amateur Rennreiter
§ 188. Eine Amateur-Reiter-Lizenz kann erhalten, wer unbescholten ist, nie gegen Entgelt oder sonstige Vergütung in Rennen geritten ist, in den letzten drei Jahren hauptberuflich in keinem Rennstall tätig war, genügend Reitfertigkeit und Kenntnis der maßgebenden Bestimmungen des Renn-Reglements besitzt, das 15. Lebensjahr vollendet, eine Unfallversicherung abgeschlossen hat und vor einer vom Direktorium bestellten Kommission eine Amateur Rennreiter Prüfung abgelegt hat.

RENN-REGLEMENT - Jockey Club für Österreich

Wie jeden Tag wachte ich kurz nach sechs Uhr auf, wälzte mich auf die rechte Seite und versuchte weiterzuschlafen. Und meist, wenn ich einen Ritt hatte, gelang es mir nicht. Eigentlich hätte es schon Routine sein müssen, war es aber nicht.
Für meine Begriffe war ich gestern sehr spät schlafen gegangen, es war kurz nach ein Uhr gewesen und ich hatte zu viel getrunken. Ich blieb liegen und döste vor mich hin und zu meiner größten Überraschung schlief ich nochmals ein.
Kurz nach zehn Uhr setzte ich mich auf, gähnte genußvoll und griff nach der Fernbedienung und drückte auf 2, als der Ton kam, brachte ich ihn zum Verstummen und benutzte die Teletext Taste.
Es war sehr hell und schwül im Zimmer. Ich drückte 251 in die Tastatur und kurz danach bekam ich das ORF Wetter.

S 251 ORF2    So, 24.08.97,    10:05:48
WETTER    Österreich von 9.30 h
DAS WETTER HEUTE
Im Westen zeitweise starke Bewölkung, sonst häufig sonnig. Am Nachmittag vor allem im Bergland örtlich Gewitter.

Nun sah ich mir kurz die Schlagzeilen an:

S 101 ORF2    So, 24.08.97,    10:06:58
ORF TEXT     Schlagzeilen 10. 00 Uhr
TAUSEND LEHRER OHNE JOBS
REGIERUNGSUMBILDUNG IN DEUTSCHLAND?
22 TOTE BEI KÄMPFEN IN KASCHMIR
EINE MILLION BEI PAPSTMESSE IN PARIS

Bei der ARD wurde die Regierungsumbildung bereits dementiert. Von den Meldungen interessierte mich keine besonders.
Ich schaltete den Fernseher aus und glitt aus dem Bett und stapfte zum Fenster, zog die Jalousie hoch und starrte auf die Eslarngasse hinaus. Der Himmel war hellblau, völlig wolkenlos und 25 Grad zeigte das Außenthermometer, vermutlich würde es noch etwas heißer werden. Extrem heiße Renntage liebte ich nicht, aber am meisten haßte ich jene im Spätherbst, wo man durch den Nebel nur wenige Meter weit sehen konnte.
Ich ging ins Wohnzimmer, schaltete den Computer ein und hörte die vertrauten Ladegeräusche und tippte win ein und klopfte auf die Returntaste.
Weiter ging es in meine kleine Küche. Alles geschah ohne viel Nachzudenken. Wasser in den Kaffeeautomaten, eine neue Filtertüte, zwei Löffel Gold Mocca hinein. Zischend begann der Apparat zu arbeiten.
Zurück beim Computer sah ich mir meinen Terminplaner an.

Sonntag, 24. August 1997.
3. Rennen   Startzeit: 16 Uhr.
Mittags bei Eltern.
Abends???

Ich schloß den Kalender und begann Tournament zu spielen, ein Solitaire, das mit 104 Karten gespielt wird. Bisher hatte ich das Spiel 456 mal gespielt und nur 91 mal gewonnen. Auch diesmal hatte ich nicht viel Glück und mußte mich geschlagen geben.
Der Kaffee war fertig. Ich trank einen Schluck und griff nach dem Galopp Sport, den ich mir meist schon am Mittwochabend besorgte. Er war das offizielle Organ des Austrian Racehorse Owners Clubs, der die Galopprennen in der Wiener Freudenau veranstaltete.
Das dritte Rennen war aufgeschlagen, ich hatte es mindestens zwanzigmal studiert, kannte es daher schon fast auswendig.
Nr. 10, das war ich, Amateur Thomas Freytag, und mein nur wenig chancenreiches Pferd Sachs. Ein kräftiger Brauner ohne Abzeichen, den ich noch nie im Rennen geritten hatte. Sachs war lange verletzt gewesen und sollte ein ruhiges Aufbaurennen bekommen.
Ich warf die Zeitung auf den Tisch und nahm den Kaffee mit ins Badezimmer. Meine leichten Kopfschmerzen wollte ich mit einem Alka Seltzer bekämpfen, und ich suchte danach im linken Teil des Aliberts, wo sich die Medikamente befanden. Bei meiner Suche stieß ich auf einen Nagellack Fläschchen. PUR VERNIS. SANS FORMAL. SANS TOLUENE. SANS COLOPHANE. Ein grelles Rot, wie es Helga, meine Exfrau liebte. Sie war vor einem halben Jahr ausgezogen, immer seltener stieß ich auf solche Erinnerungsstücke. Endlich hatte ich die Packung Alka Seltzer gefunden. Es waren noch zwei Stück drinnen.
Ich genehmigte mir eine neue Rasierklinge, feuchtete mein Gesicht an und klatschte ziemlich viel Rasierschaum auf meine Wangen. Die Tablette löste sich extrem rasch auf und ich leerte das Glas, bevor ich mit der Rasur begann.
Mein Blick wanderte zum Nagellack, den ich auf den Spülkasten gestellt hatte.
Meine Ehe mit Helga war eine nicht endende Katastrophe gewesen. Vor unserer Hochzeit hatten wir uns großartig verstanden und viel Spaß gehabt. Wir hatten unsere schlechten Neigungen unterdrückt und vor der Realität die Augen fest zugedrückt. So war unsere Ehe zum Scheitern programmiert gewesen. Sie war schlampig und faul, das war ich auch. Und wir versuchten offenbar mit diesen Eigenschaften neue Rekorde aufzustellen. Innerhalb weniger Tage nach unserer Hochzeitsreise war schon alles aus. Jeder ging seine Wege. Sie saß ständig vor dem Fernseher, aber das regte mich nicht sonderlich auf, da hatte ich dann wenigstens den Computer für mich. Weit störender fand ich es, daß ihre Kochkunst nur für fünf Gerichte ausreichte: Pasta ascutta, Pizza, Knödel mit Ei, Fleischlaibchen mit Kartoffelsalat und Gulasch. Dazwischen gab es Konservenkost und Gutes aus der Iglo Küche.
So war ich über jeden Wienerwald-Besuch glücklich und fand das Essen bei McDonalds gar nicht so übel. Immer häufiger besuchte ich meine Eltern, Helga kam nur selten mit, da sie meinen Vater als sturen Beamtenschädel betrachtete und meine Mutter voller Verachtung als gurrendes Hausweibchen einstufte.
Das alles wäre noch zu ertragen gewesen, doch innerhalb weniger Wochen hatten wir uns nichts mehr zu erzählen und mit dem Sex haute es auch nicht mehr hin. Immer öfter fragte ich mich, weshalb ich mich in sie verliebt hatte und weshalb wir eigentlich geheiratet hatten. Ich war Volksschullehrer, das war auch eine von meinen Fehlentscheidungen gewesen, da ich es immer weniger ertrug, mich mit einer Horde von Bälgen herumzuärgern, die nichts kapieren und begreifen wollten.
Nach dem Rasieren, das ich ausnahmsweise ohne Schnittwunde geschafft hatte, hockte ich mich in die Badewanne, seifte das Haar ein und duschte.

* * *

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Nach preußischem Vorbild wurde 1852 die Kriegsschule gegründet, deren Anfangsklasse von 24 Frequentanten, wie sie genannt wurden, besucht wurde. Die Aufnahme in diese Schule erfolgte nach einer schriftlichen Vorprüfung. Bis zu tausend Leutnante und Oberleutnante traten zu dieser anonymen Prüfung an, und die etwa 200 (später 400) Bewerber, die diesen Test bestanden, konnten nun daran gehen, sich für die folgenden schriftlichen und mündlichen Hauptprüfungen, die jährlich in Wien abgehalten wurden, vorzubreiten. Diese zweite Prüfungsrunde dauerte viele Tage und zeichnete sich, unseren Chronisten zufolge, durch höchste Korrektheit und untadelige Objektivität aus. Hocharistokraten wurden ohne viel Federlesens abgelehnt, selbst wenn sie von einer illustren Persönlichkeit empfohlen worden waren.

Der K (u.) K Offizier von Istvàn Deàk Böhlau Verlag
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„Tagwache“.
Der laute Schrei übertönte das Spiel des Hornisten.
Leutnant Riccardo Fürst Montecuccoli richtete sich langsam auf und öffnete die Augen. Es war sechs Uhr und stockfinster im Zimmer.
Es war der 28. Oktober 1852.
Seit zwei Tagen befanden sich die 24 Frequentanten in der Leopoldstädter Kaserne. Vor sieben Wochen hatte der Unterricht in der k.k. Kriegsschule in der Dreihufeisengasse im heutigen sechsten Wiener Gemeindebezirk begonnen. Es war ein mächtiges, schmuckloses dreistöckiges Gebäude, umgeben von einem schwarzen Eisenzaun. Die Erdgeschoßfenster waren vergittert, das Haus sah eher wie ein Gefängnis aus als die Pflanzstätte des k.k. Generalstabes.
Hier fanden täglich von sieben Uhr früh bis in die Abendstunden die Vorlesungen statt. Danach mußten die Hausaufgaben gemacht werden und Unmengen von Büchern studiert werden und für die Prüfungen der nächsten Tage gelernt werden.
Montecuccoli war aus seiner Zeit in der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt etliches gewohnt gewesen, doch die Kriegsschule war um einiges härter. So schwierig hatte er es sich nicht vorgestellt, er war froh, daß nun endlich mal etwas Abwechslung in den Unterricht kam.
Auf dem Programm stand nun Reitunterricht, der fast so wichtig wie die Theorie war, die in der k.k. Kriegsschule bis zum Überdruß gelehrt wurde. Für jeden Offizier des Generalstabes war es elementar, auf dem Pferd einen untadeligen Eindruck zu hinterlassen. Das war für Montecuccoli keine Schwierigkeit, da er schon als Kind das Reiten gelernt hatte. Einige seiner Kameraden hatten damit allerdings die größten Schwierigkeiten.
An der Tür wurde kräftig geklopft.
"Herein!" rief Montecuccoli und sprang aus dem Bett.
"Guten Morgen, Herr Leutnant", grüßte ein Soldat, der eine Kerze auf den Tisch stellte. Ein zweiter folgte, der salutierte und einen Wasserkrug zum Waschtisch trug. Montecuccoli grüßte lässig zurück. Einer der Soldaten holte die Leibschüssel unter dem Bett hervor.
Als die beiden das dürftig möblierte Zimmer verlassen hatten, warf Montecuccoli das Nachthemd aufs Bett und wusch sich das Gesicht. Danach seifte er das Gesicht ein und begann sich zu rasieren. Sein Schnauzbart war gewaltig, er war so pechschwarz wie sein Haupthaar, das recht kurz geschnitten war. Zweimal schnitt er sich, und jedesmal stieß er unwilliges Knurren aus. Nach der Rasur betupfte er seinen Körper mit dem kalten Wasser und trocknete sich rasch ab.
Er kleidete sich sorgsam an, stellte sich vor dem Spiegel und musterte sich sehr zufrieden. Montecuccoli war kräftig gebaut, an die 1,80 groß und die hechtgraue Uniform saß wie angegossen. Er blies die Kerze aus.
Seine Sporen rissen Löcher in den Holzboden des Ganges, mit langen Schritten strebte er der Offiziersmesse zu.
Zwei Offiziere aus der Kaserne waren bereits anwesend, er nickte ihnen kurz zu und setzte sich an einen Tisch in der Mitte des Saales. Innerhalb der nächsten fünf Minuten füllte sich die Messe. Seine Kollegen nahmen rings um ihn herum Platz.
Von den 24 Frequentanten kamen vier aus dem gleichen Jahrgang der Maria Thersia Akademie in Wiener Neustadt. Sie kannte er schon seit Jahren, nach der Ausmusterung waren sie alle den verschiedensten Regimentern der Monarchie zugeteilt worden. Die andren waren ihm unbekannt gewesen. Nur drei entstammten so wie er dem Hochadel.
In der Akademie war sein bester Freund Erwin Ritter von Spielfeld gewesen, der zu seiner größten Enttäuschung in ein Nest nahe der russischen Grenze kommandiert worden war. Erwin war in seiner Größe, allerdings nicht so breitschultrig, er war zierlicher gebaut, sein bleiches Gesicht wurde von einem weißblonden Haarschopf umrahmt, sein eher schütterer Schnauzer war semmelfarben, die veilchenblauen Augen blickten immer ein wenig verträumt. Aber vor allem wenn er zornig war oder unter Anspannung stand, dann änderten sie sich und da war nichts mehr von träumerisch zu merken. Montecuccoli war nach Italien zu Radetzky gekommen. Es war ziemlich langweilig für ihn gewesen, der Aufstand von 1848 war erfolgreich niederschlagen worden, jetzt war alles unter Kontrolle.
Erwin und die meisten seiner Kollegen waren noch immer erschöpft; vom gestrigen Distanzritt hatten sie sich noch nicht erholt, und heute ging es weiter in die Freudenau. Dort fand alljährlich ein Frühjahrs Meeting statt, die restliche Zeit des Jahres wurde der Rennplatz vom Militär genützt.
Montecuccoli hingegen hatte die Strapazen des gestrigen Tages gut überstanden und er freute sich auf die Freudenau. Sein Vater hatte ihn mehrmals zu den Rennen mitgenommen, das war allerdings schon einige Jahre her. Mit 14 Jahren war er in die Militärakademie eingetreten und seither hatte sich keine Gelegenheit mehr zum Besuch der Rennen ergeben.
Es war noch immer dunkel, als das karge Frühstück serviert wurde, für jeden der Offiziere gab es eine Einbrennsuppe, zwei Schnitten Brot und Wasser, so viel sie trinken konnten. Niemand beschwerte sich darüber. Und niemand hatte Lust auf eine Unterhaltung. Ganz anders bei den hier stationierten Offizieren, die sich lautstark unterhielten und immer wieder in schallendes Gelächter ausbrachen.
Montecuccoli hatte in ein paar Minuten die Suppe hinuntergelöffelt und die Brotscheiben verspeist. Er erhob sich, richtete sich den Säbel und verließ die Messe.
Er trat in den ersten der drei Kasernenhöfe, musterte flüchtig die Kaserne, die zweistöckig war und von deren Fassade große Stücke abbröckelten. Es wurde langsam hell, ein scharfer Wind wehte vom Norden her, der Himmel war grau und es nieselte leicht und es war recht kühl.
Den Gruß einiger Soldaten erwiderte er, dann hatte er den zweiten Hof erreicht, dort befanden sich die Stallungen. Jeder der 24 Frequentanten hatte ein Pferd zugeteilt bekommen, seines war ein acht Jahre alter Fuchs Wallach, der auf den Namen Valerio getauft war.
Das Pferdematerial war einer der Schwachpunkte der österr. Armee. Durch die Kriegseinwirkungen im 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts war es sowohl in den Militärgestüten als auch in der Landeszucht zu keiner ruhigen Aufbauarbeit gekommen, es fehlte an klar festgesetzen Zuchtzielen und vor allem an geeigneten Remonten junge Militärpferde für die Armee. So mußte in Südrußland und in den benachbarten Fürstentümern Moldau und Wallachei remontiert (militär. Pferdebestand durch Jungpferde ergänzen) werden.
Montecuccoli hatte sich schon mit acht Jahren stark für Pferde und deren Zucht interessiert, oft hatte er sich mit seinem Vater darüber unterhalten und der war über die Vorschläge seines Sohnes überrascht gewesen. Vor fünf Jahren hatte er mit der Zucht von Vollblutpferden im Gestüt Wasserburg begonnen.
Die Stallungen waren total veraltert, wie Montecuccoli feststellte, sie waren zu klein und viel zu dunkel. Nicht mal im Hochsommer wurde es in diesen düsteren Gemäuern richtig hell.
Er trat in den Stall von Valerio, der ihn mit einem freundlichen Schnauben begrüßte. Der Wallach hatte bereits getrunken und gefressen. Montecuccoli hatte Glück gehabt, Valerio war kräftig, gut genährt und nur ein wenig eigensinnig, wie er in den vergangenen Tagen gemerkt hatte. Er klopfte ihm auf den Hals und griff nach einer Bürste und begann das Fell zu striegeln. Es war wichtig, daß das Fell völlig glatt und ohne Schmutz war, das verhinderte das Scheuern der Satteldecke. Montecuccoli ließ sich mit dem Striegeln Zeit, erst um sieben Uhr mußte er mit seinem Pferd im Hof zur Inspektion erscheinen.
Nun waren auch in den anderen Ställen die Frequentanten am Arbeiten mit ihren Pferden.
Montecuccoli legte die Satteldecke auf, dann den Sattel und das Zaumzeug. Er führte den Wallach in den Stallgang und hinaus auf den Hof.
Das Nieseln war in Regen übergegangen. Einige Soldaten standen im Hof herum. Montecuccoli verzichtete auf ihre Hilfe und schwang sich in den Sattel, sanft tätschelte er Valerios Hals und ließ ihn ein paar Schritte gehen.
Kurz vor sieben waren alle Frequentanten im Hof versammelt. Die meisten hatten Mühe, ihre Pferde still zu halten.
Punkt sieben erfolgte der Auftritt von Major Friedrich Graf von Rohrstein, der für die reiterliche Ausbildung verantwortlich war. Er trug eine Husarenuniform und verschmolz förmlich mit seinem Rappen   ein ungewöhnlich schönes Tier, um das ihn Montecuccoli beneidete.
Der Major besah sich die traurige Truppe, sein Gesicht lief rot an, sein gewaltiger Schnauzer schien sich zu sträuben. Mit jeder Minute wurde sein Ton schärfer. Mit Eiseskälte begann er die Frequentanten zu rügen und später auch gehässig zu beschimpfen. Nur an wenigen der Frequentanten hatte er nichts auszusetzen, dazu gehörten Montecuccoli und Spielmann.
Nach der Inspektion schien der altgediente Major in sich zusammenzufallen. Scheinbar mühselig richtete er sich auf und blickte die Frequentanten der Reihe nach mißmutig an.
"Wir befinden uns in der Leoldstädter Reiterkaserne", sagte er mit harter Stimme. "Leutnant Spielmann, erzählen Sie mir etwas über die Kaserne!"
Spielmann starrte den Major an und räusperte sich. "Herr Major, die Leopldstädter Kaserne war die erste, die in Wien erbaut wurde. Am 1. August 1723 wurde die Kaserne von vier Kompanien des Batthyänyschen Reiterregiments bezogen."
"Gut, Leutnant Spielmann, und jeder einzelne Offizier dieses ehrwürdigen Regiments würde im Grab herumkreisen, sollte er das Mißvergnügen haben, euch Jammergestalten zu erblicken!"
Montecuccoli sah den Major fasziniert an, innerhalb weniger Minuten belegte er die vor ihm sitzenden Frequentanten mit Wörtern, die er noch nie gehört hatte, obzwar er einiges gewohnt war.

* * *

Hellmut Andics
Gründerzeit
Das schwarzgelbe Wien bis 1867

 

Kapitel 1
Vorspiel auf der Bastei
Am 18. Februar 1853 verließ der Schneidergeselle Janos Libeny gegen 12 Uhr Mittag seinen Arbeitsplatz in der Wiener Leopoldstadt Nr. 653. Die Werkstätte seines Meisters lag in der Schmidtgasse. Die Gebäude waren damals noch nicht nach Häuserzeilen numeriert, sondern fortlaufend innerhalb des ganzen Bezirks. Libeny eilte quer durch die Innere Stadt zur Kärtnterbastei. Dort unternahm Kaiser Franz Joseph täglich zur gleichen Zeit seinen Spaziergang. Zwanzig Schritte vom alten Tor entfernt saß Libeny schon auf einer Bank, als der Kaiser gegen halb ein Uhr herankam. Franz Joseph wurde an diesem Tag von seinem Flügeladjutanten Maximilian Karl Graf O'Donell begleitet. Für den inoffiziellen Spaziergang trug er die Uniform eines Ulanenobersten. Offiziell standen ihm die Akanthusblätter eines Feldmarschalls auf den Kragenspiegeln zu. Wegen der dazugehörigen roten Generalshosen mit den goldenen Streifen nannten die Wiener ihren jungen Kaiser auch spöttisch den „rothosigen Leutnant“. Franz Joseph war noch keine 23 Jahre alt.
Janos Libeny aus Czakvar im westungarischen Kominat Stuhlweißenburg war ein halbes Jahr jünger. Er saß nun schon seit fast zwei Wochen täglich auf der Bank, um die Gewohnheiten des Kaisers zu beobachten. Bei einem Trödler auf dem Tandelmarkt nah der Heumarktkaserne hatte der Schneidergeselle ein langes Messer gekauft und es auf beiden Seiten scharf zuschleifen lassen.
Auf dem Balkan drohte wieder einmal Krieg zwischen Rußland und der Türkei, und in Kroatien stand eine 50.000 Mann starke österreichische Armee zum Einmarsch in Bosnien bereit. Auf der Kärntnerbastei trat Franz Joseph an die Brüstung des Festungswalls und beobachtete einen Trupp Soldaten, die im Stadtgraben exerzierten. Der Schneidergeselle Libeny sprang von seinem Sitz auf, schnellte auf den Kaiser zu und stach mit dem zugeschliffenen Messer von hinten auf Franz Joseph ein.
Der Kaiser erlitt eine stark blutende Verletzung im Genick. O'Donell zog seinen Säbel. Er kam nicht dazu, ihn zu benützen, denn ein eben seines Weges kommender Hausbesitzer von der Wieden, Christian Joseph Ettenreich, schlug den Attentäter mit den Fäusten nieder. "Eljen Kossuth", rief Janos Libeny bei seiner Festnahme.

© Copyright 1981 by Jugend und Volk, Wien München

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Fünf Minuten vor zwölf Uhr blieb ich vor der elterlichen Wohnung in der Schlachthausgasse stehen und sperrte auf. Ma verriet mir nie, was es zum Essen gab, aber ich konnte sicher sein, daß eines meiner Lieblingsgerichte auf den Tisch kam.
Es duftete verführerisch nach Rindsrouladen.
Bis vor zwei Jahren hatte ich an einem Renntag auf das Mittagessen verzichtet, nur wenn ich problemlos das Gewicht bringen konnte, hatte ich mir ein paar Happen gegönnt. Aber mit einem gefüllten Magen fühlte ich mich einfach wohler.
Meine Mutter stand vor dem Gasherd, rührte die Spiralen um und lächelte mir zu. Ich umarmte sie und küßte sie auf die rechte Wange.
Sie war eine extrem kleine Frau, die zum Dicksein neigte. Das dunkelblonde Haar hatte sie zu einem Roßschweif gebunden, ihre Haut war überraschend glatt, obzwar sie in vier Wochen ihren fünfzigsten Geburtstag feiern würde.
"Hallo, Tamos, das Essen ist in zehn Minuten fertig." Wie üblich, wenn mein Vater nicht dabei war, sprach sie ungarisch. Sie war 1956 mit ihren Eltern aus Ungarn geflüchtet, stammte aus einer alten Pferdefamilie und hieß Julka Fehör (Julia Weiss). Meinen Vater hatte sie bei den Rennen in der Freudenau kennengelernt.
Der Tisch im Speisezimmer war bereits gedeckt, mein Vater hockte im Wohnzimmer vor dem Schachcomputer, den ich ihm vor drei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Und wie meist brummelte er grantig vor sich hin. Er war ein recht guter Spieler, Internationaler Meister, der jahrelang in einem Schachclub gespielt hatte. Bei besser besetzten Turnieren spielte er recht mäßig, sobald er gegen einen bekannten Meister antrat, versagten seine Nerven und er wurde regelmäßig weit unter seinem Wert geschlagen. Danach hatte er diese Verlustpartien analysiert und sich über seine oft dilettantischen Züge ereifert.
"Gott zum Gruße", grüßte ich.
Er wandte kurz den Kopf und nickte mir zu. "Noch drei Minuten, dann habe ich das Teufelsding wieder mal geschlagen."
Ich blieb neben ihm stehen und sah mir die Stellung an, die nicht übel war. Sicherlich hätte ich ein paar Minuten länger als er benötigt.
Schach war nicht unbedingt mein Fall, sehr zur Enttäuschung meines Vaters, der mir im zarten Alter von zwei Jahren das Spiel beibringen hatte wollen, doch erst mit drei Jahren hatte ich es halbwegs kapiert, doch es langweilte mich zu sehr. Aber mein Vater ließ nicht locker, immer wieder gab er mir ein paar Lehrstunden, die mich von einem Stümper zu einem passablen Spieler machten.
Ich blickte mich im Wohnzimmer um. Dieser Raum hatte sich im Lauf der Zeit am stärksten verändert. Vor zwanzig Jahren gab es ein Bücherregal, in dem Bücher mit tollen Leder  und Leinenrücken dominierten. Drei Jahre später war ein zweites Regal dazugekommen und die toll aussehenden Bücher wurden immer weniger. Da gab es die Pferdebücher, die sie beide gleich mochten und dann die Schachbücher, die meine Mutter tolerierte und die SF Werke, für die mein Vater nicht viel übrig hatte, die aber meine Mutter liebte.
Ich konnte mich noch gut an einen Sonntag erinnern, wo sie heftig gestritten hatten, da Ma auch ihre SF Magazine hinstellen wollte. Pa fand den weißen Rücken der amerikanischen Galaxy als äußerst störend.
Die Bücherwand war gewachsen, hatte sich wie Efeu über die Wände geschoben und das Wohnzimmer zu einer Bibliothek werden lassen. Da wohnten sie nun in ihren Regalen, all die Schachliteratur, all die Pferdebücher und die Science Fiction.
Er brauchte nur zwei Minuten zum Sieg. Zufrieden stellte er den Computer aus und stand langsam auf. Wir hatten die gleiche Größe, knapp unter 1,70, er war recht hager, hatte nie mit Gewichtsproblem zu kämpfen gehabt, das hatte ich von ihm geerbt, wie das braune, sehr dünne Haar, die braunen Augen hingegen stammten eindeutig von meiner Mutter. Sonst gab es aber keine weiteren Ähnlichkeiten mit meinen Eltern.
"Eine Siegesfeier wird es wohl heute nicht geben", sagte er grinsend und blickte auf den Galopp Sport, der auf dem Tisch lag.
"Für mich sicherlich nicht, aber ich soll Sachs auch beim nächsten Rennen reiten, da sieht es dann schon anders aus. Ich bin froh, daß ich überhaupt einen Ritt habe."
"Da hast du recht, die Situation in der Freudenau wird immer schlimmer."
Früher, als die Zeiten für den Pferdesport in Wien noch besser gewesen waren, gab es keinen Renntag, den meine Eltern ausgelassen hätten, jetzt gingen sie kaum mehr zu den Rennen. Nur wenn ich einen Chancenritt hatte, besuchten sie die Rennbahn. Mein Vater war jahrelang Handikapper des Vereins gewesen und oft genug hatte es Streit mit meiner Mutter gegeben, wenn er ihrer Meinung nach ein Pferd zu gut oder zu schlecht eingestuft hatte. Heute wollten sie allerdings trotz meiner Chancenlosigkeit zu den Rennen kommen.
Die Rouladen waren großartig wie immer, ich lobte Ma für ihre Kochkünste, die Unterhaltung plätscherte flott dahin. Politik war allerdings tabu, da hatten wir drei zu unterschiedliche Meinungen.
Vaters Familie hatte der dahingegangenen Monarchie nachgeweint, sich dann aber freudig von Adolf Hitler leiten lassen. Die Familienmitglieder meiner Mutter waren Kommunistenhasser. Mir waren sie alle ziemlich egal, ich hatte keine hohe Meinung von den Politikern, ganz besonders widerlich fand ich aber jene mit den braunen Flecken, die sich hinter einem blauen Mäntelchen verbargen.
Hauptsächlich sprach meine Mutter, und wie sehr oft langweilte sie uns mit dem Buch, das sie gerade übersetzte, diesmal war es ein ungarischer SF Roman, der nach ihren Schilderungen mich nicht gerade zum Lesen animiert hätte. Aber unser Geschmack war zu verschieden.
Meine Mutter war der totale SF-Fan. Sie hatte mir einige Zeit Märchen erzählt, doch dann las sie mir kurze SF-Stories von Sheckley und Asimov vor.
Eigentlich hätte ich am 20. Juli 1969 zur Welt kommen sollen, doch meine Mutter hatte es verhindert. Sie war in der Nacht vom 20. zum 21. Juli wie Millionen anderer vor dem Fernseher gesessen, hochschwanger, hatte ein Glas Rotwein nach dem anderen getrunken und zum Entsetzen meines Vaters sich eine Zigarette nach der anderen angezündet. Als die Mondlandung vorbei war, hatte mein Vater sie ins Spital gebracht und ich war ohne Komplikationen am 21. Juli 1969 um 8:03 Uhr geboren worden.

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Montecuecoli, Raimondo (Raimund) Graf von (italien. Monte'kukkoli), Reichsfürst und Herzog von Melfi (seit 1679), *Schloß Montecuecolo bei Pavullo nel Frignano (Prov. Modena) 21. Febr. 1609, + Linz 16. Okt. 1680, kaiserl. Feldherr italien. Herkunft.
Ab 1625 im kaiserl. Heeresdienst, erwarb sich M. Verdienste im Dreißigjährigen Krieg und vertrieb während des 1. Nord. Krieges (1655 60) als Feldmarschall zusammen mit dem Großen Kurfürsten die Schweden aus Jütland und Pommern. Als Gouverneur von Raab (1660) errang er im Türkenkrieg 1664 den Sieg bei Sankt Gotthardt. 1668 wurde er Präsident des Hofkriegrats, 1672 75 befehligte er das kaiserl. Heer im Niederl. Frz. Krieg u. a. gegen den Vicomte de Turenne am Rhein und gegen Louis II Conde, der ihn aus dem Elsaß vertrieb. Neben Turenne bed. Militärtheoretiker.

MEYERS ENZYKLOPADISCHES LEXIKON    IN 25 BÄNDEN
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Die 24 Frequentanten unter der Leitung von Major Friedrich Graf von Rohrstein verließen die Kaserne, drei Oberleutnante und ein Kastenwagen folgten.
Zur linken Seite war der Augarten zu sehen, Montecuccoli drehte den Kopf, ganz in der Nähe, nur von einigen Häusern verdeckt, lag das Sommer Palais Montecuccoli, das sein Urgroßvater um 1670 erbauen hatte lassen. Es war ein eher bescheidenes Gebäude, acht Fensterachsen breit und zweigeschossig. Über eine Freitreppe gelangte man von zwei Seiten zum Portal, über dem ein kleiner Zwiebeiturm schwebte. Für Riccardo waren die Sommer seiner Jugend in diesem alten Palais etwas Besonderes gewesen, da war die Familie für wenige Wochen im Jahr zusammen gewesen.
Jetzt war die Leopoldstadt keine sonderlich feine Gegend mehr, die Familie nützte das Palais sehr selten, sein Vater hatte schon mehrfach mit dem Gedanken gespielt, es zu verkaufen, aber die Angebote waren alle nicht zufriedenstellend gewesen. Die Montecuccolis waren sehr vermögend, hatten Besitzungen in Niederösterreich, der Steiermark und in Böhmen, dazu diverse Palais, darunter auch eines in der Wiener Innenstadt.
Riccardo Montecuccoli war manchmal höchst unglücklich darüber, daß sein Urgroßvater ein bedeutender Feldherr gewesen war, der noch dazu einige Bücher verfaßt hatte, die als Standardwerke in der österr. Armee verwendet wurden. Schon im Schoftengymnasium war es ihm unangenehm gewesen, mit Raimondo Montecuccoli konfrontiert zu werden. Im Geschichtsunterricht waren die Taten und Erfolge seines Ahnen in mehreren Stunden eingehend behandelt worden. Inder Wiener Neustädter Akademie war er wieder mit seinem Urgroßvater konfrontiert worden. Die Lehrer erwarteten von ihm weit mehr als von seinen Mitschülern, und oft genug konnte er ihren Erwartungen nicht entsprechen. Riccardo war ohne große Begeisterung Soldat geworden, sein Vater hatte ihn dazu gezwungen, er wollte endlich mal wieder einen Helden in der Familie haben. Zähneknirschend hatte sich Riccardo gefügt, jetzt war er gerne Soldat, aber er war sehr kritisch der Armee gegenüber eingestellt und hatte sich mit seiner Einstellung nicht immer Freunde gemacht. Für ihn war die Führungsspitze eine Schande, da verrichten Greise Dienst, die jüngeren Offiziere hatten keine Chance hochzukommen. Radetzky war sicherlich ein tüchtiger Mann, aber er war nun senil und verkalkt.
Es regnete stärker, als die Gruppe die Prater Hauptallee erreichte, die schnurgerade zum Lusthaus führte. Hier waren die ersten Pferderennen in Wien veranstaltet worden. Jetzt wurden am 1. Mai hier die berühmten Praterfahrten abgehalten. Trotz des Regens waren sie bald von einer Staubwolke eingehüllt. Zwischen Ostern und Allerheiligen mußte die Allee täglich besprengt werden, um die Staubplage einzudämmen. Für diese Arbeiten zog man Kasemattensträfliche heran.
Im Trab ging es nun weiter. Major Friedrich Graf von Rohrstein zügelte sein Pferd und blickte auf die an ihm vorübertrabenden Frequentanten; immer wieder stieß er ein zorniges Knurren aus. Als der letzte an ihm vorbei war, riß er sein Pferd herum und folgte den 24 Reitern.
"Galopp!" brüllte er ihnen zu. "Galopp, meinen Herrn."
Er ließ sie vorbeireiten, dann riß er sein Pferd herum und folgte den 24 Reitern.
Einige der Frequentanten hingen wie Mehlsäcke in den Sätteln, mehr als die Hälfte hatte Mühe, eine halbwegs gute Figur zu bieten. Die meisten waren froh, als sie das am Ende der Hauptalle gelegene Lusthaus erreichten, das bereits 1566 erbaut worden war.
Einige der Offiziere waren außer Atem, ihnen warf der Major verächtliche Blicke zu. Sie ritten rechts am Lusthaus vorbei und erreichten nach wenigen Minuten den Rennplatz.
Der Major formierte drei Gruppen, in die erste kamen die ganz schlechten Reiter, in die zweite jene, die etwas besser waren, und nur sechs Frequentanten bildeten die Spitzengruppe, zu dieser gehörten Montecuccoli und Spielmann und vier Offiziere, die bei Reiter Regimentern dienten.
Der Rennplatz war riesengroß, es gab zwei Bahnen, eine runde, die 2800 m lang war, und in der Mitte eine Steeple Chase-Bahn mit festen Hindernissen, Wassergräben und Hürden.
Aus dem Kastenwagen entstiegen ein Dutzend gemeiner Soldaten, die auf Anordnung der Oberleutnante Hürden auf der runden Bahn aufstellten.
Die sechs Frequentanten absolvierten einen Probesprung über eine etwa ein Meter hohe Hürde, ohne Schwierigkeiten kamen alle hinüber, was die Laune des Majors etwas besserte, die Oberleutnante durften sich mit den minder Begabten herumärgern.
Major Friedrich Graf von Rohrstein kannte die Steeple Chase-Bahn sehr gut, er hatte vor ein paar Jahren an einem Dutzend Rennen teilgenommen und zwei davon gewonnen. Es war seine Idee gewesen, die prachtvolle Anlage, die bis auf wenige Tage im Frühjahr nicht benutzt wurde, für die Armee zu requirieren.
Er ritt auf die Bahn, die sechs Leutnants folgten ihm, er erklärte ihnen der Reihe nach jedes Hindernis, wies sie auf die besonderen Schwierigkeiten hin, die Bahn war für einige heimtückische Steigungen und Senkungen berüchtigt, die vor allem beim ersten Wassergraben besonders unangenehm waren, in dem schon einige Pferde steckengeblieben waren. Der Major ließ sie die Hindernisse anreiten und war sehr zufrieden, da sich alle sechs recht geschickt anstellten.

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Über die Freudenau (früher Fleischhackerwiese)
Die Pferderennen werden heuer zum letzten Mal auf der Simmeringer Bahn abgehalten. Für künftige Jahre wurde zu diesem Zweck die sogenannte Fleischhackerwiese am rechten Ufer des Donauarmes, welcher am Lusthaus im Prater vorüberfließt, gemietet, welcher Platz schon den Vorteil gewährt, daß dann die Zufahrt durch den freundlichen, schattenreichen Prater, am Lusthaus vorbei, stattfindet, wodurch schon das Hingelangen an Ort und Stelle der Wettrennen das Vergnügen einer angenehmen Promenade verschafft. Daß alle Einrichtungen der neuen Bahn Eleganz mit Zweckmäßigkeit in höchstem Grade verbinden werden, dafür leisten der Geschmack und die Sachkenntnis der Unternehmer die vollkommenste Bürgschaft.

Wiener Theater Zeitung (1838, Seite 400)
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An Wochentagen war ich in wenigen Minuten von meiner Wohnung in der Freudenau, an Sonn-  und Feiertagen dauerte es etwas länger, da ich nicht den direkten Weg über die Stadionbrücke nehmen konnte, sondern auf die Autobahn fahren mußte. Fast der ganze Prater war an diesen Tagen für Autos gesperrt.
Der Verkehr war mäßig, ich kam rasch vorwärts. Ich drehte das Radio an, wechselte die Sender, fand aber nichts, was mich interessierte, so legte ich eine Casette ein, die ich aus diversen CDs aufgenommen hatte. Hintereinander sangen ein halbes Dutzend schwarzer Ladies: Ain't no mountain high enough. Auf solche Schmachtfetzen fuhr ich total ab, die Aufnahme mit Tammy Terrell und Marvin Gaye gefiel mir besonders.
Ich nahm die Abfahrt Handelskai und fuhr die Donau entlang, die sich graubraun präsentierte. Ein paar Wolken waren aufgezogen, der Himmel war noch immer hellblau. Es war völlig windstill, die Wolken bewegten sich nicht.
Mein alter Toyota fand den Weg von selbst, nach rechts abbiegen, vorbei am Lusthaus, vorbei am Golf Club, vorbei am Rennbahn Restaurant, durch das weiße Tor hindurch, dessen Farbe abblätterte und auf dem WIENER GALOPP RENNVEREIN stand.
Ich bremste ab, als ein Pferd vom Stallgelände auf die Rennbahn geführt wurde, den Pferdeführer kannte ich, er winkte mir zu, das Pferd kannte ich auch, es war Surfn Turf, mit dem ich vergangenes Jahr einmal gewonnen hatte.
Weiter fuhr ich, links die Rennbahn, rechts der riesige Parkplatz; der Besuch war wie erwartet recht matt.
Ich holte den schweren Sattel aus dem Kofferraum. Das junge Mädchen beim Eingang erkannte mich nicht, so mußte ich meine Legitimationskarte hervorholen. Danach begann das endlose Händeschütteln und Grüßen, das war meine Welt, hier war ich schon im Mutterleib herumgetragen worden. Meine hochschwangere Mutter hatte am 1. Juni 1969 fast eine Frühgeburt gehabt, als sie im Österreichischen Derby Brabant ins Ziel gebrüllt hatte.
Ich ging durch den Absattelring und trat in den kurzen Gang, der zum Abwieger führte, der so wie ich ein Volksschullehrer war, allerdings zwanzig Jahre älter war. Der Raum war spartanisch eingerichtet, links die Waage, davor der einfache Holztisch, an dem der Abwieger saß. Dahinter lag die Tür, die zur Kammer führte, in der der Galopp Sport produziert wurde, rechts die Tür zu den Jockeyräumen, ein Stück weiter jene, hinter der sich die weiblichen Jockeys für die Rennen umzogen.
Harry, das Faktotum der Freudenau begrüßte mich freundlich, alles war in Ordnung. Vor endlosen Zeiten war er von Berlin nach Wien gekommen und hängen geblieben. Er sorgte dafür, daß jeder Reiter die richtigen Renndressen vorfand und die Stiefel glänzten. Ich legte den Sattel auf eine Bank.
So ging ich hinauf zur B Tribüne, wo meine Eltern seit ewigen Zeiten eine Loge hatten, das Grüßen ging weiter. Meine Eltern waren eingetroffen. Ich sah mir das erste Rennen in der Loge an und kehrte zurück ins Jockeyzimmer. Langsam zog ich mich aus und wie jedes Mal kam ich mir ziemlich komisch vor, als ich in die Strumpfhose schlüpfte, aber damit kam man leichter in die Stiefel hinein. Harry reichte mir den Dress, altgold mit grünen Ärmeln. Die Rennfarben des Stalles Pegasus, für den ich schon oft in den Sattel gestiegen war. Hinter dem Stallnamen verbarg sich Axel Melhardt, der Besitzer des berühmten Jazzland, in dem ich schon viele vergnügte Stunden verbracht hatte.
Irgendjemand hatte einen tragbaren Fernseher mitgebracht, unter den Jockeys gab es einige, die sich für den GP von Belgien in Spa interessierten. Der Ton war ziemlich leise eingeschaltet, so konnte man kaum das Dröhnen der Motoren hören und vor allem nicht den dämlichen Kommentar des Reporters.
Um 15:34 verließ ich das Jockeyzimmer, im gleichen Moment, als Michael Schuhmacher als Sieger durchs Ziel fuhr...

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Hellmut Andics
Gründerzeit
Das schwarzgelbe Wien bis 1867
Kapitel 1
Vorspiel auf der Bastei
An diesem 18. Februar stand im Burgtheater Schillers Wallenstein auf dem Programm. Im ebenfalls längst abbruchreifen Kärtnertortheater wurde an diesem Abend die Oper Indra gespielt. Ein eigenes Opernhaus besaß die Haupt  und Residenzstadt nicht. Im Carltheater in der Leopoldstadt gastierte der berühmte englische Schauspiele Ira Ladrige als Othello. Hier war sonst Johann Nestroy zu Hause.
Im Palais Montenuovo in der Innenstadt stellte der Tischlenneister Thonet seine für New York bestimmte Kollektion aus: Vienna bentwood chairs. Stühle aus feucht gebogenem Holz. Als erster hatte der Kaffeesieder Josef Daum sein Lokal Ecke Kohlmarkt und Wallnerstraße, beliebter Treffpunkt hoher Offiziere, mit Thonetstühlen möbliert.
Der Eisenwarenfabrikant Franz Wertheim, der sich eben auf der Wieden eine neue Fabrik bauen ließ, kündigte für den kommenden Tag, den 19. Februar, ein großartiges Spektakel an: Auf der Sandgstetten bei der Fasangasse wollte er öffentlich drei von ihm hergestellte eiserne Geldschränke bis zur Rotglut erhitzen, um die Feuerfestigkeit seiner Produkte zu beweisen.
Die Zeitungsinserate skizzierten auch an diesem 19. Februar 1853 den Wiener Alltag. Ein sprachenkundiger Mann bot 50 Gulden, demjenigen, der ihm eine Dauerstellung in einem Handelsgeschäft verschaffte. Handelsgehilfen mußten sieben Tage pro Woche arbeiten, die Sonntagsruhe war noch nicht erfunden. Ein Zinshaus in der Vorstadt, mit 2.400 Gulden Jahresertrag, wurde um 21.000 Gulden zum Kauf angeboten. Neueste Attraktion: Zahnpasta in Dosen, um 50 Kreuzer. Beim Schwender in Fünfhaus, wo sich die feinen Leute, als Bettler und Vagabunden kostümiert, beim Lumpenball amüsierten, wurde schon um Tischbestellungen für den Heringschmaus am 5. März geboten. Schwenders Hummerarrangements waren berühmt. Den Gästen sollte ein Fiakerverkehr vom Stadtzentrum und zurück den Besuch erleichtern. Acht Kreuzer für eine Fahrt, nachts zehn Kreuzer. Es war Fasching und doch keine lustige Zeit...

© Copyright 1981 by Jugend und Volk, Wien München

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Major Friedrich Graf von Rohrstein ritt auf den Wassergraben zu, der allerdings nur halb gefüllt war.
Riccardo und die fünf anderen Frequentanten sahen höchst interessiert zu, wie der Major das Hindernis nahm. Scheinbar schwerelos sprang der Rappe hinüber ohne sich die Beine naß zu machen.
Der Regen hatte aufgehört, die düsteren Wolken rissen auf, wie zögernd kam die Sonne zum Vorschein.
Nun waren die sechs Leutnante an der Reihe. Zwei der Pferde verweigerten den Sprung und drehten ab und stoben auf die runde Bahn zu. Der dritte Frequentant brachte sein Pferd zum Springen, doch es landete mitten im Wassergraben, blieb einfach stehen und der Reiter segelte in hohem Bogen auf die glitschige Bahn.
Der Major zupfte angewidert seinen Schnauzer, hielt aber sein Temperament im Zügel, er schnaubte nur angewidert.
Spielvogel meisterte das Hindernis ohne Schwierigkeiten, willig sprang sein Gaul hinüber und lief mit gespitzen Ohren weiter.
Der fünfte Leutnant landete im Wassergraben, konnte sich im Sattel halten und das Pferd lief weiter, die flach angelegten Ohren der braunen Stute zeigten allerdings, das sie von dieser Art von Sport nur wenig begeistert war.
Riccardo Montecuccoli war froh, daß er Valerio unter seinen Schenkeln hatte, der großrahmige Fuchs Wallach war der geborene Springer. Interessiert hatte er seinen Artgenossen beim Springen zugesehen. Ohne ihn treiben zu müssen oder gar die Sporen zu geben, galoppierte Valerio auf den Wassergraben zu und landete auf der Bahn, nur die Hinterbeine klatschten ins Wasser. Der Fuchs schnaubte zufrieden und seine Ohren spielten, Riccardo klopfte ihm auf den Hals und lobte ihn mit Worten.
Das Training ging weiter, nun wurde der sogenannte Fliedersprung angegangen, wenn man den überwunden hatte, ging es auf die runde Bahn hinaus. Mit diesem doch recht schwierigen Hindernis hatte keiner der Frequentanten ernsthafte Schwierigkeiten. Weiter Hindernisse wurden erprobt.
Mittags gab es eine Pause.
Die Pferde bekamen zu fressen und durften nach Herzenslust saufen. Für die Soldaten und Offiziere gab es Kaltverpflegung. Zwei Schnitten Brot, ein Stück Hartwurst und ein Stückchen Käse und Wasser aus dem Brunnen.
Spielmann und Montecuccoli setzen sich auf die Tribüne, die sich an ganz anderer Stelle aus heute befanden. Dort wo jetzt der 2000 m Startplatz ist, war sie vor ein paar Jahren erreichtet worden. Sie hatte den argen Nachteil, daß die Zuseher gegen die Sonne blicken mußten uns so oft nicht viel von den Rennen mitbekamen.
Der kalte Wind hatte die Wolken aufgerissen und vertrieben, die schwache Sonne konnte die Luft kaum erwärmen, es war beißend kalt. In ihren feuchten Uniformen fühlten sich alle höchst unwohl.
Innerhalb weniger Minuten hatten alle die karge Mahlzeit beendet, einige steckten sich Zigaretten an und warteten auf die Fortsetzung des Trainings.
Die sechs Frequentanten mußten die Säbel ablegen, es sollte nun ein Steeple Chase Rennen gestartet werden, so wie sie in allen Teilen des Reiches üblich waren.
Die sechs Leutnants nahmen Aufstellung, sie sollten nicht die gesamte Bahn absolvieren, sondern nur etwa die Hälfte.
Als die sechs Pferde annähernd nebeneinander standen, gab der Major das Startzeichen.
Nach hundert Metern auf der runden Bahn zogen Montecuccoli und Spielmann an die Spitze, das hatten sie sich während der kurzen Mittagspause ausgemacht, denn beide hatten keine Lust sich in irgendwelche unnötige Gefahren zu bringen, und für die beiden war es klar, daß zumindest drei ihrer Kollegen arg sturzgefährdet waren.
Nun ging es auf die Steeple Chase-Bahn hinaus, mühelos bewältigen Spielmann und Montecuccoli das erste Hindernis. Hinter ihnen sah es nicht so gut aus.
Ein Pferd kam ins Stolpern und wenig elegant sauste sein Reiter zu Boden, beim zweiten Sprung hatten Spielmann und Montecuccoli bereits einen Vorsprung von etwa sieben Längen, diesmal schafften alle verbliebenen Reiter den Sprung, beim Wassergraben verweigerten die schon bekannten Pferde den Sprung, so waren nur mehr drei Reiter übrig.
In vollem Galopp ging es auf den Fliederstrauch Sprung, Montecuccoli und Spielmann lagen nebeneinander, der dritte verbliebene Leutnant folgte ihnen mit zehn Längen.
"Jetzt wird es ernst", sagte Spielmann. "Ich werde dich schlagen, alter Freund."
"Das glaube ich nicht, Erwin, denn mein Valerio geht um einiges besser als dein Pferd."
"Dafür hat er den besseren Reiter im Sattel!" Erwin lachte und blickte kurz zu seinem Freund hinüber.
Fast gleichauf ging es über das Hindernis, es ging nun scharf nach rechts auf die gerade Bahn zu. Noch immer hatte keiner der zwei einen Vorteil erlangt. Kopf an Kopf ging es auf die runde Bahn.
"Ich gewinne", jublierte Riccardo Montecuccoli, der spürte, daß Valerio über die größten Reserven verfügte.
Langsam ging er in Führung, bald hatte er den Vorsprung auf eine Länge ausgedehnt...
Plötzlich schoß etwas aus dem Boden hervor, es war ein mattes Licht, das sein Pferd einhüllte, das sich verkrampfte, den Kopf hochriß und nach außen galoppierte. Montecuccoli fühlte sich wie in Flammen gehüllt, ihm wurde glühend heiß.
Valerio kippt zur Seite, rutschte aus und donnerte zu Boden, Montecuccoli versuchte seinen Sturz zu verhindern, doch es gelang ihm nicht. Er krachte zu Boden und war augenblicklich bewußtlos.

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Auswiegen
§ 91. Beim Auswiegen hat der Reiter, bei Jockey-Lehrlingen der Trainer bzw. dessen Stellvertreter, das Gewicht anzugeben. Das Gewicht umfaßt den Reiter, die Reitkleidung und den Sattel einschließlich der Bügel, Gurte und Unterlagen. Nummerdecke, Sturzkappe und Peitsche dürfen nicht mitgewogen werden. Zwanzig Minuten vor der für den Start festgesetzten Zeit ist die Waage zu schließen.

RENN REGLEMENT   Jockey Club für Österreich
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Ich ging durch den Absattelplatz hinaus und vorbei an der A-Tribüne, blieb kurz stehen und sah mir auf einem Monitor die eingeblendeten Quoten an. Favoriten waren wie erwartet Stand Your Ground und Gueffe Roma, Sachs war der letzte Außenseiter und stand derzeit 653:10.
Im Führring erwarteten mich bereits der Trainer und Axel Melhardt, der Besitzer, der sich gedankenverloren über den gewaltigen Vollbart strich. Wie üblich gaben sie mir keine letzten Instruktionen mehr. Sachs brauchte ein ruhiges Rennen, was aber nicht hieß, daß ich ihn am Siegen hindern sollte. Alles würde sich während des Rennens entscheiden.
Ich sah mir den Hengst genau an, durch seine Verletzung war er wenig gearbeitet worden und hatte Fett angesetzt, vermutlich würde ihm im Finish die Luft ausgehen.
Das Kommando zum Aufsitzen kam. Wieder war es Routine, die Gurten nachziehen, all das, was ich schon hunderte Male getan hatte. Viele der Pferde mochten nicht die Hitze, dazu gehörte Sachs, der ziemlich stark schwitzte. Innerhalb weniger Sekunden waren die Zügel glitschnaß. Wir kreisten ein paarmal im Führring hin und her, dann ging es hinaus auf die Bahn zum Aufgalopp.
Sachs schüttelte den Kopf, ging gut in die Hand, doch er schwitzte noch mehr, seine Brust war mit weißem Schaum bedeckt. Als wir an den Tribünen vorbei waren, fiel er in Trab. Ich blickte auf die Uhr, es war zehn Minuten vor 16 Uhr.
Christian Bräuer, der auf Hill Climber saß, war schon mehrfacher Amateur Champion gewesen, was mir bisher noch nicht geglückt war. Vor zwei Jahren war ein zweiter Platz meine beste Platzierung gewesen. Wir plauderten belangloses Zeug und erreichten fünf Minuten später die Startmaschine. Zehn Pferde nahmen am Rennen teil, sechs der Vollblüter wurden von Amazonen gesteuert. Seit vergangenem Jahr waren die Programm  und Startnummern identisch, ich hatte Nummer 10, das bedeute, daß ich die äußerste Box zugelost bekommen hatte, eine niedrige Startnummer wäre mir lieber gewesen, doch da das Rennen über 1800 Meter ging, war es ziemlich egal, und bei dieser Hitze, in der Sonne hatte es vermutlich an die 40 Grad, konnte der Außenstart vielleicht sogar ein Vorteil sein. Ich ließ mir mit dem Beziehen der Boxen Zeit, Sachs hatte bis jetzt beim Start keine Probleme gemacht.
Als Ozaria mit Johanna Reich Rohrwig einrückte, sie hatte Startnummer 9, dirigierte ich Sachs auf die Startmaschine zu, ohne Mühe stapfte er hinein.
Franz Schicker stapfte die Wendeltreppe hinauf, die zum Fernsehraum führte. Er war 51 Jahre alt und seit einem abgerochenen Studium mit dem Pferdesport verbunden. Er war der leitenden Redakteur beim Galopp Sport und seit zwei Jahren auch der Rennkommentator. Bis vor zwei Jahren war es meist der ORF-Reporter Erich Weiss gewesen, der die Rennen kommentiert hatte, doch die ORF Mitarbeiter durften nur mit Zustimmung der Geschäftsleitung Nebenjobs annehmen, und dieser war Weiss verweigert worden.
Schicker war nicht unglücklich darüber, da er so sein Gehalt aufbessern konnte. Er betrat den Fernsehraum, von hier aus wurde das Bahnfernsehen koordiniert, auf der Plattform draußen war eine Kamera postiert. Außer dem Fernsehteam agierte hier auch der Zielrichter, von seinem Standplatz aus hatte er den besten Blick über die Rennbahn. Einen Stock höher war die Rennleitung untergebracht.
Seit vielen Jahren wurde im Fernsehraum ein harmloses Spielchen veranstaltet, jeder setzte zehn Schilling ein und nannte seinen erwarteten Sieger für das nächste Rennen, die Reihenfolge der Wetten endete sich, diesmal war Franz Schicker als dritter dran.
Der Zielrichter entschied sich für Stand Your Ground, der Kameramann auf der Plattform wählte Gueffe Roma und Franz Schicker entschied sich für Sachs, was die Kollegen zum Lachen brachte.
Schicker zündete sich eine Zigarette an, hob das Fernglas hoch und blickte hindurch. Einige der Konkurrenten umkreisten schon die Startmaschine, er setzte das Glas ab und studierte nochmals das Programm, die Rennfarben waren ihm schon seit vielen Jahren bekannt, die Pferde kannte er ebenfalls, trotzdem passierte es immer wieder, daß er „falsche Pferde“ sah, das war aber schon berühmteren Kollegen von ihm passiert, vor allem die Reporter, die das Deutsche Derby kommentierten, irrten sich bei Live Übertragungen sehr häufig.
Er nahm Platz und stülpte sich die Hörer um und richtete das Mikrophon.
"Sehr geehrte Damen und Herren, in wenigen Minuten beginnt das dritte Rennen, Favorit ist im Augenblick Stand Your Ground, platzieren Sie noch rechtzeitig Ihre Wetten."
Er blickte durch das Fernglas, fast gleichzeitig rückten drei Pferde ein.
Die Boxen sprangen auf, das Rennen hatte begonnen. Den besten Start hatten Belle Noire und Don Dix erwischt. Ich lag zusammen mit Secret Meadow an letzter Stelle. Sachs pullte ein wenig, ihm schien das Rennen Spaß zu machen.

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Hermann Freytag war immer nervös, wenn sein Sohn einen Ritt hatte, es passierten zwar überraschend wenig Unfälle bei den Rennen, doch gefeit war niemand davor. Ein Maulwurfhügel konnte zur Katastrophe führen, ein unglücklicher Schritt und alles war vorbei. Viel zu oft hatte er in seiner langjährigen Tätigkeit als Handikapper gesehen, wie sich die besten Pferde ein Bein brachen und noch auf der Bahn durch eine Spritze ihr Leben beendeten. Aber auch fürchterlich Stürze von Jockeys hatte er erlebt, einige waren zu Krüppel geworden, davor hatten er und seine Frau immer Angst. Doch bis jetzt war bei Thomas alles glatt gegangen, einmal war er vom Pferd gefallen, doch außer ein paar blauen Flecken war nichts geschehen.
Er setzte das schwere Fernglas an seine Augen und regulierte die Feineinstellung. Überdeutlich konnte er seinen Sohn sehen, der sich Christian Bräuer unterhielt.
Hermann Freytag war stolz auf seinen Sohn, mit 12 hatte er zu reiten begonnen, er war recht talentiert, aber es war ihnen klar geworden, daß er nie ein Berufs Jockey werden konnte, dazu war er zu groß und zu schwer, so entschied sich Thomas für die Amateur Laufbahn neben seinem Studium. Vor zehn Jahren war erstmals in einem Rennen geritten und hatte sich wacker geschlagen, auf dem größten Außenseiter war er dritter geworden, aber er hatte ein Jahr benötigt, bis er seinen ersten Sieg schaffte. Das Championat hatte er nie geschafft, zu schlechte Pferde hatte er reiten müssen, doch das war nicht schlimm für Thomas gewesen, er liebte die Morgenabreit und war froh, wenn er gelegentlich mal einen Ritt bekam.
Die Pferde bezogen die Boxen, wie immer drängte sich Julia an ihn, sie sah sich das Rennen über das Bahnfernsehen ab.
"Start!" hörten sie Franz Schickers Rennkommentar. "Belle Noire und Don Dix sind am besten aus der Box gekommen, sie führen vor Hill Climber, am Ende des Feldes liegen Secret Meadow und Sachs."
Hermann Freytag atmete schwer, der Griff seiner Frau wurde stärker, als Sachs ganz außen seine Position verbesserte...

* * *

Vierhundert Meter nach dem Start ließ ich Sachs gehen, er schob sich ohne Mühe an drei Pferden vorbei. Ich ließ ihn frei laufen, das sah gar nicht so schlecht aus, ich hatte plötzlich das Gefühl, daß eine Platzierung möglich sein konnte.
Im Bogen zur Eingangsgeraden, die achthundert Meter lang war, verbesserten wir uns weiter. Nur mehr drei Pferde lagen vor uns.
Stand Your Ground, Don Dix und Hill Climber war das Führungstrio. Nun hatten wir die Gerade erreicht. Ich munterte Sachs auf, willig zog er an. Nicht zu schnell. Hill Climber überholten wir, Sachs lief hervorragend. Als wir die Stelle erreicht hatten, wo die Steeple Chase Bahn in die Gerade mündete, war nur mehr Stand Your Ground vor uns. Der schien nicht mehr viel zum Zusetzen zu haben. Ich griff nach der Peitsche und bewegte sie, ohne hinzuschlagen, bei den meisten Pferde reichte es schon, wenn man ihnen nur die Peitsche zeigte, da wußten sie, nun wurde es ernst. Ich ritt ihn nun nur mit den Händen, beugte mich weit vor, langsam schoben wir uns an den Führenden heran, dann lagen wir neben ihm. Sieht ganz nach einem unerwarteten Sieg aus, dachte ich.
Ein mattes Licht schoß aus dem Boden hervor, das uns einhüllte, irgend etwas Heißes schoß durch meinen Körper, so als hätte mich ein Blitz getroffen. Sachs riß den Kopf hoch, brach nach außen weg, stolperte und ich flog aus dem Sattel, versuchte den Sturz zu mildern, knallte zu Boden und rollte mich ab, genau vor die Hufe von Hill Climber. Ein Huf schlug gegen meinen Schädel, der Sturzhelm minderte den Schlag, doch ich wurde ohnmächtig, alles drehte sich vor meinen Augen...

Hier endet leider der Anfang der Novelle "Ritt in der Vergangenheit" von Kurt Luif

 

 © Copyright 1997/2017 by Kurt Luif

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