Eine Frage an ... Dietmar Kuegler: Wie war das mit Wyatt Earp?
: Am 19. März 1848 wurde einer der berühmtesten Männer der amerikanischen Pionierzeit geboren, über den inzwischen dermaßen viele Legenden, Mythen und Gerüchte verbreitet sind, dass es schwer ist, sein wahres Leben nachzuverfolgen.
WYATT EARP ist ebenso als großer Held wie als abgrundtiefer Schurke dargestellt worden, wobei die meisten Autoren sich eher nach Sympathien oder Antipathien gerichtet und aus jeweils passenden Quellen voneinander abgeschrieben haben. Interessant sind in der Tat immer die Quellen, aus denen die Schreiber ihre Weisheiten bezogen Damit läßt sich die Spreu vom Weizen einigermaßen trennen. Ich will daher anläßlich der Erinnerung an Wyatt Earps Geburtstag nur ein paar grundsätzliche Bemerkungen zu seiner Person machen, die ein wenig Licht in die Hintergründe der Darstellungen dieser populären Gestalt bringen sollen.
Der „Held“, als der er in zahllosen Romanen und vielen Filmen dargestellt worden ist, war er nicht; aber davon, ein „Schurke“ gewesen zu sein, war er weit entfernt.
Der Kampf im OK Corral, der ihn zur Legende machte, war KEINE private Fehde, wie immer noch manchmal fälschlich behauptet wird. Es ging um die politische und ökonomische Kontrolle über einen der reichsten Minenbezirke im amerikanischen Westen.
Der große texanische Historiker John Boessenecker schrieb 2019: „Wyatt Earp ist bis heute bekannter als der Gründer des FBI, J. Edgar Hoover. Hoover ist nicht so berühmt wie dieser Mann, der im Kern ein an der Frontier vagabundierender Spieler war, dessen gesamte Karriere als Gesetzeshüter nicht mehr als sieben Jahre dauerte. … Aber während Hoover ein Schreibtischfahnder war – mit einigen Ausnahmen - …, war Wyatt Earp ein echter Menschenjäger, ein Revolvermann, ein Sternträger des Wilden Westens.“
Zur Quelleneinordnung: Als die Pionierzeit zu Ende ging, lebten zahlreiche Personen noch, die zeitweise Schlagzeilen gemacht hatten. Das Interesse an den wilden Jahrzehnten im amerikanischen Westen erlebte ab etwa 1910-1920 einen wahren Boom. Eifrige Journalisten und Autoren, die sich davon gute Buchverkäufe versprachen, spürten jede noch so dubiose Gestalt aus den Pionierjahren auf und ließen sich deren Geschichten erzählen, ohne sie zu hinterfragen. So kamen Aussagen vermeintlicher „Zeitzeugen“ zustande, die die Geschichte mehr verzerrten als erhellten. Die meisten dieser alten Männer sahen ihre Chance, die eigene Vergangenheit in glühenden Farben zu schildern und sich selbst eine Bedeutung zuzuschreiben, die sie nie hatten. Mehr noch: Viele dieser Personen hatten eine Menge zu verbergen, und die meisten der Chronisten waren Tagesjournalisten, die nie in den Frontier-Gebieten gewesen waren und nicht die geringste Ahnung hatten, was dort tatsächlich vorgegangen war. Sie schrieben einfach auf, was ihnen erzählt wurde, und ergänzten diese Geschichten noch durch fantasievolle eigene Schilderungen.
So wurde z.B. eine absolut bedeutungslose Prostituierte wie Calamity Jane zu einer „Heldin“; nichts, was sie erzählte oder über sie geschrieben wurde, entsprach den Tatsachen.
So gut wie alle negativen Geschichten über die Brüder Earp stammten von Männern, die mit ihnen zusammengestoßen waren – und das waren eine Menge. Die Earps hatten Polizeiämter in zahlreichen Orten im amerikanischen Westen inne, und sie waren zweifellos „tough guys“ – harte Burschen, die nicht zimperlich mit denen umgingen, die gegen die örtlichen Gesetze verstießen. Als diese Männer im Alter interviewt wurden, sahen sie eine gute Möglichkeit, Rechnungen zu begleichen, zu denen sie in der direkten Konfrontation mit den Earps nie imstande gewesen wären. Die tatsächlichen dunklen Flecken im Leben der Earps sind inzwischen gut dokumentiert und ragen nur wenig aus der Alltagsrealität der Grenzland-Jahre hervor.
Tatsächlich unterschieden sich die geselllschaftlichen und sozialen Standards in der Pionierzeit erheblich von denen im 20. Jahrhundert. Journalisten, die die ersten Bücher über die Zeit der Westbesiedelung schrieben, handelten nicht wie Historiker, die das Verhalten von Menschen in den zeitlichen Rahmen stellen, in dem sie groß geworden waren; sie bezogen nicht das Umfeld und die allgemeinen Zeitstandards in ihre Beurteilungen ein, sondern trafen Bewertungen anhand ihrer eigenen Welt.
Das Berufsbild des Polizisten hatte sich im amerikanischen Osten schon Ende des 19., erst recht aber Anfang des 20. Jahrhunderts gewandelt – von unserer heutigen Zeit nicht zu reden. Ein „Peace Officer“ im amerikanischen Westen während der Pionierzeit ist nur sehr bedingt mit einem Beamten zu vergleichen, wie wir ihn kennen.
Polizisten wurden auf Zeit angeheuert oder gewählt. Ihre Bezahlung war bescheiden. Um leben zu können, benötigten sie „Nebeneinnahmen“. Es gab Townmarshals, die nebenbei ein Geschäft betrieben. Andere verbanden ihre Tätigkeit mit dem Rotlichtmilieu, in dem sie ohnehin als Beamte für Ordnung sorgen mußten. Das war praktisch und meist auch sehr profitabel. Sie besserten ihren Lohn am Spieltisch auf, betrieben Saloons oder waren an Bordellen beteiligt.
Was heute zur sofortigen Entlassung eines solchen Polizisten aus dem Dienst führen würde, war in jenen Jahren Normalität.
Die Earps waren zeitweise äußerst erfolgreich – sowohl als Polizisten als auch als Rotlichtunternehmer und Berufsspieler. Ob sie beispielsweise in Tombstone weitere Nebeneinkünfte hatten – sie wurden fraglos von den Minengesellschaften unterstützt – ist reine Spekulation. Fest steht, das Wyatt Earp an Silberminen und zumindest am „Oriental Saloon“ beteiligt war und ein hohes Einkommen hatte.
Fest steht auch, dass sie sich in Tombstone viele Feinde machten. Aber es gibt keinen Zweifel, dass Virgil Earp als City Marshal untadelig arbeitete. Die juristische Fakultät der University of Arizona untersuchte vor ca. 20 Jahren die Akten des Prozesses gegen die Earps nach dem Duell am O.K.Corral und gelangte zu dem Schluß, dass die Freisprüche vollkommen gerechtfertig waren; die Earps hatten sich rechtlich unanfechtbar verhalten. Nur gegen Doc Holliday blieb der Haftbefehl gültig, weil seine Vereidigung als Deputy Marshal in Zweifel gezogen wurde.
Bürgermeister John Clum, der in seinem Leben als Indianeragent und als Postmeister eine makellose Beamtenlaufbahn vorweisen konnte, schrieb 1929 über Wyatt Earp: „Für mich war er das Idealbild eines ernsthaften Polizisten… Wyatt fürchtete niemanden, der ihm offen entgegentrat… In einigen der fantasievollen Geschichten des Südwestens wurden die Earps als ‚Revolvermänner’ klassifiziert. Das war eine Übertreibung. … Wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, griffen weder Wyatt noch Virgil in ihrer Eigenschaft als Polizeibeamte jemals zu ihren Waffen, es sei denn, das Verhalten von Störenfrieden machte dies erforderlich. Nach meinem besten Wissen hat keiner der Earps jemals einen Schuss innerhalb der Stadtgrenzen von Tombstone abgefeuert, ausgenommen im Kampf mit den Viehdieben am Nachmittag des 26. Oktober 1881…
Virgil Earp war Polizeichef, Wyatt Earp war Deputy United States Marshal, und die Tatsache, dass das Sicherheitskomitee der Bürger gegründet worden war, um sie bei der Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung innerhalb der Stadtgrenzen zu unterstützen, belegte das Vertrauen der führenden Bürger von Tombstone in Virgils und Wyatts Fähigkeiten als loyale und effiziente Polizeibeamte, die unter schweren Bedingungen arbeiteten. Häufig geschah es, dass Polizeibeamte im Grenzland durch den Zwang, sich mit gesetzlosen Elementen ihrer Zeit auseinanderzusetzen, selbst ins Zwielicht gerieten. Bei Wyatt Earp war das der Fall. Während seiner letzten Erkrankung sagte er mir, dass er viele Jahre lang gehofft hatte, dass die Öffentlichkeit solcher Erzählungen, die von Fantasie getragen wurden, müde werden würde.“
Das bestverkaufte Buch über ihn, „Frontier Marshal“ von Stuart N. Lake, war in weiten Teilen eine maßlose Übertreibung, die allerdings nicht von Earp selbst stammte; eher von seiner Frau. In seinen letzten Jahren redete er tatsächlich kaum noch über sein Leben, weil er jedem Reporter misstraute.
2019 – 90 Jahre nach seinem Tod – brachte die University of North Texas Press einen gewaltigen Sammelband über Earps Leben heraus: „LONG MAY HIS STORY BE TOLD… - A WYATT EARP ANTHOLOGIE”. Hier haben über 40 Historiker des amerikanischen Südwestens alles zusammengefasst, was heute dokumentarisch belegbar ist. Darunter sind auch Autoren, die Earp kritisch sehen. Sie alle aber kommen zu dem Schluss: Wyatt Earp wurde – ohne dass es ihm selbst bewusst war – zur perfekten Verkörperung des Westerners der 1870er, 1880er Jahre. Spätere Amerikaner sahen daher in ihm ein Wunschbild von einem Helden der Pionierzeit. Die Verklärung von Menschen ist selten nur faktenbasiert, sondern meistens emotional.
Seine Tätigkeit als Polizist soll hier nur stichwortartig aufgelistet werden:
17. November 1869: Constable von Lamar, Missouri. – Ab Mai 1874 bis April 1876: Policeman in Wichita, Kansas. – Ab Mai 1876 mit Unterbrechungen bis September 1879: Assistant Marshal von Dodge City, Kansas. – Ab Juli 1880: Deputy Sheriff des Pima County, Arizona. (Nachdem er den Stern niedergelegt hatte, war er immer wieder Mitglied von Aufgeboten des County Sheriffs und des Town Marshals.) – 1881: Mehrfach Deputy Marshal von Tombstone. – 30. Dezember 1881 bis April 1882: Deputy US Marshal von Arizona. – Anfang 1900: Zeitweilig Prämienjäger für das Polizeidepartment von Los Angeles, Kalifornien. – Juni 1902: Deputy US Marshal in Nevada. – November 1904: Wahl zum Constable in Cibola, Arizona. – 1920: Special Deputy Sheriff, San Bernardino County, Kalifornien. Daneben war er Frachtwagenfahrer, Postkutschenfahrer, Sicherheitsbeauftragter von Minengesellschaften, Leibwächter des Zeitungskönigs Randolph Hearst, Berufsspieler, Saloon-, Bordell- und Tanzhallenbesitzer, Schiedsrichter von Boxkämpfen, Rennstallbetreiber und Berater von Stummfilmproduktionen, dabei Freund von Legenden wie John Ford, Tom Mix, William S. Hart, Charlie Chaplin, u. a.
Er starb am 13. Januar 1929 in Los Angeles, entweder an Blasen- oder Prostata-Krebs. Die kleine Gemeinde „Earp“ im Osten von Kalifornien ist nach ihm benannt.
Im Folgenden zeige ich einige weniger bekannte Bilder aus Earps Leben.
Dietmar Kuegler gibt viermal im Jahr das »Magazin für Amerikanistik« heraus. Bezug: amerikanistik(at)web.de