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Die Landkarte der Zeit

Cover LAndkarte der ZeitDie Landkarte der Zeit

Die Zeit ist schon ein seltsames Gebilde. Sie fließt mit einer Geschwindigkeit von einer Sekunde pro Sekunde nur in eine Richtung, nämlich aus Vergangenheit zukunftswärts, könnte man sagen. Und jenseits der Phantastik wird das voraussichtlich auch immer so bleiben (lassen wir mal so exotische Orte wie die Halos von Schwarzen Löchern und dergleichen außen vor).

In der Phantastik gibt es indes eine Möglichkeit (wenigstens eine), um dem unentrinnbaren Schicksal ein Schnippchen zu schlagen – nämlich Zeitreisen. Und um solche geht es in dem vorliegenden Buch.

Während die Zeitschrift BRIGITTE auf dem Umschlag mit dem vollmundigen Kommentar „Ein Fest für alle Zeitreise-Fans“ zitiert wird, sei eine Warnung an dieser Stelle angebracht, um nicht zu sehr lange Mienen bei der Lektüre zu provozieren: es geht um Zeitreisen, ja … es geht aber zugleich auch um infame, raffinierte Täuschungen, und beides fließt ineinander. Hängt also eure Erwartungen nicht zu hoch, denkt nicht, ihr befändet euch bei Jack McDevitt1, bei Jack Finney2 oder Simon Hawke3 bzw. bei James P. Hogan4. Ihr seid hier bei Palma, bei einem wortgewaltigen Spanier, und er hat seine ganz eigene Art, mit der Zeitreise umzugehen, wie ihr erleben werdet.

Alles beginnt, scheinbar, im Jahre 1896. Andrew Harrington, ein junger Industriellensohn, „borgt“ sich eine Handfeuerwaffe aus der Sammlung seines Vaters und lässt sich nach Whitechapel bringen, einen verrufenen Londoner Stadtteil, in dem er vor acht Jahren seine Seele und sein Herz verloren hat. Anfangs verliebt in ein Porträt einer wunderschönen Frau, entdeckte er, dass es sich dabei um eine junge Prostituierte aus Whitechapel handelte – und gerade an dem Tag, da er beschloss, sie ungeachtet aller gesellschaftlichen Konventionen zu heiraten, wurde sie das Opfer des blutrünstigen Jack the Ripper.

Was liegt also nun, nach acht Jahren der Seelenqualen, näher, als seinem Leben ebendort, wo sie starb, selbst ein Ende zu setzen? Doch sein Cousin Charles Winslow vereitelt diese drastische Form des Lebensendes und macht ihm bizarre Hoffnung: Vielleicht sei es noch nicht alles zu spät, womöglich könne er die Zeit umschreiben.

Andrew versteht nicht und glaubt es selbst nicht, als er wenig später von Charles von einem neuen Unternehmen in London hört: ZEITREISEN MURRAY. Der Unternehmer Gilliam Murray bietet, so verkündet er es über Flugblätter, eine Reise in die Zukunft, nämlich ins Jahr 2000. Genauer: an den 20. Mai des Jahres 2000, wo in den Ruinen des zerstörten London der stolze Hauptmann Derek Shackleton der finale Zweikampf gegen den Herren der intelligenten Maschinen stattfindet, gegen den finsteren Koloss namens Salomon.Charles bekennt, dass er diese Reise an Bord der „Chronotilus“ schon mitgemacht habe und Augenzeuge dieser Ereignisse wurde. Was also sollte Murray, entsprechende finanzielle Zuwendung vorausgesetzt, daran wohl hindern, seine offensichtliche Zeitmaschine auf das Jahr 1888 zu richten. Dann könnte Andrew in die Mordnacht zurückkehren, Jack the Ripper töten und das Leben seiner Geliebten retten. Ein phantastischer Plan? Ja, natürlich … aber einer, der Hoffnung in Andrews Herzen erzeugt.

Doch Murray verkündet, er sei dazu derzeit außerstande, ein anderes Datum als den 20. Mai 2000 anzusteuern … aber er sei sehr überzeugt davon, dass jemand anderes dem verzweifelten Depressiven helfen könne – und zwar ein Mann namens Herbert George Wells, der ja gerade ein phantastisches Buch vorgelegt habe mit dem Titel „Die Zeitmaschine“. Er habe das so profund getan, dass es ja wohl auf der Hand läge, dass er selbst eine solche Maschine besitze, die die Vergangenheit und Zukunft erkunden könne.
So wird Wells der zweite Notanker …

Im zweiten Teil des Romans wird die Perspektive gewechselt, hinüber vom trübsinnigen Andrew Harrington zur nicht minder vom Leben enttäuschten und gelangweilten Claire Haggerty. Sie ist eine junge Lady aus wohlhabendem Hause, die von ihren Eltern zielstrebig verheiratet werden soll… sie selbst jedoch ist vom Leben, den Männern und eigentlich allem gelangweilt. Als sie durch ihre Freundin Lucy von ZEITREISEN MURRAY hört und dem tobenden Kampf in der Zukunft, da entschließt sie sich im Geheimen, kurzerhand der Zeit, in der sie lebt, zu entfliehen. Sie will ins Jahr 2000 desertieren … dummerweise trifft sie dort den leibhaftigen Hauptmann Derek Shackleton und verliert ihren Schirm – und ihr Herz. Und zurück in London ist sie völlig durcheinander.

Das wird noch deutlich schlimmer, als sie den Hauptmann inkognito schließlich auf einem Marktplatz ihrer Zeit wieder trifft. Und die sich hieraus für beide Seiten ergebende Konfusion hat einen wahnwitzigen, bizarren und auf Lügen aufbauenden Briefwechsel zur Folge, der beinahe ihrer beider Tod zur Folge hat …

Im dritten Handlungsstrang lernen wir eine Person näher kennen, die vorher schon gelegentlich am Rande erwähnt wurde – den Inspektor Colin Garrett von Scotland Yard. Auch er hat, fasziniert von H. G. Wells´ Roman „Die Zeitmaschine“, zwischenzeitlich mit ZEITREISEN MURRAY einen Ausflug ins Jahr 2000 gemacht und dort den Kampf zwischen den letzten Menschen und den intelligenten Maschinen mit angesehen, die die Menschheit nahezu ausgerottet haben. Als Garrett schließlich mit einer Reihe von scheinbar völlig zusammenhanglosen Morden konfrontiert wird, die mit einer Waffe verübt wurden, die es in der Gegenwart überhaupt noch nicht gibt, ist er rasch der Überzeugung, die Lösung des Problems zu kennen: der Mörder stammt aus der Zukunft! Genauer gesagt: aus dem Jahr 2000. Und es ist entweder Hauptmann Shackleton oder einer seiner Männer. Wenn er ihn folglich auf seiner nächsten Zeitreise ins Jahr 2000 kurzerhand festnimmt, wird das „vor“ den Morden passieren, und die Mordopfer werden wieder leben!

Dummerweise erzeugt diese Einstellung ein paar wirklich haarsträubende Probleme. Und ehe Garrett sich versieht, ist nicht nur der monumentale Unternehmer Gilliam Murray in extremen Nöten, sondern die Schriftsteller H. G. Wells, Bram Stoker und Henry James schweben jählings in Lebensgefahr …

Ich versichere euch, dies alles ist nur ein sehr kleiner Teil des voluminösen Romans, und ich habe viele Verflechtungen und Vereindeutigungen fortgelassen, um nicht zuviel zu verraten. Der Roman hat monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste gestanden, und das tat er meiner Überzeugung nach durchaus mit Recht. Er ist phantastisch wortmächtig, wartet mit einer ganzen Palette farbenprächtig und lebendig gestalteter Personen auf und zeigt überdies einen Autor, der sich in der Zielzeit – sei es das Jahr 1888 oder 1896 – wirklich solide auskennt.

Wer sich ein wenig mit den Jack the Ripper-Morden auseinandergesetzt hat wie ich, der erkennt Leute wie Walter Sickert5 wieder oder Inspektor Abberline von Scotland Yard, der kennt die Namen der Mordopfer des Rippers und dergleichen. Einem der unglücklichen Mordopfer haucht er auf wunderbare Weise Leben ein. Es macht darum wirklich Spaß, all diese schrecklichen Dinge einmal gewissermaßen gegen den Kamm frisiert zu lesen, und selbst wenn manche Irritationen zwischendrin auftauchen, spätestens der dritte Teil klärt sie auf. Manch andere Dinge sind neckische Anspielungen des Autors für die Belesenen: so mag man in der „Chronotilus“ die „Nautilus“ Jules Vernes wieder finden, in der monströsen Maschinenzukunft spiegeln sich diskret die „Matrix“-Filme der Wachowskis, und es gibt noch zahlreiche solche Dinge und sicherlich viele, die ich bei der Lektüre nicht wahrnahm.

Ein wenig zähgängig ist der Roman gleichwohl doch und deshalb für den Durchschnittsleser vielleicht ein Abenteuer. Félix J. Palma ist Spanier und steht deshalb vermutlich in der Tradition von Miguel de Cervantes Saavedra6. Das bedeutet: er verschachtelt Geschichten in Geschichten, er erzählt in geradezu epischer Breite und süffisanter Ausführlichkeit. Das ist schon schön zu lesen, aber jemand, der keine ausufernden, seitenlangen Monologe der Protagonisten schätzt – sie kommen hier oft und reichlich vor – , dem ist von der Lektüre vermutlich eher abzuraten. Es ist mitunter ein wenig langatmig, wiewohl nie langweilig, dem Handlungsstrom zu folgen. Und ein gewisses verblüfftes Vergnügen erwächst auch daraus, dass die – eigentlich – drei Romane, die hier in einem erzählt werden, Crossover-Momente aufweisen und manche Geschehnisse andeutungsweise aus verschiedenen Perspektiven aufgezeigt werden. Das hat seinen schriftstellerischen Charme, ohne Frage.

Gleichwohl war ich mit fortschreitender Lektüre des dritten Teils ein wenig enttäuscht. Etwas zu künstlich und bemüht kam mir vor, was da gegen Ende des Romans geschah, wenngleich der Schluss konsequent ist und den Paradoxie-Regeln der Zeitreisen durchaus folgt. Schade fand ich auch, dass der Roman im Grunde genommen auf Seite 714 endet.

Wie, mögt ihr jetzt überrascht ausrufen, das ist ja mehr als 50 Seiten vor Romanschluss! Ja, das hat mich auch irritiert – der Verlag schloss kurzerhand einfach noch den Anfang des Folgeromans „Die Landkarte des Himmels“ an. Natürlich als Appetizer, klar. Berechtigt aus verlegerischem Interesse heraus, absolut begreiflich. Aber so richtig nett fand ich das nicht. Auch hätte ich mir gegen Schluss die Auflösung von ein paar mehr Handlungsrätseln gewünscht. Der Murray-Handlungsstrang wird zum Schluss doch sehr vernachlässigt. Schauen wir, ob wir diesen unglaublichen Charakter, den man eigentlich nicht mögen kann, bald wieder sehen werden. Ich halte das für sehr wahrscheinlich.

Wer also einiges an Stehvermögen hat und einen wortgewaltigen Roman mit vielen, höchst informativen, aber durchaus etwas schwatzhaften Monologen lesen möchte, wer sich wünscht, ins viktorianische Zeitalter einzutauchen und reale und fingierte Zeitreisen zu erleben oder einfach H. G. Wells oder dem unglaublichen Hauptmann Shackleton Guten Tag sagen zu wollen, der ist hier richtig am Platz. Und ja, es gibt eine leidenschaftliche Liebesgeschichte hierin, genau genommen sogar zwei. Und die lohnt es sich zu lesen … auch wenn eine davon auf einer infamen Lüge basiert.

Ich bin echt mal gespannt auf die Fortsetzung, in der es ja um die Invasion vom Mars gehen soll …

 

Die Landkarte der Zeit (OT: El mappa del tiempo)
Autor: Félix J. Palma
Verlag: rororo 25319
Erschienen: 2011
Umfang: 768 Seiten, TB
ISBN 978-3-499-25319-5

 

Anmerkungen:

1: Z. B. in seinem Roman „Zeitreisende sterben nie“.
2:
Z. B. in dem Roman „Von Zeit zu Zeit“.
3: Vgl. dazu seine „Time Wars“-Serie.
4: Etwa in seinem phantastischen Zeitreise- und Parallelweltenroman „Unternehmen Proteus“.
5: Vgl. zu der Vermutung, dass der Maler Walter Sickert der Ripper gewesen sein könnte Patricia Cornwall: „Wer war Jack the Ripper?“
6:
Vgl. dazu Miguel de Cervantes Saavedra: „Don Quixote“.

 

 

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