Indiana Jones mit Bildungsanspruch - Inferno von Dan Brown
Indiana Jones mit Bildungsanspruch
Inferno von Dan Brown
Dieses Mal sind Florenz, Venedig und Istanbul die Städte, in die Robert Langdon von den Ereignissen getrieben wird, imposante Stätten, an denen er die obligatorischen Rätsel lösen muss. Und diese Aufgabe ist so groß wie noch nie: es geht um nichts weniger als die Rettung der Menschheit! Dafür kann man sich schon mal etwas anstrengen, oder?
Bereits an der Beschreibung der Handlung lässt sich erkennen, dass Dan Brown mit Inferno einmal mehr sein Handlungsgerippe benutzt hat, über das er, wie bei einer Kleiderpuppe, ein neues Gewand gezogen hat.
Sollte man eines seiner anderen Werke um die Figur Robert Langdon gelesen haben, kennt man das Konzept:
- Langdon wird in einen mysteriösen Fall hineingezogen, da er als Experte für die Deutung von Symbolen gilt und der einzige erreichbare Kenner ist.
- Durch die Auflösung des ersten Symbol-Geheimnisses wird er auf die Fährte eines Geheimnisses gesetzt, bei dem Langdon mehrfach nur knapp mit dem Leben davonkommt.
- An seiner Seite die unvermeidliche Begleiterin, dieses Mal die schöne, verstörende ... Vittoria, ne ... das war ja Illuminati ... Katherine ... ne, Lost Symbol. Richtig, dieses Mal ist es Sienna Brooks, die selbst genauso mysteriös ist wie der ganze Fall.
- Auf einer Art kulturhistorischen Schnitzeljagd fegt man mit den beiden über die verschiedenen Stationen bis zum großen Showdown.
Dieses Mal heißt der Bösewicht, dessen Plan vereitelt werden muss, Bertrand Zobrist. Zobrist ist Wissenschaftler (Spezialgebiet Biochemie), Dante Alighieri-Verehrer und dank seiner Forschungserfolge Milliardär. Seine Thesen zur Überbevölkerung der Welt schockieren oder faszinieren, vielleicht auch beides zugleich. Logisch nachvollziehbar - und genau in dieser logischen, mathematisch erklärten und nachvollziehbaren Argumentation liegt das Perfide an Zobrists Haltung - legt er dar, dass es nur einen Weg gibt, die Menschheit zu retten: Die radikale Reduzierung der auf der Welt lebenden Menschen.
Und Zobrist hat nichts weniger vor, als genau dies zu tun. Er informiert die Leitung der WHO über seinen Plan - und über diese wird Langdon in das Geschehen involviert. Zunächst jedoch hat Robert Langdon ein ganz anderes Problem. Mit Kopfschmerzen, sogar mit einer Kopfverletzung erwacht der Held in einem Krankenhaus. Und als ob das Ganze nicht schon schlimm genug sei, erwacht Langdon nicht nur in Florenz (wie, um Himmels willen kommt er nach Italien?), ihm fehlt auch noch die Erinnerung an die letzten Tage. Endgültig perfekt ist die Katastrophe, als eine Frau mit einer Waffe in das Zimmer stürzt.
Wie durch ein Wunder kann Langdon entkommen, an seiner Seite die Ärztin Sienna Brooks, und er muss irgendwie herausfinden, was passiert ist. Von hier an beginnt die Jagd, und irgendwie ist nicht klar, ob Robert Langdon und Sienna, die mit ihm kämpft, die Jäger oder die Beute sind.
Inzwischen ist Dan Brown auf seiner Promotiontour in Europa unterwegs und hat auch in Deutschland Halt gemacht. Am 27. Mai fand anlässlich der lit.COLOGNE die einzige Lesung Dan Browns in Deutschland statt.
Angesichts der beeindruckenden Verkaufs- und Vorbestellungszahlen und des Brimboriums, das man um die Übersetzung des Buches machte, ist er ja auch so ein Superstar, dass 1x pro Land wohl ausreicht.
Wobei … dass Dan Brown liest, das stimmte ja gar nicht. Er beantwortete natürlich Fragen, war natürlich selbst persönlich anwesend und saß auf der Bühne, selbst gelesen hat er jedoch aus dem Buch nicht einen Absatz. Das ist zwar verständlich, da man davon ausgehen kann, dass nicht jeder Anwesende Englisch versteht, aber innerhalb der auf vier Stunden angesetzten Veranstaltung lediglich eine deutsche Stimme lesen zu lassen, finde ich schon ausgesprochen schade. Es ist schon etwas Besonderes, wenn man den Autoren in seiner Muttersprache lesen hört, wie ich immer wieder erlebt habe. Wer mochte, konnte sich auf Bild.de sogar live den Livestream anschauen(1).
Die Tatsache, dass Dan Brown bei dieser Veranstaltung auch nicht signierte, dürfte wohl nicht wenige Besucher frustriert haben. Insofern bin ich gar nicht so böse darüber, dass ich nicht in Köln war, obwohl ich mich zunächst geärgert hatte, keine Möglichkeit zu einem Besuch zu haben.
Professionell, glatt und dadurch nicht unbedingt lebendig und mitreißend ... dieser Eindruck, den man (i. e. zu von Dan Brown in Köln) in der Welt(2) offenbar gewonnen hat, deckt sich mit meinem Eindruck zu Inferno. Wenngleich das Thema der Eugenik, mit dem er sich in dem Buch angelegt hat ... aber das später (ich habe versprochen, meine intensivere Auseinandersetzung mit dem Buch auf später - auf "nach-dem-Spoiler-Warner" zu verschieben).
Ich habe das Buch mit einer gewissen Befriedigung und gehörigem Runzeln der Augenbrauen gelesen. Zur Befriedigung trugen zwei Dinge bei: Zum einen liest sich der Roman locker, problemlos und unterhaltsam, auch wenn ich weder Florenz noch Istanbul noch Venedig persönlich kenne und beim besten Willen kein Kenner von Dante Alighieri bin, zum anderen erlebte ich die Rätseltour als flüssiger und weniger "gewollt".
Vielen ist Dante (nein, nicht der Fußballer) Alighieri ein Begriff, noch dazu denen mit der humanistisch-latinischen Bildungsvariante, dazu sein Werk "Die Göttliche Komödie". Mit Details sieht es wohl weniger verbreitet aus.
Dante beschreibt seine Vorstellung der Jenseitsreiche(3), die er (unter anderem mit Vergil als seinem Führer) durchschreitet, bis er die Himmel erreicht, wo er endlich seine - im Leben für ihn unerreichbare - Beatrice wiedertrifft. Seine Schilderung von Fegefeuern und den Strafen für die verschiedenen Sünden enthalten die Vorstellungen des Mittelalters, und die Lehren der mittelalterlichen katholischen Kirche flossen, ebenso wie die antike Philosophie, in seine Dichtung ein. Es war die Zeit der moralischen Deutung einer Beziehung mit Gott (statt z. B. Luther mit der Deutung einer persönlichen Beziehung durch Vergebung), wo der Mensch für seine Vergehen büßt und dann, geläutert und moralisch gereinigt, die Schwelle zum Paradies überschreiten darf.
Neben den ausführlichen Beschreibungen der Städte und Sehenswürdigkeiten, in denen sich Robert Langdon und seine Begleiterin Sienna gerade aufhalten, begegnen dem Leser immer wieder Zitate und Deutungen zu Dantes Werk und zu Dante Alighieri als Person. Die Göttliche Komödie und Dantes Leben sind der Nährboden für die Rätsel, denen Robert Langdon sich dieses Mal gegenübersieht.
Die ersten Male, zum Beispiel bei der Erwähnung (und Deutung) der bildlichen Aufarbeitung von Dantes Werk durch Botticelli (der "Höllentrichter")(4) habe ich noch die Illustrationen im Internet nachgeschlagen, und ausgiebig nach den Stellen gesucht, die Brown wie in einer regelrechten Parforcejagd durcheilt. Irgendwann wurde es mir zu viel, zu viel Info, zu viel Sightseeing und zu viele Gedankenexperimente.
Was bei den ersten Büchern noch passend war und spannend, wird hier zu viel, zumindest mir, und ich habe diese Stellen zunehmend öfter einfach großzügig überflogen. So bekommt man natürlich weniger davon mit, WIE Langdon zu seinen Lösungen kommt. Aber etwas anders als in den anderen Romanen, bei denen mehr Inhaltliches in den Rätseln verborgen war als „nur“ der nächste Ort, hatte ich nicht den Eindruck, dass es das Lesevergnügen entscheidend schmälerte.
Für einen Dan-Brown-&-Robert-Langdon-Fan wird Inferno eine passende Fortsetzung sein und er wird sich mit Freude den Seiten widmen. Das Inferno bleibt (wenn man die tendenziell langatmigen Beschreibungen - siehe zuvor - ausblendet) ein recht spannendes Abenteuer im Stil eines Pen-and-Paper-Rollenspiels, bei dem man sich von einer Station zur nächsten vorarbeitet. Es lässt sich unterhaltsam lesen und man fühlt sich gut unterhalten.
Allerdings, um mit einer Freundin zu sprechen, die das Buch ebenfalls auf ihrem Nachttisch liegen hat (und die meine obigen Übersprungshandlungen nicht ausführt): "Ich frag mich, wie die überleben können, wenn die auf der Flucht sind und dauernd Zeit dazu haben, irgendwelche Sehenswürdigkeiten zu beschreiben oder über so Dinge wie Dantes Göttliche Komödie nachzudenken?".
Ich habe überlegt, ob ich Zobrist als einen Psychopathen beschreiben würde; eine solche Tat, die Langdon zu Recht als „genetischen Terrorismus“ bezeichnet, kann man eigentlich nur einem solchen zuschreiben. Während der letzten Kapitel versucht Brown zu klären, warum Zobrist überhaupt diese Fährten und das Video produziert und so hinterlegt hat, dass die WHO diese finden können. Ein Bekennerbrief hätte doch ausgereicht, um deutlich zu machen, wessen Hirns Kind dieser Terrorakt ist. Was Zobrist dazu gebracht hat, diese Schnitzeljagd zu veranstalten, das bleibt mir noch zu wenig klar. Auch wenn ein mit Zobrist sehr emotional verbundener Charakter versucht, die Persönlichkeit von Zobrist darzustellen. Dort erscheint er (natürlich) nicht als Psychopath, beziehungsweise als irrer Terrorist, sondern als zutiefst mitfühlender Mensch, der nichts weiter vorhat, als die Menschheit als Rasse zu retten …
Entsprechend hätte man eigentlich erwarten können, dass Zobrist aufgrund der Überzeugung, mit der er handelt, auch eine Rettung vor seinem Virus verhindert. Vielleicht ist es ja gerade dies, was deutlich macht, dass es keine perfekten Pläne gibt, obwohl, genau genommen …
(So, und da ich der genannten Freundin versprochen habe, nichts über das Ende und die Auflösung des Buches zu schreiben, folgt hier die Spoiler-Warnung – und die Warnung ist ernst gemeint.)
… war der Plan ja doch perfekt. Der Virus, den Sienna als eine „transhumanistische Pest“ bezeichnet, wurde verbreitet, und Zobrist hat dieses Ziel erreicht. Wenn er auch nicht dazu in der Lage sein wird, diesen Erfolg mit dem Menschen zu teilen, der ihm am meisten bedeutet(e). Es ist in der Tat geschehen.
Die radikale Kappung des Wachstums der Rasse Mensch ist es, die Zobrist durch seinen Virus vollzieht. Das Virus ist freigesetzt, die Auswirkungen des Virus unvermeidlich.
Am Ende (Epilog) sitzt Robert Langdon in einem Flugzeug nach Boston, zurück in seine heimatliche Universität, und doch in eine Welt, die sich von Grund auf verändert hat. Während Langdon müde und gemütlich in seinem Flugzeugsitz sitzt, in seinem Dante liest, während der Mond aufgeht, sich eine Wolke vor den Vollmond schiebt … ist durch den Virus alles anders geworden für die Menschen auf der ganzen Welt.
Je öfter ich gerade diese letzten Seiten lese, die Auflösungskapitel, den Nachspann und einige Seiten innerhalb des Buches, auf denen Brown über den Virus und seine Wirkungen schreibt, desto unwohler wird mir.
Dieser „moderne Katalysator für die globale Erneuerung“ (Kapitel 99), so beschreibt Sienna Brooks gegen Ende des Buches den Virus, sorgt für nichts anderes als eine willkürliche, zufällige, von Stand, Vermögen, Intelligenz und Bedeutung unabhängige Unfruchtbarkeit. Jeder dritte Mensch wird steril sein. Für alle Zeiten. Das Gen wirkt zwar rezessiv, wird also nur bei einem kleinen Teil der Menschen zur Wirkung kommen, aber er wird an alle Nachkommen weitergegeben werden.
In Kapitel 50 beschreibt Brown seine Definition einer „Manifestation von Stolz und Hybris“. Wer glaubt, für die Gefahren der Welt unberührbar zu sein, der begeht in seinem Stolz eine der Todsünden (siehe Dante) und ist ein „verleugnender Held“.
Auch Langdon selbst, dies muss er sich eingestehen (Epilog), hat sich dieser Todsünde schuldig gemacht. Wider besseres Wissen hat er sich nicht (mehr oder weniger aktiv) in die Lösung der Probleme dieser Welt (und der Rettung der Menschheit) eingemischt.
In der Sache richtig: Wir müssen uns den Problemen dieser Welt stellen und dürfen nicht die Augen verschließen. Richtig als Warnung an die Leser, aktiv werden zu müssen und nicht mehr ruhig sitzen zu bleiben, während die Menschheit ihre Lebensgrundlage vernichtet, kann die Lösung selbst beim besten Willen nicht in einer Art Eugenik liegen. Dabei ist es mir hier vollkommen egal, ob die Unfruchtbarkeit – wie hier – zufällig auswählt oder staatliche / religiöse / gesellschaftliche … Lenkung dahinter steht. Auch mit der Tatsache, dass es eben NICHT nach Reichtum, Stand etc. geht, kann sich meiner Ansicht nach Dan Brown nicht vor dem Vorwurf retten, den Eugenik-Gedanken als einen möglichen Ansatz der Lösung der Zukunftsprobleme dieser Welt zu sehen. Das Argument, das Brown mit seinem Roman „provozieren“ will, kann ich so nicht stehen lassen.
Denn auch wenn Dan Brown natürlich nicht mit Robert Langdon identisch ist, und ausdrücklich erwähnt wird, dass es ein "Work of Fiction" sei - ich jedenfalls könnte nicht einfach einschlafen, würde vermutlich zwangsläufig irgendwann über dem Grübeln eindösen. Langdon lehnt sich in seinem Sitz zurück, denkt „Zeit zum Schlafen“ und schläft ruhig ein. Am Ende ist alles Schnarchen. Kann und darf das sein? Mich gruselt es.
- 1) bild.de/
- 2) welt.de/
- 3) suite101.de/
- 4) commons.wikimedia.org/
Sowie Dan Brown, Inferno, 2013
Dantes Inferno online: