Kurt, Wasser und das Seelenamt
Kurt, Wasser und das Seelenamt
Doch was Kurt damals gesagt hat und, darüber haben Hermann und ich uns gegenseitig Stillschweigen gegen jedermann gelobt. Was vorher war, in den Sechzigern, dazu kann ich nichts sagen. Ich war nicht dabei. Das gilt nicht nur für die Schriftform wie die Teestunde, sondern auch für gemütliche Plaudereien privat oder auf Cons. Da ich heute so gut wie keinen Alkohol mehr trinke, werden gewisse Dinge irgendwann mit uns sterben - und das ist gut so.
Ja, Trinken und Feiern. Das gehörte damals eigentlich immer dazu. Und nicht nur bei uns. Wenn ich an die Episoden denke, die mir Clark Darlton und andere Perry-Rhodan-Leute der ersten Stunde erzählten - da ging auf jeder Redaktions-Sitzung die Post ab. Da stand kein Tee auf dem Tisch - es sei denn ›Hopfenblütentee‹. Und dazu mussten ein paar Flaschen Jack Daniels auf den Tisch - Walter hatte alle anderen Autoren zum ›Jacky‹ bekehrt - bis auf Peter Ritter - d.h. Peter Terrid. Der trank weiter seinen Calvados.
Es gab mal eine goldene Rhodan-Regel. Wer es bei einem Fan-Treffen schafft, irgendwann so gegen 4 Uhr morgens den Chefredakteur unter den Tisch zu trinken und aufs Zimmer zu transportieren, der schreibt auf jeden Fall einen Perry Rhodan. Ich weiß aber nicht, ob das jemals einer geschafft hat. Nur eins ist klar. Die ›alte Garde‹ war sehr trinkfest - nicht nur bei den Rhodan-Leuten. Auch Kurt Brand erzählte uns so manches Stücklein aus den 50ern und 60ern, die ich jedoch vergessen habe. Sie sind auch nicht wichtig und diese Zeiten sind heute eben vorbei - in dieser Art jedenfalls. Und auf dem letzten Marburg-Con habe ich kaum eine Bierflasche auf dem Tisch gesehen. Bei mir stand auch keine, aber ich musste ja fahren - da habe ich grundsätzlich Null-Alkohol.
Natürlich konnte Kurt Brand - wenn's ums Geschäft ging - auch ganz anders sein. Dann redete er garantiert lupenreines Hochdeutsch ohne seinen rheinschen Akzent - und gleich gar, wenn er Briefe schrieb. Von daher wäre es schon, wenn dieser Schriftverkehr - nach all den Jahren, die dazwischen liegen - hier mal offen gelegt würde. Vor allem, wenn daraus hervor geht, dass Kurt Brand vom Kelter-Verlag ausgenutzt wurde. Aber garantiert nicht nur von diesem Verlag.
Bekanntlich ist Kurt Brand am 10 Mai 1917 in Barmen geboren - und das war meistens einer der Gründe, warum im Mai die Tafelrunde in Kaltern anrückte - so auch im Jahr 1990. Doch diesmal hatte es einen anderen Grund. Im Januar hatten wir uns ja schon alle zur Feier von Jürgen Grasmücks 50sten Geburtstag getroffen. Da war von den Sachen, die ich jetzt erzählen muss, noch nichts zu spüren.
Geistig sehe ich noch die für die Feier engagierte Bauchtänzerin die Kurt Brand aufforderte, mit ihr zu tanzen - was dieser sofort tat und trotz Alter und diversen Korpulenzen wirkte sein Tanz nicht lächerlich, wie das sonst manchmal bei "Publikumstänzen" der Fall ist. Kurt war begeistert und es schienen rund 40 bis 50 Jahre von ihm abgefallen zu sein. Immerhin war er damals schon 73 - aber wie er immer sagte: »Wir haben alle ein Alter - nur einige von uns erreichen es vorher!«
Maria erzählte uns, dass sich Kurt erst kürzlich in der Klinik in Bozen durchchecken ließ - und er den ›Gesundheits-TÜV‹ ohne Beanstandung absolviert hatte. Was Maria dann allerdings Sorgen bereitete war die Tatsache, das Kurt auf der Rückfahrt kurz hinter dem Brenner in Kastelruth von der Autobahn abging und ein Hotelzimmer nahm, um sich auszuruhen. Die etwas mehr als eine Stunde Fahrt bis Kaltern hätte er normalerweise problemlos geschafft.
Zu Hause fand er einen Brief der Klinik vor, er solle noch mal kommen. Man hätte da an seinem Befund etwas gefunden. Um es kurz zu machen, der Arzt in Bozen erklärte Kurt Brand, das er vermutlich noch ungefähr ein Jahr zu leben habe. Wie man das so verdauen kann - das konnte er uns selbst nicht sagen. Aber an diesem Tag hat er das bekannte Foto bei einem Fotografen machen lassen. Ein weiser alter Mann mit weltabgeklärtem Lächeln. So soll ihn die Nachwelt in Erinnerung behalten.
Ja, diese Nachricht schlug bei uns Hellebern dann wie eine Bombe ein. Der erste, der sich anschickte, auf die andere Seite zu gehen. Die Einladung zum 74sten Geburtstag konnte keiner von uns ablehnen - ganz klar. Wir hatten ja schon in der Nacht reingefeiert - Kurt war so in sein Skat-Spiel vertieft, das er den Mitternachts-Termin gar nicht so richtig wahr genommen hatte. Nebenher bemerkt - Kurt Brand spielte leidenschaftlich gern Skat.
»Nächstes Jahr treffen wir uns wieder hier!« klang Kurt Brands Stimme durch das Hotel. »Ich will das einfach schaffen, so lange zu leben und 75 zu werden.« Und auch auf dem im August in Karlsruhe stattfindenden Perry-Rhodan-Con, das Wochenende vom 24. zum 25. August, wollten wir uns treffen. Aber mit mir in den Geburtstag reinfeiern, das ging schon nicht mehr. So gegen 23. Uhr zogen sich die Brands zurück. Kurt, der vorher noch voll da war, ermüdete plötzlich schlagartig. Keiner hat das so recht begriffen - und wir hatten versprochen, keinem was zu sagen, wie es um Kurt wirklich stand.
Im Oktober wurden die Telefonate aus Kaltern immer bedrohlicher. Es war zu spüren, dass es zu Ende ging. Am Wochenende des 3. November - da hat mein Bruder Peter Geburtstag - klingelte das Telefon und Maria sagte: »Wenn ihr Kurt noch mal lebend sehen wollt, müsst ihr kommen.«
Da ich auf dem Rhodan-Con eine Frau aus Nürnberg kennen gelernt hatte, die an diesem Wochenende bei mir war, ging das, weil sie sich bereit erklärte, auf meinen Hund und meine Katzen aufzupassen. Sie hatte Kurt und Maria auf diesem Con natürlich auch kennen gelernt und das war für sie selbstverständlich, bei mir ›Stallwache‹ zu halten.
Herman machte den ›Reise-Marschall‹. Jürgen hatte in dieser Zeit gesundheitliche Probleme und konnte nicht fahren. Also würden Hermann und ich spontan an diesem Wochenende losfahren - am anderen Wochenende sollten Hans Klipp und Werner fahren. Hans war gerade in Verhandlungen mit dem Hauskauf und Werner hatte Roman-Termine. Aber es hat auch von ihnen niemand angenommen, dass es mit Kurt dann auf einmal so schnell ging.
Hermann kam gegen Abend, hat mich in Kassel aufgelesen und dann ging es bis auf diverse Tank-Stops nach Kaltern. Morgens gegen 5 Uhr kamen wir an. Kurt war wach, geisterte durch die Wohnung und freute sich auf ›die Bande‹. Äußerlich sah er so wie immer aus. Aber beim Laufen musste er schon gestützt werden.
Weil er unbedingt wollte, sind wir mit ihm noch einmal runter ins Dorf gefahren. Die Kirche war gerade aus - und die Leute sahen uns nur scheu an. Sie wussten - wir führten einen Sterbenden. Natürlich sind wir in eine Kneipe gegangen - nur gab es diesmal ein ganz anderes Getränk. »Darf ich euch zu einem Wasser einladen« waren Kurt Worte. Ja, und so haben wir eben das letzte Bier auf dem Perry-Rhodan-Con in Karlsruhe getrunken.
Dann saßen wir in der Kneipe direkt am Marktplatz links, wo es ein paar Treppen runter geht (falls jemand mal hin kommt - gleich der Tisch auf der rechten Seite). Wir redeten und Kurt war bester Stimmung. Hermann hatte Postkarten besorgt, die wie an alle anderen von der Tafelrunde schrieben. Natürlich versuchte Kurt, auch für jeden etwas dazu zu schreiben - aber das war durch die Krankheit unleserlich. Die letzte Karte war eine Geburtstagskarte für Peter - das ist das letzte Schriftliche von Kurt Brand.
Wir brachten Kurt dann zurück nach Hause - rechts und links mussten Hermann und ich ihn stützen, in der Wohnung ging es alleine. Maria hatte wie immer ein wunderbares Essen hin gezaubert. In diesem Moment war Kurt Brand völlig klar und wir sprachen über Ren Dhark. Was da gesprochen wurde - siehe oben.
Danach legte sich Kurt wie jeden Tag nach dem Essen ins Bett - siehe ›Bierpatrouille am Nachmittag‹ wie ich sie in der Teestunde der letzten Woche beschrieben habe. Doch die gab es nicht mehr. Hermann und ich schliefen ein paar Stunden im Wohnzimmer auf den Couchen. Der heutige Herausgeber des Zauberspiegel musste ja noch bis Hamburg und hatte an diesem Montag einen Termin.
Als wir wieder wach waren und uns verabschiedeten war Kurt zwar klar und richtete Grüße an alle Freunde aus. Aber durch seine Augen konnte man schon in die Ewigkeit blicken.
»Wir sehen uns, Kurt, hier oder irgendwo!« war unsere übliche Verabschiedung. »Hier oder irgendwo«, waren die letzten Worte, die ich von ihm hörte. Wie es Hermann dann geschafft hat, die Strecke von Kaltern nach Drochtersen durchzuknüppeln, ohne ein paar Stunden Schlaf in Kassel zu tanken, ist eine ganz andere Sache.
Zwei oder drei Stunden, nachdem Hermann und ich abgefahren waren, fiel Kurt Brand ins Koma und wurde in die Klinik nach Bozen gebracht. Aus dem Koma ist er nicht wieder erwacht, sondern hinüber gegangen. Am 8. November 1991 ist Kurt Brand in Kaltern gestorben.
Wieder glühten die Telefon-Drähte. Hermann und ich würden zusammen fahren, dazu Werner und Heike. Hans hatte Probleme wegen dem Hauskauf und Jürgen wollten wir das erst gar nicht zumuten. Eine Beerdigung in Kaltern hätte es fast nicht gegeben. Erst als der dortige Pfarrer fest stellte, dass Kurt Brand nicht aus der Kirche ausgetreten war - obwohl er sich uns gegenüber immer als Heide bezeichnete - aber in gewisser Weise waren (und sind) wir das ja alle - konnte er in Kaltern auch seine letzte Ruhestätte finden.
Es gab sogar in der Hauptkirche von Kaltern ein Seelen-Amt für ihn, also ein Katholischer Gottesdienst mit allem drum und dran. Der sehr schlichte Sarg stand vor dem Altar und geistig habe ich Kurt daneben gesehen, lachend wie immer und mit dem Worte. »Ennäh, dat han ich ennit jewollt.« Dann wurde der Sarg auf einen Wagen geladen und von Hand zum Friedhof gefahren. Der Polizist - jener, der Kurt den zweiten italienischen Führerschein besorgte - sperrte kurzzeitig für die Prozession den Verkehr. Ja, Prozession. Die Kirche war nämlich voll bis auf den letzten Platz. Und alle gingen mit zum Friedhof. Voran Hochwürden mit Kreuz und Ministranten. Und irgendwo weiter hinten, ein paar Klageweiber, die wirklich jammerten.
Wir Helleber mit Maria als ›Familie‹ hinter dem Seelenhirten mit seinen Gefolge. Auf dem Friedhof vor dem ausgehobenen Grab blieb der Sarg stehen. Nach der Aussegnung des Pfarrers gingen alle und nur wir blieben noch etwas stehen. Ich berührte noch mal den Sarg, bevor ich dann auch ging und die Erde unseren Freund nun endgültig aufnahm.
Wer Kurt Brands Grab suchen will, muss sich vermutlich beeilen, denn nach 25 Jahren wird die Grabstätte eingeebnet. Und das dauert nicht mehr lange. Am Abend haben Hermann und ich dann Kurts letzte Zigarren geraucht und den kleinen Rest aus seiner Whisky-Flasche ausgetrunken. Dann haben wir Pläne gemacht, weil Maria zurück nach Deutschland wollte. Und ihren Umzug haben wir auch mit ein paar Freunden dann gemacht. Über die Jahre ist allerdings der Kontakt zu Maria abgebrochen. Warum? Siehe oben...
Und damit ist auch die Teestunde so gut wie am Ende. Es ist wirklich alles erzählt, was es zu erzählen gab. Ob es des Erzählens wert war, entscheidet der Leser. Und andere Dinge werden eben mit mir und Hermann begraben - sofern sie nicht in der ›Letzten Teestunde‹ gebracht werden. Doch wer alles genau gelesen hat, wird auch da nicht überrascht sein - am wenigsten die Leute aus dem damaligen Fandom. Und für diese ›Letzte Teestunde‹ lohnt es sich dann nicht, Kommentare zu schreiben. Weil sie nämlich erst dann erscheinen wird, wenn ich nicht mehr da bin. Und ich hoffe, dass das noch einige Jahre dauert ...
Nächste Woche stimmen wir uns dann auf die Geschichten aus der Geschichte des alten Rom aus der Zeit der ersten Cäsaren ein - »Das wahre Satyricon«.
Bis dann also ...