Sieben gegen die Hölle - Jan Falkenberg (Teil 5)
Sieben gegen die Hölle
Jan Falkenberg (Teil 5)
Er drehte den Fahrersitz etwas flacher und verschloss dann die Tür. Einzig das Seitenfenster ließ er einen kleinen Spalt offen. Er döste vor sich hin und wäre auch tiefer eingeschlafen, aber einsetzender Regen wehte in das Wageninnere und weckte ihn. Er kurbelte die Scheibe wieder hoch und gähnte herzhaft. Es war nur ein kurzer Schauer, den er allerdings abwartete. Dann griff er nach dem Zündschlüssel, den er stecken gelassen hatte. Bevor er ihn umdrehte, rekapitulierte er in Gedanken noch einmal alles.
Er hatte eine Aufgabe und ein Ziel. Ein Endziel, denn die Zwischenetappen waren ihm noch unklar. Wobei er Trier ja jetzt von seiner Liste streichen konnte. Er war froh, dass sein Ausflug in den Dom so glimpflich abgelaufen war. Wie sollte es jetzt weiter gehen? Sein einziger Anhaltspunkt war im Grunde der unbekannte Legionär. Aber wie sollte er diesen Hinweis entschlüsseln? Wie konnte er dessen Auftauchen in das Rätsel integrieren, so dass es Sinn ergab? Von alleine würde er keine Antwort finden, das erkannte schnell.
Die einfachste Anlaufstelle bot ihm wieder das Internet. Hier im Auto natürlich nicht, da hatte er keinen Empfang. Er benötigte ein freies Netzwerk. Die halbe Strecke zurück nach Germerode hatte er schon hinter sich gebracht. Er befand sich etwa auf der Höhe von Wetzlar. Von früheren Aufenthalten dort wusste er, dass dort auch einige Restaurants einer bekannten Fast-Food-Kette ansässig waren. In den Lokalen mit dem großen, goldenen M konnte man seit einiger Zeit gratis im Internet surfen. Und dort konnte er auch noch etwas essen. Der zweite Schokoriegel war keine einladende Alternative. Schnell tippte er das gewünschte Ziel in sein Navi. Gleich drei Standorte wurden ihm angeboten. Er entschied sich für den am nächsten gelegenen. Dort angekommen gönnte er sich einen Hamburger und einen Milch-Shake und zog sich dann in hinterletzte Ecke der Gaststätte zurück. Tatsächlich kam er hier problemlos ins Internet und auch sein Akku hatte noch genug Strom.
„Dann wollen wir doch mal.“
Schnell hatte er unzählige Tabs geöffnet und las sich durch verschiedenste Einträge auf Wikipedia, Fachseiten und Touristeninformationen. So kam er nicht weiter. Die Fülle an Informationen wurde immer unübersichtlicher und schon bald konnte er nicht mehr sagen, ob er diese oder jene Seite schon angesehen hatte. Er schloss alle Fenster und fing von vorne an. Die heißeste Spur war der Legionär, den er entdeckt hatte. Er betrachtete verschiedenste Abbildungen von Legionärsuniformen, aber meist waren sie schemenhaft und nicht sehr detailliert. Dann gab er wieder die Standorte der heiligen Nägel ein. Und endlich schien er einen Zusammenhang zu entdecken! In der Wiener Hofburg wurde die heilige Lanze aufbewahrt. Sie gehörte zu den Insignien des heiligen römischen Reiches. Der Legende nach überprüfte der römische Hauptmann Longinus damit den Tod Jesu Christi. Später sollte sie dann in den Besitz von Mauritius gekommen sein, ebenfalls ein Legionär. Er war Anführer der thebaischen Legion, die den Märtyertod erlitt, da sie nicht gegen ihre christlichen Brüder kämpfen wollte. War das der Missing Link? Zu dem Todesort von Mauritius fand er verschiedenste Angaben. Einmal sollte das Ende der Legion in der Nähe von Trier stattgefunden haben, was natürlich passen würde. Allerdings hatte der Römer, den er im Trierer Dom gesehen hatte, eindeutig zu erkennen gegeben, dass diese Spur ins Leere lief. Blieb Wien übrig? Nichts als einziger Ort, aber zumindest im Augenblick als der wahrscheinlichste. Er sah in die Glasscheibe an seiner rechten Seite. Fast, als würde er hoffen, dass der Römer nun darin zu erkennen wäre und ihm seine Vermutung bestätigte. Aber er konnte nur den kleinen Spielplatz vor dem Lokal erkennen.
Plötzlich meldete sich die Stimme der Vernunft wieder in ihm
Und wie stellst du dir das jetzt vor? Du fliegst nach Wien, marschierst in die Schatzkammer in der Hofburg und leihst dir mal kurz die Lanze aus?
Zumindest sagte die Stimme nicht, dass er völlig verrückt wäre. Im Gegenteil gab sie ihm mit dem Flug ja schon fast einen Hinweis. Der Flughafen in Frankfurt war nicht weit entfernt. Er rief dessen Homepage auf und suchte nach einem Flug in die österreichische Hauptstadt. Tatsächlich fand er einen günstigen Flug bei einer Billig-Airline. Und er ging noch heute. Wenn das kein Zeichen war!
Ein Gefühl der Zufriedenheit erfüllte ihn. Er buchte den Flug online und ließ sich die Tickets am Schalter am Flughafen hinterlegen. Er leerte den Milchschake, fuhr den Laptop herunter und fuhr in Richtung Flughafen.
Dort hatte er nur wenig Aufenthalt und auch die Flugzeit von knapp achtzig Minuten bis ins Nachbarland verging in rasender Geschwindigkeit. Von dort wiederum waren es nur etwas mehr als zwanzig Kilometer bis in die Wiener Innenstadt, so dass er nach insgesamt knapp vier Stunden mit dem Laptop im Rucksack vor der Wiener Hofburg stand. Ein Reiseführer, den er am Flughafen erstanden hatte, informierte ihn ausreichend über die nötigen historischen Fakten. Die gesamte Anlage war größer, als er sie sich vorgestellt hatte, doch den Eingang zum Museum mit der Schatzkammer fand er schnell. Er war froh, dass er kein Geld mehr hatte tauschen müssen, so wie früher und zahlte die zwölf Euro Eintritt. Die vom Verkäufer unter breitestem Wiener Schmäh angebotene Jahreskarte lehnte er dankend ab. Die Ausstellung war in verschiedene Bereiche aufgeteilt. Obwohl die Zeit eilte, denn das Ende der Öffnungszeiten nahte, gönnte er sich einen kompletten Rundgang durch die Säle. Ein Infoflyer, den er zusammen mit der Eintrittskarte erhalten hatte, wies ihn darauf hin, dass es sogar eine Schale gab, die man für den heiligen Gral gehalten hatte.
Wahrscheinlich gab es aber auch davon genug, um ein zwölfteiliges Service anbieten zu können. Neben dieser für den Gral ausgegebenen Achatschale befand sich nur noch ein weiteres Stück in der Ausstellung, welches den Titel „unverkäufliches Erbstück des Hauses Habsburg“ trug. Der Zahn eines Narwals, ehedem für das Horn eines Einhorns gehalten. Jan musste über diese Vorstellung schmunzeln. Ein Einhorn, warum eigentlich nicht? Da sich diese Kammer fast am Ende der Fläche befand, musste er wieder ein Stück zurück. Kurz darauf befand er sich in der Schatzkammer, in der sich die Insignien des heiligen römischen Reiches befanden. Neben der Reichskrone und dem Reichsapfel eben auch jene heilige Lanze, in der angeblich einer der Nägel vom Kreuze Christi verarbeitet sein sollte. Im Vergleich zu dem Behältnis im Trierer Dom war sie nahezu unscheinbar.
„Die spinnen, die Römer“, entfuhr ihm ein bekannter Spruch eines noch bekannteren Galliers.
Die Lanze war nicht zur Gänze erhalten, einzig ein etwa einen halben Meter großes Metallstück war zu sehen. In der Mitte der Waffe war ein Spalt herausgetrennt, in den wiederum der heilige Nagel eingearbeitet und mit Silberdraht befestigt war. War er am Ziel? Er kniff die Augen zusammen und hoffte, dass sich der Römer zeigte. Wieder ließ sich die erhoffte Erscheinung nicht blicken. Plötzlich gellte ein Schrei durch das Museum. Jan zuckte zusammen. Was war das gewesen? Er war beinahe alleine im Museum, es würde in weniger als fünfzehn Minuten schließen. Er wartete ab, ob sich der Schrei wiederholte. Das war nicht der Fall, dafür hörte er harte Schritte auf dem Boden, die so gar nicht hierhin passen wollten. Wie in fast allen Museen der Welt gingen die Besucher meist vorsichtig und unterhielten sich nur flüsternd. Mit angehaltenem Atem erwartete er die Ankunft des Rennenden. Kurz darauf stürzte der ältere Mann, der ihm die Eintrittskarte verkauft hatte, in den Raum. Seine Augen waren weit aufgerissen und seine Miene vor Angst verzerrt. Als er Jan entdeckte, bremste er seinen Lauf. Keuchend und mit wankenden Schritten kam er auf ihn zu. Als er direkt vor ihm stand, hielt er an.
„Was ist denn passiert?“, fragte Jan den Verkäufer. „Haben Sie so grauenhaft geschrien?“
Der Mann wollte antworten, aber war noch nicht zu Atem gekommen. Daher nickte er nur.
„Aber warum zur Hölle denn?“
Der Museumsangestellte war so weit zu Luft gekommen, dass er reden konnte.
„Zur Hölle, das ist gut“, brachte er gepresst hervor.
„Was soll das heißen?“
Bevor er weiter redete, schüttelte der Mann den Kopf. So, als würde er selbst nicht glauben, was er berichten wollte.
„So reden Sie doch schon“, forderte Jan den anderen auf.
„Die Toten.“
„Welche Toten? Lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen.“
„Die Toten.“ Er wurde nicht genauer. „Sie sind wieder da.“
War der Mann verrückt?
Verrückter als du selbst?
Vorhin hatte er noch einen ganz normalen und ruhigen Eindruck auf ihn gemacht. Jan schüttelte jetzt ebenfalls den Kopf. Wo sollte das alles noch hinführen?
Auf einmal hörte er ein seltsames Klappern. So, als würde jemand mit Stöckelschuhen durch die Gänge laufen. Der Mann schrie auf und wirbelte herum Mit zwei schnellen Schritten war er hinter Jan und krallte sich schmerzhaft in dessen Schultern.
„Hey, das tut weh! Lassen Sie mich los!“
Jan versuchte die verkrampften Hände von seinen Schultern zu lösen, aber der Mann schien ungeheure Kräfte zu entwickeln. Um der Umklammerung zu entgehen schälte er sich gänzlich aus seiner Jacke. Erst jetzt fand er wieder die Ruhe um sich zu konzentrieren. Das Wimmern des ihm namentlich Unbekannten, in dem er vereinzelte Worte zu erkennen glaubte, machte es ihm nicht leichter.
„Seien Sie doch mal still, verdammt!“, forderte er und tatsächlich hielt der Mann den Mund. Jetzt konnte er das Klackern wieder lauter hören. Es war schon deutlich näher. Bald würde sein – oder seine? - Verursacher diesen Ausstellungsraum erreichen. Dann fiel ein Schatten durch die offen stehende Tür. Jan stockte der Atem.
„Oh mein Gott!“, entfuhr es ihm.