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Sieben gegen die Hölle - Lena (Teil 1)

Sieben gegen die HölleSieben gegen die Hölle

Lena (Teil 1)
1. Ring of Fire
Der Song des Tages war „Ring of Fire“. Die tiefe Stimme von Johnny Cash klang aus den Ohrstöpseln, als Lena ihren mobilen Musikplayer startete. Der Zufallsgenerator hatte von den vielen Liedern, die eingespeichert waren, gerade dieses gewählt. Lena liebte das Spiel, jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit oder auch zwischendurch aufs Geratewohl ein Lied zu hören und zu überlegen, wie es zu den aktuellen Ereignissen um sie herum passte.


Dabei hatte sie herausgefunden, dass man nur lange genug suchen musste, bis sich eine Verbindung zeigte, die wie ein Orakel wirken konnte.  Doch heute rätselte sie vergeblich. Der stete Regen hätte ein Feuer, ringförmig oder anders, sofort gelöscht.

Sie erreichte den Parkplatz des Verlagsgebäudes und rannte bis von ihrem Auto bis zum Haupteingang. Trotzdem war sie ordentlich nass, bevor sie das schützende Vordach erreicht hatte. "Toll! Typisch Montagmorgen.", schimpfte sie vor sich hin. Sie konnte viel ertragen, aber nasse Socken hasste sie von Herzen.

Als Lena in die Redaktion des Tageblattes kam und noch das Wasser aus ihren langen, braunen Haaren wrang, winkte der Chefredakteur sie gleich zu sich. Ein älterer Kollege stand neben dem Schreibtisch des Vorgesetzten und redete zeigte auf den Monitor. Was er dazu sagte, konnte Lena auf die Entfernung nicht verstehen. Weitere Kollegen blickten neugierig von ihren Schreibtischen auf und reckten die Hälse, um durch die Scheiben in der oberen Wandhälfte das kleine Gelass des Häuptlings blicken zu können. Der wirkte gehetzt, fast panisch, während Udo jetzt die Hände tief in den Taschen seiner hellbraunen Cordweste vergraben hatte und eine besorgte Miene zur Schau trug.

„Kannst du ein paar Sachen zusammenpacken und für die nächsten Tage mit Udo am Hohen Meißner recherchieren?“, platzte der Chef ohne Vorrede raus.

„He, Moment mal!“, protestierte sie verblüfft. „Was ist denn da los?“ Normalerweise waren Auswärtsrecherchen, womöglich mit Übernachtung der Redakteure, beim Tageblatt eine Seltenheit, schon wegen der anfallenden Kosten. Es musste also eine große Sache sein, wenn sie gleich zu zweit ausrücken und einige Tage bleiben sollten.

Der Boss überließ es Udo, ihr den Sachverhalt zu erklären und hackte hektisch mit den Fingern auf die Tastatur.

„Am Hohen Meißner rutscht ein Hang talwärts. Es hat schon Schäden gegeben und kann noch richtig schlimm werden. Vor allem, wenn es weiter so gießt.“ „Zuverlässige Quelle?“, fragte sie. Udo wischte sich über die immer höher werdende Stirn und nickte:  „Ein Vetter von meiner Frau wohnt ganz in der Nähe von diesem Hang.“

„Wie wäre es, wenn ihr euch gleich auf den Weg macht? Ich will das unbedingt als erstes bringen, vor dem Landboten und den Überregionalen. Wenn ihr ankommt, schickt gleich mal ein paar Fotos mit kurzem Text. Dann kommt es noch morgen rein. Ausführlichen Bericht könnt ihr dann für übermorgen mailen.“

Lena fuhr und Udo lehnte sich im Sitz zurück. Sie bog zügig auf die  Bundesstraße ein und gab Gas. Die Scheibenwischer mühten sich mit dem unermüdlich fallenden Regen ab. "Will das denn gar nicht aufhören?" dachte Lena genervt. Dann fragte sie den Kollegen:

„Haben deine Verwandten was Genaues erzählt?" Udo hob die Schultern. "Wir haben nur ganz kurz telefonieren können, dann wurden wir unterbrochen. Ich habe gegoogelt, bevor du in die Redaktion gekommen bist. Die Ausdrucke habe ich mitgenommen, aber noch nicht alles gelesen. Soviel habe ich schon mitgekriegt: Erdrutsche kommen da öfter mal vor. Der ganze Berg hat eine 150 m dicke Basaltschicht über der Kuppe, darunter liegen ergiebige  Braunkohleflöze, aus denen seit Jahrhunderten abgebaut wird. Gelegentlich stürzt mal ein alter Stollen ein und reißt Erde und Bäume mit. Der Basalt hat außerdem viele Ritzen, in die Wasser eindringt. Wenn das gefriert, sprengt das Eis den Fels und dicke Steinbrocken poltern abwärts. Es gibt da unzählige Stellen, wo man unterhalb einer solchen Wand die Basalttrümmer herumliegen."

"Wurden dabei auch schon Häuser und Dörfer beschädigt?", wollte Lena wissen.  "Ja." Udo zog aus der Tasche einige bedruckte Papiere und suchte mit dem Finger eine bestimmte Stelle. "Da gab es mal eine kleine Bergbausiedlung namens Schwalbenthal. 1907,  nicht lange nach der Stillegung des Stollens, kam es zu einem Erdrutsch, der die Häuser so stark beschädigt hat, dass sie abgerissen werden mussten. Nur das Bergamtsgebäude konnte gerettet werden, weil der Keller und die Fundamente abgestützt wurden. Das Gebäude ist heute ein Gasthaus, aber das ist auch nicht dauerhaft aus dem Schneider, weil der Berg weiter in Bewegung ist. Aus Sicherheitsgründen wurde das Gasthaus geschlossen. Mit großangelegten Baumaßnahmen und Rettungsankern könnte man das Gasthaus absichern, aber keiner will zuständig sein und die Behörden streiten juristisch herum, wer was tun soll. In den 1980er Jahren rutschte der Berg unterhalb von Schwalbenthal weiter und zerstörte ein Gebäude des Skiclubs."

Eine echte Reporterin will natürlich die Hintergründe kennen und fragt weiter. Udo, dem es selbst nicht anders ging, überflog den weiteren Text und berichtete dann: "Weiter oben auf dem Berg ist durch den Kohleabbau eine Art große Wanne entstanden, die sich mit Wasser gefüllt hat, der Kalbesee. Das Wasser sickert in den Berg ein und tritt an anderer Stelle wieder aus, vermutlich bei Stollenöffnungen. Das verursacht die Abstürze bei Schwalbenthal und dürfte auch für eine Schlammlawine 1891 bei Germerode verantwortlich sein."

Er seufzte und blätterte weiter. "Nahe der Kitzkammer oberhalb von Hausen ist Anfang der 1960er ein alter Stollen eingestürzt und dann hat sich der Hang samt Erde und Wald abwärts gewälzt. Nur durch massive nächtliche Erd- und Bauarbeiten wurde das Dorf davor bewahrt, unter dem Schlamm begraben zu werden. Die Folgen sieht man heute noch in der Waldschlucht, wo die Bäume kreuz und quer auf Erdbuckeln wachsen. Wir waren mal da wandern, deshalb kenne ich die Stelle. Aber jetzt ist wieder ein anderer Hang in Bewegung. Warum, dazu gibt es noch eine Info. Soweit ich verstanden habe, ist da kein Stollen direkt drunter. Ich rufe Kurt und Elke noch mal an, was sich inzwischen getan hat. Kurt wollte zu einer Versammlung, bei der die Bürger informiert werden sollen. Vielleicht ist er schon zurück und sie wissen mehr. “
Damit tippte er die Nummer auf seinem Handy ein und meldete sich nach einem Moment. „ Hallo Elke. Ist Kurt schon zurück? Nein? Wie ist die Lage?“

Kurz darauf erstattete er Lena Bericht. „Noch hält der Großteil vom Hang, weil noch ein paar Bäume stehen geblieben sind und ein paar Felsen Halt geben. Aber wenn der Regen anhält, wird es gefährlich. Zwei Bauernhöfe sind schon evakuiert, mit Kühen und Schafen und allem. Eine Straße ist gesperrt, weil ein Stück davon weggebrochen ist, nach den Wanderwegen guckt im Moment keiner, aber davon dürften mehrere hinüber sein. Feuerwehr, THW und ein paar Experten beratschlagen, was sie machen können. Viel ist noch nicht dabei rausgekommen.“

Sie hatten etwa zwei Stunden zu fahren, bis sie am Hohen Meißner ankamen. Kurt rief etwas später an und berichtete was bei der Versammlung passiert war. Dort waren  die Fäuste geflogen, soviel bekam Lena mit, bevor die Stimme aus dem Handy leiser wurde. Udos Gesicht verriet erst Überraschung, dann Bestürzung und schließlich Wut, während er zuhörte. Nachdem das Gespräch beendet war, berichtete er fassungslos.

"Da ist in den letzten Monaten einiges gelaufen, was zum Himmel stinkt, wie es aussieht. Die örtlichen Geldsäcke wollen das Skigebiet vergrößern und haben dafür große Waldflächen abgeholzt. Der Hohe Meißner ist zwar Naturpark, aber das hat nichts geholfen, zumal die örtliche Politik selber ganz versessen auf die neuen Pisten war. Die hatten alle das Eurozeichen in den Augen und den Naturschutz haben sie total ausgehebelt.

Dabei  haben die Verantwortlichen einfallsreich getrickst. Offiziell haben sie verkündet, dass die Bäume von Schädlingen befallen wären und schnell gefällt werden müssten, bevor das Viehzeug sich über das ganze Land ausbreitet. Aber im Hintergrund war von Anfang an klar, dass nicht mehr neu aufgeforstet werden sollte, sondern die Aufträge für die Lifte waren schon vergeben und die Pläne für neue Hotels und anderes längst fertig. Die Bevölkerung hat davon nichts geahnt, sonst wären sicher einige auf die Barrikaden gegangen." Er schluckte trocken und suchte in seiner Tasche nach der Wasserflasche.

Lena hatte stirnrunzelnd zugehört und schlug sich empört mit der flachen Hand auf den Schenkel. "Und das geht einfach so? Keiner hat Verdacht geschöpft?" Der Kollege trank gierig und antwortete dann. "Die haben angeblich sogar einige Bäume absichtlich mit Ungeziefer infiziert und dann die Bilder veröffentlicht. Nicht mal der Förster hatte einen Argwohn, dass da manipuliert worden ist.

Einer von den Handlangern hat aber die Seiten gewechselt, als ihm klar wurde, dass der baumlose Hang sein eigenes Haus verschlingen wird. Bei der Versammlung hat er alles ausgeplaudert und da hätten ihn einige der anderen beinahe erschlagen. Er konnte mit knapper Not flüchten."  

Die Reporterin stieß pfeifend die Luft aus. "Das ist echt ´ne große Story. Aber für die Leute, die unschuldig ihr Heim verlieren, ist das schlimm.
Das kann man sich gar nicht vorstellen, dass jemand so was macht, wo doch sowieso ständig Gefahr besteht, dass alles abgeht! Ist schon was unternommen, um den Hang zu befestigen?“
„Experten sind auf dem Weg, die mit speziellen Geräten die Bewegung von Erde und Gestein messen können. Ansonsten richten einige Bürger eilig eine Mauer oberhalb vom Dorf auf, aber die kann höchstens die einzelnen, losen Steine von den Häusern fernhalten. Es rollen nämlich schon so einige Brocken runter, zwei Autos und ein Gartenhaus sind demoliert und dicke Steine haben Zäune plattgewalzt und die Gärten verwüstet. Wenn erst der große Rutsch kommt, kann die Mauer gar nichts ausrichten. Und schlammiges Wasser kommt den Berg runter. Mehrere Keller und Garagen sind schon abgesoffen.“

Lena schüttelte sich. „Und wenn der Rutsch nicht kommt, kommt das Bauamt und schreit, dass die Mauer ohne Genehmigung gebaut wurde.“ Sie entdeckte einen Wegweiser und bog vorschriftsmäßig ab. „Hat schon einer gesagt, was man tun könnte? Wirksames, meine ich.“
„Nee, nicht so recht. Aber wir sind gleich da. Kurt und Elke wohnen dahinten um die Ecke. Keine Ahnung, ob ihr Haus auch in Gefahr ist! Es weiß ja keiner, in welcher Breite der Hang sich löst.“

Im Dorf war der Teufel los. Lena hatte Mühe, das Auto durch die aufgebrachte Menschenmasse zu dirigieren. „Das sieht aus, als ob sie sich alle gleich gegenseitig an den Kragen gehen!“, meinte sie und trat auf die Bremse, weil drei Leute, die miteinander rangelten, auf die Straße getaumelt waren. „Himmel! Die sollten lieber ihre Sachen packen und sich aus dem Staub machen, als sich auf der Gasse zu prügeln!“ Udo schüttelte den Kopf. „Kurt sagt, dass die Leute wie irre sind. Das gelbe Haus da drüben!“

Lena atmete auf, dass sie heil angekommen waren. Kurt nahm die beiden in Empfang und blickte gleich wieder besorgt zum Hang über den Dorf. Wie eine offene Wunde zog sich die abgeholzte Fläche bis knapp unter den Gipfel, stellenweise blitzte der nackte Fels hervor. „Von hier sieht man nicht viel, und da oben ist alles gesperrt. Da lassen sie keinen hin“, erklärte der Einheimische mit Wut in der Stimme. „Kommt erst mal rein. Elke und die Kinder sind schon beim Packen. Wir müssen ja auch jeden Moment mit einer Evakuierung rechnen. Hoffentlich müssen wir nicht in einer Turnhalle kampieren, mit Hund, Katze und Karnickel!“

Zwei Stunden später hatten Udo und Lena die Arbeit unter sich aufgeteilt. Udo wollte mit Kurt versuchen, zur Kommandozentrale vom Bürgermeister vorzudringen. Die war außerhalb des Dorfes in einem der zahlreichen Landgasthöfe untergebracht, der nicht unterhalb des bedrohten Hanges lag. Lena hatte sich bis zur Baustelle der Mauer durchgekämpft, wo sie fotografierte und mit den Männern sprach, die in aller Eile ein Bollwerk für ihr Dorf errichten wollten. Die Stimmung hier war eindeutig: Alle waren voller Zorn auf die Investoren und die Politik, die für den Profit rücksichtslos und unverantwortlich gehandelt hatten.

Nachdem sie zu dem Schluss gekommen war, dass sie an dieser Stelle nichts Weiteres erfahren könnte, sah sie hoch zu dem Hang, der kahl und bedrohlich über dem Dorf hing wie ein Damoklesschwert.
„Kann man da mal hoch?“, fragte sie einen der Einheimischen, der mit einer Schubkarre Mörtel neben ihr stehen geblieben war um zu verschnaufen. Der Mann schüttelte den Kopf. „Das ist zu gefährlich. Deshalb ist alles abgesperrt und es ist verboten, da herumzulaufen. Sie sagen, wie bei einer Lawine könnte jeder, der da kraxelt, einen großen Erdrutsch auslösen.“

Nachdenklich runzelte sie die Stirn. „Wenn im Winter wirklich Lawinenwetter ist, ist das Dorf doch auch in ständiger Gefahr!“ Der Mann nickte ergeben. „Sagen Sie das den Herren mit den Schlipsen. Aber denen ist das egal.“ Er schob die Karre wieder an und eilte damit auf die Baustelle zu.  

Ihr Handy klingelte. Udo teilte mit, dass er es geschafft hatte, zur Pressekonferenz in dem Landgasthof zugelassen zu sein. Er würde den Wagen nehmen und erst gegen Abend zurückkommen. Lena schickte die Fotos von der Baustelle und dem Hang zur Redaktion und simste einen kurzen Text dazu. Dann beschloss sie, sich unauffällig doch am gefährdeten Hang umzusehen. Natürlich musste sie ganz am Rand zwischen den Büschen bleiben, um nicht gesehen zu werden und auch, um nicht wirklich noch selbst ein Unglück auszulösen. Doch kaum hatte sie das Dorf verlassen und wanderte den Feldweg bergauf, kamen ihr schon zwei Männer entgegen und scheuchten sie wieder zurück.

Sie sah sich im Dorf um. Überall waren Leute damit beschäftigt, das Nötigste zu packen und Autos und Lieferwagen zu beladen. Sie sahen traurig und zornig aus. Kein Wunder, dachte Lena. Wer weiß, ob sie überhaupt ihre Häuser wiedersehen?

Ein Bauer schloss soeben die Tür des Viehwagens, in dem sich einige Kühe befanden. „Wo bringen Sie die Tiere hin?“, fragte Lena ihn. Er drehte sich um, erkannte auf ihrer Jacke das Logo ihrer Zeitung und nickte. „Ich habe eine Weide außerhalb, mit einer Hütte für das Vieh. Dann muss ich eben zwei Mal am Tag mit dem Melkwagen hinfahren. Aber so kann ich die Kühe erst mal unterbringen. Andere haben weniger Glück. Heinz, der da drüben wohnt, hat alle seine Schweine dem Schlachter verkauft, auch die Halbwüchsigen und die Ferkel, wo er nichts mit verdienen konnte. Wo soll man sonst auf die Schnelle damit hin? Das haben wir alles nur den geldgierigen Aasgeiern zu verdanken. Als wenn der Berg nicht auch so gefährlich genug wäre! Ich wollte, die würden allesamt in die Teufelslöcher fallen!“

„Teufelslöcher?“, fragte Lena und zog die Augenbrauen hoch. „Ja, hier am Meißner gibt es eine Reihe von Löchern im Boden, die rauchen und nach Schwefel stinken.“

Lena überlegte kurz. Dann lief sie dem Bauern hinterher, der eben auf seinen Trecker steigen und mit den Kühen davonfahren wollte.
„Gibt es eigentlich einen, der mir hier solche Sachen zeigen und erklären kann? Ich habe viel von den alten Mythen hier gehört, aber ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“

Der Bauer stutzte, schob seinen Hut in den Nacken und meinte dann bedächtig: „Fräulein, einen gibt es, der kennt sich mit all dem am besten aus. Aber das ist auch ein komischer Kauz.“
„Wer ist es und wo kann ich den finden?“, fragte sie.
„Das ist ein Schäfer, der normalerweise hier in den Hängen seine Schafe hütet. Er hat ein einsam gelegenes Häuschen am Ende des Waldweges dort, knapp fünf Kilometer von hier. Aber ich würde mich nicht drauf verlassen, dass er Ihnen was erzählt. Der redet nur das Nötigste und noch lange nicht mit jedem.“

Trotzdem ließ Lena sich den Weg beschreiben, auch wenn der Landwirt weitere Zweifel äußerte, ob sie den Schafhirten überhaupt antreffen würde.  Sie wollte es unbedingt versuchen. Sie brauchte ein paar Fotos direkt von dem abrutschenden Hang, vielleicht Erdspalten, die sich schon aufgetan hatten. Wenn da Rauch aufstieg, wäre das noch spektakulärer. Solche Bilder würde keiner der anderen bringen. Sie schulterte ihren Rucksack, rückte die Gürteltasche zurecht und marschierte los.

Der Weg zur dem abseits gelegenen Häuschen war lang und steil. Lena war froh, dass sie bequeme Kleidung trug, Jeans, Pullover, derbe Schuhe und ihre Regenjacke mit dem Logo der Zeitung. Trotzdem war der Pfad beschwerlich, zumal auf dem Feldweg zahlreiche kleine und große Steine lagen, die der Berg regelrecht abgeschüttelt hatte. Zwei Mal musste sie zur Seite springen, um nicht getroffen zu werden, als weitere Steine über die Böschung polterten. Erst als sie den Waldrand erreicht hatte, war sie aus der Gefahrenzone heraus. Sie hörte ihren eigenen keuchenden Atem und den Regen, der von den Bäumen tropfte. Aber sie hörte keinen Vogel zwitschern oder sah sonst ein Tier.

Ziemlich außer Atem erreichte sie die Lichtung, die ihr der Bauer beschrieben hatte. Sie blieb überrascht stehen. Hatte sie eine Zeitreise in die Vergangenheit gemacht? War sie in einem alten Gemälde aus der Zeit der großen Meister gelandet? Wie ein Cottage sah das Häuschen aus, das aus Bruchsteinen gemauert und mit handgemachten Tonziegeln gedeckt war. Daneben waren ein Schuppen und eine Scheune, wohl als Unterkunft für die Schafe im Winter. Keine Satellitenschüssel war am Haus zu sehen, kein Stromkabel, dafür stieg dünner Rauch aus dem Schornstein auf. Der Hof war nicht geteert und der Zaun um den Gemüsegarten war aus leicht unregelmäßigen Latten gebaut. Eine grob gezimmerte Bank stand neben der Haustür unter einem Dachüberstand, daneben ein beachtlicher Brennholzvorrat. Mehrere Obstbäume und ein weiterer Zaun grenzten den Hof von einer Wiese ab, auf der Mutterschafe mit Lämmern grasten.

Es gab keine elektrische Klingel, aber das hatte sie auch nicht erwartet.  Auf ihr Klopfen antwortete niemand. Sie lugte durch ein Fenster und sah eine gemütliche Wohnküche. Neben dem Herd stand eine Kiste mit Brennholz und auf der anderen Seite ein Ohrensessel. Ein Spinnrad mit einem  Rocken Schafwolle füllte die Nische zwischen Sessel und dem altmodischen Küchenschrank. Direkt unter dem Fenster sah sie einen sauberen Holztisch mit zwei Stühlen, der Rest des Raumes lag in einem Winkel, den sie von draußen nicht einsehen konnte.

Lena, von dem Aufstieg erschöpft, beschloss, auf der Bank zu warten. Wenn der Schornstein rauchte, konnte ja der Schäfer nicht weit sein, dachte sie und machte es sich so bequem, wie das auf dem ungepolsterten Holz möglich war. Irgendwie schien der Rest der  Welt weit weg von diesem Ort zu sein zu sein, kein Lärm störte die Beschaulichkeit. Das stete Rauschen des Regens wirkte beruhigend und schläferte sie schließlich ein.

Lena schrak hoch, als etwas Nasses, Kaltes in ihr Gesicht stieß. Sie riss die Augen auf und hätte fast geschrien, als sie ein ein schwarzes, haariges Gesicht mit spitzen Ohren und großen Zähnen nur Zentimeter vor ihrer eigenen Nase sah. Dann ertönten in der Nähe ein scharfer Pfiff und der Ruf :"Tiffy, hierher!", und der Hund ließ von ihr ab und lief zu seinem Herrn zurück. Es dämmerte schon und der Mann, der aus den Schatten des Waldes trat, war kaum zu erkennen. Eigentlich konnte Lena nur eine hoch gewachsene Gestalt mit einem langen, weiten Wollmantel und einem breitkrempigen Hut erkennen, die sich mit festen Schritten näherte. Der Schäfer kam zurück. Lena zuckte zusammen, als sie sich aufrichten wollte. Das harte Lager auf der Bank war nicht gut gewesen für ihren Rücken. Stöhnend rappelte sie sich auf.  

Nach den Worten des Bauern hatte sie einen mürrischen, alten Mann erwartet, der lieber mit den Schafen als mit Menschen zusammen war. Doch unter dem Hut hervor grinste ein ziemlich attraktives Gesicht von höchstens vierzig Jahren sie an. Dichte, dunkelbraune Haare quollen unter der Kopfbedeckung hervor und ringelten sich über Nacken und Schulter, feucht, wo sie zu lang für den Regenschutz waren. Der Schäfer wirkte eher amüsiert als überrascht, eine fremde Frau vor seiner Hütte zu finden.

Verlegen stellte Lena sich und ihr Anliegen vor. Er sah sie ernst, aber nicht unfreundlich, an und zeigte auf die Tür. „Drinnen ist es warm und trocken. Da redet es sich angenehmer und Zeit fürs Abendessen ist sowieso.“ Seine tiefe, ruhige Stimme mochte sie sofort.

Im Inneren des Hauses atmete sie hörbar auf, dass es doch Elektrizität und fließendes Wasser gab. Er grinste, als er ihre Erleichterung bemerkte. „Solarzellen auf dem Scheunendach und eine eigene Quelle“, erklärte er das Geheimnis. Tiffy legte sich  zufrieden in ihren Korb und war bald eingeschlafen. Ihr Herr hatte das Feuer im Küchenherd wieder in Gang gebracht und und einen Kessel Wasser aufgesetzt.

Beide schüttelten sie ihre feuchten Haarmähnen aus. "Wir sind wohl noch nicht trocken hinter den Ohren", meinte Lena und war dann plötzlich verlegen, weil so ein Scherz nicht zu dem Querulanten passen konnte, den der Bauer ihr beschrieben hatte. Doch der Schäfer lachte und nickte: "Das wird wohl so sein. Aber lieber nasse Haare als eine Glatze!"

Ihre Jacke und sein Umhang hingen nebeneinander an Haken an der Tür zum Trocknen. Beiläufig fischte der Hirte aus der Innentasche seines Capes einen Brief, den er auf den Tisch legte, um sich erst die Hände zu waschen. Lena schielte unauffällig auf die Adresse. „Herrn Dr. S. Droste“, las sie, Absender war eine Universität. Wie kam dieser urwüchsige, breitschultrige Naturbursche an ein Schreiben, das von einer Hochschule kam und für einen Akademiker bestimmt war? Noch mehr wunderte sie sich, als er die Postsendung mit größter Selbstverständlichkeit öffnete und las.

Dann knüllte er das Papier zusammen und warf es in den Ofen, sah wieder  auf und bemerkte ihren verstörten Blick. Wieder grinste er. „Meine alter Professor versucht immer noch, mich mit einem Lehrstuhl zu locken. Aber ich bleibe hier.“ Als sie verwirrt den Kopf schüttelte, lachte er noch breiter und zeigte dabei gleichmäßige, weiße Zähne. „Du hast wohl geglaubt, dass ich kaum lesen und schreiben kann, was? Wenn du unten im Dorf warst, hast du sicher gehört, dass ich mit keinem was zu tun haben will und alle davonjage, die hier her kommen.“

Mit leicht zitternder Stimme, über die sie sich selbst ärgerte, fragte sie: „Stimmt das denn?“ Er trat an den Schrank, nahm Geschirr heraus und deckte den Tisch. Lena starrte auf die Maschen seines Strickpullovers und hob dann den Blick zu seinem Gesicht.

Dann antwortete der Schäfer gelassen. „Ich habe tatsächlich einige Leute rausgeworfen“, sagte er. „Die wollten mein Land haben und hier eine Skihütte und ein Ausflugslokal einrichten. Aber mein Land ist nicht verkäuflich. Ich bleibe hier“, wiederholte er und wandte sich dem Kühlschrank zu, dem er die Zutaten für das Abendessen entnahm.

Lena hatte das Gefühl, hier in einer völlig anderen Welt gelandet zu sein. Sie riss sich zusammen, um wieder an ihren Auftrag zu denken. „Ich muss mal gerade meinen Kollegen anrufen. Wir haben uns noch gar nicht um ein Hotel gekümmert. Dabei werden wir wohl ein paar Tage hier bleiben“, sagte sie dann.

Der Schäfer fuhr herum. „Heute Abend willst du noch runter ins Tal? Das ist viel zu gefährlich, dauernd fallen Steine auf die Straße. Das Sofa lässt sich zu einem bequemen Bett ausklappen. Wenn ich deinen Rucksack so angucke, hast du ja alles mitgebracht für Übernachtung.“
Sie lächelte und nickte. „Dann muss ich ihm aber trotzdem Bescheid sagen, dass er sich allein eine Unterkunft sucht.“
„Mach das. Ich will noch gerade die Schafe in den Stall bringen für die Nacht.“ Der Hund folgte ihm über den dunklen Hof und Lena tippte die Kurzwahl von Udos Handy ein.

Der Kollege war nicht begeistert, dass sie im Haus des Schäfers bleiben wollte, aber eine andere Lösung fiel ihm auch nicht ein. Er hatte am Nachmittag eine kleine Steinlawine erlebt und war beeindruckt davon, wie groß deren Zerstörungskraft war. Er wollte Lena auch nicht unter Felsbrocken begraben wissen und das Haus des Schäfers lag abseits der Gefahrenzone – zumindest, was Steinschlag und Bergrutsch anging.

Das Essen war einfach, aber gut und kräftig. Lena bestaunte das selbst gebackene Brot, das hervorragend schmeckte.
„Ich gehe nicht oft zum Einkaufen. Was ich brauche, mache ich selbst, wenn das möglich ist“, erklärte er gleichmütig. „Aber nun sag mal genau, was du eigentlich wissen willst.“

Lena holte tief Luft und strich ihren Pullover glatt, um einen Moment Zeit zu gewinnen. Sie hatte auf einmal Schwierigkeiten, sich verständlich auszudrücken. Sie, die ihr Geld mit dem Schreiben von Nachrichten verdiente, bekam einfach nicht ihre Gedanken geordnet, wenn dieser seltsame Mann sie so intensiv ansah. Was hatte er noch mal gefragt? Ach ja.

„Alles“, platzte sie heraus. Er lachte und wandte sich leicht ab. Dann sah er sie wieder an und meinte lächelnd: „Ich bin nicht der allwissende Odin oder wer auch immer sonst noch deine Neugier stillen könnte.“

Jetzt musste auch Lena lachen und das löste irgendwie den Knoten in ihrem Hirn. „Fangen wir mal an mit dem Bergrutsch. Was wissen Sie darüber, Herr Doktor?“

Sie hoffte, die richtige Anrede gewählt zu haben, aber er runzelte leicht die Stirn. „Nicht Sie und nicht Herr Doktor. Das zählt hier oben nicht. Sag einfach Silas zu mir. Ja, ich heiße wirklich so, meine Mutter hatte einen Roman gelesen mit einem Helden namens Silas und war ganz begeistert. Ich muss das jetzt ausbaden. Mein Lateinlehrer hat sich immer einen Spaß draus gemacht zu rufen: „Silas, silentio!“, wenn es in der Klasse zu unruhig wurde. Auch wenn ich keinen Mucks gemacht hatte. Aber die anderen haben das natürlich aufgenommen und ich hatte einen Spottnahmen weg. Vielleicht hängt mir das noch nach und ich bin deshalb manchmal wirklich wortkarg.“

„Kommt mir nicht so vor. Aber du hast tatsächlich noch nichts über den Bergrutsch erzählt.“ Lena lächelte und nahm sich noch eine Scheibe des köstlichen Brotes.

Silas lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und überlegte. „Tja. Der Meißner  ist ein Massiv mit mehreren Kuppen. Da ist eine dicke Schicht Basalt, etwa 150 m stark, darunter gibt es Kohleflöze. Braunkohle wurde hier seit Jahrhunderten abgebaut, erst übertage, dann ging es in den Berg rein. Die ganze Struktur der Oberflächen ist dadurch verändert worden. Oben sind tiefe Mulden, unterirdisch Hohlräume. Anderswo haben sie den Abraum aufgehäuft und so künstliche Hügel geschaffen, die nicht wirklich in sich stabil sind.

In den 1960er Jahren ist die Kuppe, die Kalbe heißt, in sich zusammen gestürzt. Da sieht man stellenweise noch immer die kahlen Flächen oben drauf, keine Erde und keine Pflanzen. Möglich, dass das noch weiter in sich zusammensackt. Da, wo unterirdisch die Kohle vor sich hin brennt, entstehen auch neue Hohlräume, die irgendwann einstürzen können. Und das Wasser sucht sich in dem ganzen Durcheinander auch seine Wege, die man von außen nicht vorhersehen und nicht verändern kann.

Aber das ist im Moment nicht das dringendste Problem, sondern der Hang dort drüben.", er wies mit dem Brotmesser in die Richtung, "Der ist gerodet und die Erde und loses Gestein rutschen auf der Basaltplatte abwärts.“

Lena nickte zum Zeichen, dass sie diesen Teil der Geschichte kannte. „Ich habe gehört von Löchern in der Erde, wo Rauch austritt und es nach Schwefel riecht. Das scheint den Leuten Angst zu machen und einer sagte, dass er die Verantwortlichen für die Piste gern da reinwerfen würde. “

Amüsiert lachte Silas auf. „Ja, das kann ich mir vorstellen. So einen handfesten Beweis für Hölle und Teufel findet man nicht überall. Diese Aasgeier da reinwerfen, das wäre nicht das Verkehrteste, und zwar noch, bevor sie sich wieder aus aller Verantwortung rausreden können.“

„Aber wie kommt es zu diesen rauchenden Löchern?“, hakte Lena nach.
„ Auch das sind Flözbrände. Es kommt immer wieder vor, dass sich die Kohle unter dem hohen Druck selbst entzündet und das teilweise wirklich Jahrhunderte vor sich hin schwelt. Oberhalb von Schwalbenthal gibt es einen alten Steinbruch, wo der Rauch mitsamt Schwefelsublimierungen durch das Geröll entweicht. Stinksteinwand nennt man diese Stelle und da riecht es wirklich nicht angenehm. Durch die Ritzen im Basalt dringt Sauerstoff ein, was das Feuer am Leben hält. Es ist völlig unmöglich, diese Brände zu löschen. Die sitzen tief unten im Berg, wo keine Feuerwehr hin kommt. “

Lena hatte aus dem Augenwinkel ein Licht draußen bemerkt und wandte den Kopf. „Ist das auch so was?“, fragte sie. Der Blick des Schäfers folgte ihrem Finger. „Nein. Ich gehe mal gucken, was das ist.“ Ein Stück vom Haus entfernt, schimmerte flackerndes, gelbes Licht zwischen den Bäumen hindurch. Lena beeilte sich, ihre Jacke anzuziehen, die Kamera zu greifen und folgte ihm, als er mit großen Schritten auf die Flammen zueilte. Tiffy hatte sich ängstlich winselnd in die hinterste Ecke verkrochen.

Etwa 200 m vom Haus entfernt flackerten Flammen auf. Es war zu dunkel, um zu erkennen, was da brannte, aber das Feuer breitete sich trotz des nassen Bodens aus. Silas hatte das erste Brandnest erreicht und versuchte, es mit seinen derben Arbeitsschuhen auszutreten. Doch als wollte das Feuer ihn verhöhnen, flackerte gleich daneben eine neue Flamme auf und ein Stück weiter noch eine. Lena war fasziniert und erschrocken zugleich.  Nach einer Minute, in der er vergeblich gegen den Brand angekämpft hatte, waren die beiden von einem Ring aus Flammen eingeschlossen. Kaum hatten sie sich zu einem Kreis vereinigt, loderten sie hoch auf. Der Durchmesser betrug nur etwa 6 m.

Silas sah sich um und schnaubte. „Na toll. So hatte ich mir immer die Waberlohe vorgestellt“, grunzte er.


Kommentare  

#1 Jonas Hoffmann 2013-11-06 12:32
Aha, dieser Strang gefällt mir auf Anhieb deutlich besser als der von "gestern" (Jan Falkenberg).

Hier mal eine kleinen Spekulation bezüglich des Exposés. Weil das ja auch oft in Diskussionen zu Perry-Rhodan-Romanen von Lesern aufgegriffen wird, die meinen sie wüssten welche Vorgaben aus dem Exposé stammen und welche frei von Autor erfunden wurden.

Offenbar war es wohl Vorgabe einen Protagonisten zum Berg zu bringen und ihn dort auf eine Person treffen zu lassen, wobei es zu irgendwelche seltsamen Vorgängen am Berg kommt.

Denn Jan trifft Helena und Lena trifft Silas. Jan sieht einen seltsamen Adler, Lena eine Feuererscheinung unbekannter Natur.



btw. könnte man die einzelnen Teile jeweils in den Artikeln miteinander verlinken? Also alle Teile 1, alle 2 usw. Damit an nicht immer über die Artikelübersicht alles zusammensuchen muss?
#2 Pisanelli 2013-11-06 13:26
Yep, das hier gefällt mir auch schon deutlich besser. Mehr Pepp, mehr Leben, sprachlich eindeutig besser. Hiermit kann ich deutlich mehr anfangen.
#3 Kerstin 2013-11-06 16:27
Danke für das Lob.

Ich hatte eher handwerkliche Gründe dafür, Silas auftreten zu lassen.

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