Sieben gegen die Hölle - Lena (Teil 2)
Sieben gegen die Hölle
Lena (Teil 2)
Er ließ sich im Schneidersitz auf einem flachen Fels in der Mitte des Feuerringes nieder und winkte ihr, sich neben ihn zu setzen. Da sie nichts Besseres wusste, tat sie das wirklich.
„Brynhild ist eine Walkyre, eine Tochter Odins“, erzählte er so ruhig, als säßen sie in seiner Küche und nicht von Flammen eingeschlossen am Berghang. „Als Strafe für eine Verfehlung hat er sie auf Island in der Waberlohe eingeschlossen, solch einem Ring aus Feuer, der so lange brennt, bis ein Held kommt, um sie daraus zu retten. Das war dann halt Siegfried. Damit hat das alles angefangen.“
Sie sah ihn ungläubig an. Sein Gesicht wirkte im Schein der zuckenden Flammen tatsächlich entspannt. „Und du meinst, dieses Feuer ist ähnlich?“ „Ja. Es ist auf jeden Fall ein unnatürliches Feuer, oder besser gesagt: ein übernatürliches.“ Seine Stimme klang fest, aber nicht ängstlich. „Übernatürlich?“ Sie kreischte fast. Der Schäfer nickte. „Siehst du Brennmaterial?“ Sie spähte zum Fuß der Flammen und konnte da tatsächlich nur nasse Erde und Steine erkennen. „Siehst du Rauch?“ Die Luft oberhalb des flackernden Scheins war klar. „Ist die Luft hier heiß und trocken?“ Auch das war nicht der Fall.
Lena wollte es dennoch nicht glauben. „Gas vielleicht, das aus der Erde tritt? Wie bei den Irrlichtern im Moor?“ „So kreisrund?“, fragte er. „Und nicht ein Flämmchen außerhalb dieser Kreislinie? Und überall so gleichmäßig hoch?“ Tatsächlich leckten die Spitzen der Flammenzungen etwa alle in der Höhe, in der sich sein Kopf befand, wenn er aufrecht stand.
Eine Weile brütete Lena stumm vor sich hin, konnte aber keinen vernünftigen Gedanken fassen. Dann fragte sie leise: „Und was glaubst du, hat das zu bedeuten?“ Er zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich noch nicht.“
Wieder schwiegen sie eine Zeit lang. Dann musste Lena sich etwas anders hinsetzen, weil ihre Gürteltasche sie drückte. Sie schob sie zurecht und dabei fiel ihr etwas ein. „Heute war das Lied des Tages: „Ring of Fire“ von Johnny Cash“, sagte sie leise. Sein Gesicht wandte sich ihr zu. „Lied des Tages?“ Lena hatte noch nie jemandem von ihrem Orakelspiel erzählt und tat sich auch jetzt schwer damit. Andererseits, was konnte ihr in dieser verrückten Situation schon Schlimmeres geschehen, als dass er sie auslachte? Sie berichtete kurz und war auf leichten Spott gefasst. Statt dessen nickte er leicht und versonnen, sagte aber nichts dazu.
Nicht lange danach stand der Schäfer plötzlich auf und gab ihr ein Zeichen, auf dem Stein sitzen zu bleiben. Langsam, aber nicht furchtsam, näherte er sich den Flammen und streckte schließlich die Hand aus und zog sie wieder zurück. Das Feuer fauchte auf, Funken stoben in seine Richtung. Als er zurückgewichen war, brannte es wieder wie zuvor. Er versuchte es an einer anderen Stelle – mit dem selben Ergebnis. Er setzte sich wieder und schwieg. Schon bald sah er aus, als nähme er das Feuer und sie nicht mehr wahr, so war er in seine Gedanken versunken.
Auch Lena grübelte vor sich hin. Hatte er am Ende recht? Aber das würde ja bedeuten, dass da wirklich Übernatürliches am Werke war. Ihr Hirn fühlte sich an wie mit Watte ausgestopft. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie keine Angst hatte. Sollte sie nicht geradezu hysterisch sein angesichts eines Gefängnisses aus Flammen, die nicht den Gesetzen der Physik gehorchten?
Der Schäfer hatte die Augen geschlossen und sah aus, als meditiere er. Sie zwickte sich fest in den Arm und war überzeugt, das nicht zu spüren, weil es doch ein verrückter Traum sein musste. Aber der Kniff tat sogar ziemlich weh. Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, versank sie ebenfalls in dumpfes Brüten. Bilder aus ihrem gewohnten Leben flogen wie zusammenhanglose Fetzen an ihr vorbei und schienen so belanglos, als hätte sie sie nie gesehen. Was war nur hier los? Stumm brannte das Feuer um sie her.
Als Silas sacht ihren Arm berührte, zuckte sie erschrocken zusammen. Erst jetzt wurde ihr klar, dass ihre Gedanken schon den ganzen Abend nicht bei ihr gewesen waren, sondern ziellos und flatterhaft herumschweiften, als haben sie mit ihrem Körper nichts zu schaffen. Sie musste sich zwingen, die Situation zu realisieren, auch wenn es schwer fiel.
„Hast du das Gerät mit der Musik dabei?“ fragte die tiefe Stimme neben ihr. Verwirrt nickte sie und zeigte auf das Täschchen an ihrem Gürtel. „Würdest du bitte ein Lied abspielen?“ „Musik? Jetzt?“ Lena war fassungslos. Sie saßen in einem Feuer fest und er wollte Musik hören? Aber da kam schon die Erklärung. „Ich glaube, dein Orakel könnte uns jetzt einen Tipp geben, wer uns das hier eingebrockt hat.“ Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er das ernst gemeint hatte. Dann zuckte sie die Schultern, stand auf und reichte ihm einen der Ohrhörer. Den anderen nahm sie selbst und startete den Zufallsgenerator.
Sie erkannte das Lied erst, als Bon Scotts hohe, heisere Stimme über die Akkorde und das Schlagzeug seiner Kollegen von AC/DC hinwegkreischte. Beim Refrain erschrak sie zutiefst. „I´m on the highway to hell“ tönte es aus dem kleinen Ohrstöpsel. Silas dagegen nickte, als sei er bestätigt worden. „Das habe ich mir gedacht.“ Eine eiskalte Hand schien nach Lenas Herz zu greifen. „Wie meinst du das?“ „Dein Kästchen hier hat tatsächlich Orakelqualität. Es gibt hier etwas, das mit der Hölle zu tun hat, und jemand will nicht, dass ich das sehe. Deshalb sitzen wir hier in diesem Ring fest. Aber wenn eine Information für mich bestimmt ist, kommt die auch zu mir. Daran kann Loki nichts ändern.“
„Loki?“ Das Gesicht der Journalistin sah im flackernden Schein der Flammen zu ihm auf. „Der Teufel der Germanen oder so was?“ Ihre Knie trugen sie kaum noch und sie schwankte. Sogleich war ein starker Arm da, der sie wie beiläufig, aber zuverlässig stützte.
„Teufel ist nicht der richtige Ausdruck. Wie bei vielen alten Kulturen gibt es bei den Germanen Götter für allerlei Zuständigkeiten, aber nicht wirklich Teufel oder eine Hölle, wie sie die christliche Kirche später erfunden hat, um den Leuten Angst zu machen. Loki ist eigentlich kein Gott, obwohl er unter den Asen lebt. Er ist ein Etin und Blutsbruder von Odin. Er hat verschiedene Fachgebiete, herrscht über das Feuer, wie du so eindrucksvoll um uns herum sehen kannst. Er ist auch der Gott des Neides, der Heimtücke und der List. Eigentlich ist er eine sehr zwiespältige Gestalt, nicht nur böse. Den Asen hat er auch etliche Male aus der Patsche geholfen und da haben sie sich nicht über seine Listen beschwert, auch nicht, wenn es einem anderen zum Schaden war.“
„Und wieso meinst du, der hat hier seine Finger im Spiel?“ Lenas Stimme war anzumerken, dass ihr der Gedanke, die Situation wäre von einem germanischen Gott – oder eben nicht Gott, sondern Etin, was immer das sein mochte - herbeigeführt, absurd vorkam. Silas lächelte leicht. „Du erinnerst dich, dass ich gesagt habe: Ich gehe hier nicht weg? Ich habe hier nämlich eine Aufgabe, und jetzt weiß ich, was es ist.“
Ihr Blick schweifte über die Flammen ringsum. „Du bist bei der Feuerwehr?“ Jetzt lachte er richtig, und ihr lief ein angenehmer Schauder über den Rücken bei dem Geräusch. „Nenn es so, wenn du willst. Ich spezialisiere mich allerdings auf die Flammen und anderen Schäden, die Loki verursacht.“ Sein Blick war wieder ernst geworden und Lena spürte, dass er nicht scherzte. Ihre Gedanken rasten und sie versuchte, eine gewisse Logik in das zu bringen, was vorging.
Ein Erdrutsch, hervorgerufen durch die Unvernunft und Gier der Menschen … Ja, und wenn … „Meinst du, dass Loki in den Menschen die Unvernunft und die Gier hervorgerufen hat, dass sie den Wald abholzen sollten?“ „Vermutlich waren sie sowieso gierig und unvernünftig und er hat nur die Hemmungen beseitigt. Das ist nicht schwer. Hätte es bei den Germanen schon eine Werbebranche gegeben, Loki wäre sicher auch davon der Patron.“ Plötzlich musste sie prusten bei der Vorstellung. Ganz so abwegig war das jedenfalls nicht. Es fiel ihr zunehmend schwerer, das anzuzweifeln, was sie da hörte. Vor allem, wenn er ihr bei seinen Worten so ernsthaft in die Augen sah.
Als hätte er ihre Gedanken erraten, wandte er sich ab und drehte sich einmal um, die Arme ausgestreckt, als wollte er mit den Händen den Flammenring beschwören. Die Worte, die er dabei murmelte, verstand sie nicht. Dann schrieb er mit den Händen Zeichen in die Luft, die sie nicht lesen konnte, und drehte sich noch einmal.
Als er sich ihr wieder zuwandte, fragte sie: „Bist du so was wie ein Schamane?“ „So kannst du es nennen.“ „Ich dachte, das gibt es nur bei den Indianern, den Indern oder anderen exotischen Religionen.“ Seine breiten Schultern hoben sich und fielen wieder herab. „Bei der germanischen Religion ist das nicht so bekannt. Die richtige Bezeichnung ist Vitki, das heißt Wissender. Allerdings muss ich auch noch viel lernen, so dass ich mir kaum anmaßen darf, mich einen Vitki zu nennen. Jedenfalls gibt es sogar zwei Sorten Magie. Seith hat viel mit schamanischen Reisen und Erkenntnis in Trancezuständen zu tun. Galdor befasst sich hauptsächlich mit Runenkunde und Beschwörungen. Das habe ich eben gemacht. Guck dir die Flammen an!“, forderte er sie auf.
Wenn Lena schon ihren Ohren nicht trauen wollte über das, was sie da hörte, dann bestätigten es ihr die Augen: Das Feuer flackerte zwar noch, als wenn es sich gegen eine stärkere Kraft auflehnen wollte, sank aber merklich in sich zusammen, als sei ihm die Energie ausgegangen.
Als die Flammen zu Flämmchen geworden waren, nahm Silas Lena bei der Hand und führte sie aus dem Kreis heraus. Dann sah er sich um und verharrte, als wenn er eine Witterung aufnehmen wollte. Dann nickte er und sagte wie zu sich selbst: „Habe ich mir das doch gedacht.“ Entschlossen schlug er einen Weg ein und zog die Reporterin mit sich.
In der Dunkelheit stolperte sie hinter ihm her, ohne den Pfad erkennen zu können. Als er stehen blieb, glaubte sie zunächst, sie seien wieder auf seiner Lichtung. Aber das war ein Irrtum, wie sie bemerkte, als der Mond hinter einer Wolke hervortrat und die Szenerie spärlich beleuchtete. Vor ihnen lag nicht die malerische Schäferei, sondern eine zerklüftete Felswand, wie sie am Meißner vielfach vorkommt. Bevor sie die richtig erkennen konnte, war der Mond wieder bedeckt. Aber Silas hatte offenbar etwas erkannt. Er ließ ihre Hand los, trat ein paar Schritte vor und hob die Arme. Es war zu dunkel, als das Lena hätte sehen können, was er da im einzelnen für Zeichen in die Luft malte, aber sie spürte, dass seine Hände in heftiger Bewegung waren.
"Mist, ich kann nicht viel erkennen in dieser Düsternis!" brummelte er dann und versuchte vergeblich, mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Aber Lena hatte eine Idee. "Wo genau soll etwas sein?", fragte sie und wunderte sich selbst, dass sie flüsterte. Erstaunt sah er zu ihr herunter. Sie hob ihre Kamera aus der Tasche. "Die hat einen starken Zoom und Restlichtverstärker." Er grinste verstehend und zeigte auf die Stelle, die er meinte. Die notwendigen Einstellungen am Fotoapparat brauchten nur wenige Sekunden, dann lichtete sie die Felswand mehrmals ab.
Auf dem Display betrachteten sie die gespeicherten Bilder. Silas nickte anerkennend, als er die gute Bildqualität trotz der tiefen Schatten bestaunte. Etwas auf den Bildern zog seine Aufmerksamkeit auf sich. "Kannst du die Stelle da neben der Felsnase noch ein bisschen näher ranholen?" Sie nickte und ging ein paar Schritte zur Seite, um einen besseren Blickwinkel zu bekommen. Dann drückte sie mehrfach den Auslöser und zeigte ihm die neuen Fotos.
Er nickte grimmig und stellte sich wieder in Positur für die Fortsetzung seiner Beschwörungen. Nicht ohne Folgen, wie Lena erschauernd erkannte.
Ein grässliches Geräusch erklang von den Felsen, das ihr das Blut gefrieren ließ. Daraufhin setzte Silas mit gebieterischer Stimme ein und rief Worte, die sie nicht verstand. Es knarrte und scharrte in der Wand vor ihnen und sein Tonfall wurde noch eindringlicher. Lena zitterte und starrte voller Entsetzen auf die Felsen, die ihr vorkamen, als hätten sie ein Eigenleben und einen bösen, todbringenden Willen.
Der Mann neben ihr nahm seine Beschwörung wieder auf, seine Stimme wurde schärfer, befehlender und gipfelte in einer Art Schlusssatz, dessen Ton keinen Widerspruch zu dulden schien.
Tatsächlich schien die Wand sich jetzt ruhig zu verhalten. Keine Geräusche waren mehr zu hören außer dem leisen Wind in den Bäumen. Silas nahm wieder Lenas Hand in seine und führte sie schweigend zurück zu seinem Haus. Allein hätte sie den Weg nie gefunden und seine Hand, die sich um ihre schloss, war ihr mehr als nur eine Orientierung am dunklen Hang. Tiffy begrüßte ihren Herrn schwanzwedelnd und folgte in die gemütliche Wohnküche. Bei dem Gedanken an die Felswand bekam Lena eine Gänsehaut, selbst hier in der warmen Stube.
Erst als zwei Tassen dampfender Kräutertee auf dem Tisch standen, sprach er wieder. Seine Stimme klang fast verwundert, als müsse er erst die Gedanken sortieren, die sich ihm aufdrängten. „Da ist tatsächlich ein Mundus. Ich hätte nicht geglaubt, dass es so ernst ist.“
Verwirrt blickte sie auf. „Mundus? Das lateinische Wort für die Welt?“ Er nickte langsam. „Das ist das selbe Wort. Aber hier bedeutet es eher ein Tor zur Hölle.“ Fast wäre ihre Tasse hingefallen. „Hölle?“ Bedächtig nickte er und sie stöhnte. „Das ist echt zu viel. Die ganze Welt ist aus den Fugen. Das verstehe ich alles nicht! Du hast doch gesagt, die Hölle wäre eine Erfindung der Kirche?“
Er zuckte mit den Schultern. „Es gibt viele Arten von Höllen.“ "Zeig noch mal die letzten Fotos", bat er. Als eines davon auf dem Display erschien, wies er mit dem Finger auf ein Loch in der Felswand, das gerade so noch zu erkennen war. Irgendwie schien etwas im Inneren zu leuchten. Lena schauderte es unwillkürlich. Was immer das war, ihr sträubten sich die Nackenhaare beim Betrachten des Bildes. Eine leere Höhle in der Felswand war das jedenfalls nicht. "Da ist etwas drin", war alles, was sie sagen konnte.
Wieder nickte er und schwieg, als suche er tief in sich nach einer Antwort. Wie mechanisch zog er sich das Spinnrad herbei, trat das Pedal, das das Rad antrieb und seine Finger zupften die Wolle zurecht, so dass durch die Drehung des Rades ein gleichmäßiger Faden daraus wurde. Das gemütliche Schnurren des Rades und das Ticken der Wanduhr waren die einzigen Geräusche, wenn nicht gelegentlich der Hund im Schlaf schnaufte. Lena kuschelte sich tiefer in das Sofa und ließ sich vom Ton des Spinnrades einlullen. Mit geschlossenen Augen versuchte sie, die Ereignisse für sich zu sortieren und begreifbar zu machen. Da waren plötzlich Dinge von großer Wichtigkeit, von deren Existenz sie nichts geahnt hatte. Als sie diesen Gedanke für sich formuliert hatte, wurde ihr klar, dass sie Silas ohne Vorbehalt glaubte, auch wenn seine Worte nicht in ihre bisherige Welt zu passen schienen.
Es war spät, als er das Spinnrad beiseite stellte und aufstand. Lena, die auf dem Sofa eingeschlafen war, schrak hoch. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war und geriet leicht in Panik, als sie den hochgewachsenen Mann vor sich sah, der sich zur Truhe unter dem Fenster wandte und Bettzeug heraus nahm. „Es ist besser, es sich bequem zu machen und auszuruhen“, sagte er. „Wir haben eine harte Zeit vor uns.“
Sie war noch zu verschlafen, um die Worte gleich richtig zu verstehen. Aber als sie aus dem Bad zurückkam fragte sie: „Wie meinst du das, dass wir eine harte Zeit vor uns haben?“
Der Schäfer wies auf das Spinnrad. „Ich habe nicht nur Wolle gesponnen. Das Spinnen hilft mir, in Trance zu kommen und so meine geistigen Reisen zu machen. Seith. Du erinnerst dich an die zwei Sorten Magie? Das Spinnen spielt eine große Rolle in der Mythologie, denk nur an die Nornen, die die Schicksalsfäden spinnen. Ich habe also, als mein Körper hier saß und mechanisch Wolle zu einem Faden drehte, den Mundus untersucht. Wie ich schon sagte, das ist eine Öffnung zu etwas, das wir nur als Hölle bezeichnen können, obgleich es nichts mit dem Totenreich von Hel zu tun hat und auch nicht mit dem Fegefeuer.“
Lena stand noch immer vor ihm, in ihrem langen Schlafshirt und starrte ihn mit offenem Mund an. Dann gab sie sich einen Ruck und schlüpfte unter die Decke. „Was denn?“ Er wiegte den Kopf. „Genau kann ich das auch nicht benennen. Aber hinter dem Mundus haben sich eine Menge widerwärtiger und bösartiger Kreaturen angesammelt. Wenn der Mundus aufgeht und die rauskommen, ist das für diese Welt das Schlimmste, was man sich nur ausdenken kann. Ich habe am Abend erst mal einen vorübergehenden Stillstand am Mundus bewirkt, um Zeit zu gewinnen, bis ich Näheres wusste. Aber das wird nicht lange anhalten. Loki hat seine Helfershelfer überall und mein Zauber ist nicht stark genug. Wir brauchen ein Artefakt, das wesentlich mehr Kraft besitzt.“
Niedergeschlagen stützte er einen Ellbogen auf das Knie und das Kinn in die Hand. „Was denn für ein Artefakt?“ Lena konnte sich nicht vorstellen was es sein mochte, ebensowenig konnte sie sich nicht wirklich vorstellen, was es mit dem Mundus auf sich hatte. Aber sie erinnerte sich daran, dass sie ein sehr ungutes Gefühl, ja Furcht empfunden hatte, und das hatte nichts mit den herunterfallenden Steinen zu tun.
„Wenn ich wüsste, was, dann wäre ich ein Stück weiter! Aber dann käme schon die nächste Frage, wie ich das Ding hierher schaffen soll. Und wenn es hier wäre, müsste ich noch herausfinden, was ich damit tun soll, um den Mundus geschlossen zu halten.“ Müde reckte er sich. „Es ist wohl besser, noch ein bisschen zu schlafen. Dabei kommen manchmal ganz brauchbare Ideen und an der Zeit ist es sowieso.“ Er wandte sich zur Tür.
"Dein Haus ist total gemütlich", sagte sie unvermittelt und wunderte sich selber über den Gedankensprung. Er lachte leise. "Warum auch nicht? Ich bin ja nicht hier oben, um irgendwelche Sünden abzubüßen. Ich habe hier alles, was ich brauche. Prestigeobjekte und Statussymbole brauche ich nicht, die machen nicht glücklich. Aber wo die Einzug halten, weiß Loki, dass er leichtes Spiel haben wird."
Als er am Schlafsofa vorbeiging, griff Lena impulsiv nach seinem Arm. Auf seinen fragenden Blick hin wusste sie keine Antwort, warum sie das getan hatte. Aber er verstand sie besser und setzte sich auf die Sofakante. „Hast du Angst, allein zu bleiben?“ Sie konnte nur nicken.
Das erste Morgenlicht schimmerte durch das Fenster, als sie erwachte. Das leise Schnarchen, das sie hörte, verwirrte sie ebenso wie die ungewohnte Umgebung. Dann schüttelte sie leicht den Kopf, um ihn klar zu bekommen und sah sich in der Wohnküche um. Tiffy, die sie gestern so erschreckt hatte, lag in ihrem Korb und grunzte behaglich im Schlaf. Deren Herrchen fiel Lena sofort wieder ein und dabei wunderte sich sich heimlich, dass sie ihn überhaupt einen Moment aus dem Gedächtnis verlieren konnte. Er war durch ihre Träume gegangen und schien allgegenwärtig um sie zu sein.
Als sie sich aufsetzen wollte, bemerkte sie einen braungebrannten, muskulösen Arm, der über ihrer Taille lag, und den warmen Körper, an den sie sich im Schlaf geschmiegt hatte. Sie fuhr herum und starrte den Mann an, der hinter ihr auf dem Sofa ruhte und durch ihre heftige Bewegung nun gerade wach wurde. Im Gegensatz zu ihr war er nicht erschrocken oder verlegen, sondern lächelte verschlafen. Lena hob unsicher die Bettdecke und war erleichtert, dass sie beide T-Shirts und Unterwäsche trugen. Zerknirscht erinnerte sie sich, dass sie Angst gehabt hatte, allein zu bleiben, nach den Erlebnissen des gestrigen Tages, die ihr Weltbild komplett auf den Kopf gestellt hatten. Und dieser Mann hatte nicht wenig dazu beigetragen.
Lena schloss die Badezimmertür hinter sich und trat wieder in die Wohnküche, wo Silas soeben Spiegeleier auf zwei Teller verteilte. „Das sieht toll aus!“, bedankte sie sich. Kaum hatte sie den ersten Bissen genommen, klopfte es an der Tür und ein junger Mann mit wirrem Haar trat ein, ohne eine Aufforderung abzuwarten. Er trug Schäferkleidung wie Silas sie auch hatte.
„Morgen, Franz“, grüßte der Schäfer. „Soll ich dir auch noch ein Ei braten?“ „Nein, danke. Meine Mutter hat mir zu essen gemacht. Du hast ja Besuch!“, wunderte sich der Jüngling. „Das ist Lena“, stellte er sie vor. „Franz hilft mir mit den Schafen.“
Lena betrachtete den Jungen. Etwas schien mit ihm nicht zu stimmen, so wie er da saß und wortlos abwartete, dass sie ihr Frühstück beendeten. Er schien wie eingefroren und wurde erst wieder munter, als der Schäfer seinen Teller auf die Spüle stellte und Franz aufforderte, mit ihm hinaus zu den Tieren zu gehen. Vermutlich war er etwas behindert. Sie räumte den Tisch fertig ab und ließ Wasser in die Spüle. Wenigstens den Abwasch konnte sie machen und dabei überlegen, ob sie heute Bilder vom Bergrutsch schießen und an die Redaktion schicken könnte.
Wie auf Kommando klingelte ihr Handy. Udo meldete sich aus dem Tal. Er war müde und zerschlagen. Das Hotel war überbelegt und er hatte nur ein halbes Doppelzimmer bekommen. Sein Zimmerkamerad, ein Journalist aus Bremen, hatte entsetzlich geschnarcht und ihn immer wieder damit geweckt. „Wie hast du geschlafen?“, erkundigte der Kollege sich dann. Sie schluckte, bevor sie antwortete. „Ganz gut, auf dem Sofa. Das ist recht bequem. Der Hund hat auch ein bisschen geschnarcht, aber das war nicht so schlimm.“ Dass Silas selbst neben ihr gelegen hatte, wollte sie Udo nicht auf die Nase binden. Das hätte er nicht verstanden, zumindest nicht so, wie es wirklich gewesen war. Sie verstand es ja selbst nicht.
„Die Leute sagen, er wäre ein ganz komischer Kauz“, hörte sie Udos Stimme aus dem Handy. „Ach, so schlimm ist es gar nicht. Stell dir vor, er ist Wissenschaftler und hat sogar einen Doktortitel. Aber an die Uni will er nicht zurück.“ „Da könnte er alles haben und haust in einer Hütte in der Wildnis? Der ist doch ein komischer Kauz!“, war der Kollege überzeugt.
„Was gibt es denn von der Front in Sachen Politik und Wirtschaft?“, fragte sie, um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken und nickte Silas zu, der eben wieder hereinkam. Seine Haare ringelten sich feucht.
„Die sind ja alle ganz und gar verrückt geworden!“ Udo schnaubte angewidert. „Da geht jetzt jeder auf jeden los, bringt irrwitzige Anschuldigungen hervor und keiner will an irgendwas schuld sein. Dabei braucht man kein Hellseher sein, um zu merken, dass Neid und Raffgier alle irgendwie blind gemacht haben. Anders ist das nicht zu erklären, dass die Natur hier so bedenkenlos für den Profit und das Vergnügen geopfert werden sollte. Du stellst dir gar nicht vor, was für bescheuerten Mist sich die Beteiligten jetzt gegenseitig um die Ohren hauen! Die sind doch nicht bei Sinnen und die Politiker sowas von inkompetent! Ich grübele schon die ganze Zeit, wie ich das schreiben soll, ohne dass sie mich verklagen.“
Lena versprach, sich gleich auf die Suche zu machen nach einem aussagekräftigen Motiv und beendete das Gespräch. Silas, der die letzten Sätze mitgehört hatte, nickte und griff nach seinem Umhang. „Ich zeige dir, was du fotografieren kannst. Gut, dass du nicht in High Heels gekommen bist. Wir werden etwas klettern müssen.“
Direkt vom Handy hatte sie eine Stunde später ein gutes Dutzend Bilder von Erdspalten, Geröllhalden und abgeknickten Bäumen und anderen Schäden an ihre Zeitung geschickt und telefonisch die Bildunterschriften nachgeliefert. Dann fing es wieder stark an zu regnen und sie machten sich auf den Rückweg. Am tiefer gelegenen Hang sahen die Schafe aus wie helle Tupfen, die über die Wiese verstreut waren. Franz stand trotz des nassen Wetters am Rand und der Hund hockte vor ihm. „Ist der Junge behindert?“, fragte Lena. Silas nickte. „Ein bisschen zurückgeblieben. Aber mit Tieren kann er sehr gut und er ist zuverlässig. Und sein Lohn wird zum größten Teil von staatlichen Stellen bezahlt. Im Moment kommt er gut mit der Mutterherde allein zurecht. Die meisten Schafe habe ich wegen der Gefahr ohnehin weggebracht zu einem Kollegen außerhalb des Meißners, und nur die Mutterschafe, die spät gelammt haben, samt ihren Lämmern hierbehalten. Franz nimmt sie für ein paar Tage mit zu einer Weide Richtung Eschwege.“
In seinem Haus angekommen, dirigierte er Lena in das Arbeitszimmer. Drei Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt. Silas suchte einige davon heraus und legte sie auf den Schreibtisch, während Lena im Sessel Platz nahm. Dann ließ er sich selbst auf dem Schreibtischstuhl nieder.
„Ich glaube, ohne es zu ahnen, hat mich dein Kollege auf eine Idee gebracht, was wir für ein Artefakt brauchen“, meinte er und grinste über ihr erstauntes Gesicht. „Echt? Udo glaubt bestimmt nicht an die germanischen Götter!“ „Das braucht er auch nicht. Aber er hat doch gesagt, dass die Leute von Neid und Raffgier geblendet sind und alle auf einander losgehen.“ Sie nickte und wartete auf eine weitere Erklärung. „Das ist so richtig nach Lokis Geschmack. Damit kann er die Leute aufeinander hetzen, dass sie sich die Augen auskratzen, und muss selber keinen Finger rühren.“
Er tippte auf die Bücher. „Es gibt hier eine Stelle, wo er die Asen alle der Reihe nach beleidigt, um von seinen eigenen Schandtaten abzulenken. Seine Rechnung geht so lange auf, bis Thor ihm mächtig Prügel androht, und zwar mit dem Mjöllnir. Der Mjöllnir ist das einzige, was Loki fürchtet.“ „Glaubst du wirklich, dass der was fürchtet?“ Es schien Lena, als wäre ein Wesen, dass die Menschen zu solchen Taten verleiten konnte, allmächtig. Silas lächelte versonnen. „Wenn er nichts fürchten würde, hätte er sich nicht die Mühe machen müssen, uns in dem Feuerring einzusperren. Er fürchtet, dass wir etwas finden könnten, was ihm einen Strich durch die Rechnung machen kann.“
Er schlug eines der Bücher auf und blätterte, bis er die Stelle gefunden hatte. „Hier ist es. Lokis Spottrede. Halte dich nicht so sehr mit den Vorwürfen gegen die einzelnen Götter auf, siehe mehr auf das Ende, wenn Thor dazukommt.“ Damit reichte er Lena das Buch und sie vertiefte sich in die in umständlicher, altmodischer Sprache geschriebenen Verse. Bei den unbekannten Götternamen schwirrte ihr der Kopf, aber tatsächlich wurde deutlich, dass Loki vor der Wirkung von Thors Hammer großen Respekt hatte.
Bis zum Mittag saßen sie über den Büchern und lasen im Eiltempo Texte und Geschichten, in der Hoffnung, einen hilfreichen Hinweis zu finden, wie man des Hammers habhaft werden könnte. Aber die Geschichten waren diffus und alles andere als konkret, widersprachen sich teilweise.
"Das ist das Elend, dass so viele zu so unterschiedlicher Zeit dazu ihre Gedanken aufgeschrieben haben. Manche von den Gedanken mögen hanebüchen sein, andere fundiert. Aber wie soll man die jetzt auseinander halten?", seufzte Silas.
Udo rief an und berichtete, dass in der vergangenen Nacht Steinschlag drei Männer getötet hatte, die am gesperrten Teil des Hanges herumgeklettert waren.
Silas und Lena beschlossen, sich etwas die Beine zu vertreten und die Lage am Berg zu erkunden. Silas holte seinen Traktor aus dem Schuppen und lud Lena ein, auf dem schmalen Sitz über dem Hinterrad Platz zu nehmen. "Zu Fuß schaffen wir die Wege nicht mehr alle, bevor es dunkel wird und nass werden wir in der Kabine auch nicht", lachte er. Tatsächlich lagen die Stellen, die er ihr zeigen wollte, mehrere Kilometer auseinander und der Weg hätte viel Zeit gekostet. Er steuerte das Gefährt über leere Landstraßen und verlassene Wanderwege, durch Wald und über Hutewiesen, auf denen weder Mensch noch Tier zu sehen war. "Die Gasthäuser hier oben sind schon evakuiert und die Zufahrten gesperrt."
Mehrmals mussten sie dicke Steine aus dem Weg rollen, die die Straße versperrten. Als sie nach so einem Stop weiterfahren wollten, hielt Silas Lena lachend zurück und wies auf den Fahrersitz. "Jetzt probier du das mal. Das ist nicht schwer und Autofahren kannst du ja schon." Tatsächlich, nachdem er ihr die Hebel und Schalter erklärt hatte, brachte sie das Gefährt ruckelnd zum Fahren und schon nach ein paar Kilometern grinste sie stolz über ihre neue Fertigkeit. Über das Motorgeräusch hinweg gab er ihr Anweisung wegen der Gangschaltung, wenn es notwendig war. Hauptsächlich aber lauschte sie fasziniert seinen Ausführungen über die germanische Götterwelt und die anderen Wesen, die sich in ihr tummeln.
Das Wetter hatte zwar nicht aufgeklart, war aber besser geworden. Lena bestaunte die atemberaubende Fernsicht und die Sehenswürdigkeiten, die Silas ihr zeigte und im Hinblick auf die Mythologie erklärte. Vieles hier hatte mit Frau Holle zu tun, die der Sage nach auf dem Meißner zu Hause war.
Der Trecker tuckerte einen steilen Weg hoch zu einem Plateau, von wo Lena den gefährdeten Hang gut im Blick hatte. Sie hielt an, fotografierte mit einem starken Zoom aus der Entfernung die Stelle, aus der der tödliche Steinschlag sich gelöst haben musste. Wie eine dunkle Wunde am Berg lag der Bereich da.
Der Mundus lag ein Stück entfernt von einer für den Trecker passierbaren Straße. Daher parkten sie ihn und gingen zu Fuß weiter. Das Höllentor sah unverändert aus, aber die Aura des Bösen war stärker geworden. Oder kam es Lena nur so vor, weil sie sich den ganzen Tag intensiv mit geistigen und mythischen Dingen beschäftigt hatte? War ihr Geist empfänglicher geworden?
Auf jeden Fall drückte ihre Blase und sie verzog sich hinter ein Gebüsch am Waldrand. Von dort konnte sie nicht sehen, woher die Polizisten gekommen waren, die Silas plötzlich umringten, ihm Handschellen anlegten und ihn mit sich zerrten. Bald waren sie hinter den Bäumen verschwunden. Lena war allein am Berg, der jeden Moment die Hölle ausspeien konnte und mit einer Aufgabe, die ihr den Atem nahm.
Lena starrte den Schäfer an, der nicht unbedingt ängstlich aussah. „Die Waberlohe?“, fragte sie zaghaft.
Im Schein der Flammen sah sie in sogar lächeln. „Kennst du die Nibelungen?“ Verwirrt nickte sie. „Naja, sicher, Hagen und Gunter und Siegfried und so weiter. Und den alten Film von Fritz Lang, Kriemhilds Rache. Aber was hat das hiermit zu tun?“