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Sieben gegen die Hölle - Lena (Teil 5)

Sieben gegen die HölleSieben gegen die Hölle

Lena (Teil 5)
5. Princes of the Universe
Der Abgrund, durch den Lena stürzte, schien unendlich. Sie hatte mit ihrem Leben schon abgeschlossen, als sie landete. Oder besser: aufgefangen wurde. Weich, aber doch sicher, umschlossen sie zwei starke Arme.

Das Gefühl des Fallens war vorbei. Der Luftstrom zerrte nicht mehr an ihren Haaren. Sie öffnete ein Auge, dann das andere.


Der Mann, der auf der Brücke gesessen hatte, war wirklich ein Riese. Jetzt hielt er sie in den Armen wie ein kleines Kind, und schwebte aus dem Spalt zwischen den Welten wieder nach oben. Sie schmiegte sich an ein schlichtes Lederwams, das der Größe eines 6-Personen-Zeltes entsprach. Einen flüchtigen Moment schoss ihr die Frage durch den Kopf, ob sie schon Thor begegnet war, aber dieser Hüne trug keinen Hammer, sondern ein goldenes Schwert am Gürtel. Der gewaltige Knauf ragte neben ihren Knien auf.

Auf festem Grund, am Fuß der Regenbogenbrücke, setzte der Riese sie vorsichtig ab und zog sich ein paar Schritte zurück, so dass sie sich erst einmal sammeln konnte. Das war auch bitter nötig. Ihre Beine fühlten sich an wie weichgekochte Spaghetti.

"Sei gegrüßt, Sterbliche!" Ihr Retter deutete mit breitem Grinsen eine Verbeugung an und zeigte große Goldzähne. "Holdas Boten haben dich angekündigt."

"Sei gegrüßt, Heimdall. Das bist du doch, oder?" Bekam sie nun langsam Routine im Umgang mit Gottheiten? Jedenfalls spürte Lena keine Furcht, sondern hatte eher das Gefühl, einem alten Freund  begegnet zu sein.

Wieder blitzten die goldenen Zähne auf. "Ja, das bin ich." Mit einer riesigen Hand ordnete der Hüne seine lange Mähne und den Bart wieder, die ihm bei dem Sturzflug in den Abgrund durcheinander geraten waren.

Lena rezitierte leise die Worte aus dem Mythenlexikon: "Sohn des Odin und der neun Töchter des Meeresriesen Ägir, Gott des Tageslichts, Wächter von Bifröst. Der, der im letzten Kampf gegen Loki durch das eigene Schwert fallen wird, Loki bei der Gelegenheit aber auch erschlägt." "Richtig, das bin ich." "Der kaum Schlaf braucht und bei jedem Wetter hier die Wache hält. Dessen Augen und Ohren schärfer sind als alle anderen. Heimdall, genährt von Meerwasser, Schweineblut und ..." Jetzt musste Lena abbrechen, denn die dritte Komponente seiner Speisekarte war ihr entfallen. "… der Kraft der Erde", ergänzte er.

"Ich danke dir, dass du mich gerettet hast" Er winkte nur ab. "Es ist Sterblichen nicht möglich, über diese Brücke zu gehen." "Das habe ich gemerkt." Sie redete mit einem Gott, so locker und flapsig wie mit einem Jüngling vor der Disco. Langsam musste sie doch mal aus diesem verrückten Traum aufwachen!

Ob Heimdall ihre Zweifel an der Realität des Augenblicks ahnte, ließ er sich nicht anmerken. Aus seiner imposanten Höhe beugte er sich zu Lena hinunter. "Holdas Raben sagen, sie haben den Befehl, dich zu Odin zu bringen. Dann muss es etwas sehr Gravierendes sein, das dich herführt." Wieder nickte Lena schwer und Heimdall seufzte.

"Was weißt du über Asgard?", fragte er. Lena, verblüfft über diese Frage, starrte zu ihm hoch. "Du kannst da nicht einfach so herumspazieren. Du kämest nicht zurecht." "Das glaube ich aufs Wort", brummelte sie, merkte aber, dass sie langsam aus ihrer Verblüffung über die ganze Situation seit ihrer Ankunft auf dem Meißner wieder herausfand. Hatte sie sich in der letzten Zeit meist gefühlt, als sei sie ein unbeteiligter Zuschauer, der ihren eigenen Körper beim willenlosen Agieren zusah, so fühlte sie sich wieder mehr wie sie selbst.

"Also, was weißt du über Asgard?", wiederholte Heimdall die Frage. "Nun, das ist der Wohnsitz der Asen. Eine riesige, uneinnehmbare Burg, die aus zwölf Palästen besteht. Ein Riese hat das Mauerwerk innerhalb von sechs Monaten erbaut. Dafür waren ihm Freya als Braut sowie Sonne und Mond versprochen. Sein Pferd hat ihm geholfen. Damit die Asen sich aber vor der Bezahlung drücken konnten, hat Loki sich in eine Stute verwandelt und den Hengst des Riesen von der Arbeit weggelockt. Dadurch wurde der letzte Torbogen nicht mehr rechtzeitig fertig. Als der Riese hinter die List kam, wurde er böse und Thor musste ihn erschlagen. Loki bekam dann ein achtbeiniges Fohlen, Sleipnir, Odins Hengst."

Der Wächter nickte. "Das ist die Entstehungsgeschichte. Was weißt du noch?" Lena fuhr fort: Die Paläste bestehen aus Gold und Edelsteinen. Die größten Hallen sind Walhall und ... ach, die andere hat einen schwierigen Namen!" "Sessrumnir", half Heimdall. Lenas Gesicht leuchtete auf. "Also, in diesen Hallen warten die Einherjer auf die Götterdämmerung. Sie raufen und üben, wer umkommt, steht doch wieder auf. Dann wird wüst gefeiert, mit viel Met. Odin hat hier seinen Thron, von dem er alle neun Welten sehen kann. Es gibt noch weitere Gebäude, die kleiner sind als die Hauptpaläste, Friggs Palast zum Beispiel und die Schmiede, wo Versammlungen abgehalten werden."

Der Riese nickte zufrieden. "Du kennst dich gut aus. Die meisten Menschen haben heute keine Ahnung mehr von uns. Dabei wirken wir immer noch mit bei den Geschehnissen in der Welt, wenn auch meist im Verborgenen." "Ach, weißt du, in unserem Land macht man sich dem zweiten Weltkrieg höchst verdächtig, wenn man überhaupt weiß, wer Odin oder Thor sind." Da Heimdall sich nicht bedrohlich gezeigt hatte, sprach sie offen mit ihm. Ihr fiel ein, dass er wie Freyr und Baldur zu den lichten Göttern zählte, die Freundlichkeit ausstrahlten und nichts von Falschheit hielten.

Seine Antwort war zunächst ein trauriges Nicken. "Ich weiß, was du meinst. Unsere Namen wurden sehr missbraucht für ein politisches Kalkül. Das hat uns auch nicht gefallen, aber wir konnten nicht direkt eingreifen, um denen nicht noch Wasser auf die Mühlen zu gießen. Auf Lokis Hilfe konnten wir in der Hinsicht jedenfalls nicht zählen. Was ist denn nun eigentlich los da draußen? Wieder ein Krieg?"

Sie hob die Schultern. "Ganz falsch ist der Ausdruck nicht, wenn es auch nicht verschiedene Völker sind, die im Streit liegen, sondern Lobbyisten und die Anwohner, denen der Berg auf den Kopf fällt."
Sie berichtete kurz und zeigte ihm auch das Bild des Mundus wie zuvor Holda. Der Gott stieß bei dem Anblick erschrocken Luft aus, was einer Sturmböe nahekam.

Obwohl Heimdall jetzt auf dem Boden saß und Lena vor ihm stand, musste sie noch immer zu ihm aufsehen. Nachdenklich fragte sie dann: "Und wie geht es nun weiter? Was kann ich tun, damit der Mundus sich nicht öffnet?"

Der Brückenwächter kraulte sich den Bart und grübelte eine Weile. "Wie du gemerkt hast, kannst du Bifröst so nicht überqueren. Selbst die Einherjer, die gefallenen Helden, brauchen dazu die Hilfe der Walkyren. Ich könnte dich herüberbringen, aber nur mit Odins Erlaubnis. Ich bin schließlich Wächter der Brücke und kein Fährmann, der jeden auf die andere Seite bringt. Odin hat aber die Nase ziemlich voll von den Menschen. Seit über 1000 Jahren haben sie ihm den Rücken gekehrt und beten nicht nur andere Götter an, sondern zerstören auch noch ganz ungeniert das schöne Midgard, nur um sich zu bereichern. Das tut ihm in der Seele weh, vor allem die Zerstörung. Die schlechten Eigenschaften wie Neid, Machtgier und Habsucht, die sich so rasant ausbreiten, kann er nicht ertragen.

Aber du wärst nicht hier angekommen, wenn du nicht von Anfang an einen mächtigen Beschützer gehabt hättest. Ich will rausfinden, wer das ist und ob er für dich eine Art Audienz bei Odin erreichen kann. Warte hier, bis ich zurückkomme."

Heimdall erhob sich zu seiner vollen Größen und stieg über die Brücke hoch in die Wolken, die Asgard vor den Blicken verbargen. Lena dachte mit Schrecken daran, all die unzähligen Stufen erklimmen zu müssen. Es war wohl besser, wenn sie dafür ihre Kräfte schonte, zumal sie hier keine Gefahr für sich erkennen konnte. Zumindest nicht, solange sie nicht noch einmal in den Abgrund fiel.

Um die Zeit zu überbrücken und ihre Nerven zu beruhigen, schaltete sie  ihren Musik-Player ein und programmierte einen Titel von Enya. Doch was dann erklang, war deutlich rockiger: "Here we are! Born to be kings! We are the princes of the universe!" Freddy Mercury war längst nicht mehr am Leben, aber seine Stimme hatte ihn und seine Kameraden von Queen unsterblich gemacht. Lena brauchte nicht lange überlegen, was dieses Orakel ihr sagen wollte: Sie würde die Asen treffen. Zuversichtlich machte sie es sich im Gras bequem und harrte auf die Rückkehr des Brückenwächters.

Nach einer Weile traten zwei sehr große Stiefel am unteren Rand der Wolke auf die Brücke und mit jeder Stufe, die sie herabstiegen, wurde mehr von Heimdall sichtbar. Die Beinkleider aus grobem Tuch, neben denen das goldene Schwert hing, das Lederwams und schließlich der bärtige Kopf verließen den Nebel und kamen näher.

"Wie ich vermutet hatte: Da hat jemand schon die ganze Zeit über dich gewacht. Das war nicht nur einer, sondern es waren gleich mehrere Asen, wobei einer vom anderen nichts wusste. Tyr, der Kriegsgott, war dabei und Frigg, ebenso Freyr", berichtete der freundliche Riese.

Lena dachte an den einhändigen Krieger, der im Nebel das dunkle Wesen in die Flucht geschlagen hatte. Das musste der Kriegsgott Tyr gewesen sein, der seine Hand geopfert hatte, damit der Fenris-Wolf, ein Sohn Lokis, in Fesseln gelegt werden konnte. Er hatte dem Wolf die Hand als Pfand ins Maul gelegt und das Biest hatte sie ihm abgebissen, als es merkte, dass es in die Falle gegangen war.

Sie erzählte Heimdall von dem Kampf im dichten Dunst und er nickte. "Ja, das muss Tyr gewesen sein. Aber komm jetzt, wir wollen ja nicht zu spät zur großen Versammlung kommen!"

Grinsend hob der Riese Lena auf seine Arme und betrat die erste Stufe der Regenbogenbrücke. Stufe um Stufe trug der Wächter die Journalistin näher zum Reich der Götter. Sie musste schmunzeln, als sie an ihre Befürchtung dachte, diese Treppe mit den recht hohen Stufen zu Fuß ersteigen zu müssen. Auf Heimdalls Armen reiste sie ungleich komfortabler. Die Brücke schien endlos, doch er kam nicht außer Atem. Statt dessen plauderte er munter weiter.

"Ich habe mich gefragt, welche Absichten Tyr, Frigg und Freyr hatten, als sie dir geholfen haben." Auf ihr mehr als erstauntes Gesicht hin musste er laut lachen. "Na, glaub mal nicht, dass die Götter was machen, ohne dabei ihr eigenes Süppchen zu kochen! So selbstlos sind die nicht!"  

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: "Ich glaube, Tyr war einfach beeindruckt, wie mutig und unbeirrt du deine Aufgabe angegangen bist. So etwas gefällt ihm und dann beschützt er die Leute auch schon mal, einfach weil er es schade findet, wenn die frühzeitig vom Tablett geputzt werden. Er will sich den Spaß nicht nehmen lassen, sie noch eine Weile zu beobachten, wie sie sich machen und was sie für Abenteuer erleben. Stell dir das so vor wie bei einem interaktiven Videospiel. Nun guck nicht so entsetzt, wir beobachten die Welt durchaus und sind auf der Höhe der Zeit, auch wenn du in Asgard bestimmt keine Playstation finden wirst!

Frigg hat dir einige Gefahren aus dem Weg geräumt, ohne dass du die überhaupt bemerkt hast. Sie arbeitet dabei sehr subtil und trotzdem erfolgreich. Ihr größtes Vergnügen ist es, Leute miteinander zu verkuppeln. Wenn ich recht verstanden habe, würde sie dich und den Schäfer gern als Paar sehen." Das so unverblümt zu hören, brachte Lena dazu, auf Heimdalls Armen zu zappeln bei dem Versuch, sich empört aufzurichten und ihm die Meinung zu sagen. Aber der Wächter lachte und griff fester nach ihr, damit sie nicht abstürzen konnte.

"So ist Frigg nun mal. In eurer Welt gibt es doch solche Frauen auch, nicht wahr? Freyr ist unter anderem der Gott der Landwirtschaft und des Ackerbodens und des Landes. Ihm gefällt der Gedanke nicht, dass da so ein großer Schaden an der Natur angerichtet wird. Er kann sich furchtbar aufregen, wenn die Menschen wieder unnötig Wälder roden, große Flächen zubetonieren oder Anbaufläche verlorengeht, weil irgendwelche Freizeittempel gebaut werden. Er hat ja auch nicht unrecht, wenn er sagt, dass Korn und Früchte wichtiger sind als diese künstlich aufgeblähten Spielereien. Boden ist ein Gut, das nicht vermehrt werden kann und die immer größere Zahl von Menschen kann sich nicht von immer weniger Fläche ernähren. Du hast es ihm zu verdanken, dass die Erdspalten, die du am Meißner gesehen hast, nicht weiter aufgerissen sind und dich mit verschluckt haben."

Ab hier schwieg Heimdall, denn er wollte Lena die Gelegenheit bieten, dass sie den Blick auf Asgard genießen konnte. Sie hatten das obere Ende der Treppe erreicht und waren in die Wolke durchquert, die die Sicht von weiter unten verdeckt hatte. Jetzt wurde die riesige Festung sichtbar und Lena verschlug es den Atem.

Aus dem gewachsenen Fels, der sich himmelhoch auftürmte, wuchsen die uneinnehmbaren Mauern, die die Götterfeste umgaben. Einzelne Paläste standen um einen großen Platz, von dem Seitengassen abzweigten. Lena besah sich die Bauwerke genauer, während Heimdall sie daran vorbeitrug. Zwar hätte sie hier wieder selbst laufen können, denn der Boden war aus stabilem Stein, aber sie hätte natürlich niemals mit dem Riesen Schritt halten können, und der schien es eilig zu haben.

Undeutlich dämmerte es ihr, dass Raum und Zeit hier gleichermaßen von dem abwichen, was sie kannte. So wie die Zeit in Asgard anders ablief als auf der Erde, so waren hier auch die Abmessungen des Platzes und der Gebäude nicht konstant. Dieselbe Strecke konnte mit wenigen Schritten durchmessen werden, aber auch einen stundenlangen Weg bedeuten. Vermutlich war das der eigentliche Grund, warum Heimdall darauf bestand, sie weiterhin zu tragen.

Die einzelnen Gebäude waren beeindruckend, aber nicht pompös oder überladen, wie Lena das mehrfach bei irdischen Schlössern gesehen hatte. Es waren zwar eine Menge Gold und Edelsteine beim Bau verwendet worden, aber imposant wurden die Wohnstätten der Asen eher dadurch, dass sie so fest und unbezwingbar erschienen, als könne keine Macht des Himmels oder der Hölle ihnen etwas anhaben.

Und doch war geweissagt worden, dass auch diese Festung nicht unendlich bestehen würde. „Surt, der Feuerriese, zerschlägt mit seinem Flammenschwert Bifröst und löst den Weltenbrand aus“, hatte Silas erzählt. „Surt erschlägt auch Freyr, der ihm ohne Waffe entgegentritt.“ Wehmütig dachte sie an den Klang der tiefen Stimme und hoffte, sie wieder einmal hören zu können.  

Heimdall blieb stehen und drehte sich einmal, damit Lena in die Runde sehen konnte. Ein Gebäude, das etwas abseits stand, fiel dadurch auf, dass es von einer weiten Grasfläche umgeben war. Bevor sie fragen konnte, gab Heimdall Auskunft: "Das ist Landvidi, der Palast von Vidar. Er ist ein Sohn von Odin und einer Riesin namens Grid. Man nennt ihn auch den Schweigsamen, dabei ist er fast so stark wie Thor. Der Schutz des Waldes liegt ihm am Herzen und es macht ihn nicht froh, wie die Menschen damit umgehen." "Vidar ist doch der mit dem besonderen Schuh, der am Ende dem Fenriswolf das Maul auseinandereißt, oder?", fragte Lena.

Heimdall bestätigte das und nickte zu dem Palast, der der Brücke Bifröst am nächsten stand und meinte grinsend: "Das ist Himinbjörg, mein bescheidenes Heim."  Von wegen bescheiden! Es entsprach seiner gewaltigen Größe.

Während bis dahin der weite Platz völlig leer und unbewohnt gewirkt hatte, sah sie nun doch Menschen, nein: Götter, die alle in eine Richtung strebten. Ein Palast, der die anderen überragte, war ihr Ziel und auch Heimdall schlug diese Richtung ein. Ein von Katzen gezogener Wagen rollte heran und eine wunderschöne, hochgewachsene Frau stieg ab. Dies musste Freya sein, wenn das stimmte, was in Silas´ Büchern stand. Und bisher hatte sie auch alles so vorgefunden, wie es dort beschrieben war.

Ein weißblonder Mann in schlichter Tunika näherte sich mit leichten Schritten. Von ihm ging eine Aura des Lichts und der Freundlichkeit aus, wie Lena das noch niemals wahrgenommen hatte. Heimdall, der ihrem Blick gefolgt war, nickte. "Das ist Balder. Und da kommt sein Bruder Hödur." Der blinde Hödur wurde von einer Walkyre geführt, die Helm, Kettenpanzer und Schwert trug. Durch eine List Lokis hatte einst Hödur seinen Bruder Balder mit einem Mistelzweig getötet. Balder schien ihm das aber nicht übel zu nehmen und begrüßte seinen Zwilling freundlich. Wo Balder hell und licht war, wirkte Hödur dunkel und geheimnisvoll. Heimdall sagte leise: "Hödurs Begabung ist es, nicht die Äußerlichkeiten zu sehen, sondern das Wesen und den Charakter. Danach beurteilt er Götter und Menschen."

Eine große Gruppe Krieger stürmte mit Gepolter herbei. Die Waffen und Rüstungen klapperten auf den Stufen vor der großen Halle. Als die Tore sich öffneten und die Neuankömmlinge hereindrängten, konnte Lena, noch immer hoch oben auf Heimdalls Armen schwebend, einen Blick ins Innere des Bauwerks werfen. Obwohl dieser Saal größer war als zwei aneinandergelegte Fußballfelder, herrschte dichtes Gedränge im Inneren. Auf langen Bankreihen saßen unzählige der Krieger, wie sie zuletzt angekommen waren. Hinter ihren Sitzen waren Gestelle für die Waffen angebracht.

Der Wächter der Regenbogenbrücke war Lenas Blickrichtung gefolgt. "Das sind die Einherjer. Die Walkyren wählen auf dem Schlachtfeld die gefallenen Helden aus, die hier in Odins Halle auf den Ragnarök warten, um dann an unserer Seite zu kämpfen. Dort drüben siehst du die Walkyren, Töchter von Odin, ausgebildet von Tyr. Kein Sterblicher kann sich im Kampf mit ihnen messen. Sie sind schon lange unzufrieden und unausgelastet, weil sie kaum noch Arbeit haben: Die Menschheit bringt immer weniger Helden hervor, dafür immer mehr Duckmäuser und Leisetreter. Das macht die Walkyren zornig und unbeherrscht. Odin hat manchmal seine liebe Not mit ihnen."

Aus den Augenwinkeln sah Lena zwei Skiläufer mit Pelzumhängen herankommen. Eine Art Loipe führte von einer Seite her zum Eingang der großen Halle. Dort angekommen, schnallten der Mann und die Frau, oder besser gesagt, Ullr und Skadi, ihre Bretter ab und betraten den Saal. Die langen Bögen, die sie auf den Schultern trugen, und die Pfeileköcher ragten auf ihrem Weg durch das Gedränge über die Köpfe hinweg. Jagd und Winter waren ihre besonderen Aufgabengebiete, bei Ullr kam noch der Zweikampf hinzu. Zumindest früher, denn Duelle waren ja bei den Menschen schon lange aus der Mode gekommen. „Die heutige Brutalität, wenn eine ganze Gruppe von Schlägern einen Wehrlosen auf dem Bahnhof zu Tode prügelt, gefällt den Göttern nicht“, schoss es Lena durch den Kopf. „Sie mögen keine Feigheit.“

Noch immer wartete Heimdall mit ihr vor der Halle und sie spähten hinein. Auf einer Erhebung am anderen Ende des Saales standen zahlreiche Thronsitze für die Asen, die sich nach und nach füllten. Hinter dieser Reihe an der Wand war ein gewaltiger Gong angebracht, der golden glänzte. Der höchste Thron in der Mitte und der gleich daneben waren noch unbesetzt.

Schlagartig verstummte aller Lärm in der Halle, als ein rüstiger Graubart mit grauem Mantel und Augenklappe das Podest betrat. Lena war froh, dass Heimdall sie immer noch festhielt, denn beim Anblick Odins wären ihr sonst vor Ehrfurcht die Knie weich geworden.

Der oberste der Götter strahlte eine Würde und Macht aus, wie sie das niemals auch nur ansatzweise wahrgenommen hatte. Lena hatte bei ihrer Zeitungsarbeit schon einige einflussreiche Leute kennen gelernt, aber spätestens, wenn sie nach der Veranstaltung am Pressetisch zusammensaßen, wurde deutlich, dass auch die nur mit Wasser kochen und ihre Bildungslücken haben.

Bei Odin war ihr sofort klar, dass er mehr Wissen in sich vereinte, als alle Enzyklopädien zusammen und mehr Weisheit als die Summe aller Philosophen. Eines seiner Augen hatte er geopfert dafür. Dabei machte er nicht viel Aufhebens von seiner Person. Gerade das gab ihm eine Würde, die ihresgleichen suchte. Mit seinem verbliebenen Auge blickte er im Saal umher und ließ die Versammlung auf sich wirken. Hugin und Munin ließen sich auf der Lehne seines Throns nieder und rückten gleich zur Seite, um ihren Brüdern, Holdas Raben, auch Platz zu machen. Der Sitz neben ihm war noch verwaist.

Lena erkannte einige der Götter, die ihre Plätze um Odin herum bereits eingenommen hatten, an ihren typischen Attributen. Tyr war tatsächlich der einhändige Krieger, der das Monster im Nebel in die Flucht geschlagen hatte. Freya, Balder, Hödur, Skadi und Ullr hatte sie draußen schon gesehen. Der grüngekleidete Bartträger musste der Vane Njörd sein. Seine Ehe mit Skadi war gescheitert, weil ihre Lebensweisen nicht vereinbar waren. Trotzdem waren aus dieser Verbindung Frey und Freya hervorgegangen. Njörd war Schutzgott für Seeleute und Fischer, gebot über Wind, Meer und Feuer und spendete Ackersegen.

Die Frau, die Balder und Hödur liebevoll begrüßte, musste Frigg sein, die Mutter der beiden und Odins Gattin. Lena hätte sich die Schutzherrin für Haushalt, Ehe und Familie älter und etwas stabiler gebaut vorgestellt, aber die Göttin war gutaussehend und machte einen taffen Eindruck. Fast war Lena geneigt, sich eine häusliche Szene zwischen ihr und Odin vorzustellen, bei der Frigg den Besenstiel einsetzte, um den obersten der Götter zur Räson zu bringen. Mühsam verbiss sie sich das Lachen.

Ostara, die Frühlingsgöttin, Bragi, greiser Gott der Dichtkunst und seine Gattin Idun, deren Äpfel den Asen und Wanen das ewige Leben bescherten, konnte sie nach den Beschreibungen aus den Büchern erkennen. Die mit den künstlichen goldenen Haaren musste Sif sein, Thors untreue Gemahlin und Erdgöttin. Die bleiche Frau in Schwarz mochte Hel sein, Lokis Tochter und Herrin des Totenreiches.

Sämtliche Anwesenden trugen schlichte Kleidung aus Wolle, Leder und Leinen, keine grellen Farben, niemand war irgendwie aufgetakelt. Sie wirkten trotzdem mehr als majestätisch, einfach aus sich heraus. Starke Präsenz speiste sich aus göttlichen Kräften, nicht aus äußerlichem Tand.

Lena kam nicht mehr dazu, sich von Heimdall die anderen Gottheiten vorstellen zu lassen, denn Odin hob die Hand zum Zeichen, dass er etwas sagen wollte.

Der Göttervater sah sich ruhig um, dann ergriff er das Wort. "Es ist viele Menschenleben her, dass wir einen so großen Thing einberufen haben. Noch sind nicht alle anwesend, die zu unserem Kreis gehören." Mit gerunzelter Stirn blickte er auf den leeren Thron an seiner Seite. Als sich im Hintergrund der Halle zwei weitere Türen öffneten, drehte Odin sich um und hoffte offenbar, Thor zu erblicken. Aber anstelle des Donnergottes traten zwei Gruppen von Wesen ein, die Lena sofort erkannte, obwohl sie ihnen noch nie begegnet war: Elfen und Zwerge, oder wie man sie hier nennen mochte: Alben und Schwarzalben. Von wegen rote Zipfelmützen! Die Zwerge waren starke, harte Krieger und geschickte Arbeiter, nur eben kleiner von Wuchs als Menschen. Sie nahmen ihre Plätze in einem Seitenflügel ein.

„Nun“, fuhr Odin fort, „fangen wir an. Heimdall, komm herein und bring die Sterbliche mit.“ „Oh weia, jetzt wird’s ernst!“ Hätte Lena auf eigenen Füßen Odins Walhalla betreten müssen, wäre sie nie dort angekommen auf ihren puddingweichen Beinen. Heimdall brauchte nur wenige Schritte bis vor das Podest mit den Thronsitzen und setzte sie behutsam ab. Mit großen Augen sah sie sich in der Runde um und brachte keinen Laut hervor. Zum Glück erwartete man auch erst mal nichts weiter von ihr. Dankbar für die Stütze lehnte sie sich an eine dicke Säule. Balder zwinkerte ihr aufmunternd zu.

Odin nickte abwesend und sprach weiter. „Ihr alle habt gehört, dass am Meißner, der Heimat Holdas, große Gefahr droht. Damit ist nicht nur der Bergrutsch gemeint, sondern vor allem der Mundus. Ihr wisst, was passiert, wenn der sich tatsächlich öffnet. Die Frage ist: Wollen wir eingreifen, um Menschen zu retten, die sowieso nicht mehr an uns glauben? Oder geben wir Midgard auf und bereiten uns in Ruhe auf den Tag des Weltenbrandes vor?“

Unruhe entstand, Asen, Elben, Zwerge, Walkyren und Einherjer scharrten mit den Füßen, rückten unschlüssig auf ihren Plätzen herum oder gaben verwunderte Laute von sich. Odin ließ sie einen Moment gewähren, dann ergriff er wieder das Wort.

„Natürlich haben wir Verantwortung für die Menschen. Aber wenn die sich so darum reißen, sich selbst ins Unglück zu stürzen, wie sie es seit vielen Jahren tun, lohnt es sich, ihnen zu helfen? Man kann nur dem helfen, der die Hilfe auch annehmen will. Aufzwingen kann man sie nicht.“

Frigg runzelte die Stirn und fragte: „Sollen wir sie im Stich lassen? Da sind viele unschuldige Kinder. Auch wenn denen vielleicht nie jemand von uns erzählt, können wir sie nicht den Höllenwesen überlassen!“

Freya nickte bekräftigend. „Die Menschen sind zwar durch falsche Einflüsse in die verkehrte Richtung gedriftet, aber nicht alles ist schlecht. Ich würde dem Gewürm aus der Unterwelt jedenfalls nicht kampflos die Welt überlassen!“ Eine andere stimmten zu, aber es gab auch Gegenstimmen. „Wenn wir sie jetzt retten, dauert es nicht lange, bis sie sich die nächste Suppe eingebrockt haben, die sie nicht allein auslöffeln können“, brummte Njörd. „Denkt nur an die Zerstörung der Natur!“

Sein Sohn Frey nickte dazu. „Die Unvernunft wird zu einer echten Gefahr.“ „Darum geht es hier nicht!“, fauchte Frigg. „Die Menschen haben keine Schuld an der Existenz des Höllengewürms!“

„An der Existenz nicht, aber daran, dass Loki so viel Macht gewonnen hat, auch wenn sie vielleicht nicht mal seinen Namen kennen. Aber mit all der Gier und dem Neid und der Bosheit sind sie ihm treue Diener geworden.“

„Loki ist seit Urzeiten auf dem Felsen angekettet! Wie soll er da Schaden anrichten?“, rief Sif dazwischen und es wurde zunehmend unruhiger in Walhalla, auch in den Bankreihen.

Frigg schnaubte verächtlich. „Als wenn Loki nicht Mittel und Wege fände, doch sein Unwesen zu treiben, während wir glauben, dass er sicher verwahrt ist! Er ist Gestaltwandler und kann sich in sonst was verwandeln, wenn er will! Außerdem hat er überall seine Helfer.“

„Ach, sieh einer an! Ihr erinnert euch noch an mich!“, rief eine neue Stimme spöttisch. Alle drehte sich zu dem Portal um, durch das der Neuankömmling hereingekommen war. Lena stockte der Atem. Es war der große, blonde Mann mit Gelfrisur und Anzug, der sie in den Frau-Holle-Teich getrieben hatte. Vorsichtig schob sie sich hinter die schützende Säule.

„Loki!“, erscholl es von allen Seiten, mal leiser, mal lauter, aber keiner schien erfreut, den Gott der List außerhalb seiner Ketten zu sehen.

„Ja, ich bin es höchstpersönlich. Eure Fesseln halten zwar einen Leib auf dem Felsen fest, nicht aber den Geist darin. Die Zwerge haben eine gute Arbeit geleistet, aber gut genug war sie nicht. Ich hoffe, ihr habt nicht viel für diesen Pfusch bezahlt!“, wandte Loki sich an die Asen. Empörtes Grummeln und Schimpfen erklang von der Seite, wo die Schwarzalben ihren Platz hatten. Manch eine eisenharte Faust, die viel zu groß für ihren Besitzer erschien, reckte sich drohend empor.

Odin gebot Ruhe und Loki trat näher an den Hochsitz der Asen heran. Er fixierte Skadi und schüttelte bedauernd den Kopf. „Wie ich sehe, trägt eure inzüchtige Geschwisterliebe noch immer keine Früchte. Bei Vieh würde man sagen: Da muss mal ein anderer Bock ran!“ Ullr sprang wütend auf und wollte Loki an den Kragen, aber Vidar hielt ihn zurück, während Skadi ihren Bruder anflehte, sich nicht mit dem Spötter anzulegen, der schließlich selber eine Reihe sonderbarer und wenig ansprechender Wesen gezeugt hatte.

Frigg fuhr Loki an: „Was soll das? Was willst du erreichen?“ Der Gott im Armani-Anzug fuhr herum und bedachte die Gattin Odins mit einem Lächeln. „Sieh an, Frigg! Die Hörner, die Odin dir aufgesetzt hat, kleiden dich ungemein!“ Zornesröte überzog das Gesicht der obersten Göttin, während Odin nach seinem Speer griff und dem Lästermaul einen kräftigen Hieb mit dem Schaft verpasste, der aber nur verächtliches Lachen hervorrief.

„Was wird das hier?“, donnerte der Göttervater. „Willst du schon wieder mit deinen Spottreden anfangen?“ „Warum nicht? Ich weiß doch genug über jeden von euch, um euch unsterblich zu blamieren.“ Loki lachte über sein Wortspiel, während die Asen auf den Thronsitzen zwischen Schreck und Zorn wechselten.

Die Einherjer griffen zu ihren Waffen, Zwerge und Elben ebenfalls und der Lärm aus Stimmen, die wütend losbrüllten, brachte die Halle zum Beben. Es war so laut, dass nicht einmal Heimdall den sich nähernden Donner vernahm. Nur mit Mühe konnte Odin die Lautstärke wieder auf ein erträgliches Maß drosseln, während Loki selbstsicher vor den Thronsitzen herumstolzierte.

Lena, die die ganze Zeit versucht hatte, sich so unsichtbar wie möglich zu machen, konnte sich nicht mehr zurückhalten. Heißer, blinder Zorn stieg in ihr auf, denn sie sah auf einmal die Parallelen zwischen Lokis Verhalten und der modernen Politik. Bevor sie zur Besinnung gekommen war, war sie vorgetreten und brüllte den Gott der Missgunst an: „Du falsches Aas! Du hetzt doch nur deshalb die Götter hier aufeinander, damit sie gar nicht mehr dran denken, sich um den Mundus zu kümmern! Solange die sich hier alle zanken, kannst du deine Sauereien ungehindert weitertreiben!“

Überrascht starrte alle die Sterbliche an und Hödur, der bisher gar nichts gesagt hatte, nickte bedächtig. „Sie hat es erfasst. Das ist alles nur ein Ablenkungsmanöver, damit wir ihm nicht in die Parade fahren.“

Das überlegene Lächeln auf Lokis Gesicht gefror zu einer Maske des Hasses und der Wut. Noch bevor Vidar ihn festhalten konnte, stürzte er sich auf Lena und würgte sie.

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