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Sieben gegen die Hölle - Lena (Teil 7)

Sieben gegen die HölleSieben gegen die Hölle

Lena (Teil 7)
7. Stand by me
Die Stille im Saal war wie aus Stein. Keiner rührte sich, keiner gab auch nur den leisesten Laut von sich.

Das Dröhnen des Gongs war auch in der Schmiede Idafeld zu hören gewesen. Niemand durfte diesen Gong anrühren, wenn nicht große Gefahr bestand. Dass er jetzt geschlagen worden war, konnte nichts Gutes bedeuten.


Die Asen eilten herbei, um den Grund des Alarms zu erfahren. Für einen Moment sahen sie sich bestürzt an, dann reckte Thor den Hammer hoch und rief: „Jetzt haben wir geredet und geredet und sind doch zu keinem Ergebnis gekommen. Damit ist jetzt die Entscheidung gefallen. Mädchen, komm, wir haben keine Zeit mehr zu verlieren!“

Lena hatte nicht mal mehr Gelegenheit, sich von ihren neuen unsterblichen Freunden richtig zu verabschieden. Der Donnerer packte sie wie ein Stofftier und trug sie mit großen Schritten auf das Hauptportal zu. Als sie an Frigg vorbeikamen, steckte ihr die Göttin einen Talisman zu und zwinkerte verschwörerisch. Eine zweite Göttin, die neben Frigg gestanden hatte, hatte zwar im Thing noch kein Wort gesagt, aber sie legte ihre Hände auf Lenas Kopf und ließ eine Art Energie fließen, deren Sinn die Reporterin nicht deuten konnte. Unangenehm war es aber nicht. Lena konnte Heimdall, den Walkyren und den anderen nur noch zuwinken und sich kurz bedanken, dann waren sie draußen auf dem großen Platz.

Thor steuerte zielstrebig auf einen Wagen zu, der mit zwei großen Ziegenböcken zwischen den Deichselbäumen vor der Walhalla stand. Ehe sie sich versah, fand sie sich auf diesen Wagen verfrachtet wieder. Der Gott griff nach den Zügel und ließ die Böcke antraben. In Windeseile raste das Gespann über den Platz zwischen den Palästen und auf die Regenbogenbrücke zu. Lena hielt sich mühsam fest und schloss die Augen, als die Zugtiere auf die hohen Stufen zuhielten. Doch anstelle des Gepolters und des Sturzes, die sie erwartet hatte, schwebte der Wagen sanft hinab. Räder und Hufe berührten die Brücke nicht, sondern glitten darüber hinweg und dann begriff Lena, dass die großen, grauen Gebilde unter ihnen die Wolke waren. Sie flogen über den Himmel und Donner grollte hinter ihnen her, wo die Wolken von ihrer rasanten Fahrt durcheinandergewirbelt worden waren. „Von wegen Fürze!“ Lokis Schmähung gegen Thor fiel ihr ein und sie musste sich das Lachen verbeißen.

Es war dunkel geworden außerhalb von Asgard und auf der Erde unter ihr war nichts zu sehen, nur düstere Schemen von Bergen und einaml das Meer. Lena suchte sich eine bequemere Stellung im Wagen. Thor, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, legte sanft seine große Hand auf ihre Stirn und ließ ein wenig von seiner göttlichen Kraft fließen. Mit einem zufriedenen Seufzer schlief die Reporterin ein und nahm den Übergang zwischen den Welten nicht wahr.

Der Morgen dämmerte herauf, als sie am Meißner ankamen. Der Wagen mit den Ziegenböcken setzte leicht auf der Lichtung vor der Schäferei auf. Trotzdem wachte Lena auf und rieb sich verschlafen die Augen. Sie hatte von Silas geträumt und war fast ein wenig enttäuscht, nicht ihn, sondern Thor neben sich zu sehen. Dann schüttelte sie den Kopf und versuchte, wieder Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, aber die Situation war zu verrückt. Sie war mit dem Donnergott aus Asgard auf einem fliegenden Ziegenbockwagen hergekommen, um die Welt zu retten. Sonst noch was? Ach ja, Silas. Ihr Herz krampfte sich zusammen bei dem Gedanken, was er wohl erleiden musste in der Enge einer Gefängniszelle. Silas, der die freie Natur um sich brauchte wie die Luft zum Atmen, konnte das Eingesperrtsein bestimmt nicht lange ertragen. Sie musste unbedingt herausfinden, was ihm zur Last gelegt wurde und wie sie ihn frei bekommen konnte.

Aber erst mal musste sie sich um Thor kümmern, der irgendwie verloren wirkte in der Realität der Menschenwelt. Sie waren abgestiegen und standen vor dem Haus des Schäfers. „Es ist wohl besser, wenn mich keiner sieht“, murmelte der Donnergott unsicher. Lena überlegte kurz und nickte. „Das ist bestimmt besser. Den Wagen können wir hier in die Scheune stellen und die Böcke können in den Stall gehen. Heu ist genug da.“

„Wo ist denn jetzt der Mundus?“, fragte Thor, als Gefährt und Zugtiere versteckt waren. Lena zeigte die Richtung und führte ihn hin. Auf der Erde wirkte er trotz seiner Größe und Körperkraft eher verschüchtert, so als sei er lange nicht mehr in Midgard gewesen und wisse nicht so recht, wie er sich hier bewegen sollte. Dabei gehörte das Beschützen der Menschenwelt zu seinen zentralen Aufgaben. Nun ja, die Arbeit von Asgard oder Trudheim aus zu erledigen, war sicher eine andere Sache, als selbst hier vor Ort zu agieren.

Doch als er sah, wie viel Erde schon abgerutscht war und wie groß die Wunden am Berg waren, stieg heißer Zorn in ihm hoch. Seit Lena in Frau Holles Teich gefallen war, war der Hang mit den Runen ein Stück weit in die Tiefe gerissen worden.

„Freyr hatte mit dem Thing zu tun und hat in seiner Aufmerksamkeit für die Erde nachgelassen“, grummelte Thor vor sich hin. „Loki hat das gleich ausgenutzt.“ Ein wenig verzagt klang das, fand Lena. Als wenn Odins Sohn nun selbst Zweifel an der Wirksamkeit der göttlichen Kräfte bekäme.

Vor dem Tor zur Hölle stehend wurde er wieder zum Gott des Donners. Ein dumpfes Grollen ließ Himmel und Erde erbeben, als der Zorn ihn packte. Die Öffnung des Mundus hatte sich verändert, seit Lena mit Silas hier gewesen war. Wo zuvor ein Schlitz gewesen war, ein  schmaler Spalt, da zeigte sich jetzt eine wesentlich breitere Öffnung.

Es war noch zu dunkel, um Genaues zu erkennen, aber eindeutig krabbelte da etwas heraus, das Lena in Angst und Schrecken versetzte. Sie hatte nie ein derartiges Wesen gesehen, aber die Panik beim Anblick der schuppigen Haut und der sich windenden Tentakel schnürte ihr die Luft ab.  Sie wollte weglaufen, konnte sich aber nicht bewegen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf das Gewürm, das sich seinen Weg ins Freie bahnte. Die heftige Bewegung an ihrer Seite nahm sie kaum wahr, aber dann flog der Mjölnir auf das Höllenwesen und zerschmetterte das Biest.

Eine Rauchwolke stieg auf und verdeckte den Blick. Lena zog unwillkürlich den Kopf ein, als der Hammer zurückgeflogen kam, aber der landete irgendwie unaufgeregt in der großen Hand, die sich ihm entgegenstreckte.

„Verdammt! Loki muss irgendwo hier sein. Aber es wird verflucht schwer, ihn zu finden. Er kann sich ja in alles Mögliche verwandeln. Solange er sich dann nicht verrät, kann ich ihn auch nicht erkennen.“

Thor wandte sich Lena zu. „Das hier wird unser Duell, das von Loki und mir. Es ist das Beste, wenn du dich aus der Schusslinie hältst. Ich kann nicht für deinen Schutz garantieren, wahrscheinlich habe ich alle Hände voll zu tun, mich selber gegen Loki zu wehren. Geh runter und zu den Menschen. Hier oben könnte es ungemütlich werden.“

Wie um seine Worte zu bestätigen, zogen dunkle Rauchschwaden aus der Öffnung im Berg vorbei. Lena nahm allen Mut zusammen und sah wieder zum Mundus hinüber. Aus dem Loch krabbelte zwar nichts Lebendes oder Untotes mehr hervor, dafür aber bahnte sich der Qualm seinen Weg hinaus. Doch er stieg nicht in die Höhe, sondern hielt sich dicht am Boden und breitete sich aus wie ein ständig wachsender Teppich. Lena spürte einen gewaltigen Abscheu und ging ein paar Schritte zurück, damit die Wolke nicht ihre Füße einhüllen konnte. Dann wich sie noch ein Stück und noch eins. Es blieb ihr keine Wahl: Sie musste hier fort.

Thor bestätigte noch einmal: „Du kannst mir nicht helfen, das hier ist meine Aufgabe. Aber wenn ich mich recht erinnere, gibt es da einen Schafhirten, für den du etwas tun kannst. Lass ihn nicht warten. Syn hat die die Kraft mitgegeben, ihn zu befreien.“

Lena stutzte. „Syn?“ Der Donnerer nickte. „Ja, als wir aufbrachen. Frigg hat dir einen Talisman gegeben und Syn die Kraft. Syn bewahrt die Menschen vor falschen Anschuldigungen. Ihr kennt sie kaum noch und sie wirkt auch meist im Verborgenen. Jedenfalls solltest du dich auf den Weg machen, deinen Schäfer aus dem Verlies zu befreien. Ich halte hier die Stellung und suche nach Loki.“

Wie lange war es her, seit sie ihn Frau Holles Teich gefallen war? Sie hatte keine Ahnung. Das Wetter hatte sich nur unwesentlich verändert und der Akku ihres Handys war schon lange leer. Auch die Kamera, die automatisch Datum und Uhrzeit der Fotos speicherte, hatte dieses Schicksal erlitten. Auf dem Weg zur Schäferei sah Lena nichts, was ihr einen Hinweis darauf geben konnte, welcher Tag war.

Im Inneren des Hauses fand sie alles so vor, wie sie es verlassen hatte. Die Möbel hatten keinen Staub angesetzt, weshalb sie hoffte, dass sie nicht lange fort gewesen war. Der Kühlschrank funktionierte noch und die Lebensmittel waren nicht verdorben. Erst bei dem Anblick wurde ihr klar, dass sie einen Bärenhunger hatte. Auf dem Weg nach Asgard und in Odins Halle hatte ihr Körper keine Bedürfnisse gehabt, aber hier war das wieder anders. Sie zündete ein Feuer im Herd an und setzte Wasser auf, um sich etwas zu kochen. Während es langsam warm wurde, duschte sie schnell und zog frische Sachen aus ihrem Gepäck an.

Sauber und gesättigt fühlte sie sich eher bereit, sich wieder unter Menschen zu wagen. In der Hoffnung, dass die Wege noch einigermaßen passierbar wären, stieg sie auf den Trecker. Der Motor wollte zunächst nicht, sprang erst im siebten Versuch an. Aber dann konnte sie das Gefährt aus der Scheune lenken und sich einen Weg zurück in die Zivilisation suchen – oder in das, was noch davon übrig war.

Einige Male musste sie Steinen, die auf den Wegen und Straßen lagen, ausweichen, auch zwei mal wenden und sich eine andere Strecke suchen, aber sie kam schließlich doch vom Berg herunter. Das Dorf, in dem Udos Verwandte gelebt hatten, war verlassen. Rot-weiße Flatterbänder und Schilder sperrten den Zugang ab. Einige Türen waren eingeschlagen und hier und da lagen Sachen aus dem Inneren der Häuser auf der Straße. Lena kannte diese Spuren. Plünderer hatten sich über das hergemacht, was die Dorfbewohner nicht hatten mitnehmen können. Sie wünschte diesem Gesochs von Herzen die Pest an den Hals.  Wo die letzten Häuser gestanden hatten, türmten sich große Berge aus Erde und mitgerissenen Bäumen auf. Sie bog auf die Straße ein, die zum nächsten Dorf führte.

Udo, Reporter des Tageblattes, hatte tiefe Schatten um die Augen, denn er hatte die letzten zwei Nächte kaum geschlafen. Seine Kollegin, die fast wie eine Tochter für ihn war, war verschwunden und niemand konnte noch wagen, in dem gefährdeten Bereich nach ihr zu suchen. Er versuchte, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Lena vermutlich ums Leben gekommen war.

Wie die Menschen um ihn herum immer verrückter wurden, nahm er kaum noch wahr. Schaulustige waren von weit her angereist, um die Katastrophe live mitzuerleben, geschädigte Einheimische versuchten, jemanden für ihre Verluste haftbar zu machen, der Strom war in mehreren Dörfern ausgefallen, weil die Leitungen durch den Erdrutsch und die stellenweise aufgetretenen Gerölllawinen beschädigt waren.

Streit lag in der Luft und wo immer zwei Gruppen von Menschen aufeinander trafen, flogen schnell mal die Fäuste. Einige Autos waren angezündet worden und die Freiwillige Feuerwehr hatte nicht mal mehr eine Sirene, weil es ja keinen Strom gab. Auch die Tankstelle konnte keinen Sprit verkaufen, weil die Pumpen und Kassen nicht funktionierten. Udo hätte nicht mal heimfahren können, denn der Tank des kleinen Dienstwagens war  aufgebrochen und leergepumpt worden, ein Schicksal, das derzeit viele Fahrzeuge hier erlitten. Öffentliche Verkehrsmittel gab es keine.

Dass er keine nennenswerten Informationen bekam, aus denen er Berichte für das Tageblatt schreiben konnte, war nicht mal weiter schlimm, denn er hätte keine Möglichkeit gefunden, Bilder und Texte zu übermitteln. Trotzdem bedrängte er wie viele andere die Autoritäten und die, die sich dafür hielten, um in Erfahrung zu bringen, was überhaupt ablief. Aber das wenige, was er aufschnappte, ergab keinen rechten Sinn. Seit etwa zwei Stunden stieg zudem dichter Rauch von einer Stelle ziemlich oben am Berg auf, den niemand erklären konnte. Eine Menschentraube hatte sich gebildet und betrachtete die wabernde Dunkelheit, die den Gipfel einzuhüllen begann.

Udo war nicht der erste, der den Trecker bemerkte, der in gemächlichem Tempo vom Berg heruntergefahren kam. Erst als der Bauer, der neben ihm im Pulk stand, verwundert fragte: „Der Schäfer sitzt doch im Kittchen, also wer fährt denn da mit seinem Trecker herum?“, wandte der Reporter sich dem Fahrzeug zu, das sich langsam der Menschenmenge näherte.

Durch die Scheiben in der Kabine war zunächst nur undeutlich ein Mensch zu erkennen, der eine rote Jacke und Jeans trug. Die langen braunen Haare, die über die Schultern herabhingen, waren erst zu sehen, als der Trecker schon fast auf dem Dorfplatz angekommen war. Dann bremste die Zugmaschine am Straßenrand und der Motor wurde abgestellt. Als sich die Tür öffnete und die Fahrerin ausstieg, wollte Udo es erst fast nicht glauben, dass es tatsächlich Lena war, die da auf dem Asphalt stand.

Er lief auf sie zu und packte sie an den Schultern. „Mädchen! Wo warst du denn? Ich habe dich gestern den ganzen Tag gesucht!“ Auch Lena war froh, ihren Kollegen heil vor sich zu sehen. Aber natürlich konnte sie nicht einfach sagen: „Ach, ich habe einen Abstecher nach Asgard gemacht und mit den Göttern verhandelt, wie wir aus diesem Schlamassel wieder rauskommen!“

Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen, als sie antwortete: „Ach, da waren so ein paar Typen, die mir gefährlich aussahen. Ich bin lieber erst mal untergetaucht und habe mich dann auch noch total verlaufen. Heute Morgen habe ich zurückgefunden zur Schäferei und mir den Trecker genommen. Was ist inzwischen hier passiert? Ich habe da oben ja gar nichts mitgekriegt.“ Immerhin, ein bisschen davon stimmte einigermaßen. Im Teich war sie untergetaucht und in Walhall hatte sie außer dem Bericht von Hugin und Munin keine Nachrichten vom Meißner erhalten.

Udo berichtete kurz und knapp, wobei es in Sachen Erdrutsch nicht viel Neues gab, was sie nicht schon selbst gesehen hatte. Immerhin hatte er in Erfahrung gebracht, warum Silas verhaftet worden war. „Er soll in der Nacht zu Dienstag einen Steinschlag ausgelöst haben, der weiter unten drei Männer erschlagen hat. Die Staatsanwaltschaft hat sich noch nicht entschieden, ob das nun vorsätzliche oder fahrlässige Tötung sein soll. Immerhin war es verboten, auf dem Hang rumzuklettern. Den Opfern war es auch verboten, aber das tut hier nichts zur Sache.“ „Was sagt denn sein Anwalt?“, wollte sie wissen. „Soweit ich weiß, ist noch gar keiner da gewesen. Das haben sie wohl nicht hingekriegt in dem ganzen Durcheinander. Oder sie wollten nicht, weil die drei, die umgekommen sind, alles schwerreiche Investoren waren und deren eigene Anwälte und die Hinterbliebenen schon ordentlich Druck gemacht haben und gleich einen Schuldigen hinter Gittern sehen wollten. Schon am Dienstag Abend war eine ganze Armada von solchen Typen hier und die haben gleich den Staatsanwalt in die Mangel genommen. Irgendwie geht es auch um die Lebensversicherungen.“  

Lena sah im Geiste Loki hinter den Schlipsträgern agieren und konnte sich das bildlich gut vorstellen. Vor ihrem geistigen Auge tauchten die drei Zombies auf, die mit Loki am Teich gewesen waren und sie schüttelte sich bei der Erinnerung.

Dann stutzte sie und fragte: „Welcher Tag ist heute?“ „Samstag.“ Hinter ihrer Stirn begann es zu arbeiten. Udo sah sie verwundert an. Den Ausdruck in ihrem Gesicht kannte er. So blickte sie immer drein, wenn sie einen Entschluss fasste. Er konnte förmlich spüren, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Was immer sie gerade plante, nichts würde sie davon abhalten. Der Kollege konnte nur noch verdattert hinter dem Trecker hergucken, der mit Höchstgeschwindigkeit in Richtung Polizeiwache fuhr.

Es war früher Nachmittag, als ein Streifenwagen Silas aus dem Gefängnis in Kassel abholte. Lena hatte wie ein Ungewitter die Wache gestürmt und denjenigen zu sprechen verlangt, der in diesem Fall die Ermittlungen leitete. Ihr Alibi für den Schäfer hatte die Beamten zwar verwundert, zumal der Verdächtige kein Wort von Damenbesuch gesagt hatte, aber Lenas Aussage stand fest und daran war nicht zu rütteln. Allein die Tatsache, dass sie mit seinem Trecker angefahren kam, bewies ja, dass sie in der Schäferei gewesen sein musste und sich da auskannte.

Dazu wies sie darauf hin, dass die statthaften Gründe für eine Untersuchungshaft hier zweifelhaft genug wären und das ein drohender Erdrutsch kein Grund war, einem Festgenommenen das Recht auf anwaltlichen Beistand zu verweigern.

Ihre Entschlossenheit war wie ein Panzer, an dem alles abprallte, was man ihr entgegenhielt und bewirkte, dass die zuständigen Stellen sich sofort mit der Sache befassten – zumindest, nachdem Lena laut und unmissverständlich danach verlangt hatte. Zur Bekräftigung hatte sie mit der Faust auf den Tisch geschlagen hatte, dass die danebenliegenden Aktenordner in die Luft gesprungen waren.

Der Unterricht bei den Walkyren zeigte Wirkung, denn diese Durchsetzungskraft hätte sie sich vorher niemals zugetraut.

Die Drohung, die schlampigen Ermittlungen in der Presse ausführlich geschildert zu sehen, bewog schließlich den Untersuchungsrichter, den Haftbefehl aufzuheben und die sofortige Freilassung anzuordnen.

Als die grüne Minna bei der Polizeiwache vorfuhr, wo Lena immer noch wie ein Racheengel saß und den voreiligen Gesetzeshüter finster ansah, stieg ein etwas blasser, aber sichtlich erleichterter Silas aus. Sein Alibi kam über den Hof gerannt und blieb erst ganz knapp vor ihm stehen. Verlegen grinsten sie sich einen Moment lang an und dann warf Lena sich in seine Arme. Und er hielt sie fest an sich gedrückt.

Sie ließen sich auch nicht los, als sie zum Trecker gingen. Lena hatte  nicht direkt vor der Wache parken können, weil da schon alle Parkplätze belegt waren. Als sie nun in der Seitengasse bei dem Gefährt ankamen, wollten zwei Männer, ein etwas klein Geratener und ein Dicker, gerade das Tankschloss aufbrechen und den Diesel abzapfen. Ein dritter Mann kam  mit zwei großen Kanistern angelaufen. Die Behälter fielen zu Boden und der Dieb stürmte auf Silas los, der eben noch Lena schützend hinter sich schob.

Wenige Herzschläge später traf die Faust des Schäfers das Kinn des Angreifers mit Wucht und die Augen des Mannes verdrehten sich nach oben, bevor er rücklings zu Boden ging. Als Silas sich eilig umsah, ob Lena vielleicht durch die beiden Komplizen in Gefahr wäre, bekam er gerade noch mit, wie diese den Kleinen, der schon heftig aus der Nase blutete, mit einem geschwungenen Tritt von den Füßen fegte und dem Dickwanst den Ellbogen auf den Solarplexus rammte, so dass er über seinen Spießgesellen kippte und diesen mit seinem Gewicht am Boden hielt.

Dann sah sie sich nach ihm um. „Lass uns abhauen, bevor sie uns noch beide einsperren, weil wir die armen Diebe verhauen haben.“

Sie hatte schon die Kabinentür geöffnet und er kletterte eilig auf den Beifahrersitz, eigentlich nur ein nachträglich eingebautes Holzbänkchen über dem Hinterrad. Von da sah er zu, wie sie den Schlüssel im Zündschloss drehte und den Startknopf zog.

„Wo hast du so gut kämpfen gelernt?“ Während sie den Gang einlegte, blickte sie kurz zu ihm hoch und grinste. „Das ist eine lange Geschichte. Erst mal will ich was anderes wissen. Warum hast du denn nicht gleich gesagt, dass wir die ganze Nacht zusammen waren? Dann hätten sie dich doch gar nicht einlochen können“, fragte sie über den Lärm des Dieselmotors hinweg.

Er wirkte etwas verlegen. „Na, ich wollte dich nicht in einen schlechten Ruf bringen. Wir kannten uns ja fast gar nicht und haben schon die Nacht zusammen verbracht, wenn auch nur nebeneinander auf dem Sofa geschlafen. Das würde sowieso keiner glauben und ich wollte nicht, dass du als Flittchen angesehen wirst“

Lenas Gesicht fuhr zu ihm herum, Verblüffung pur. „Du hast dich einsperren lassen, damit wildfremde Leute nicht denken, ich wäre schnell rumzukriegen?“ Bei jedem anderen hätte sie das nicht geglaubt, aber Silas war nicht wie jeder andere.

Er zuckte die Achseln. „Ich bin wohl altmodisch.“ „Das ist alles?“ Lena fuhr einen Bogen um einen Felsbrocken, der auf der Straße lag und sah wieder zum ihm hoch. Der Beifahrersitz über dem Hinterrad, eigentlich nur ein nachträglich eingebautes Holzbänkchen, war bestimmt nicht bequem, aber sicher noch besser als das Gefängnis. Sie sah, wie er die Landschaft ansah und tief einatmete.

„Naja, ich habe schon drauf vertraut, dass sich das irgendwie aufklärt“, sagte er dann leise.

Als sie schwieg, beugt er sich dicht an ihr Ohr herunter. „War es schwer, mich da rauszukriegen?“ „Nein, eigentlich nicht.“ Sie lenkte den Trecker zur Seite, bremste und schaltete den Motor aus.

Dann drehte sie sich zu ihm um. „Schönen Gruß von Syn. Sie hat mir geholfen.“

Den Ausdruck auf seinem Gesicht würde sie nie wieder vergessen. „Syn?“ „Ja. Als ich aus Walhall wieder runter auf die Erde musste, hat sie mir die Kraft mitgegeben, für dich zu kämpfen. Und Frigg hat mir einen Talisman zugesteckt. Den habe ich mir noch gar nicht angeguckt, fällt mir gerade ein. Lass uns absteigen und ein paar Meter laufen.“

Es war ein kleiner Lederbeutel, den sie aus der Hosentasche zog. Zwei kleine Amulette kamen zum Vorschein, jedes an einer stabilen Schnur. Man konnte sie ineinander verhaken, so dass ein Kreis entstand, das Symbol der Vollkommenheit. Mit zitternden Fingern nahm Silas das eine Teilstück und hängte es Lena um den Hals, dann ließ er sich von ihr das andere umhängen.

Sie sahen sich in die Augen und sprachen leise wie aus einem Mund: „Was die Götter zusammen gefügt haben, kann der Mensch nicht trennen.“

Sie zuckte nicht einmal zusammen, als aus ihrer Tasche Töne  erklangen. Es waren die Saiten eines Kontrabasses, die da gezupft wurden, dazwischen rythmisches Rasseln und fast gleichzeitig setzten sanfte Streichinstrumente und die Stimme von Ben E. King ein.
Zwei Mal hintereinander hörten sie den ganzen Song: Stand by me.

„Kein Lied könnte besser passen“, sagte Silas leise. „Der Himmel dunkel, bedrohlich, fällt herunter, die Berge krachen ins Meer, alles geht kaputt. Aber solange wir zueinander stehen, kann uns nichts passieren.“

Thors Wagen stand noch in der Scheune und die Böcke hatten es sich im Stall gemütlich gemacht. Silas musste sich davon überzeugen, dass sie Wirklichkeit waren. Seine Hand strich über das schon etwas verschrammte Holz des Karrens und der befühlte das Fell der Zugtiere. Erst als ihn der eine Bock mit den Hörnern aus der Stalltür zu schieben begann, konnte er sich entschließen, zu Lena ins Haus zu gehen. Das Abendessen stand auf dem Tisch und die Küche war gemütlich warm.

Alle Einzelheiten ihres Abenteuers ließ er sich haarklein erzählen. Sein Gesicht spiegelte bei dem Bericht keinen Unglauben wider, sondern die selbe Verwunderung, die sie die ganze Zeit über verspürt hatte. Er fragte nach und ließ ihre Reise zu den Göttern wie einen Film vor seinem geistigen Auge ablaufen.

„Und du hast bei den Walkyren das Kämpfen gelernt?“ Sie lachte. „Und du wirst es von mir lernen. Oder glaubst du, ich will noch mal nach Walhall, wenn du nicht da bist?“

Er zog sie in seine Arme und murmelte an ihrem Haar: „Das ist das Schönste, was mir je einer gesagt hat. Dafür würde ich alles lernen wollen.“

Lena erinnerte sich an die Worte der Walkyre, dass ihr Gedächtnis am Ende möglicherweise gelöscht werden würde, aber noch war das nicht geschehen. Trotzdem bemerkte sie, wie ihre Erinnerungen zu verschwimmen begannen. War das nun die natürliche Reaktion darauf, dass sie einer total Reizüberflutung ausgesetzt war oder dass die Dinge, die sie erlebt hatte, eigentlich gar nicht für ein menschliches Gehirn begreiflich waren? Das konnte sie nicht sagen.

Immer wieder befühlten sie beide die Amulette an ihrem Hals und lächelten sich an. Worte waren nicht nötig.

Ein Leben im Einklang mit der Natur kennt keine Wochentage. So wachten Silas und Lena am Sonntag im Morgengrauen zur üblichen Zeit auf. Sie lagen eng aneinander geschmiegt in seinem Bett und lächelten sich an, einfach glücklich, dass der andere da war. Dann kehrte die Erinnerung zurück und sie drehten sich so, dass sie aus dem Fenster sehen konnten. Auf Anhieb konnten sie draußen keine Veränderung sehen, weder hatte der dunkle Rauch aus dem Mundus den Himmel verdunkelt, noch war sonst etwas Ungewöhnliches augenfällig.

Aber das dumpfe Grummeln, dass von Zeit zu Zeit ertönte, machte Silas stutzig. „Das ist doch kein normales Gewitter!“ Lena schüttelte den Kopf. „Glaube ich auch nicht.“

Nach dem Frühstück verließen sie Hand in Hand das Haus und erkundetet die Umgebung. Der schwarze Rauch hatte sich verzogen, die Luft war klar und frisch. Silas zog sie tief ein und berichtete mit Schaudern von seiner Zeit im Gefängnis. Egal, in welche Richtung er geschaut hatte, überall war sein Blick an Wände geprallt. Sein Auge war es gewohnt, vom Hohen Meißner viele Kilometer weit über das Land sehen zu können. Die Enge der Zelle hatte ihn schier erdrückt. Lena streichelte seine Hand und litt mit ihm in der Erinnerung.

Immerhin hatte er eine Einzelzelle gehabt und damit seine Ruhe, vor allem auch für seine Vitki-Magie. Sein Geist hatte nach Lena gesucht, sie aber nicht finden können. Nun, er hatte sich bei seiner Suche ja auch auf Midgard konzentriert. So konnte das ja keinen Erfolg haben. Sie mussten beide lachen, als er das mit einem Schulterzucken erzählte.

Ihr Weg führte sie zum Mundus. Thor war nicht zu sehen, aber auch kein Rauch und keine Wesenheiten. Die sonntägliche Stille wirkte aber nicht beruhigend, sondern hatte etwas Bedrohliches an sich. Sogar der Donner war verstummt.

Silas und Lena standen eng umschlungen da und betrachteten den Schlitz im Berg, der kein Lebenszeichen von sich gab. Sie wussten, dass etwas nicht stimmte, aber ihre Sinne gaben ihnen keinen Hinweis, welche Art Gefahr drohte. Trotzdem hatten sie beide Gänsehaut und ihre Nerven waren aufs Äußerste gespannt.

Den Bannstrahl, der sie dann traf, konnten sie nicht sehen. Aber von einer Sekunde zur anderen konnten sie sich nicht mehr bewegen. Da nützten auch die Kampfkünste der Walkyren nicht, als Loki die beiden dichter an den Rand des Mundus verfrachtete.

Auf eine Handbewegung von ihm hin schob sich der Spalt weiter auf und eine dunkle Rauchwolke entwich zischend und stinkend. Der Gott der Hinterlist schob die beiden Liebenden, die noch immer wie zur einer Salzsäule erstarrt waren, vor sich her. Ihre Füße hinterließen eine Furche  in der Schicht aus Asche, Erde und kleinen Steinen, die den Boden bedeckte.

Die Augen des Paares waren von diesem Bann offenbar ausgenommen, denn sie konnten die Augäpfel bewegen und sich gegenseitig in Panik anstarren, als sie dem Höllenschlund entgegen gezerrt wurden. Alles andere an ihnen war steif und zur Bewegungslosigkeit verdammt. Sie konnten sich nicht wehren.

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