Sieben gegen die Hölle - Sarasvati Galadriel Clausnitzer (Teil 2)
Sieben gegen die Hölle
Sarasvati Galadriel Clausnitzer (Teil 2)
„Ja … dann“, gab der ältere Mann mit dem grauen Haarkranz sich geschlagen. „Sie wissen ja, wo Sie mich finden können, wenn Sie Hilfe brauchen sollten. Mich oder meine Ablösung.“
Dafür schenkte sie ihm ein dankbares Lächeln, bevor sie sich wieder ihrem Laptop widmete. Dort sammelten sich Stichwörter in zwei Gruppen. Sara hatte beschlossen, zuallererst noch einmal das Nibelungenlied zu lesen und dann in die umfangreiche Sekundärliteratur abzutauchen.
Sie las von Hagen, der am Königshof zu Worms allerhand über den neuen Gast Siegfried zu berichten wusste und wenig Vorteilhaftes. Ein im Zweikampf unbesiegbarer Totschläger mit einem Schwert, dem niemand standhalten konnte. Kurz gesagt, jemand, den man im Zweifelsfall lieber neben sich stehen hatte als ihm gegenüber stehen zu müssen.
Aber nachdem Siegfried in die Familie eingeheiratet hatte und in einigen schwierigen Situationen nützlich gewesen war, musste er um der Ehre willen doch sterben – durch einen Speer in den Rücken. Hagen führte den Speer und Hagen nahm dann auch das Schwert Balmung an sich. Siegfrieds trauernde Witwe nahm die Brautwerbung des Königs der Hunnen an und zog zu ihm in sein Reich. Dann lud sie ihre Brüder ein, ihre Gäste zu sein, und als diese der Einladung Folge leisteten, wurden sie alle umgebracht. Siegfrieds Witwe schlug Hagen mit Siegfrieds Schwert den Kopf ab, wurde dann selbst von einem entsetzten Hildebrand erschlagen, der der Gefolgsmann eines Hunnenvasallen namens Dietrich von Bern gewesen war, und damit verschwand Balmung aus der Geschichte.
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Sara überlegte. Hätte Attila das Schwert Balmung behalten? Offensichtlich hatte es seinen Besitzern seit Siegfrieds Ermordung kein Glück mehr gebracht. Der König der Hunnen galt in der Historie als abergläubischer Herr eines abergläubischen Volkes. Nein, entschied Sara. Attila hätte den Unglücksbringer so schnell wie möglich aus seinem Reich fortgeschafft.
„Das ergibt einen Sinn.“ Lokis Stimme klang nachdenklich. Das waren ihre ersten Worte, seit Sara die Bibliothek betreten hatte. „Aber wohin?“
Sie widmete sich wieder den Bücherstapeln. Dietrich von Bern hatte vor seinem Onkel fliehen müssen und am Hof Attilas Zuflucht gesucht. Nach dem Untergang der Könige von Worms nahm Dietrich seinen Abschied von Attila, weil er erfahren hatte, dass er in der Heimat Bern mit Verbündeten rechnen konnte. Das war allerdings nicht Bern in der Schweiz, sondern vielmehr Verona in der Lombardei. Hildebrand zog mit Dietrich und dessen Frau Helche. Das musste Attila doch wie eine günstige Gelegenheit erschienen sein, Balmung loszuwerden? Ein Angebot des Schicksals, das er sicher nur zu gerne angenommen hatte.
Und wann war das alles geschehen? Attilas Tod stand fest: er war im Jahr 453 an einem Blutsturz gestorben.
Der Tod des Burgundenkönigs Gundahar, der von Worms aus regiert haben mochte oder auch nicht, war unter Historikern auf das Jahr 436 angesetzt worden.
Andererseits war aber Theoderich der Große, den man für die historische Figur hinter den Sagen um Dietrich von Bern hielt, erst 451 geboren worden. Und Dietrichs Onkel Ermenrich, der ihn vertrieben hatte und dessentwegen Dietrich mit seinen Kriegern bei den Hunnen Zuflucht suchte, wurde weithin mit dem Ostgotenkönig Ermanarich gleichgesetzt, der wohl 376 der Tod fand. Das alles passte nicht zusammen. Theoderichs Gestalt hatte anscheinend ein paar andere Geschichten assimiliert.
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Nach seiner Zeit im Hunnenreich kehrte Hildebrand jedenfalls in das Land seiner Väter zurück und wurde dort zum Zweikampf auf Leben und Tod gefordert - von seinem eigenen Sohn, der den Vater nach dreißig Jahren im Exil für längst tot hielt und den „alten Hunnen“ nicht wiedererkannte. Das Ende dieses Zweikampfs war im sogenannten „Hildebrandlied“ nicht überliefert worden, aber eine andere Saga berichtete vom Tod des weit gereisten alten Kriegers, der um den Sohn trauerte, den er erschlagen musste. Mit Siegfrieds Schwert, das seiner Rolle treu geblieben war. Wer Balmung finden wollte, der musste Hildebrand folgen, da war Sara sich jetzt sicher.
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Besonders viel Interesse an der Figur von Dietrichs Lehr- und Waffenmeister Hildebrand hatte die Forschung in den vergangenen Jahrzehnten allerdings nicht gezeigt. Angeblich war er ein Sohn des Wendenherzogs Reginbald aus der Familie der Wölfingen, der im Alter von dreißig Jahren an den Hof von Dietrichs Vater Dietmar in Bern kam, um dort Dietrichs Erzieher und Waffenmeister zu werden. Sprachforscher schrieben den Ursprung des Hildebrandliedes den Langobarden zu, weil aus der Geschichte dieses Volksstammes einige Namen überliefert waren, die auf „-brand“ endeten – und das war bei den Goten nicht der Fall gewesen.
Die Wenden waren allerdings schwierig zu fassen. Die Bewohner Venetiens drängten sich nahezu auf und passten gut zu Theoderich. Aber auch die slawischen Einwanderer entlang der Elbe waren von ihren deutschen Nachbarn so genannt worden, und der römische Gelehrte des zweiten Jahrhunderts Claudius Ptolemäus hatte über „Ouenedai“ geschrieben, deren Siedlungsraum an der Ostseeküste in einer Region östlich der Weichsel gelegen haben sollte. Die einzigen Veneti, die Sara von vornherein ausschließen konnte, hatte Caesar in der heutigen Bretagne geschlagen und die Überlebenden in die Sklaverei verkauft. Hildebrands Heimat konnte irgendwo zwischen der Adria und der Ostsee liegen – und wenn Sara und Loki richtig böses Pech hatten, dann war er am Ende gar aus der versunkenen Stadt Vineta gekommen.
Sara lehnte sich zurück gegen die Stuhllehne und rieb sich die Augen.
„Mir scheint, wir sind jetzt schlechter dran als vorher“, kommentierte die Stimme in ihrem Kopf. Loki war keine große Hilfe. Aber andererseits … „He, Loki! Was kannst du mir über Hildebrand und seine Leute erzählen? Die gehören doch eher zu deiner Welt als zu meiner?“
„Nein, leider nicht“, musste die Stimme des verbannten Gottes einräumen. „Die Goten und ihre Nachbarn haben Generationen vor den Völkern des Nordens den Asen abgeschworen und sich dem Einen Gott aus Rom unterworfen. Und damit verschwanden sie aus unserem Gesichtsfeld …“
„Jammerschade.“ Sara schüttelte den Kopf. „Man kann große Bibliotheken füllen mit dem, was ich nicht über die Zeit der Völkerwanderung weiß.“
„Ich muss mich bei dir entschuldigen. Es war eine gute Idee, diesen Hort der Geschichten aufzusuchen. Und wenn ich am heutigen Tag etwas von dir gelernt habe, Sara, dann ist es wohl, dass irgendwer dann auch mindestens eine Bibliothek damit gefüllt hat. Irgendwo.“
Für jemanden, der vor wenigen Tagen zum ersten Mal von Büchern und Bibliotheken gehört hatte, lernte Loki sehr schnell.
„Es gibt Universitäten, an denen Geschichte und Archäologie gelehrt werden. In deren Bibliotheken werden wir vielleicht etwas finden. Und dann sind natürlich auch noch Aufsätze in den Fachzeitschriften, die uns weiterbringen könnten.“ Sie grinste plötzlich. „Es wäre natürlich ein bisschen viel Glück, wenn jemand das Grab schon vor Jahren entdeckt hat, ohne zu erkennen, was da liegt. Stell dir das mal vor: Siegfrieds Schwert, ausgestellt in einer Glasvitrine im Heimatmuseum irgendeiner Kleinstadt - in Norditalien, Slovenien oder Polen …“
„Das könnte helfen.“ Ein kurzes Zögern. „Archäologie … ihr habt einen Beruf daraus gemacht, wie man nach Schätzen gräbt?“
„Eigentlich wollen wir mehr darüber wissen, wie Menschen früher gelebt haben.“ Sara verzog das Gesicht. „Es ist ja nun wirklich nicht unsere Schuld, dass sie früher so viele Wertsachen mit ins Grab gelegt haben!“
„Wie rücksichtslos von ihnen. So eine verdammt lästige Angewohnheit!“, spottete Lokis Stimme.
„Ja, ja. Schon gut. Ich schaue dann mal nach, an welchen Universitäten Archäologie gelehrt wird.“ Sara gab ihre Anfrage in die Suchmaschine ein, um sich anhand der Homepage schließlich für Bonn als neues Etappenziel zu entscheiden. „Siedlungs- und Migrationsforschung im Baltikum, Osteuropa und Eurasien? Thematik der Völkerwanderungszeit, insbesondere der Goten? Das klingt ja gerade wie für uns gemacht!“
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Inzwischen hatte die Aufsicht des Lesesaals gewechselt. Die Dame am Tresen blickte von ihrem Monitor auf und schaute Sara fragend an, als diese mit einem Arm voll Bücher auf sie zusteuerte. „Hallo. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ich glaube, ich bin fertig mit meiner Recherche. Wo soll ich die Bücher hinbringen?“
Die Bibliothekarin lächelte. „Lassen Sie sie einfach da liegen. Wir sammeln sie dann ein. Haben wir Ihnen helfen können?“
Sara erwiderte das Lächeln. „Na ja – wie man so sagt: jede Antwort bringt im Gepäck eine neue Frage mit. Und meine neuen Antworten muss ich woanders finden.“
„Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg auf Ihrer Suche. Und einen schönen Abend noch!“
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Als sie aus dem Gebäude der Bibliothek hinaustrat, schlug Sara den Kragen ihres Mantels hoch. Kalt war es geworden, während sie in der Vergangenheit recherchiert hatte! Glücklicherweise lag die Jugendherberge gleich um die Ecke neben der Magnuskirche. Also konnte sie schnell ihren Laptop dort einschließen und danach etwas essen gehen … und über die nächsten Schritte nachdenken. Nach Italien oder Österreich konnte sie einfach so fahren. Bei Polen, Ungarn und Slowenien war Sara sich nicht so sicher, und für Russland würde sie ganz sicher ein Visum brauchen – und das sollte eine ziemlich aufwendige Angelegenheit sein, hatten ihr Freunde erzählt.
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Eine halbe Stunde später stand Sara in einem chinesischen Restaurant vor dem Buffet und lud ihren Teller voll, als Loki sich wieder zu Wort meldete: „Was ist denn das alles?“
„Reis, Sojabohnen, Bambussprossen, Gemüse. Das da sind Mu-Err-Pilze. Und jetzt kommen noch ein paar Stücke gebratene Ente dazu.“
Die Stimme in Saras Kopf klang wehmütig. „Es ist schon sehr lange her. Und ich glaube, so etwas hat's in Asgard sowieso nie gegeben.“
Da kam ihr ein Gedanke. „Du kannst in meinem Kopf lesen. Kannst du dann auch fühlen, was ich schmecke?“
„Wenn du dich darauf konzentrierst … dann wäre das wohl möglich. Warum?“
„Wenn dir das Erlebnis fehlt, dann werde ich es mit dem Konzentrieren versuchen.“
„Das … also das wäre sehr großzügig von dir“, antwortete Loki.
„Kein Problem. Vielleicht noch ein Glas Wein dazu?“
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Etwas später an diesem Abend wunderten sich ein paar norwegische Rucksacktouristen kurz vor dem Einschlafen, wer da im Treppenhaus der Jugendherberge laut und in einem archaischen Norwegisch erstaunlich vulgäre Trinklieder zu Gehör brachte.