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Bd. 3 - Rotbarts Fluch

Rotbarts FluchLook out, 'cause there's something wrong

                                  And you don't know what it is

                                  Watch out, or it's Sodom and Gommorah

                                  The malevolent order

                                  Right now, before it's much too late, before it's much too late

                                  A dark light, a darkness never ending

                                  A dark light, the devil gets his due

                                  A dark night, is everywhere descending

                                  A dark light, is coming for you

(Kiss – Dark Light)

1. Kapitel:

Ein Toter erhebt sich


"Friedhöfe sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren", brummte der große, hagere Mann, als er seinen Merce­des 500 geparkt hatte, die Sonnenbrille ab­nahm und ausstieg. Bei Dunkelheit war die dunkle Sonnen­brille, die der Mann in seinem Mantel ver­staute, doch ein eher ungewöhnliches Ac­cessoire.

Ein letzter Blick auf die Uhr zeigte: Noch knapp zwanzig Minuten bis zu der Stunde, die die Men­schen Geisterstunde nannten. In der Tat war es eine machtvolle Stunde, die Stunde der Toten. Das Licht des vollen Mondes zauberte Lichtreflexe auf den schwarzen Lack des Spitzenmodels der Stuttgarter Autoschmiede.

Der Hagere holte eine kleine Umhän­getasche aus dem Kofferraum und ver­schloss das Fahrzeug per Funkbefehl. Die aufleuchtenden Blin­ker warfen ihr gelbes Licht auf das Gesicht der Gestalt. Die Haut wirkte in diesem Licht beinahe unna­türlich bleich, fast schon durchschei­nend. Die Augen la­gen tief in den Höh­len und wirkten wie schwarz glänzende Kohlen. Das sträh­nige graue Haar fiel auf die Schultern des Mannes. Das Lächeln offenbarte eine Rei­her gelber Zähne.

Er sah im für ihn taghellen Mondlicht zu einem dieser neuen Friedhöfe hinüber, die mehr Ähnlichkeit mit einem Supermarktparkplatz denn mit einem Totenacker hatten. Fast erwartete der Hagere auf Plakate zu stoßen, die auf eine besonders günstige Grabstelle hinwiesen. Seine Mundwinkel hoben sich zu einem verächtlichen Schmunzeln, als er an Gießkannen vorbei kam, die man für eine Pfandmünze von einer Kette lösen konnte.

Wirklich, hier ging es zu wie im Supermarkt!

Es gab keine Atmosphäre, keine reizvollen Grabmale vor denen man verweilen wollte, um deren eigentümliche Schönheit in sich aufzunehmen und über das Vergängliche zu sinnieren. Auf Grabmalen dieser alten Friedhöfe, so fand der Hagere, gewannen selbst Engel etwas Reizvolles, Faszinierendes. Er fragte sich, ob seine allerhöchste Majestät einst auch so ausgesehen hatte, bevor er fiel.

Müßige Gedanken.

Würdelos fand er die akkuraten Reihen der Gräber mit den genormten Grabsteinen und wieder einmal bekam er das Gefühl, ein paar Bürokraten in Kröten verwandeln zu müssen, am besten in genormte Einheitskröten. Diese Männer, die selbst den Tod noch normten, waren ihm zuwider. Vermutlich war es ihnen sogar ein Dorn im Auge, dass nicht jeder Mensch gleich groß war, so dass es bei der Grabstellengröße Toleranzen geben musste. Widerliches Gezücht, fand der Hagere und öffnete die Pforte zum Friedhof.

In der Ferne konnte er die vereinzelten Lichter einer Siedlung erkennen. Die Menschen gingen nach verrichtetem Tagwerk zu Bett. Dazwischen Bauland. Die Kleinstadt, deren Namen der Hagere sich nicht gemerkt hatte, wollte noch wachsen. Und man hatte den neuen Friedhof an den künftigen Ortsrand verbannt, als wollten sie den Tod verdrängen. Aber nicht mit Freund Hein, dachte der Hagere. Er, der keinen Herren hatte, würde zu ihnen kommen, wenn ihre Zeit gekommen war. Da konnten diese Sterblichen noch so sehr versuchen wegzusehen.

Aber was er wollte, konnte er auf diesem und jedem anderen Gottesacker finden. Dazu brauchte es keinen dieser alten Friedhöfe voller Atmosphäre, obwohl es einfach ästhetischer war, wenn alte Baumbestände das Mondlicht brachen, bevor es auf wundervolle Mausoleen und individuelle Grabsteine fiel.

Totes Fleisch gab es hier wie da. Aber er wollte mehr als das. Er brauchte einen Diener.

Leichen sind etwas Wunderbares, ging es dem Hageren durch den Kopf. Rohmaterial, um Diener zu schaffen, die nicht widersprachen, die keinen Schmerz empfanden und kaum zu zerstören waren. Sie waren das, was er brauchte für seine ihm auferlegte Pflicht. Eine brauchte er, eine Leiche.

Die in ihm schlummernde Macht gab wegen der Tat des Nazareners vor zweitausend Jahren leider nicht mehr her, als unter größten Mühen einen von ihnen zu rufen. Könnte er seine Macht ungehindert freilassen, würde sich mit einem Streich jeder Tote auf diesem Friedhof aus der Erde wühlen und mit diesem Heer würde er das Land für den Kaiser in Besitz nehmen. Wahrscheinlich würden die Bürokratieopfer seinem Ruf willig und ohne Klage folgen.

Ein riskanter und kluger Schachzug war es, den Schatz zu schaffen. Widerwillig empfand er Respekt für den Zimmermann. Das musste er einräumen. Er knebelte die Macht der Linken Hand, verhinderte, dass die Erde von ihr überschwemmt und beherrscht wurde. Er sorgte dafür, dass die höllische Majestät in den Schwefelklüften jenseits der Welt warten musste. Das schürte den Zorn des Kaisers. Wenn er dereinst auf die Erde kommt, würde die Menschheit diesen Zorn spüren und Luzifer seinen Triumph auskosten.

Und dann bin ich zum Glück auf der richtigen Seite, dachte der Hagere.

Der Hagere trug einen knöchellangen nachtschwarzen Ledermantel, der im kühlen Nachtwind wie ein Umhang wehte. Sicheren Schrittes ging er über die Kieswege. Klar lagen die Reihen der Gräber vor ihm. Schon bald konnte er die frischen Gräber ausmachen. Er wollte eine halbwegs intakte Leiche, nicht altes verfaultes Fleisch oder gar einen durch einen Unfall zerstückelten Kadaver.

Vier, nein fünf Gräber kamen in Frage. Er ließ Sinne, die einem Menschen fremd waren, in das Erdreich eindringen, suchte nach den hölzernen Kisten, durchdrang diese Schale, konnte die Leichen spüren, sah die Schatten ihres Leidens, ihres Sterbens, ihres Todes.

Einen Moment ergötzte sich der Hagere daran, nahm es in sich auf und genoß den Schmerz und das Elend.

Herrlich!

Dann fand der Hagere, was er suchte ...

 

***

 

"Conny, wir sollten uns langsam in die Schlafsäcke trollen", meinte Sabrina Funke und goss den letzten Schluck Kaffee ins Feuer, wo er zischend verdampfte. "Es ist schon spät. Und morgen wollen wir uns das Denkmal ansehen. Wenn wir dann unser Pensum schaffen wollen, müssen wir früh raus."

Sie hatten sich auf einen kleinen Campingplatz an einem Bachlauf nahe des Kyffhäuser ihr Zelt aufgebaut. Der Mai war gekommen, das Wetter war gut, aber ein steifer Ostwind sorgte für erfrischende Kühle am Abend, so dass der Campingplatz nicht sonderlich voll war. So früh im Jahr waren nur ein paar Dauercamper da und die waren am anderen Ende des Platzes. So hatten sich die beiden die Feuerstelle hergerichtet, ihre Jacken über zwei Steine gelegt und es sich, soweit das möglich war, bequem gemacht.

"Es ist noch vor Mitternacht", entgegnete Cornelia Bender. "Lass uns noch einen kleinen Schluck vom dem guten Stoff nehmen und ein bisschen quatschen. Im Studium konnten wir das die ganze Nacht durchhalten."

"Das Studium ...", Sabrina sah ins Feuer und hing Erinnerungen nach. "Gott, wie lang ist das her?"

"Acht Jahre und eine Ehe", sagte Conny und brachte sogar ein Lachen fertig.

Sabrina Funke sah ihre blonde Freundin an. Sie schien sich davon zu erholen, dass Kurt sie verlassen hatte. Das Lachen kehrte in ihre Augen zurück. Das hübsche, nein, immer noch wunderschöne Gesicht, um das Sabrina ihre Freundin immer ein wenig beneidet hatte, war entspannt. Keine Spur von der Traurigkeit mehr, die es noch vor wenigen Tagen zeichnete. Da hatten sie sich im Palast der Winde, wie der Volksmund den zugigen Bahnhof Wilhelmshöhe in Kassel nannte, getroffen. Sabrina hatte immer Bewunderung für ihre Freundin empfunden. Sie selbst war eher unscheinbar mit einer knabenhaften Figur, deren einziger Vorteil es war, dass kein Windbeutel oder Schmalzgebäck ansetzte. Aber selbst ein paar Pfunde zuviel machten Cornelia nur noch weiblicher.

Seit sie vor drei Tagen aufgebrochen waren, um von Hessen aus ein bisschen durch Thüringen zu wandern, hatten sie viel geredet und alte Zeiten wieder belebt. Beide hatten am Johaneum in Hamburg ihr Abi gemacht und dann zusammen an der Uni Marburg Germanistik studiert.

Cornelia war dann zu einem großen Verlag ins Bergische gegangen, wo sie als Lektorin neben Heimatromanen eine Serie über einen Arzt, dem die Frauen vertrauen, betreute. Dort hatte sie Kurt kennengelernt, einen der Autoren, die die Abenteuer des Mediziners zwischen OP und Ehebett erzählten. Kurt hatte irgendwann seine Recherchearbeit an der weiblichen Anatomie übertrieben, wobei sich diese in fremden Ehebetten und Bordellen in und um Köln abspielte. Cornelia war dahinter gekommen und dann hatte Kurt sie Ostern wegen einer anderen verlassen. Cornelia hatte sich umgehend gerächt, so dass Kurt jetzt über die Abenteuer eines Notarztes im Norden bei der Hamburger Konkurrenz schreiben musste.

Sabrina hatte das Nord- und Mittelhessische lieb gewonnen. Sie mochte den Menschenschlag dort, wie auch den Dialekt und die Landschaft. Sie hatte sich der Forschung und Lehre verschrieben und war zur Gesamthochschule Kassel, die als linke Kaderschmiede verschrien war, gewechselt. Dort war sie zur Zeit in einer Forschungsgruppe, die Goethes letzte Worte unter die Lupe nahm. War mit "Mehr Licht" der hehre Wunsch nach mehr Erleuchtung verbunden, wie man es gemeinhin annahm? Wollte es der Dichterfürst einfach nur heller haben? Oder war er auf dem Sterbebett wieder zum Frankfurter geworden, der im Dialekt seiner Heimat sprach und sagen wollte "Mehr licht hier so harte" und diesen Satz nur nicht zu Ende führen konnte, weil der Tod seine kalten, knochigen Finger nach ihm ausstreckte? Eine spannende Aufgabe. Noch war nicht alles abgewogen, was man wusste, so dass es zu früh war, um zu einem endgültigen in der Fachwelt der Germanistik bestimmt aufsehenerregenden Gesamturteil zu kommen.

"Dann reich mal den Herbstprinz an", sagte Sabrina und meinte den Obstbrand, der nahe Hamburg, im Alten Land gebrannt wurde. Nach zwei Jahren Lagerung konnte der aus einer uralten, herben und nur bedingt EU-konformen Apfelsorte, dem Finkenwerder Herbstprinz, gewonnene Schnaps jeden Calvados erblassen lassen. Ein feines Aroma, wohlige Wärme und ein exzellenter Geschmack zeichnete ihn aus.

Conny wühlte in ihrem Rucksack und förderte eine Feldflasche zu tage. Sie schüttelte und stellte befriedigt fest, dass sie noch halbvoll war. Wehmütig dachte sie an die Studienzeit, wo schon mal eine Flasche 'verdunstet' war, wenn Seminare zu stressig oder Referate zu sperrig waren.

"Auf den Rotbart!", prostete Conny Sabrina zu, setzte die Feldflasche an und nahm einen Zug wie zu Studienzeiten. Aber sie war nicht mehr dran gewöhnt und prustete ganz schön, als sie absetzte und die Flasche an die lachende Sabrina weitergab. Schnell suchte sie nach einer Wasserflasche um nachzuspülen.

"Auf Barbarossa!", erwiderte Sabrina den Trinkspruch und beide spielten auf den Kyffhäuser an, wo der Sage nach der alte Rotbart auf seine Wiederkehr wartete, und trank wesentlich vorsichtiger. "Wir werden alt", meinte sie, als sie die Feldfalsche absetzte.

"Alt!", lachte Conny. "Wir sind Mitte Dreißig. Das ist nicht alt, sondern reif", verkündete sie lachend. "Wir sind noch am Anfang oder wieder am Anfang. Und das ist schön. Ein neues Leben."

"Die Natur hat eine gute Wirkung auf dich", meinte Sabrina leichthin und beobachtete doch jede Bewegung ihrer Freundin. Sie hatte sich Sorgen gemacht, denn Cornelia Bender stand vor den Trümmern ihres Lebens.

"Die Natur, du und der Herbstprinz", entgegnete Conny. "Das ist das, was mir gefehlt hat. Raus aus der Tretmühle des Verlages. Und weißt Du, wer mich vertritt?" Conny machte eine theatralische Pause und konnte ihr Lachen kaum zurückhalten. "Der schöne Monsterbröcher, der bei uns den Horror und die Science Fiction macht. Ich seh den vor mir, wie ..." Ein Lachkrampf schüttelte sie. Sabrina hatte gerade noch einen Schluck getrunken, konnte aber nicht anders und fiel in das ansteckende Lachen ihrer Freundin ein, bis ihr der Herbstprinz aus der Nase lief. Ein grauenvoller Hustenanfall war die Folge.

Nach einer Weile beruhigten sie sich wieder. Die Flasche wurde noch ein paar mal hin und her gereicht. Das Gespräch verflachte zusehends und wurde immer alberner, bis sie sich dann in ihr Zelt zurückzogen und wie Teenager, die im elterlichen Vorgarten zelteten, kichernd und lachend einschliefen.

***

 Der Hagere stand vor einem Grab. Es mochte drei oder vier Tage alt sein. Aus seinem Koffer hatte er eine Kreide, die mit Menschenfett versetzt war, genommen. Diese Zeichen halfen bei der Beschwörung ungemein, ließen ihn Kraft sparen.

Seit Jahrhunderten widmete er sich dem schwarzen Zauber. Er zeichnete ein auf dem Kopf stehendes Pentagramm. Dazu murmelte er Worte in einer Sprache, die längst vergessen und einst südlich des Tiber gebräuchlich war. Das Volk der Etrusker hatte den Totenkult vervollkommnet. Ihre nekromantischen Fähigkeiten waren lange vor dem Zimmermann zur Blüte gelangt und hätten ihre finsteren Zauberer gewollt, sie hätten Rom mit einem Totenheer überrennen können. Stattdessen hatten sie beschlossen zu sterben. Niemand wusste, warum.

Doch ihr Erbe war geblieben und nützte heute den Heerscharen des Teufels und ihm selbst. Es machte die Beschwörung des Toten weniger beschwerlich.

Das Pentagramm war fertig. Der Hagere achtete sorgfältig darauf, nicht die Linien zu verwischen. Dann sammelte er sich einen Moment, um die Beschwörung in einer Sprache, die er nicht verstand, repetieren zu können.

Der Hagere verharrte, als warte er auf ein Zeichen, und von fern klang der erste Schlag einer Kirchturmuhr zu ihm herüber. Im selben Moment begann er mit der Anrufung.

Seine Stimme klang überraschend tief und volltönend. Die Laute, die er über die Lippen brachte, waren für seine Ohren und jeden lebenden Menschen auf dieser Welt fremd und doch faszinierend und lockend zugleich.

Das musste es sein. Er rief den Toten nicht, er lockte ihn aus dem Grab. Der Hagere lockte ihn, unter den Lebenden zu wandeln, ihm, dem Zauberer, zu willen zu sein und das Reich der Toten zu verlassen. Schweiß trat ihm auf die Stirn, als arbeite er körperlich und in der Tat war es so, als bahne der Hagere dem Toten den Weg auf die Erde. Fast ging der Magier unter der Last der Worte in die Knie, schwankte, fing sich. Sein Gesicht vor Anstrengung verzerrt, kämpfte er um jede einzelne Silbe der Beschwörung.

Er durfte keinen Fehler machen. Dann war es mit ihm vorbei und er war im besten Fall ein sabbernder Idiot und im schlimmsten Fall ein toter, verwesender Kadaver, mitgerissen von der Wucht des Zaubers, getötet von der eigenen machtvollen Beschwörung.

Der Hagere schwankte wie ein Blatt im Herbstwind. Er murmelte unablässig die Beschwörung. Diese hatte nun etwas Forderndes, Befehlendes, doch der lockende Unterton war geblieben. Aus dem Grab stieg feiner Nebel auf und die Erde wölbte sich, zunächst kaum merklich, dann mit jeder Silbe immer mehr und höher, als hebe sich in der Tiefe etwas empor, dem Ruf folgend.

Eine Hand! Ein Arm, dann ein Kopf.

Sie brach hervor aus dem Erdreich. Eine kräftige, gewaltige Hand. Groß und kräftig. Dann wühlte sich der Tote aus dem Dreck. Wie ein Schmetterling sich aus dem Kokon schälte, kam der Tote aus dem Erdreich. Er war groß und gewaltig.

Mit einem letzten Ruf ging der Hagere in die Knie. Er war völlig verschwitzt, als der Tote vor dem Pentagramm stand, befreit von seinem Grab. Sein Blick leer und trübe, über und über mit Erde bedeckt aber er hatte das Grab verlassen und war wieder unter den Lebenden.

Ein Widergänger!

Der Hagere erhob sich. Es war für ihn unglaublich schwer, wieder auf die Füße zu kommen. Für ihn war es, als trüge er sein Gewicht noch einmal in Blei auf den Schultern.

Der Widergänger stand völlig bewegungslos vor ihm. Ein Bodybuilder, der sich ein paar Pillen zuviel eingeworfen und sich zu Tode gedopt hatte. Groß, voller Muskeln und sein Geist war so leer wie zu Lebzeiten. Sein Herz musste nicht schlagen. Das konnte keiner mehr herstellen. Und denken würde der Hagere für ihn.

Das hast Du zu Lebzeiten auch nicht gekonnt, dachte der Hagere. Ich hätts dir da schon abnehmen sollen. "Du stinkst", sagte er halblaut, aber der Widergänger stand einfach nur da.

Der Hagere atmete tief durch und langsam erholte er sich wieder von der Anstrengung der Beschwörung. Die Beine zitterten nicht mehr.

Schließlich verließ der Magier den Bannkreis. Jetzt zeigte sich endgültig, ob die Beschwörung erfolgreich war. Wenn nicht, musste er ganz schnell zurück und den Untoten unter seinen Willen zwingen. Es war immer ein riskanter Moment.

Das haben wir dir zu verdanken, Nazarener!, schoss es ihm durch den Kopf. Aber beizeiten wird die Rache unser sein.

Der Untote blieb ungerührt stehen. Er gehörte ihm. Den Etruskern sei Dank.

"Komm mit!", kommandierte der Hagere und ging zum Friedhofstor. Mit schleppendem Schritt und hängenden Armen, folgte ihm der Untote.

Auf dem Parkplatz angekommen, öffnete der Hagere per Funkschlüssel den Wagen und ging zum Kofferraum. Er öffnete den Schlag und musste entsetzt feststellen, dass der Bodybuilder da nicht wirklich reinpassen würde.

Wo waren die Kofferräume hin? Seit wann reiste man nur mit Reisetasche? Verfluchter Mist, jetzt musste der stinkende Kadaver neben ihm sitzen.

***

 "Ich liebe es zu fahren", behauptete Hinnerk und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Mark auf dem Beifahrersitz sah die blauen Schilder entlang der nächtlichen Autobahn nur so vorbeifliegen. Mit 250 km/h und mehr rauschten sie Hamburg entgegen. Kassel hatten sie schon längst hinter sich gelassen. Fast 200 Kilometer von Frankfurt lag die nordhessische Metropole entfernt. In etwas mehr als einer halben Stunde waren die ersten Hinweise auf das nahe Kassel an ihnen vorbei gerauscht. Hinnerk gab alles.

Hinnerk, Christine und Mark waren nach ihren Erlebnissen im Edwinstowe Valley erst einmal nach London geflogen und hatten dort für Christine Kleidung gekauft. Schließlich konnten sie sie nicht im Schlafanzug herumlaufen lassen. Am späten Nachmittag waren sie dann in Frankfurt gelandet, und hatten als erstes in Hüll angerufen. Mark hatte nicht genau hingehört, für wann Hinnerk sie angekündigt hatte, aber irgendwas von 'Nacht' verstanden.

Mit dem Taxi waren sie in die Stadt gefahren und Hinnerk war kurz in einer von ihm bestimmten Filiale der Frankfurter Sparkasse verschwunden. Kein Wort war mehr über die Prophezeiung gesprochen worden. In stillschweigender Übereinkunft würden sie das auch erst tun, wenn sie in Hüll waren. Und Hinnerk schien wild entschlossen, dies noch weit vor Mitternacht zu erreichen.

Dann hatte sie das Taxi zu einer BMW-Niederlassung gefahren. Da hatte Hinnerk einen schwarzen 7er BMW gekauft, wie auch Algernon Finch ihn fuhr. Der Bärtige hatte mit dem Händler konferiert, der das Fahrzeug dann in Frankfurt auf seinen Namen zugelassen hatte, was Hinnerk mit ein paar Scheinen quittiert hatte.

"Ich wusste gar nicht, dass du soviel Geld hast", hatte Mark staunend festgestellt.

Hinnerk hatte nur geschmunzelt. "Es ist eine Spende unseres italienischen Großmeisters. Ich habe eines seiner Scheckformulare an mich gebracht und keiner kann seine Unterschrift so gut wie ich. Aber er wird es verschmerzen. Er hat soviel davon, dass er es wahrscheinlich erst merkt, wenn der Steuerberater ihn fragt, warum er in Frankfurt eine Million ausgegeben hat."

"Aber ein Scheck erfordert ein Konto?", fragte sich Mark.

"Nicht", Hinnerk hatte schon fast ekelhaft triumphierend gegrinst, "wenn der Filialleiter ein bestimmtes Codewort hört. Du weißt, die Arme des Ordens reichen weit."

"Das hast du geklaut", meine Christine irritiert.

"Da bricht das Erbe deines Urahns durch, Christine." Hinnerk wandte sich dem Mädchen zu. "Das ist nur eine Spende an dich und die, die dich beschützen. Hätte ich gefragt, ich hätte es auch so bekommen, aber auf die Art macht es mehr Spaß. Ich hasse es, nicht komfortabel zu reisen. Und die Bahn ist mir zuwider. Züge sind einfach nicht flexibel genug. Und wenn ich daran was ändere, erschrecken sich die Fahrgäste immer."

Weder Christine noch Mark wussten, ob Hinnerk soeben gescherzt hatte oder das ernst meinte. Hinnerk machte auch keine Anstalten, das näher auszuführen, aber nach allem was Mark von dem Mann gesehen hatte, wollte er sich nicht fragen, welche Kräfte in ihm schlummerten. Mark beschloss um seiner geistigen Gesundheit willen, es für einen Witz zu halten.

Dann waren sie in der Nähe der Messe noch ausführlich chinesisch essen gegangen. Und sobald die ansehnlichen Portionen aufgefuttert waren, wollte Mark eigentlich fahren, aber Hinnerk hatte nur gelächelt und sie auf die billigen Plätze verwiesen.

Mark hatte schon erlebt, wie Hinnerk fuhr. Deshalb machte er sich ein bisschen Sorgen um das so zerbrechlich aussehende Mädchen. Aber Christine genoss den Fahrstil des Alten, ja feuerte ihn sogar noch an, wenn es ans Überholen ging. Nun machte sich Mark noch mehr Sorgen.

"Ich muss mal", meinte Christine.

"Raststätte Göttingen 5 km", las Hinnerk. "Fahren wir auch gleich tanken. Genug Kleingeld habe ich in der Tasche", lachte er und bremste das Fahrzeug herunter, bevor die Abfahrt wie so viele andere an ihn vorbei rauschte.

Der Alte tankte, während Christine schnell auf die Toilette verschwand und Mark im Tankstellenshop Eis, Cola und ein paar Schokoriegel kaufte, die verbrauchte Energie sofort zurückbrachten.

Hinnerk kam kurz nach Christine herein und zahlte unter den misstrauischen Blicken der Kassiererin mit einem Fünfhunderter, den sie mehrfach mit Stift und Lampe auf Echtheit prüfte, während Hinnerk auch noch ein paar Riegel, etwas zu trinken und zehn Beutel Zware Shag mit Blättchen und ein Feuerzeug kaufte.

"Stimmt so", murmelte Hinnerk und ging wieder hinaus.

Dann ging es weiter. Hinnerk schoss mit einem Kavalierstart davon, der Mark den Magen ein gutes Stück in Richtung Hals trieb.

"Autofahren ist was Wunderbares", sagte der bärtige Alte und fädelte mit Rekordtempo auf der Autobahn ein und gleich darauf hatte er seinen Stammplatz auf der linken Spur wieder eingenommen und auch schon bald das Höchsttempo erreicht.

Als Hinnerk das Fachwerkhaus in Hüll erreichte, war die Geisterstunde gerade angebrochen. Er hatte die Strecke in knapp drei Stunden hinter sich gebracht.

Ein verdammt alter Passat-Kombi stand auf dem Hof. Mark erkannte das Auto. Obwohl Knut Ukena gut verdiente und noch zwei weitere Autos sein Eigen nannte, konnte er sich nicht von seinem allerersten Auto trennen, in das mehr Blech eingeschweißt war, als es im Originalzustand hatte. Am liebsten fuhr er den alten Kombi.

Kaum stand der BMW, wurde der Schlag aufgezogen. James stand stocksteif und überkorrekt. Der Butler verzog keine Miene, aber alle wussten, dass sein Herz vor Glück überlief. Doch sein Berufsethos verbot es ihm, diesen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.

"Willkommen, junge Lady", begrüßte er Christine, reichte ihr die Hand und drückte sie eine Spur fester, als eigentlich nötig gewesen wäre. Christine wusste diese Geste richtig zu deuten und belohnte den Butler mit einem Lächeln.

Sie gingen ins Haus. Von der Küche her roch es appetitanregend nach einem Stew. James hatte das Haus in Beschlag genommen und gereinigt.

Als sie die Küche betraten, stand Knut Ukena auf. Er war so groß wie Mark, aber schlanker, fast schon hager. Sein dünnes blondes Haar fiel ihm wirr in die Stirn. Wache grüne Augen sahen Mark und seine Begleiter an.

"Moin", sagte er.

"Moin", antwortete Mark.

Christine saß schon am Küchentisch und James versorgte sie mit dem Stew, das sie furchtbar gern aß.

"Ich glaube, ich sollte dir erstmal meine Mitbewohner in deinem Haus vorstellen", meinte Mark. Immerhin hatte ihm Knut auf einen Telefonanruf hin das Haus überlassen, aber nicht gewusst, dass eine ganze Gruppe einzieht. "Das sind Christine, Hinnerk und James, der dich hier heute Abend versorgt hat. Wir sind quasi gestrandet."

"Geht klar. Ich vertraue dir", meine Knut Ukena nur und demonstrierte seine Freundschaft. Mark kannte er von der Uni. Informatiker und Anthropologen waren zwar keine verwandten Wissensgebiete, aber die beiden hatten sich auf Anhieb gemocht und so manche Studentenkneipen führte sie noch in ihren Ehrenlisten wegen ihrer Trinkfestigkeit. "James hat mich hier heute Abend nett empfangen und bekocht, als ich dich mal besuchen wollte. Besseren Tee habe ich nie getrunken. Ostfriesen", Knut spielte damit auf den Namen Ukena an, der auf ein altes ostfriesisches Häuptlingsgeschlecht zurückging, "und Engländer haben einiges gemein."

Dann gab Knut sowohl Christine als auch Hinnerk die Hand.

"Haben Sie auch Hunger, Master Mark und Master Hinnerk?" fragte James.

"Das rökt good", meinte Hinnerk, der nördlich von Hamburg wieder ins Plattdeutsche fiel. "Ich nehm nen Schlach."

"Ich auch", stimmte Mark zu.

"Wenn’s nicht zuviel verlangt ist", schloss sich Knut an, "werde ich aus Solidarität noch nen Happen essen."

James deutete eine Verbeugung an, füllte die Teller und servierte sie.

Knut setzte sich aufs Sofa. Er spähte am Küchenschrank vorbei. Sein Blick blieb an einer Tür haften. "Du verlierst aber wirklich keine Zeit", wandte er sich an Mark.

"Wie meinen?" fragte der.

"Du baust das Haus um", schmunzelte Knut.

"Was?", fragte Mark verwirrt.

"Die Tür da", meinte Knut mit vollem Mund, „gab es hier nicht."

"Ich darf vermelden", mischte sich James ein, "dass diese Tür sich jeglichen Versuchen widersetzt, sie zu öffnen. Doch das werde ich ändern. Da kein Schlüssel auffindbar ist, wollte ich es einmal mit den eigentlich verpönten Mitteln eines Einbrechers versuchen, wenn es gestattet ist."

"Doch James", mischte sich Knut ein, "da es mein Haus ist, will ich der Einbrecher sein."

James deutete eine Verbeugung an.

"Ich verstehe nicht", meine Mark. "Wir haben nichts umgebaut.“

"Ich habe die Tür sofort bemerkt, als wir hier ankamen", sagte Christine mit vollem Mund und erntete einen tadelnden Blick von James.

"Ich nicht", meinte Hinnerk, „und ich habe mich hier umgesehen und die Einkäufe neben den Schrank gestellt. Da war keine Tür."

"Doch", bestand Christine auf ihrer Beobachtung. "Die Tür war da."

"Ich kenne die Tür nicht", sagte Knut Ukena. "Ich habe hier drei Jahre gelebt und gearbeitet.

"Ich weiß nicht", sagte James. "Mir ist diese Tür erst gestern Morgen aufgefallen, als ich begann das Haus zu putzen und damit verbunden auch den Haushalt zu organisieren."

Knut Ukena grinste. Er hatte nie etwas organisiert, und geputzt hatte eine Reinemachefrau, als er es sich leisten konnte. Bis dahin galt für ihn das Motto: Sauber genug, um nicht krank zu werden. Dreckig genug, um sich wohl zu fühlen.

"Wir kümmern uns gleich morgen früh darum", meinte Hinnerk nachdenklich. Sie alle waren von ihren Plätzen aufgestanden und drängten sich in der Nähe des Schranks und betrachteten die weiß lackierte Tür. Eine völlig normale Tür für ein Haus wie dieses, die wahrscheinlich in eine Speisekammer führte. Sie war alt, das konnte man sehen, der Stil wies auf das vorige Jahrhundert. Das Holz war massiv und nicht von Würmern befallen. "Da sie ohne nicht aufgeht, haben wir wohl nichts zu befürchten", schloss Hinnerk seine Gedanken ab.

"Und morgen knacken wir sie ja", meinte Christine. Das Haus gefiel ihr immer besser.

Aber es war schon merkwürdig, dass Knut die Tür drei Jahre nicht bemerkt hatte, dachte Mark.

 

***

 

Der schwarze Mercedes 500 rollte mit offenen Fenstern auf dem Parkplatz aus. Der Hagere öffnete die Tür sobald der Wagen stand, stieg hastig aus, stolperte dabei fast und atmete tief durch. Er sog die frische Luft förmlich ein. Er war noch blasser als gewöhnlich und mit Mühe unterdrückte er den Würgereiz.

Sein Reisegefährte saß völlig unbeeindruckt vom Verhalten seines Herren auf dem Beifahrersitz und starrte unbeteiligt Löcher in die Luft. Seine Geruchsnerven waren zerstört und wenn nicht, machte das auch nichts. Sein Hirn arbeitete nicht mehr und so roch er sich selbst nicht.

Bei der Hölle, dachte der Hagere, warum mussten Tote so stinken?

Die Karre konnte er verbrennen, wenn das alles vorbei war, und als Totalschaden der Versicherung melden. Schade um das Auto. Vielleicht sollte er dann etwas Sportliches und einen Transporter kaufen, damit er zukünftige Diener sicher transportieren und zu anderen Zeiten stilvoll Auto fahren konnte.

Immerhin fühlte er sich erholt. Die Müdigkeit und Erschöpfung wich wieder seiner gewohnten Kraft.

Bei den Schwefelklüften, fluchte er innerlich, möge Luzifers Rache bitter sein.

Er wünschte sich, die Blutlinie des Zimmermanns, die seine Macht beschränkte, selbst auslöschen zu können, um ihm diese Anstrengung zu ersparen.

Sein Unterfangen, das ihn hier an diesen Ort führte, sollte letztlich dazu beitragen. Hier gab es ein geheimes Versteck des verhassten Ordens, der der Schwarzen Familie ihre rechtmäßige Beute seit nunmehr 2000 Jahren vorenthielt.

Er kannte den Zugang zu diesem Versammlungsort. Mit seinem untoten Diener sollte er ihn ausspähen und mit magischen Augen versehen, auf dass die Schwarze Familie in Zukunft dem Orden hier lauschen und ihn auslöschen konnte. Damit wollte man den Schatz und seinen Hüter isolieren. Fehlte der Einfluss des Ordens, waren Hüter und Schatz bald schutzlos den Horden Kaiser Luzifers auf Erden ausgeliefert und würden vernichtet werden.

Der Triumph der Hölle wäre unvermeidlich ...

Irgendwie bekam er den Gestank seines Dieners nicht aus der Nase. Aber er war nicht mehr so durchdringend wie im Auto und sein Magen beruhigte sich im gleichen Maße wie seine Atmung. Warum genau er den Widergänger beschwören und mitnehmen sollte, hatte der Herr der Sippe ihm nicht gesagt. Doch der alte Belphégor hatte ihm eröffnet, es wäre notwendig, denn ein Verräter in Reihen des Ordens hätte der Schwarzen Familie Hinweise gegeben. Und da es dort Fallen gäbe, sollte man besser einen Diener mitnehmen, einen untoten am besten. Welcher Natur die Fallen waren oder was genau ihn dort erwarten mochte, war ihm nicht enthüllt worden.

Wenn Belphégor Barstow, Herr der Sippe, in all seiner finsteren Majestät, ihn, Castragor Barstow, den Schwarzzauberer, soweit ins Vertrauen zog, nahm er alles für bare Münze und stellte keine Fragen mehr, denn der Alte verlangte von der Sippe absoluten Gehorsam. War dem nicht so, brach der Zorn Belphégors über den Ungehorsamen herein. Das mochte damit enden, dass der Alte ihn den Schwefelklüften der höllischen Majestät anempfahl.

Und daher hatte er die kraftraubende Last der Beschwörung auf sich genommen und nun fast sein Auto vollgekotzt, weil Verwesungsgeruch diese Wirkung hatte. Da konnte man ruhig dreihundertfünfundsiebzig Jahre alt sein, der Würgereiz blieb.

"Steig aus!", kommandierte Castragor, der hagere Schwarzzauberer von der Barstow Sippe. "Folge mir dann!"

Der Bodybuilder verließ das Auto. Barstow beugte sich mit angehaltenem Atem in den Innenraum, verschloss die Scheiben, schlug die Fahrertür zu und verriegelte das Fahrzeug.

Dann marschierte der Hagere in den Wald. Der Widergänger folgte ihm brav und ohne zu murren.

Das ist das Schöne an ihnen, dachte Castragor, sie sind absolut willig und stellen keinen Befehl in Frage.

So gingen sie durch den Wald. Castragor hatte keinen Sinn für die Schönheiten der Natur, erst recht nicht, als die Vögel dann zu singen begannen, um den nahen Sonnenaufgang anzukündigen. Er hatte dieses widerliche Gezirpe nie gemocht und wünschte sich insgeheim jeden dieser gefiederten Nervtöter tot vom Himmel und von den Bäumen fallen zu lassen, aber diese Kraftanstrengung überstieg seine Macht bei weitem.

Irgendwann, es wurde zusehends heller, wenn durch das Blätterdach des Waldes auch von der aufgehenden Sonne nichts zu sehen war, näherten sie sich ihrem Ziel. Ein kaum zu erkennender Trampelpfad wies ihm den Weg. Dann stand er vor einer nackten grauen Felswand.

Das muss sie sein, dachte er bei sich. Hoffentlich stimmt alles, sonst habe ich mein Auto umsonst in ein stinkendes Vehikel verwandelt.

Angestrengt suchte er nach den beschriebenen Zeichen. Glücklicherweise machte ihm das schwache und vom Blätterdach gedämpfte Licht des frühen Morgen nichts aus. Sie hatten ihr Tor nicht mit Bannzeichen und Flüchen gesichert. Das können Dämonen und Schwarzzauberer, wie er es einer war, spüren, wenn auch nicht aus großen Entfernungen. So hatten sie darauf verzichtet.

Da – da ist es! Erleichtert begann Castragor Barstow fünf Stellen des nackten Felsens in vorher bestimmter Reihenfolge zu berühren. Dabei murmelte er, der Hagere hatte es nicht fassen können, als Belphégor es ihm eröffnet hatte, "Sesam öffne dich!".

Für einen Moment glaubte Castragor Barstow, er wäre einem Scherz aufgesessen, denn nichts bewegte, ruckte oder rührte sich. Innerlich verkrampfte er.

Eine Falle?

Ein Scherz?

Eher eine Falle.

Doch dann hörte er ein knirschendes Geräusch und langsam entstand ein sichtbarer Spalt im Fels, der sich immer weiter öffnete und nach einer halben Minute war eine etwa einen Meter breite Tür entstanden.

"Rein!", kommandierte Castragor Barstow.

Der Widergänger ging mit stumpfen Blick durch das kleine Felsentor. Castraqor, der immer noch eine Falle witterte, ließ dem Diener einfach den Vortritt. Der Widergänger war zu ersetzen.

Aber nichts passierte. Castragor, der hagere Schwarzzauberer aus der Sippe der Barstows, folgte seinem Diener. Er betrat eine kleine Vorhalle. Gegenüber führte ein Gang in einem Bogen tiefer in den Berg hinein.

Die Tür sollte sich von selbst wieder schließen, sobald er hindurch war. Aber nichts passierte. Die Tür stand unverdrossen offen und verhöhnte ihn.

"Wie kriege ich das Ding wieder zu?", fragte er sich im leisen Selbstgespräch und betrachtete die Tür, durch die dämmeriges Licht einfiel. Zur Rechten war eine offene Kiste mit Fackeln. Aber die brauchte Castragor nicht.

Von außen wusste er es, aber innen? Er suchte nach den Zeichen, konnte sie aber nirgends entdecken.

Schließlich gab er auf und folgte dem Gang tiefer in den Berg hinein. Auf einen Wink hin, folgte ihm der untote Bodybuilder.

 

***

 

Es brummte und summte. Es brummte, summte und fiepte. Es ...

Was zur Hölle ist das?, fragte sich Sabrina Funke, bis die Erleuchtung zu der langsam aus dem Tiefschlaf erwachenden Frau kam. Der Wecker! Gott, es ist der Wecker.

Vorsichtig öffnete sie die Augen. Ihre Rechte tastete bereits nach dem Wecker, um ihm für sein Tun einige wuchtige Hiebe zu versetzen.

Cornelia Bender brummte Unverständliches in ihren nicht vorhandenen Bart, aber es klang alles in allem nach heftigen Verwünschungen.

Endlich hatte Sabrina den Wecker gefunden und er büßte für sein vorbestimmtes Tun, wie so viele seiner Artgenossen vor ihm. Er bezog Schläge. Dann war Ruhe. Draußen begann es hell zu werden. Es war kurz nach fünf Uhr am Morgen. Die Zeit, die die beiden Frauen, bevor der Herbstprinz zu ihnen gekommen war, optimistischerweise als idealen Zeitpunkt ausgemacht hatten, sich zu erheben und ihre Wanderung fortzusetzen.

Sabrina zwang sich unerbittlich gegen sich selbst und andere aus dem warmen Daunenschlafsack und bekam einen Kälteschock. Ihr war wie am Nordpol. So kalt war es dann doch nicht, aber der Ostwind hatte dafür gesorgt, dass die Temperaturen sich auf Null Grad zubewegten. Die trockene, kontinentale Luft hatte eben auch ihre Nachteile.

Aber nun war sie wach, suchte in aller Eile ihren Jogginganzug und ihre Jacke und wühlte sich aus den warmen Federn. Die Frau streifte kurz ihre Schuhe über und öffnete den Reißverschluß des Zelts.

"Du willst doch nicht ernsthaft aufstehen", brummte Cornelia Bender. "Das kann doch nur ein Witz sein."

Statt einer Antwort beugte sch Sabrina Funke vor und zog den Reißverschluß des Schlafsacks ihrer Freundin auf. Cornelia Bender reagierte wie erwartet auf den Kälteschock. Sie suchte Wurfgeschosse, die sie gegen ihre Freundin einsetzen konnte. Unter Flüchen, die das Kündigen der Freundschaft und ewiges Schweigen androhten, fand Cornelia ihren rechten Schuh, aber Sabrina hatte die Zeit genutzt und war schon mit Handtuch und Kulturbeutel aus dem Zelt raus.

Der Schuh folgte durch den Zelteingang und flog Sabrina vor die Füße. Aus dem Zelt drangen weitere suchende Geräusche und gedämpftes Fluchen.

"Gibst du mir bitte meinen Schuh wieder?", kam es kläglich aus dem Innern des Iglus. Sabrina hob den Schuh auf und schob ihn durch den Zelteingang, als sie eine Fontäne Wasser ins Gesicht traf. Was für Formel-1-Champions die Champagnerdusche nach dem Rennen, war für Sabrina Funke die Seltersdusche am Morgen geworden.

Ein glockenhelles Lachen von Cornelia Bender untermalte Sabrinas Pusten und Prusten. Der Kälteschock vertrieb nun auch den letzten Rest Müdigkeit.

Als Cornelia dann immer noch lachend aus dem Zelt kam, hatte sich Sabrina das Gesicht wieder getrocknet und sie gingen zum Duschen.

Eine knappe Stunde und ein hastiges Frühstück aus löslichem Cappuccino, Toast mit Marmelade und ein paar Stückchen Schokolade später, machten sie sich auf den Weg in Richtung Kyffhäuser.

Beide gaben sich einfach so ausgelassen wie Teenager und für Cornelia Bender war die Trennung weiter weg, als sie das jemals zu hoffen gewagt hatte. Das verdankte sie ihrer besten Freundin.

Sabrina, die mit ihrer knabenhaften Figur in der Schule fast wie ein Junge wirkte und der sie einmal drei lange Nächte in ihrer Studentenbude eine Brustvergrößerung ausreden musste. Cornelia fand Sabrina wunderbar so wie sie war. Ihr schmales Gesicht, die dunklen, braunen Augen und das wilde lockige Haar, das sie nur unter Mühen bändigen konnte und ihr offenes, freundliches Wesen. Das war Sabrina. Keine war je so für sie dagewesen wie Sabrina.

Zu ihr passte nichts Künstliches. Sabrina hatte Stil und verstand selbst in Jeans und T-Shirt wie eine Dame auszusehen, ohne ihren natürlichen Charme zu verlieren. Zum Glück hatte sie das eingesehen.

Sie plapperten den ganzen Weg und der Rest des Alkohols verflüchtigte sich. Die Stimmung der beiden Frauen, die durch den morgendlichen, fast jungfräulich wirkenden Wald marschierten, war ausgelassen.

"Hat denn eure Hardcoverabteilung wieder was von Jason Bright gekauft?", fragte Sabrina irgendwann. In der Regel verabscheute sie Horrorgeschichten, aber dieser in Schottland lebende Autor hatte es ihr angetan. Seine Geschichten konnten den Horror real erscheinen lassen. Er vermischte ganz geschickt historische Fakten, bekannte Kunstwerke und ließ daraus seine unheimlichen Bösewichter wachsen, die in den Nischen unserer Gesellschaft lebten und sich nach und nach breitmachten. Längst nicht jedes seiner Bücher hatte ein Happyend.

"Klar, wir haben jetzt das neueste Manuskript da und rate mal, was auf ich auf die Disk gebrannt habe, die ich dir gegeben habe. Das Manuskript von "The Prado Is Hell", Final Draft. Du, sein Agent und ein paar Dutzend Verlagsmitarbeiter und Übersetzer weltweit, kennen das. Ich konnte es Helmut abschwatzen", eröffnete Cornelia ihr und spielte auf den Kollegen aus der Hardcoverabteilung an, der das Buch redaktionell betreute.

"Warum hast du das nicht gleich gesagt?", entfuhr es Sabrina. "Du bist gemein!", klagte Sabrina ihre Freundin an.

"Ich bin nicht gemein. Aber ich würde dann immer noch in deinem Wohnzimmer sitzen und mir das miese Fernsehprogramm ansehen, bis du den Schinken dreimal gelesen hast."

"Stimmt!", gestand Sabrina und die beiden lachten.

"Wie weit ist es noch?“ fragte Cornelia, als sie noch ein Stück gewandert waren.

Sabrina holte die Karte hervor und betrachtete sie eingehend. Ein paar Mal sah sie auf, als versuche sie Karte und Umgebung in Einklang zu bringen. Dann schüttelte sie den Kopf.

"Wir hätten uns an der letzten Gabelung rechts halten müssen. Wir schnatternden, alternden Gänse haben uns verlaufen."

"In einem deutschen Wald verlaufen!", prustete Cornelia los. "Und was machen wir?"

"Wir gehen hier querfeldein und müssten dann wieder auf den Hauptweg zum Denkmal stoßen. Dann sind wie immer noch mittags da. Folgen wir unserem bisherigen Kurs landen wir eher in Erfurt als am Denkmal", erklärte Sabrina.

"Na denn", meinte Cornelia, "schauen wir, was unsere Wanderstiefel wert sind und ob sie einer Querfeldeinwanderung gewachsen sind."

"Auf geht’s!", sagte Sabrina und sie schlugen sich nach rechts ins magere Unterholz des Waldes.

Sie marschierten unverdrossen und fröhlich los. Ihrer guten Stimmung tat das keinen Abbruch. Die konnte nichts und niemand ruinieren.

"Guck mal: ein Trampelpfad. Hier scheinen sich schon mehr Leute verirrt zu haben", meinte Sabrina.

"Wahrscheinlich alles Männer", meinte Cornelia und lächelte.

"Und wir treten nun in ihre Fußstapfen", warf Sabrina ein. "Bedenke, worum du bittest."

So folgten sie dem Trampelpfad. Schließlich näherten sie sich einer Felswand, auf die der Trampelpfad zulief.

"Guck mal da. Da ist eine Höhle und sie steht offen!" rief Cornelia aus. "Laß uns reinschauen."

In Sabrina erwachte der Abenteuergeist. "Oh ja. Machen wir das."

Die beiden Frauen traten durch die Tür und ohne es zu wissen, wandelten sie in den Fußstapfen Castragor Barstows und seines Widergängers.

"Ein bisschen merkwürdig riecht’s hier schon", fand Sabrina.

"Lass uns mal ein bißchen Indiana Jones spielen", meinte Cornelia fröhlich ...

 

***

Knut Ukena war der Einzige, der Toast mit Butter aß und Kaffee trank. "Mehr krieg ich morgens einfach nicht runter." Oft genug frühstückte er nur französisch, wie er eine Morgenmahlzeit aus Kaffee und Zigaretten nannte.

James hatte ein englisches Frühstück gezaubert. Nur die Nierchen fehlten. Der Butler hatte sich eine Notiz gemacht, einen Schlachter zu finden, der ihm auch diese verkaufen würde. So vieles galt es für den Perfektionisten zu organisieren.

Im Hintergrund lief, sehr zum Leidwesen Christines, alte Rockmusik, aber hier unten bestimmten die alten Herren die Musik. Knut Ukena hatte hier Teile seiner Schallplattensammlung eingelagert. Zur Zeit das Album "Tequila Mockingbird" einer der ganz großen Gruppen der siebziger Jahre "Strange Fruit", deren Gitarist Brian Lovell in einem Atemzug mit den ganz Großen wie Ritchie Blackmore, Tommy Iommi und anderen genannt wurde. Sein Bruder Keith, der auf "Tequila Mockingbird" noch sang, war an einer Überdosis gestorben, so dass nach einem Versuch mit dem Bassisten Les Wickes als Leadsänger Ray Simms geholt wurde. 1977 trennte sich die Gruppe nach dem katastrophalen Blitzschlag in die Monitorlautsprecher beim Withbeach Festival und die Band verstreute sich in alle Winde. 1997 dann die Reunion auf dem Jubiläums-Withbeach-Festival und seither wieder einer der unangefochtenen Götter des Rock'n'Roll.

Hinnerk Lührs lehnte sich gesättigt zurück. Unter dem Tisch wippte seiner rechter Fuß im Takt. Mit flinken Fingern drehte er sich eine Zigarette. Er summte die Melodie mit und auch sein Oberkörper wippte im Takt.

"Dat hett smeckt", ließ er niemanden bestimmten wissen und ließ das Feuerzeug aufflammen. Tief inhalierte er den Rauch seiner Zigarette.

"Gott, was rauchst du denn da. Das riecht ja wie verbrannte alte Socken", ließ sich Mark vernehmen. Auch die anderen rümpften die Nase.

"Dat is ganz wat Feines ut Holland. Schöinen schwatten Shag. Den smeckts du noch. Dat is puren Tobak. Nich so'n pafümimertet Tüch."

"Das kannst du nicht ernst meinen", hakte Mark nach. "Der stinkt!", beschloss der neue Hüter kategorisch.

"So'n Nichtraucher wie du kann das gar nicht beurteilen", beschied Hinnerk Lührs. "Wat seggst du denn dor to Ukena?"

"Ich finde ihn ein bisschen streng", meinte Knut Ukena vorsichtig.

"Ach wat! Ihr wisst ja gar nicht, was ihr snackt", schimpfte Hinnerk Lührs und sog genüsslich an der Zigarette. Dann sang er einige Takte von "Live For Today" mit.

"Ich finde", mischte sich Christine ein, "dass der Tabak gar nicht so schlecht riecht."

"Junge Lady", meldete sich James mit missbilligendem Unterton, "du solltest noch gar nicht über den Wohl- oder Übelgeruch von Tabakwaren nachdenken, geschweige denn über deren Geschmack."

"Ja, James", sagte das Mädchen, schnitt eine Grimasse und tauschte mit Hinnerk ein Verschwörerlächeln.

"Du hast sie doch nicht etwa rauchen lassen", meinte Mark, der das Lächeln beobachtet hatte.

"Wo denkst du hin? Wenn sie sechzehn ist, habe ich versprochen, dass sie mal diese Spezialmischung probieren kann. Das Mädchen mag mich einfach."

Der Comeback-Livemitschnitt der "Fruits" wurde aufgelegt. "Da ist diese geniale Version 'The Flame Still Burns' drauf", ließ sich Hinnerk vernehmen und glänzte mit Fachwissen. "Das Comeback der Gruppe und Brian Lovells, der jahrelang in einer Nervenklinik war. Jung Deern", wandte er sich an Christine, "dat is Rockgeschichte. Musst tohören. Dat is wat Godes."

Christine machte gute Miene zum bösen Spiel, aber als Hinnerk dann das Lied 'The Flame Still Burns' anmachte, mochte sie die Ballade, die Les Wickes und Brian Lovell nach Keith Tod geschrieben hatten. Es war so voller Hoffnung.

"Das ist nicht übel", beschied sie Hinnerk.

"Was heißt nich öbel. Wer hat sich denn um den Musikgeschmack der Deern gekümmert. Da ist doch was vernachlässigt worden", ließ Hinnerk sich empört vernehmen. "Dor möt wie wat doo'n."

Unter derlei Frotzeleien wurde die Tafel aufgehoben. Knut Ukena hatte Werkzeug aus seinem alten Passat herbeigeschafft. Denn heute wollten sie das Problem mit der Tür etwas ernster angehen. Immerhin gab sie einige Rätsel auf.

"Da ist ein Dietrich", verkündete er, nachdem er in der Werkzeugkiste gekramt hatte. "Der sollte uns den Sieg über die widerspenstige Tür bringen."

Er steckte den Dietrich ins Schlüsselloch, aber was Knut auch probierte, es gelang ihm nicht den 'Universalschlüssel' im Schloss zu drehen. Sein Gesicht nahm einen unwilligen Ausdruck an.

Das Schließblech war verschnörkelt, wie es bei älteren Türen durchaus üblich war, sah dünn aus und war von einer dicken, vergilbten weißen Lackschicht überzogen. Die Schrauben und die Köpfe waren gut zu erkennen. Mit einem Tapeziermesser kratzte Knut die Schlitze frei. Dann sucht er einen passenden Schraubenzieher. Als er ihn gefunden hatte, gelang es ihm nicht, auch nur eine Schraube nur ansatzweise zu drehen.

"Wes vörsichtig", meinte Hinnerk. "Nach fest kommt ab."

"Jetzt habe ich die Schnauze voll", verkündete Knut Ukena. "Das ist mein Haus. Und ich will wissen, was dahinter ist. Ich hol mal nen Moker."

"Do dat!", bestätigte Hinnerk Lührs.

Hinnerk sah nachdenklich auf die Tür, und als Knut Ukena das Haus verließ, um aus einem Schuppen einen Moker, wie man im Plattdeutschen einen Vorschlaghammer nannte, zu holen, trat der Bärtige vor.

"Dat ist doch wohl nich all en donen. Nu wöllt wi da mol mit nen beten Spökenkikerei versöken", sagte er noch gemütvoll auf Platt. Dann nahm sein Gesicht einen konzentrierten Ausdruck an. Worte in einer längst vergessenen Sprache, die Mark und James ein wenig ans Gälische erinnerten kamen über seine Lippen.

Mark bereitete sich darauf vor, dass Hinnerk wieder Blitze schleudern würde. Der Hüter spürte wie sich die Luft irgendwie verdichtete. Das Atmen fiel ihm schwerer. Instinktiv trat er zu Christine und stellte sich neben sie.

Dann war es vorbei, die Luft klärte sich und die Tür blieb verschlossen.

Hinnerk stand der Schweiß auf der Stirn, und er brummte unverständliche Flüche. "Dat Ding will nich. Du kanns mi mol an'n Mors kleien", brachte er das Götz-Zitat auf Plattdeutsch. Hinnerk sah sehr nachdenklich und verdammt zornig aus.

Knut erschien wieder in der Tür. Er hielt einen gewaltigen Moker in der Hand.

"Das Größte, was ich finden konnte", verkündete er fröhlich.

"Gevt mi dat mol", meinte Hinnerk. „Tretet mal trüch", meinte er noch und als alle zurück gewichen waren, schob Hinnerk den Küchenschrank zur Seite, griff den Moker und holte zu einem gewaltigen Schlag aus.

Der Hammerkopf schlug auf die Tür, der Stil brach und der Hammerkopf sauste als Querschläger durch die Küche, verfehlte James nur knapp, knallte gegen die gegenüberliegende Wand, schlug eine sichtbare Delle hin und fiel zu Boden.

"Was, zur Hölle, ist das dat!", brüllte Hinnerk.

Mark ging auf die Tür zu. Er berührte sie und fühlte ein Kribbeln in seinen Fingerspitzen. Seine Hand glitt zum Türgriff hinab. Er drückte ihn hinunter und zog die Tür auf, als wäre es das normalste von der Welt.

"Wir machen sie mürbe", knurrte Hinnerk, "und er triumphiert."

Vorsichtig zog Mark die Tür auf, und alle drängten heran, um zu sehen, was sich dahinter verbarg.

Als die Tür auf war, blickten sie auf eine Treppe, die hinunterführte in einen felsigen Keller ... Naturgewachsener Fels.

"Fels?" entfuhr es Hinnerk. "Hier gibt es kein Fels. Hüll ist Marsch oder Moor."

"Wohin führt die Treppe?", fragte Knut Ukena.

"Das werden wir herausfinden", antwortete Mark Larsen. "Jetzt gleich!"



                                                                             The moonlight in the Milky Way

                                                                             is on the full eclipse

                                                                             Black Moon

                                                                             Bright spot

                                                                             Black Moon

                                                                             So dark

                                                                             Black Moon

                                                                             alright

                                                                             It's a Black Moon night

Strange Frui

t

2. Kapitel:

Höhlen des Grauens


Punkt 23:34 Uhr Ortszeit setzte die Boeing 747 der British Airways auf der Landebahn des John-F.-Kennedy-Airports bei New York auf. Nicht lange danach strömten die Passagiere mit ihrem Gepäck den Ausgängen des Flughafens entgegen.

Bartholemew Filligrew Crwmberwood, der Scharfrichter der Schwarzen Familie, war unter ihnen. Bartholemew folgte dem Ruf des Höchsten auf Erden. Jedes Mitglied der Schwarzen Familie, ob in Ungnade oder nicht, hatte seit tausend und mehr Jahren über den Namen nicht mehr gelacht. Er war unter ihnen so gefürchtet wie ein Hurrican in Florida oder ein Twister der Stärke 5 in Oklahoma. Ihm war noch niemand entkommen, auf den er angesetzt war, um ein Urteil des Höchsten auf Erden zu vollstrecken.

Bartholemew war ein großer, dürrer Mann. Jemand, den er noch nicht mit seinen knochigen Fingern in stählernem Griff gehalten hatte, glaubte wohl nicht, dass er auch nur einen Salzstreuer anheben konnte. Es schien, als schlottere sein schwarzer Anzug nur so um mit Haut verkleideten Knochen. Seine pechschwarzen Haare waren ordentlich und seine Schwarzfeenaugen blickten stählern und grimmig. Sie gaben ihm etwas Unheimliches.

Doch er verfügte nicht nur über gewaltige körperliche Kräfte, sondern war auch als Magier einer der führenden Mitglieder der Schwarzen Familie. Seine Suchzauber und Flüche hatten schon so manchem schwer zugesetzt und ihn erledigt. Mit Freuden waren sie dann gemäß dem Urteilsspruch des Allerhöchsten auf Erden durch Bartholemew Filligrew Crwmberwoods Hand zur Hölle gefahren, um ihrer durch den Scharfrichter bereiteten persönlichen Hölle zu entgehen.

Aufgrund eines geheimnisvollen Vorfalls in Ely im Juni des Jahres 1071 während der Kämpfe William des Eroberers mit Hereward, dem Wächter, hatte er dem Kampf gegen das Gute auf ewig und für alle Tage abgeschworen. Die Hintergründe hierfür kannte nur Bartholemew Filligrew Crwmberwood selber und er äußerte sich nicht dazu. Es wurde gemunkelt, er habe sie nicht einmal dem Höchsten auf Erden enthüllt. Doch keiner wagte es, den einen oder anderen darauf anzusprechen. Sogar der mächtige Belphegor Barstow hatte weder den Henker noch den Höchsten gefragt.

Der Höchste auf Erden hatte damals über Bartholemew Filligrew Crwmberwood zu Gericht gesessen. Wider Erwarten aller war Bartholemew nicht in Acht und Bann geschlagen und für die Schwarze Familie für vogelfrei erklärt worden, sondern der Höchste hatte ihn zum Scharfrichter der Schwarzen Familie gemacht, der dann unerbittlich die Abtrünnigen, Verräter und Versager bestrafte. Auch die Überläufer hatte er gehetzt, denn sie kämpften zwar für das Gute, doch waren sie keine angestammten Kämpfer des Lichts. Diese waren von seinem Schwur ausgenommen und mussten mit dem Sturz vor seine Höllische Majestät rechnen.

Bartholemew war deshalb kein gern gesehener Gast in den Häusern der Schwarzen Familie und so manchem großmächtigen Sippenfürsten wurde es angst und bange, wenn die dürre Gestalt vor seiner Tür erschien. Das war Bartholemew Filligrew Crwmberwood nur recht. Er lebte, wenn der Höchste auf Erden ihn nicht zu sich bat, um ein Urteil zu vollstrecken, zurückgezogen auf einem Landsitz auf den Shetland-Inseln, der von der einheimischen Bevölkerung traditionell gemieden wurde.

Bartholemew Filligrew verließ den John F. Kennedy Airport in New York nur mit einem Aktenkoffer in der Hand und sein Gang strafte seine Erscheinung Lügen. Er schritt kraftvoll. Manch einer der in der Halle des Flughafens war, fragte sich, wie sich ein Mann ohne offensichtliche Muskeln derart energisch bewegen konnte. Sah man ihn stehen, würden manche ihm Gehhilfen oder einen Rollstuhl anbieten.

Er winkte mit einer knappen Geste ein Taxi heran.

"Wohin?", fragte ihn der Fahrer in akzentbeladenem Englisch, das auf eine lateinamerikanische Herkunft schließen ließ.

Ein Kathole!, durchfuhr es Bartholemew Filligrew Crwmberwood. Luzifer bewahre!

"125. Straße", antwortete Bartholemew knapp.

"Geht klar, Cheffe", meinte der Taxifahrer.

"Und wenn es sich vermeiden lässt, möchte ich keine Konversation treiben, sondern vielmehr auf dem schnellsten Wege an mein Ziel gelangen. Also bitte verschonen Sie mich mit Sportheroen, Massenmördern und Klatsch über Filmstars. Ich kenne mich übrigens in New York gut aus. Sollte ich feststellen, dass sie nur einen Meter zuviel fahren ..."

"OK, Cheffe", meinte der Taxifahrer, den ein unwohles Gefühl beschlich. Er befürchtete nicht, ausgeraubt zu werden, aber etwas Kaltes machte sich in seinem Taxi breit. "Alles, wie Sie es wünschen", radebrechte er.

"Los!", kommandierte Bartholemew Filligrew Crwmberwood knapp.

Der Fahrer gab Gas und fuhr so schnell es ging zur 125. Straße ...

 

***

 

"Was bei Luzifers Hintern ist das?", fragte Castragor Barstow halblaut und an niemand Bestimmten gerichtet, denn sein Begleiter hatte nicht mehr die geistige Kapazität, diese Frage zu beantworten (vielleicht hatte er sie auch nie gehabt, dachte Castragor amüsiert). Der hagere Schwarzzauberer, der mit seinem stinkenden, untoten Diener in die Höhlen im Kyffhäuser vorgedrungen war, blickte sich irritiert um.

Er irrte schon eine Weile durch das System. Es war ein wahres Labyrinth. Er traute sich noch nicht, sich seiner Magie zu bedienen, um den Weg zu finden. Der Orden mochte noch Fallen haben, in denen er sich verfangen konnte. So war ihm das nicht beschrieben worden und jetzt drangen diese gackernden Geräusche durch das Höhlensystem und klangen mal näher, mal weiter entfernt.

Frauenlachen!

Die sich nicht schließen wollende Tür erwies sich als Fluch. Nun waren mindestens zwei Frauen in diesen Höhlen unterwegs und lachten und spielten hier herum.

Bei Astaroths Eiern und seinem lodernden Sack!, fluchte Castragor in sich hinein. Reicht es nicht, dass ich mich hier verlaufe! Müssen sich hier auch noch Weiber rumtreiben.

Unfassbar! Dass diese Tür auch nicht zugehen wollte. Wie das der Orden wohl bewerkstelligte? Castragor Barstow nahm sich eine gute halbe Minute und fluchte still und leise in sich hinein. Er ließ sich auch kurz über den unzuverlässigen Verräter aus und welche Stellungen seine Eltern bei seiner Zeugung eingenommen hatten. Schließlich bremste er sich. Weiber konnte er hier nicht gebrauchen.

"Du da", erheischte er die Aufmerksamkeit seines untoten Dieners. "Töte die Frauen, die da lachen und folge mir dann!"

Das geistlose Etwas würde seinen Herrn und Meister immer finden. Wenigstens darauf war Verlass. "Los jetzt! Beweg dich, tumbe Kreatur!"

Der Untote, der alles tun würde, um seinen Auftrag zu erfüllen, stapfte in Richtung des Frauenlachens davon und Castragor Barstow wurde den Eindruck nicht los, dass er auch zu Lebzeiten schon hinter jedem Rockzipfel her gewesen war. Insofern hatte sich für den Widergänger gar nicht soviel verändert. Nur sein Jagdinstinkt war feiner. Und er brachte den Frauen den Tod. Das dürfte sich deutlich von seinen Zielen zu Lebzeiten unterscheiden. Barstow erlaubte sich ein Grinsen, als der Widergänger um die Ecke verschwunden war.

Dann kehrten seine Sorgen zurück. Wie die gackernden Hühner gezeigt hatten, war so ein offener Eingang wie eine Einladung, sich hier umzusehen. Der Hagere wusste, er musste Fortschritte erzielen und voran kommen. So ging das nicht weiter.

Der Schwarzzauberer sah sich um. Der Orden hatte Natur und künstliche Schöpfung geschickt verknüpft. Es könnte sein, dass er seine magischen Sinne durch die Höhlen schweifen lassen musste, um einen oder den Weg zum Versammlungsort des Ordens zu finden.

Er versuchte, sich nochmals durch ein paar Flüche Erleichterung zu verschaffen, aber es wollte nicht so recht klappen. So konnte er Belphegor Barstow keinesfalls unter die nachtschwarzen Augen treten. Der Sippenherr würde ihn ...

Er wagte gar nicht erst, es sich auszumalen. Die erste Chance seit langem, dem Orden nahe zu kommen und seine Geheimnisse zu ergründen. Wenn er jetzt versagen würde, konnte er im besten Falle hoffen, noch die Alraunen im familieneigenen Wald hegen und pflegen zu dürfen. Der Alte würde gnadenlos mit ihm sein.

Die Echos des Weibergelächters hallten durch die Gänge und er konnte sich nicht so recht konzentrieren. Der Untote müsste sie doch bald erreicht haben. Vielleicht brachten ihre Todesschreie die Inspiration, die er brauchte, um seinen Auftrag zu erfüllen.

Bis zu dieser verdammten Tür war alles in Ordnung gewesen, aber dahinter hatten seine Probleme begonnen. Warum hatte der Verräter da keine genaueren Informationen geliefert, was das Innenleben des Kyffhäusers betraf? Wusste er es etwa nicht?

Der beunruhigende Gedanke an eine Falle kam wieder in ihm hoch. Aber warum gab man einen solchen Ort preis, um einen Schwarzzauberer zu fangen? Oder hatte der Orden damit gerechnet, dass die Schwarze Familie im großen Stil anrücken würde? Hockte der ganze Wald voller Kämpfer des Nazareners? Hatte ihn Belphegor Barstow nur als Bauernopfer ausgesandt, um zu sehen, welche Falle die Linke Hand hier erwartete?

Bei den Eiern des Nazareners!, durchfuhr es Castragor Barstow. Dieses ekelhafte Lachen ließ nicht nach. Was trieb denn der Untote? Die Weiber ließen ihn ja keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ihr Lachen hallte in tausend Echos durch den Kyffhäuser und jetzt begannen sie auch noch zu jodeln.

Aber die Frage blieb: Warum hatte der Verräter des Ordens, der lang ersehnte neue Judas, nicht mehr über das Innenleben des Kyffhäuser zu sagen gehabt?

Nur über den Versammlungssaal wusste Castragor mehr. Eine Kammer im Fels mit einem runden Tisch und 13 Stühlen. Darüber ein mit Kerzen bestückter Kronleuchter ohne jegliches elektrisches Licht. Archaisch in der Ausstattung. Nichts womit sich der Höchste auf Erden oder Belphegor Barstow zufrieden gaben, denn die Schwarze Familie liebte Verschwendung und Luxus. Aber es war ein Ort, wo der Orden Geheimes beraten und beschließen konnte.

Warum, bei den Schwefelklüften, unternimmt der Widergänger nichts gegen die Weiber? Wozu habe ich ihn aus dem Grab geholt, bei allem was unheilig ist?

 

***

 

"Da vorne rechts ist die 125. Straße", ließ sich der Taxifahrer vernehmen und sah kurz in den Rückspiegel. Dieser Fahrgast sah alt und schwach aus.

Ob er mir auf dem Rücksitz stirbt?, fragte sich der Fahrer. Er sieht so krank aus!

"Ich weiß", entgegnete der Dürre auf dem Rücksitz des Cabs.

Das Unbehagen war nicht verschwunden und es war kalt in seiner Taxe. Obwohl die Mai-Nacht in Big Apple lau war, hatte er die Heizung angeschaltet, als hätte der Mann den Winter mitgebracht. Auch mit laufender Heizung fror er wie ein Schneider.

Der Fahrer, er stammte aus Costa Rica, betete einige Ave Maria und Paternoster und schwor, bei der nächsten Beichte die Wahrheit zu sagen. Er hatte nicht einmal versucht, auch nur einen kleinen Umweg zu fahren. Sein Fahrgast sah zwar aus wie der wandelnde Tod, aber ...

"Wo soll ich halten?", fragte der Costaricaner

"Halten sie einfach hier an. Den Rest gehe ich zu Fuß", antwortete sein Fahrgast.

Der Fahrer enthielt sich jeglichen Kommentars, sah in den Spiegel und fuhr rechts ran. Bartholemew Filligrew Crwmberwood gab ihm das abgezählt bereitgehaltene Fahrgeld auf den Cent.

Der Fahrer nahm das Geld entgegen und nickte seinem Fahrgast zu. Es gab kein Lamento wegen des fehlenden Trinkgeldes. Kaum war Bartholemew aus dem Wagen und hatte die Tür geschlossen, schoss das Taxi mit einem Kavalierstart in den fließenden Verkehr zurück. Drei Fahrer quälten ihre Hupen und einer musste heftig bremsen. Bartholemew Filligrew Crwmberwood schenkte der Szene keinerlei Aufmerksamkeit. Er hatte den Taxifahrer längst vergessen. Eine Randerscheinung in seinem Leben. Sie alle zitterten vor ihm, wussten aber nie, warum.

Bartholemew Filligrew Crwmberwood war das egal. Er ging das letzte Stück zur 125. Straße. Als er um eine Ecke gebogen war, kam gerade ein blonder, hochgewachsener Mann mit rauchgrauen Augen aus einem Appartmentgebäude. Er war in Begleitung einer Frau. Bartholemew Filligrew schnappte noch auf, dass dieser mit seiner Schwester Miriam sprach und auf einen eher altertümlichen Lotus Europa zuhielt, der nichtsdestotrotz flott aussah.

"Gehen wir zum Essen ins Tavern?", fragte Miriam.

"Sicher doch?", war die Antwort ihres Bruders.

Ein Stück weiter stand die Stretchlimousine, die auf den Scharfrichter der Schwarzen Familie wartete. Das war immer so und absolut verlässlich für Bartholemew.

Als er sich näherte, sprang ein Chauffeur in grauer Livree aus dem Fahrzeug und öffnete wie üblich den abgedunkelten Schlag zum Fond.

Kaum war der dürre, sterbenskrank aussehende Scharfrichter der Schwarzen Familie eingestiegen, eilte der Chauffeur um das Fahrzeug herum und fädelte sich Sekunden später in den New Yorker Verkehr ein, der um diese Zeit nicht mehr so stark war wie noch zur Rushhour.

"Seid gegrüßt, Höchster", murmelte Bartholemew Filligrew Crwmberwood und neigte das Haupt. "Eine Freude, Euch zu sehen."

"Ein Freude dich zu sehen, Bartholemew", antwortete ihm ein angenehmer Bass, der väterlich klang. Aber ein fast metallisch zu nennender Unterton in der Stimme sollte jeden warnen, der diese Stimme hörte.

Der Scharfrichter der Hölle fragte sich, wie der Allerhöchste es machte, dass er ihm praktisch Auge in Auge gegenübersaß und er das Gesicht des Herrn der Schwarzen Familie auf Erden nicht erkennen konnte.

Ein phantastischer Zauber, gestand sich der Dürre ein; einen, den er nicht durchschauen konnte. Er hatte es schon versucht, doch sehr zum Amüsement des Allerhöchsten war er an seine Grenzen gestoßen. Der Allerhöchste war der mächtigste Dämon auf Erden, eben der Herr Schwarzen Familie. Asmodi, einer der Fürsten der Hölle.

Lediglich die Augen stachen aus dem Schatten, der die Gestalt umgab, hervor. Ihnen konnte man nicht widerstehen und selbst der gefürchtete Bartholemew Filligrew Crwmberwood senkte den Blick, musste sich der Macht dieser Augen beugen. Der Dürre kam sich vor wie ein Schuljunge, kurz bevor er gemaßregelt wurde, wie immer, wenn er in diese Augen des Höchsten starrte. Einst hatte er sich ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, aber der Allerhöchste hatte ihm eine seltene Gnade erwiesen. Warum, wusste er bis heute nicht. Aber er war sehr dankbar dafür und seinem Herrn absolut ergeben. Sein Wünsche waren ihm Befehl.

Ein leises Lachen war zu hören, als hätte sein Gegenüber ihn schon vor langer Zeit durchschaut, seine Schwäche, seine Ergebenheit erkannt und genoss nun seinen Triumph und seine Überlegenheit.

"Was gibt es diesmal für mich, Allerhöchster?", fragte Bartholemew Filligrew Crwmberwood. "Wen soll ich diesmal in die Hölle schicken und der Ewigen Verdammnis ausliefern?"

Wieder erklang das leise Lachen. Der Dürre kannte es. Oft hatte er es gehört. Für ihn, den Scharfrichter war es stets eine besondere Freude.

"Du wirst deinen Auftrag genießen. Sie wolltest du schon lange. Nun bekommst du sie."

"Ist es ..."

"Sie ist es. Sie hatte es in der Hand, den Schatz an uns auszuliefern oder zu töten. Doch sie hat es verhindert. Für diesen Frevel gehört sie dir, dir allein. Tilge die Schmach von Ely, Bartholemew!"

Bartholemew Filligrew Crwmberwood durchfuhren wohlige Schauer. Eine nie gekannte Erregung erfasste ihn. Die Zeit der Rache war gekommen. Endlich ...

"Es wird mir eine Freude sein, das Urteil zu vollstrecken, Allerhöchster."

Nie hatte Bartholemew diesen Satz ernster gemeint.

 

Die Limousine fuhr ihn zum Flughafen zurück, wo er sich die Zeit bis zu seinem Abflug am frühen Morgen Ortszeit mit dem Schmieden von Plänen und dem Verzehr von schottischen Malt Whiskys vertreiben wollte.

Bartholemew Filligrew Crwmberwood war in Hochstimmung. Wie üblich schwiegen er und der Höchste nach Erteilung des Auftrags. Als der Scharfrichter der Schwarzen Familie die Limousine verließ, hörte er noch den Allerhöchsten sein Fahrziel nennen: "Tavern On The Green". Es war ein beliebtes Restaurant, das er als Fahrtziel angab. Dahin waren auch Miriam und ihr Bruder unterwegs. Ob sie es zu schätzen wussten, wer ihnen dort Gesellschaft leistete? Bartholemew Filligrew Crwmberwood erlaubte sich ein sparsames Schmunzeln ...

Bartholemew betrat unterdessen nach nicht einmal zwei Stunden wieder den internationalen Flughafen New Yorks. Er ging zum Counter einer interkontinentalen Gesellschaft.

"Frankfurt. Frankfurt am Main, Germany", nannte er als Ziel seines Fluges ...

 

***

 

Der Untote hörte die Frauen. In seinem Geist war nur Platz für den Befehl, die beiden zu töten. Er war kaum mehr als ein Werkzeug in Händen des Schwarzzauberers Castragor Barstow. Der Untote war wie ein Hammer, der den Nagel in die Wand trieb. Und Castragor war die Hand, die den Hammer führte.

Stumpfsinnig folgte er den Stimmen der Frauen und näherte sich ihnen unaufhaltsam. Der Widergänger marschierte mit mechanischen Schritten, mit hängenden Schultern und leerem Blick. Er schlurfte über den Höhlenboden, was ein eigenartig scharrendes Geräusch ergab. Sie hatten ihn in Cowboystiefeln und einem dunklen Anzug begraben.

Für die Schönheiten der Höhlen im Kyffhäuser hatte er keinen Blick. Dabei hätte er sie sehen können, denn aus den Wänden drang gedämpftes indirektes Licht, das alles in ein eigentümliches Zwielicht tauchte. Ihm war es egal, ob der Orden hier etwas Wunderbares, Einzigartiges besaß, das mit einem wunderbaren Sinn für Schönheit Erschaffenes und Natur verband. Ein Mann mit außergewöhnlichen Fähigkeiten war hier am Werk gewesen.

Tief im Innern schrie seine Seele auf, die mit ihm aus dem Reich der Toten gezerrt worden war und keinerlei Einfluss über seinen Körper und dessen Tun hatte und bereute, was er zu Lebzeiten getan hatte. Für das Unsterbliche war es die Hölle in dem Stück toten Fleisch leben zu müssen. In diesen Augenblicken bereute er seine Sünden wirklich. Jetzt erkannte er, was Erlösung bedeutete, die ihm vorerst nicht zuteil werden würde.

Ohne anzuhalten schlurfte der Widergänger durch das Labyrinth der Gänge. Er war wie ein Lavastrom. Langsam, träge, aber unaufhaltsam, ohne Geist, sich seinen Weg bahnend. Eine Naturgewalt der Schwarzen Magie. Immer näher kam er den beiden Frauen. Sie mochten nur noch wenige Schritte entfernt sein, vielleicht waren es sechs.

Fünf Schritte.

Unaufhaltsam und nicht zu stoppen.

Vier Schritte.

Ihre Stimmen waren so klar, als stünde er neben ihnen.

Drei Schritte.

Er konnte ihren Atem förmlich spüren.

Zwei Schritte.

Er konnte ihre Fackel riechen, die Wärme spüren, die er nicht mehr hatte, seit die Leichenstarre eingesetzt hatte.

Einen Schritt.

Er kam nicht weiter. Der Widergänger stieß mit der Stirn an kalten Fels. Er ging weiter, kam aber nicht voran. Die Frauen waren auf Armeslänge vor ihm, aber sie trennte eine Felswand. Drei Meter nach rechts und links war eine massive Felswand, auf beiden Seite konnte man flackernden Feuerschein erkennen. Der Gang führte drum herum. Auf der anderen Seite der Wand waren die Frauen und lachten. Sie ahnten nichts von der tödliche Gefahr durch den Widergänger, der stur versuchte weiterzugehen, um seinen Auftrag zu erfüllen und nicht auf den Gedanken kam, nach rechts oder links zu gehen.

Sie waren doch so verdammt nah. Ging er nach rechts oder links, entfernte er sich wieder von ihnen. Also versuchte der Widergänger einfach durch die Wand zu gehen ...

 

***

 

"Tööv!", grollte Hinnerk. "Da finden wir eine Treppe, die nicht da sein dürfte in einem Fels, den es hier nicht geben dürfte. Und du willst da einfach so hinuntermarschieren? Dösbaddel!"

"Es ist doch nur eine Treppe", meinte Mark, aber was er sagte, kam ihm plötzlich nicht mehr so klug vor. Hinnerk brachte immer seine dümmsten Seiten zum Vorschein. Er wäre sofort die Treppe hinuntermarschiert. "Vielleicht hast du Recht. Wir haben in den letzten Tagen einiges erlebt, was nicht normal war und immer wurde es gefährlich", besann sich Mark.

"Das Haus ist gut zu uns. Es würde uns nie gefährlich werden", meinte Christine. "Spürt ihr es denn nicht?"

"Was ist hier eigentlich los?", fragte Knut Ukena. "Ich verstehe gar nichts mehr."

Marks Freund starrte sie alle an, als würde er sie zum ersten Mal sehen.

"Das ist eine lange Geschichte", erklärte Mark. "Aber in der Kurzfassung heißt es, dass es Vampire, Geister und Dämonen gibt und ich mit ihnen zu tun habe, weil ich einen Schatz hüten muss."

"Mich!", warf Christine ein. "Ich bin der Schatz."

"Junge Lady!", entfuhr es James. Sein Gesicht drückte Missbilligung aus. Mark und Hinnerk sahen das Mädchen ebenfalls nicht gerade glücklich an.

Christine war es egal. Sie wusste, wann sie jemanden vor sich hatte, der vertrauenswürdig war. Und Mark würde Hilfe brauchen, wenn er das Böse bekämpfen sollte. Außerdem war für Christine klar, dass dieses Haus nie einen bösen Menschen drei Jahre in seinen Mauern geduldet hätte. Christine wusste das einfach. Knut Ukena war Marks Freund. Sie wusste, er würde alles für Mark tun. Er sollte der Fels sein, auf den Mark seine Tafelrunde gründete.

Warum können es die anderen nicht sehen?, dachte sie.

Weil sie nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Verstand sehen, meine Tochter, glaubte sie eine Stimme in ihrem Inneren zu hören. Auch Petrus wusste nicht, dass er mein Fels war, obwohl ich es ihm gesagt habe. Mit dem Verstand kann man nicht in Herzen sehen.

Ja, Urgroßvater, antwortete sie in Gedanken, aber die Stimme war schon weg.

Die Tafelrunde des Hüters wird heute geboren, durchfuhr es Christine, und es beginnt! Erst die Prophezeiung und nun die Tafelrunde.

"Sagt es ihm. Sagt es ihm, bevor ihr die Treppe runtergeht. Erzählt, wer ich bin."

Der Unterton in der Stimme des jungen Mädchens war bestimmt, denn das musste sie sein, um zu bekommen, was sie wollte. Und doch schmeichelte er auch, umwarb seine Zuhörer.

Die Macht eines jungen Mädchens und die Macht des Schatzes. Da hatten Hinnerk Lührs, Mark Larsen und James keine Chance. Ihr Widerstand schmolz dahin wie ein Eiswürfel in der Hölle.

Was vor mehr als tausend Jahren fehl schlug, mochte nun zu neuem Leben erwachen. Christine sah alles vor sich, konnte es aber nicht in Worte fassen. Alles war in ihr, aber noch von Nebeln umhüllt.

Vielleicht gelingt es diesmal. Lasst sie uns diesmal auf Freundschaft und Liebe gründen.

Ja, meine Tochter, das sind die Grundfesten dieser Welt. Sie sollen das Fundament der Tafelrunde sein.

Mark spürte förmlich, wie sich seine Zunge lockerte. Christines Wünsche waren ihm jetzt schon Befehl.

"Tööv mol", wollte Hinnerk ansetzen.

Im Hintergrund verklang die letzten Töne von 'What might have been", dem Strange Fruit Song vom 97er-Album, den Les Wickes sang.

"Hinnerk, ich wünsche es so", sagte Christine und sah dem Ordensmeister in die Augen.

Hinnerk konnte dem Blick nicht standhalten.

"Ja", antwortete Hinnerk und neigte das Haupt. "Wenn es dein Wunsch ist."

'A Woman Like That' begann.

"Das ist er", sagte Christine und lächelte.

Knut Ukena war dem Dialog mit wachsendem Unverständnis gefolgt.

Wenn das meine wäre, dachte er bei sich, als er sah, dass Hinnerk und Mark Befehle von einem Kind entgegennahmen. Das war ihm fremd. So kannte er Mark nicht.

Christine sah ihn an. Sie schmunzelte. Es war nicht das Schmunzeln eines zwölfjährigen Mädchens, sondern das des Schatzes, des heiligen Grals, der Nachfahrerin des Sohnes Gottes auf Erden.

"Ich bin nicht deine, sondern du bist meiner, Knut Ukena. Auf Gedeih und Verderb. Die letzten Tage brechen an und der Hüter bedarf deiner", orakelte Christine.

Hinnerk, Mark und James waren völlig überrascht und verwirrt sahen sie Christine an.

"Ich bereite noch einen Tee. Die Erkundung unbekannten Terrains wird sich auf Wunsch der jungen Lady verschieben und Erklärungen dieser Art dauern für gewöhnlich länger", meinte der Butler und wandte sich dem Wasserkessel zu.

Dies vor allem deshalb, weil es seiner Berufsehre widersprach, wenn er seine Überraschung über Christine offen zeigte. Er hoffte inständige, seine Miene wieder in den Griff zu bekommen, bis der Tee fertig war.

Mark Larsen und Hinnerk Lührs starrten das Mädchen mit offenem Mund an. Sie machten nicht den intelligentesten Eindruck, genauso wenig wie Knut Ukena. Christine fand, dass die drei Stooges würdige Nachfolger gefunden hatten.

"Ich gehe jetzt in mein Zimmer", sagte Christine, als die ersten Takte von 'Scream Freedom' erklangen.

Die Musik ist zu schlecht. Das eine Stück hatte ihr ja gefallen, aber das ...

Bäh!, dachte sie.

Ray Simms sang gerade von den Toren nach Eden.

"Ihr kommt bestimmt ohne mich zurecht. Was ihr tun sollt, wisst ihr ja", sagte Christine und fast augenblicklich wurde sie wieder zum Kind und rannte in ihr Zimmer, um sich mit Kelly Clarkson und Robbie Williams zu amüsieren.

"Was war das jetzt?", brach Knut Ukena das Schweigen.

"Bereite dich auf die Überraschung deines Lebens vor, Knut", meinte Mark. "Setz dich! Das wird dauern. Die Treppe muss warten."

 

***

 

Knut Ukena brummte nach einer Stunde der Schädel. Wenn Mark nicht dabei gewesen wäre, hätte er jetzt begonnen, nach der versteckten Kamera zu suchen oder darauf gewartet, dass ein grenzdebiler Fernsehmoderator mit ins Gesicht eingefräster Dauerlache und implantiertem Humor die Küche betrat und einen hohlen Spruch ála "Überraschung Herr Ukena, da ist die Kamera" von sich gab.

Mark und Hinnerk hatten ihn in dieser Stunde nur in die Grundzüge des Geheimnisses einweihen können. Die Herkunft des Schatzes, die Aufgabe des Hüters und die Prophezeiung, wobei er einfach nicht so recht verstand, warum Hinnerk Mark den Dolch ins Herz gerammt hatte und warum nie einer all diese Möglichkeiten mit einem vernünftigen Computerprogramm durchgerechnet hatte. Daran klammerte sich Knut Ukena. Wenn nicht, fürchtete er um seine geistige Gesundheit.

"Und das soll ich glauben?", fragte er, eigentlich davon überzeugt, dass Mark die Wahrheit erzählt hatte. Nur der Rest seines logischen Verstandes quengelte ganz rief im Innern immer noch. Vampire, Dämonen, Hölle. Das war was für Kino, DVD oder einen Schundroman, der Heilige Gral was für Dan Brown oder Monty Python.

"Du solltest es besser glauben. Wenn nicht, hältst du dich besser von mir fern. Denn mit diesen Wesen habe ich es zu tun, einschließlich der Enkelin Christus, mit diversen Ur's davor", sagte Mark so ruhig und gelassen er nur konnte.

Hinnerk nickte bestätigend und schob sich eine seiner Selbstgedrehten zwischen die Lippen. Das Feuerzeug flammte auf, die Spitze glühte orange und Hinnerk sog gierig den Rauch ein.

"Dat is so, mien Jung", murmelte er gedankenverloren vor sich hin.

Denn Hinnerk Lührs beschäftigte sich gedanklich noch immer mit Christines Auftritt, den er nicht recht einzuordnen wusste. Es schien, dass sich mit der Prophezeiung allerhand änderte.

"Und nu?", fragte Knut.

"Christine hat gesagt, ich bedarf deiner. Du sollst mir helfen."

"Du bist sein Bestmann, sien Magger, der, der ihm zur Seite steht und hilft. Dat büst du", warf Hinnerk ein. "Wenn man so will, seid ihr Artus und Lancelot, Charlemagne und Roland, ein dynamisches Duo wie Batman und Robin."

Der Alte grinste dabei unverschämt.

"Das stimmt", sagte Christine, die in der offenen Tür erschienen war. "Die Beiden sind ein solches Duo."

Dann ging sie wieder. Wie lange sie da schon gestanden hatte, vermochte keiner zu sagen.

"Die junge Lady entwickelte eigentümliche Allüren", ließ sich James mit deutlicher Missbilligung vernehmen. "Ich befürchte, sie kommt in die Pubertät."

Sein Gesicht zeigte einen heiligen Ernst und große Missbilligung.

Einen kurz Moment schwiegen Knut, Hinnerk und Mark und sahen den Butler an, der auf den leeren Türrahmen starrte, wo Christine eben noch gestanden hatte. Aber dann konnte Hinnerk nicht mehr an sich halten und lachte los, bekam kaum noch Luft. Die anderen fielen ein. Selbst James ging auf, dass er ziemlichen Unsinn geplappert hatte und erlaubte sich ein sparsames Lächeln über sich selbst.

"James, du bist mir eine Marke", schnaufte Hinnerk, als er sich von dem Lachanfall erholt hatte.

Der Butler deutete eine Verneigung an. "Ich werde mich nunmehr meinen Obliegenheiten zuwenden."

"Wir auch", beschloss Mark. "Ich will endlich wissen, was sich hinter dieser Tür verbirgt."

"Wir sollten uns bewaffnen", meinte Hinnerk.

"Da habe ich wohl eine Lösung, wenn auch keine legale", meldete sich Knut Ukena zu Wort.

Er ging in die große Diele und holte aus einer Truhe eine Sporttasche hervor, die er in der Küche öffnete. Aus dieser Tasche zog er ein halbes Dutzend großkalibriger Revolver hervor.

"Makarovs von der Roten Armee, mit ein paar hundert Schuss Munition." Knut wies auf die großkalibrigen Geschosse, die er ebenfalls aus der Tasche zog.

"Gekauft 1989, als die Soldaten der Roten Armee alles zu Geld machten, was sie hatten. Ich habe noch drei Uniformen, ein paar Orden und fast hätte ich mir auch ein AK 47 gekauft."

"Eine Kalaschnikow?!", entfuhr es Mark.

"Es gab einfach alles. Bereut habe ich nur den Kauf des Wodkas. Ein fürchterlicher Fusel, den die Rote Armee zu saufen bekam. Oh, war der übel", zuckte Knut in Erinnerung massiver Kopfschmerzen mit den Schultern. "Ich habe die Waffen gepflegt, aber nie so recht gewusst, was ich damit wollte. Die Uniformen habe ich zum Karneval aufgetragen und mittlerweile sind sie Putzlumpen", schmunzelte er in Erinnerung an einige wilde Feiern.

Mark lud eine der Waffen und warf sie Hinnerk zu, der sie an Knut weitergab.

"Ich verfüge über andere Mittel", meinte er nur.

Mark nahm sich eine zweite Makarov und lud noch ein Magazin. Er nahm sich noch gut fünfzig Schuss.

"Das sollte reichen", meinte er nur.

Im Grunde hatte er Schusswaffen nie was abgewinnen können, ja nicht einmal in der Bundeswehr gedient, aber er hatte den Umgang mit Schusswaffen erlernt, weil sein Vater Jäger war. Mark war sogar ein recht passabler Schütze.

"Sollten da nicht geweihte Silberkugeln rein?", fragte Knut Ukena ohne Argwohn und erntete ein breites Grinsen von Hinnerk.

"Und wen wolltest du damit wohl erlegen?", fragte der Alte mit spöttischem Unterton. "Geweihte Silberkugeln helfen gegen Werwölfe, aber bis zum nächsten Vollmond ist noch 'ne Weile hin. Vampiren bereiten sie nur Unbehagen, denen ist mit einen soliden Pflock besser beizukommen. Und ein Dämon lacht darüber. Gegen Halbdämonen und Schwarzzauberer reichen auch Bleikugeln aus, vorausgesetzt man hat genug davon. Dumdum-Geschosse sind recht wirksam, weil sie das Gewebe des Halbdämons zerfetzen, so dass er sich schlechter regenerieren kann. Einige von ihnen verfügen über erstaunliche Widerstandskraft und brauchen soviel Geschosse, dass man ein Dorf an Bleivergiftung sterben lassen könnte. Und bei Untoten ist man gut beraten, den Kopf zu zerschießen, was manche aber immer noch nicht aufhält. Das hängt von dem Zauber ab, der sie aus ihrem Grab gerufen hat. Aber dafür habt ihr ja mich, denn so ein paar Tricks habe ich ja noch drauf", erklärte Hinnerk Lührs in aller Gemütsruhe.

"Auf was lasse ich mich da nur ein?", fragte Knut Ukena.

"Auf eine gute, aber gefährliche Sache", ließ sich Hinnerk vernehmen.

"Wollen wir?", fragte Mark. "So langsam will ich wissen, was sich am anderen Ende der Treppe befindet."

 

***

 

Die Fackel brannte und tauchte die Felswände in flackerndes, unsicheres Licht, das dem Ort aber eine besondere Atmosphäre verlieh. Cornelia Bender und Sabrina Funke hatten von dem Angebot am Eingang Gebrauch gemacht, obwohl eine Fackel oder eine andere künstliche Lichtquelle in diesen Höhlen, Schächten und Gängen überhaupt nicht nötig war. Doch verlieh die Fackel dem Unternehmen einen Hauch des Abenteuerlichen, den Schuss Indiana Jones eben.

Die beiden Frauen lehnten an der Wand und machten eine Rast, die sich mehr und mehr ausdehnte, aber die Atmosphäre hier unter der Erde war so entspannend und so legten sie ein ausgedehntes zweites Frühstück ein. Ein Picknick in den Höhlen des Rotbarts, wie sie scherzten.

Die Anekdoten aus ihrer Schul- und Studienzeit kamen von allein. Sie sprudelten aus ihnen hervor und jede versuchte die andere mit ihren Erinnerungen zu übertreffen. Immer wieder gab es viel zu lachen, ob ihrer gemeinsamen Taten in der Schule und auf der Uni.

Mitschülerinnen, Jungens und Männer, die sie hatten, Lehrer und Professoren. Über vieles, was seinerzeit bierernst war, konnte man heute lachen. Wie sie sich als knapp 12-Jährige davonschleichen wollten, um zur Friedensdemo im Bonner Hofgarten zu trampen und von den Eltern am Horner Kreisel eingefangen wurden, löste die heftigsten Lacher aus. Zumal sie sich im Datum vertan hatten und glatt eine Woche zu früh angereist wären.

"Ob das für die Tagesschau gereicht hätte?", fragte Sabrina.

Cornelia Bender hatte Tränen in den Augen.

"Waren das Zeiten und waren wir jung und naiv", schnappte sie beim Sprechen nach Luft.

"Heute sind wir nur noch ...", begann Sabrina Funke.

"... schön", vollendete Cornelia Bender. Ob des albernen Witzes brachen sie wieder in wildes Gekicher aus.

"Hast Du eine tote Ratte in deinem Rucksack?", fragte Cornelia Bender Sabrina, die gerade in ihrem stöberte. "Oder was stinkt hier so?"

Sabrina sog die Luft durch die Nase ein und schnüffelte in ihrem Rucksack herum. "Aus dem kommt es nicht", beschied sie ihrer Freundin. "Das kommt von irgendwo anders her. Vielleicht ist’s der Barbarossa. Der ist doch schon an die neunhundert Jahre hier."

Cornelia lachte.

"Trotzdem, lass uns aufbrechen. Das ist ja widerlich. Bäähh!"

"Wird ohnehin Zeit. Auch die schönste Rast geht einmal zu Ende", meinte Sabrina achselzuckend. "Und wir wollen noch zum Denkmal und haben noch ein gutes Stück zu gehen."

"Lass uns trampen", schlug Cornelia vor und erntete das glockenhelle Lachen ihrer Freundin dafür. "Wir wollen ja nicht nach Bonn."

Sie räumten ihr Zeugs zusammen. Der Verwesungsgeruch wurde immer stärker, schien um die Ecke zu kommen, die sie noch nicht erkundet hatte.

"Da gehen wir gar nicht erst hin", ließ Conny wissen. "Was da wohl verwest?"

"Vielleicht ein Verirrter, der den Ausgang nicht gefunden hat", scherzte Sabrina.

"Rattenfriedhof", toppte Cornelia die Vermutung ihrer Freundin. "Oder ein Zombie könnte es sein."

"Die gibt’s doch nur in der Karibik oder im Kino. Hier in der Gegend würde man das einen Wiedergänger nennen", antwortete Sabrina prompt.

Als erfahrene Jason Bright-Leserin, hielt sie sich für eine Expertin. Der Autor schrieb so ungeheuer authentisch, wenn man in Zusammenhang von Mumien, Monstren und Mutationen überhaupt von Authentizität sprechen konnte. Aber sie hatte aus purem Vergnügen Jason Bright mal nachrecherchiert und war zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen. Jason Bright war von bemerkenswerter Genauigkeit. Völkerkundler meinten, er hätte sehr sauber gearbeitet, insofern man bei übernatürlichen und damit nicht existenten Dingen von Fakten reden konnte. Insbesondere in Sachen Dämonen und Teufelsglaube könnte er mancher Kapazität von der Universität das Wasser reichen.

Was sie nicht ahnte und auch sonst kaum einer seiner Leser oder Verleger: Jason Bright war einer der 13 Meister des Ordens, der den Schatz hütete. Er hatte Zugriff aus erster Hand auf die Fakten über Geister, Dämonen und Vampire. Seine Romane waren eine Mahnung an alle, die sich auf die Pfade der Schwarzen Magie begaben. Das zumindest erkannte Sabrina. Wer sich mit Dämonen einließ, kam durch sie um. Diese Mahnung stand in fast jedem der Bright'schen Bücher.

"Aber es müffelt so, als stände einer genau um die Ecke", bestimmte Cornelia. "Egal ob Zombie oder Widergänger."

Sie griff nach ihrem Rucksack, nachdem sie die Tafel Schokolade, ihren Becher und ihre Wasserflasche darin verstaut hatte und stand auf. Sie warf sich den Rucksack erst über die rechte, dann schlüpfte sie mit ihrem linken Arm hindurch.

Sabrina tat es ihr gleich. "Wie rum?", fragte sie.

"Mir nach", kommandierte Cornelia Bender und unterschrieb damit ihr eigenes Todesurteil.

Sie setzte sich in Bewegung.

Der Widergänger auf der anderen Seite der Felswand registrierte das und ging parallel zu ihr die Wand entlang. Auf seiner Stirn zeigte sich grauer Felsstaub.

Sabrina folgte ihrer Freundin fast auf dem Fuße. Cornelia ging schneller. Der Untote ging schneller. Der Diener Castragor Barstows spürte die Nähe der Lebenden. Ihn erfüllt nur der Befehl seines Herren. Die um Vergebung brüllende Seele seines alten Ich konnte nichts tun, außer zuzusehen, was passieren würde.

Unaufhaltsam ...

Cornelia Bender erreichte zum gleichen Zeitpunkt die Ecke wie der Untote.

Sie wandte ihren Blick und starrte in die toten Augen des Widergängers. Sie roch den Leichengeruch, sah in die Augen des Toten und wusste, es war zu Ende. Ein Stimme in ihr flüsterte, es war aus.

Zweifel ...

Begreifen ...

Grauen ...

Angst ...

Todesangst!

Ein Schrei löste sich aus ihrer Kehle, aber der wurde im gleichen Moment erstickt. Kräftige, kalte Finger schlossen sich um ihren Hals und drückten unerbittlich zu. Im Griff des Untoten drehten sie sich wie Tänzer. Tänzer des Totentanzes. Cornelia versuchte den Griff zu lösen, aber ihre Kräfte reichten nicht aus. Aus geweiteten Augen sah sie in das Antlitz des Toten und konnte ihr Ende darin lesen.

Die Fackel entfiel ihren Händen und prallte auf den Fels, der flackernde Schein erhellte die gespenstische Szene zusätzlich und schien wie ein Höllenfeuer.

Sabrina sah die Szene und ohne auch nur nachzudenken warf sie sich nach vorn, prallte gegen den Rücken des Untoten, krallte sich um dessen Hals und versuchte ihm die Luft abzudrücken.

Sinnlos. Sabrina bemerkte gar nicht, mit wem sie es zu tun hatte. Ihre Freundin war in Todesgefahr! Sie zerrte und riss an dem Toten, aber den kümmerte das nicht. Der Geruch, der ihre Nase folterte, drang nicht in ihr Bewusstsein.

Endlich ließ Sabrina von dem Angreifer ab, als sie erkannte, dass sie so nichts erreichte. Sie nahm einen Stein hoch und schmetterte ihn auf dessen Schädel. Ein hässliches Knacken ertönte, aber der der Mann ließ nicht von Cornelia, die nur noch ein Gurgeln und Röcheln von sich gab, ab. Ihre Gegenwehr wurde mit jedem Augenblick schwächer. Ihre Arme fielen herab.

Cornelia Benders Lippen wurden blau, als Sabrina zum nächsten Schlag ausholte. Der Untote griff in diesem Augenblick um und brach mit einer fließenden Bewegung Cornelia Bender das Genick.

Sabrinas Hieb landete ob dieser Bewegung auf seiner Schulter. Der Untote wandte sich um, ohne einen Laut von sich zu geben.

Sabrina erkannte, was sie vor sich hatte. Jason Brights Romane gaben den empfundenen Schrecken nicht annährend wieder. Statt wohligen Schauders erfüllte sie hündische Furcht.

Todesfurcht ...

Sabrina sah wie in Zeitlupe den entseelten Leib ihrer besten Freundin zu Boden gehen.

Ein Schrei entfuhr ihr. Die Hände des Widergängers griffen nach ihrem Hals.

Sabrinas Mund öffnete sich zu einem Schrei. Einem Todesschrei ...




                                                                                      No fool would say

                                                                                      You live today

                                                                                      without the will to survive

Strange Fruit

3. Kapitel:

Halle der Geheimnisse


Er hatte das Kreuz genommen. Jerusalem war das Ziel. Markus, ein geheimnisvoller Mönch in der Kutte der Benediktiner, hatte ihn gewarnt, er würde die Heilige Stadt nie erreichen. Sein Schicksal würde sich vorher erfüllen.

Dann kam dieser Fluss, dieser vermaledeite Fluss in Asia Minor, noch weit entfernt vom heiligen Land. Er hatte das Pferd durch die Furt lenken, sein Heer führen wollen, doch das Ross bäumte sich auf und warf seinen Reiter ab. In diesem Moment hatte er gewusst, Markus hatte Recht gehabt. Doch wo war er nun? Er hatte gesagt, er würde da sein ...

Die Strömung riss ihn mit. Das Wasser war flach, aber das Gewicht seiner Rüstung drückte ihn ohne jedes Erbarmen unter Wasser, ließ ihn nicht mehr an die Luft. Erst hielt er noch den Atem an, kämpfte verzweifelt, aber dann musste er einfach atmen und statt der Luft strömte Wasser in seine Lungen.

Einige meinten später, in diesem Moment ein irres Lachen gehört zu haben, als der Kreuzfahrer um sein Leben rang. Später hieß es unter den Kämpfern, dass das Pferd sich sofort wieder beruhigt habe und der Bettelmönch, der da Markus Fitz Lars hieß, wohl eher ein Dämon, denn ein Heiliger war und seinen dunklen Zauber gewoben habe. Denn er hatte ja die Worte zum Kaiser gesagt, die in jenen Augenblicken in Erfüllung gingen. Manche der Männer machte das Zeichen des Kreuzes und das Bannzeichen wider den Bösen Blick.

Markus, Fitz Lars, warum hast du mich verlassen?, waren des Heerführers letzte Gedanken, dann hauchte er sein Leben aus.

Am Abend nach dem Begräbnis erschienen drei Diener des Ordens, ein Zauberer jeder von ihnen, und belegten seine fleischliche Hülle mit einem Spruch, um den Tod zu besiegen und den Kaiser ins Leben zurückzuholen, aber gemäß den Worten des Markus konnten sie ihn nicht ins Leben zurück bringen, obwohl sie sein Unsterbliches in seinem Körper spürten. Doch es erwachte nicht.

Nun blieb noch die Prophezeiung des Markus Fitz Lars. Sie woben einen neuen Zauber um die fleischliche Hülle des Kaisers, auf dass diese nicht verwesen möge. Dann brachten sie ihn in aller Heimlichkeit fort in die Heimat.

Der Löwe, sein alter Widersacher, erschien und ordnete an, dass man ihn in den Felsendom bringe, auf dass er seiner Wiederkehr in schwerer Zeit harren konnte, wie es Markus Fitz Lars verkündet hatte ...

 

***

 

Frankfurt am Main. Bankenmetropole. Mainhattan. Wichtigster Flughafen Mitteleuropas. Stadt der Buchmesse und, für viele noch wichtiger, die der Automobilausstellung.

Bartholemew Filligrew Crwmberwood, den dürren, kränklich aussehenden Scharfrichter der Schwarzen Familie, berührten diese Markenzeichen der hessischen Metropole nicht im Geringsten, als er seine dürren Beine auf hessischen Boden setzte.

Warum sollten sie ihn auch interessieren?

Er hatte mehr als genug Geld. Bargeld lacht, war Bartholemews Motto. Und er hatte viel davon. Der Allerhöchste gab ihm reichlich, wenn er erfolgreich war. Euro, Dollar, Pfund und Franken.

Er kam auch mit anderen Flughäfen aus und sie waren alle gleich hässlich, ungemein geschäftig und lärmend. Sie waren ein notwendiges und lästiges Übel. Wie gern würde er sich mittels Magie versetzen, aber der Schatz hatte alles erschwert und seine Kraft zu vergeuden, kam ihm nicht in den Sinn (auch wenn er sich nach den guten, alten Zeiten vor dem Nazarener sehnte, wo Magie so viel freier war). Flughäfen waren Orte wie viele andere. Einfach zu viele Menschen, einfach zu viel Hektik. Bartholemew mochte sie nicht.

Bücher, die ihn interessierten, waren zumeist auf Papyrus, Pergament oder Menschenhaut geschrieben und nicht im Handel erhältlich. Keinesfalls wurden diese auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert. Bartholemew Filligrew konnte sich lebhaft das Gewürm, das sich Mensch nannte, vorstellen, wie es sich in den Hallen drängte und wand und Bücher bestaunte.

Die Modelle keiner Autoschmiede der Welt konnten Bartholemews Interesse erregen. Es waren für ihn einfach Fortbewegungsmittel, die ihn von hier nach da bringen sollten. Sie stanken erbärmlich und dienten den Männern rund um die Welt nur als Penisverlängerung. Bartholemew Filligrew fand das mehr als lächerlich.

Seine Vorlieben waren exotischer, exzentrischer und kosteten die Damen des horizontalen Gewerbes zumeist das Leben, denn wer, außer dem Zuhälter, vermisste schon ein Hure? Und Zuhälter waren Gestalten, mit denen er immer noch fertig geworden war. In der Hölle schrieen ihre Seelen und harrten des Jüngsten Tages.

Doch nach Sex war ihm nicht, noch nicht. Dieser Drang überfiel ihn nur alle Jubeljahre einmal. Besonders viel Spaß hatte er 1887 gehabt, als er noch in dem Cottage nahe der Metropole London lebte. Aber der Rausch hatte nur Wochen gedauert. Dann war es vorbei gewesen. Doch jetzt bekam er das Opfer, das er schon lange begehrte. Er musste sie nur noch fangen. Cresmonia Gwscore gehörte ihm und bevor sie zur Hölle fuhr, sollte sie leiden, lange leiden. Und es würde ihm ein Rausch sein, ein monatelanger Rausch mit einer Frau. Er hatte in alten Büchern perverser ägyptischer Schwarzzauberer gelesen. Da hatte er Anregungen gefunden, denn schon gut tausend Jähre währte die Sehnsucht, Cresmonia sein nennen zu können.

Er wollte seinen Spaß und seine Rache. Beides zusammen bekam man nicht sehr oft. Allein der Gedanke daran erregte den Scharfrichter der Schwarzen Familie. Schon lange hatte Bartholemew ein Auge auf die Aktivitäten der Hexe geworfen.

Der Scharfrichter der Schwarzen Familie wusste genau, was sie tat. Er kannte ihre Zirkel, die echten und die falschen.

Vor ein paar Monaten war sie dann verschwunden, aber das machte ihm keine Sorgen. Ihren wahren Zirkel ließ sie im Stich. Das war für Bartholemew Filligrew Crwmberwood der Ansatzpunkt.

"Mainzer Landstraße 125", ließ er einen Taxifahrer wissen.

"Können sie die paar Schritte nicht zu Fuß gehen?", fragte der Fahrer verärgert und legte den "Frankfurter Abend" weg, wo ein Reporter mit dem Kürzel 'rn' etwas über eine Burg nahe Darmstadt und die Veranstaltungen dort geschrieben hatte. Im Sportteil war ein Artikel über vergessene Helden der Formel 1 zu lesen, wo es um einen jungen Deutschen namens Hellmer ging, der in den frühen Siebzigern ein paar Rennen gefahren war und dann die Szene spurlos verlassen hatte. Einer der großen Mysterien des Sports. Damit hatte der Taxifahrer sich die Zeit vertrieben.

Stunden hatte er gestanden und der Fahrgast, der kam, brachte ihm kaum mehr als fünf Euro in die Kasse. Er spürte einen stahlharten Griff an der rechten Schulter und ein stechender Schmerz und eine eisige Kälte durchfuhren ihn. Instinktiv griff der Taxifahrer mit der Linken zu und versuchte den Griff zu lockern.

Keine Chance.

"Obacht, junger Mann!"

Die Stimme hatte sich weder gehoben noch gesenkt, doch sie war unmissverständlich klar.

"Ich mache gar nicht erst den Versuch, Ihnen mit dem Ordnungsamt zu drohen. Ich werde ihre Eingeweide hier und jetzt auf dem Bahnhofsvorplatz verteilen und warten, bis die Ratten kommen, um sie zu fressen. Sie werden mich fahren, wohin ich will, nicht, wohin es ihnen passt." Dann murmelte Bartholemew Filligrew Crwmberwood etwas in der längst vergessenen Sprache der Etrusker und machte mit der Linken eine Bewegung.

Der Fahrer hörte beinahe augenblicklich auf, sich zu wehren. Seine Augen richteten sich auf einen imaginären Punkt in der Ferne. Die Pupillen weiteten sich und der Angstschweiß brach ihm aus. Sein Puls beschleunigte auf über zweihundert. Sein Blutdruck schnellte nach oben. Sein Atem ging stoßweise. Der Fahrer stieß gequälte, unartikulierte Laute aus. Gänsehaut bildete sich. Panik erfüllte offensichtlich den Mann, oder besser: Todesfurcht.

Vor dem Wagen war nichts zu erkennen, aber dennoch musste der Mann etwas vor Augen haben, das ihn in hündische Furcht versetzte. Unfähig sich zu bewegen oder die Augen zu schließen, war er dem Zauber Bartholemew Filligrew Crwmberwoods ausgeliefert, musste ihn ertragen. Der Körper des Taxifahrers verkrampfte, fing an zu zucken. Speichel lief ihm aus dem Mund. Er sabberte wie ein kleines Baby.

"Junger Mann, ich habe keinerlei Schwierigkeiten damit, Sie hier und jetzt an Furcht sterben zu lassen. Aber Sie werden doch sicher tun, was ich sage, wenn es aufhört", sagte die ruhige Stimme Bartholemews.

Der Dämon saß gelassen auf dem Rücksitz und wieder einmal fragte er sich, was diejenigen sahen, die er mit dem Zauber belegte, wollte es aber gleichzeitig gar nicht so genau wissen.

Mit einer nachlässigen Bewegung, hob er den Spruch auf und lehnte sich völlig entspannt zurück.

"Mainzer Landstraße 125, junger Mann", wiederholte Bartholemew Filligrew völlig ruhig.

"Sofort", kam die Stimme von vorn. Die Panik schwang darin noch hörbar mit.

Nur mühsam bekam sich der Fahrer in den Griff.

"Stellen Sie keine Fragen. Fahren Sie", kam die ruhige Anweisung von der Rückbank.

Der Fahrer fuhr kommentarlos ab. Nie würde er diese Sekunden vergessen und nie würde er darüber sprechen. Sein Speichel rann ihm das Kinn hinab. Es war ihm egal. Nur weg und ans Ziel. Der Fahrer wollte seinen Fahrgast nur noch loswerden. Innerlich schüttelte es ihn, aber er riss sich zusammen.

Was war los?, fragte er sich. Was habe ich gesehen?

Der Fahrer wusste es nicht mehr. Er wusste nur noch um dieses Gefühl der absoluten Angst und der völligen Hilflosigkeit, das ihn gefangen hatte.

Polizei? Aber was sage ich denen? Ein alter Mann mit der Kraft eines Ochsen hat mich verzaubert? Das bringt dich auf dem direkten Weg in die Klapse! Nichts werde ich sagen. Die Schnauze werde ich halten, dachte er als er sich in den Stadtverkehr einfädelte ...

Er beschloss zu kündigen und bei McDonalds zu arbeiten, als er in die Mainzer Landstraße einbog.

 

***

 

"Nach dir", sagte Hinnerk.

Mark hatte die Tür geöffnet. Denn nur ihm gelang dieses Kunststück. Hinnerk und Knut hatten es auch noch einmal versucht, aber die Tür war nicht zu öffnen gewesen.

"Wer diese Tür öffnet, der wird unser neuer Kaiser sein", hatte Knut Ukena gescherzt.

"Darüber macht man keine Scherze", hatte Hinnerk in akzentfreiem Hochdeutsch und ungewohnt ernst geantwortet.

Mark war völlig überrascht. Normalerweise hätte er gerade von Hinnerk einen lockeren Schnack erwartet, eine Bemerkung auf Plattdeutsch. Einen Moment fragte sich Mark, wer der Bärtige mit dem Bauch eigentlich war. Aber vielleicht brach hier der Ordenmeister in ihm Bahn oder die Nervosität vor der Erkundung unbekannten Terrains, denn genau das hatten sie vor. Und auch an Hinnerks Nerven waren die Ereignisse der letzten Tage nicht spurlos vorüber gegangen.

Jeder trug eine Taschenlampe. Mark und Knut zusätzlich die Makarov unter den Jacken. Knut hatte seinerzeit noch ein paar Schulterhalfter mitgehen lassen.

"Na dann wollen wir mal", meinte Mark und setzte seinen Fuß auf die Felstreppe, die eigentlich überhaupt nicht existieren dürfte. Hüll lag im Urstromtal der Elbe am Rande von Marsch und Moor. Da war kein Platz für eine Felsentreppe, die in irgendwelche Tiefen führte. Alte Häuser in dieser Gegend hatten eigentlich nie einen Keller, weil das Grundwasser viel zu hoch stand.

"Wird auch Zeit", ließ Knut sich vernehmen. "So langsam will ich wissen, was da unten vorgeht."

Mark setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Zehn, elf, zwölf, dreizehn Stufen ging es bergab. Dann standen sie vor einer massiven Bohlentür, die einen uralten, aber intakten Eindruck machte. Ein massiver Riegel versperrte die Tür von dieser Seite. Er zeigte keinerlei Spuren von Rost und war blank. Drei Taschenlampen leuchteten ihn an.

"Mach sie auf", wandte sich Hinnerk an Mark. "Ich habe den dumpfen Verdacht, dass Knut und ich das nicht können."

Knut Ukena nickte bestätigend.

"Geht klar", bestätigte Mark, zog den Riegel zurück und stieß die Tür auf.

Hinnerk warf einen Blick zurück und konnte die Tür wie durch unter der Sommerhitze flirrender Luft erkennen.

"Töv", sagte der Bärtige. "Kiek mol."

Mark und Hinnerk folgten mit ihrem Blick dem ausgestreckten Zeigefinger des Alten.

"Was ist das?", fragte Mark und nahm Knut Ukena die Worte aus dem Mund.

Marks Freund fingerte nach der Makarov.

"Lass den Schießprügel stecken", kommandierte Hinnerk. "Was wir hier sehen, ist ein Tor."

"Was für ein Tor?", fragte Knut, der ein bisschen stolz war, schneller als Mark gewesen zu sein.

"Eines, dass nur von den Zauberern des Ordens geschaffen sein kann. Wir können Hunderte, wenn nicht Tausende Kilometer von Hüll weg sein. Aber diese Tore sind nicht beständig. Ich frage mich", dabei sah Hinnerk Mark an, "wer das wann für dich geschaffen hat."

"Für mich?", fragte Mark.

"Wer konnte die Tür öffnen?", stellte Hinnerk Lührs die Gegenfrage.

"Is ja schon gut", sagte Mark, der begriffen hatte, dass nicht jede Frage intelligent war. "Aber das beantwortet nicht deine Frage."

"Gehen wir weiter", meinte Hinnerk, "dann finden wir es heraus. Aber vielleicht wird dieser Ausflug statt Gefahr ein paar Antworten bringen."

"As du meenst, Hinnerk", sammelte Knut die wenigen Brocken Plattdeutsch zusammen, die er beherrschte.

Sie gingen durch die offene Bohlentür und betraten einen fast kreisrunden Stollen im Fels.

"Das kommt mir bekannt vor", knurrte Hinnerk. "Aber das kann nicht sein."

Knut und Mark schwiegen. Hätten sie doch nur fragen können, was Hinnerk damit meinte.

"Es sieht fast wie im Kyffhäuser aus. Aber das kann nicht sein ...", sagte der Bärtige mehr zu sich, denn zu seinen Begleitern.

"Was meinst du?", fragte Mark nun doch.

"Die Höhlen unter dem Kyffhäuser sind uns seit tausend und mehr Jahren bekannt. Wir versammeln uns dort regelmäßig. Aber diesen Stollen hier, den gibt es da nicht. Und doch, dieselbe Art Fels und es riecht auch fast so. Und wenn wir die Taschenlampen mal ausmachen ...", sagte Hinnerk und ging mit gutem Beispiel voran. Knut und Mark taten es ihm gleich. "... wird es hier nicht dunkel."

Hinnerk hatte Recht. Ein geschickter Architekt schien indirektes, fluoreszierendes Licht in den Wänden verborgen zu haben, fand Mark.

"Es ist ein Zauber", bemerkte Hinnerk, der Marks Gedanken erraten zu haben schien. "Der Gleiche wie im Kyffhäuser. Aber da sind es nur ein paar Schritte in einen Stollen hinein, dann gelangen wir in den Ratssaal. Und dahinter sind noch ein paar Stollen und Gänge und dann kommt Barbarossas Saal."

"Du meinst", fragte Mark. "Er ist wirklich da?"

"Natürlich. Und er wartet auf den Tag, da die Zeit ausweglos erscheint. Dann wird er erwachen und unsere Reihen stärken."

Hinnerk sah sich zweifelnd um, als suche er nach etwas Bekanntem oder Hinweise auf etwas. Er war sichtlich verwirrt.

"Wenn wir weiter gehen", warf Mark ein, "finden wir es vielleicht raus."

"Dann los", meinte Hinnerk.

Knut Ukena war dem Dialog wortlos gefolgt. Im Moment hatte er das Gefühl völliger Verwirrung. Um sich nicht vollständig zum Affen zu machen, hielt er den Mund und fügte sich in die Rolle des stillen Beobachters.

Die drei Männer folgten dem Stollen. Da das indirekte Licht etwas trübe war, hatte Mark, der voran ging, wieder seine Taschenlampe an.

Langsam, ganz langsam ging es vorwärts. Der Stollen schien kein Ende zu nehmen. Mark leuchtete in die Ferne, aber der Stollen war noch mindestens vierzig oder fünfzig Meter lang. Ob das das Ende des Stollens war, konnte er nicht abschätzen.

Ein paar Schritte weiter fanden sie einen Durchgang zur Rechten, der an einer Tür endete. Sie glich der am Fuß der unmöglichen Kellertreppen in Hüll aufs Haar.

Mark zog den Riegel zurück, öffnete die Tür und ging gefolgt von Hinnerk und Knut hindurch. Und im selben Moment stockte ihnen der Atem ...

 

***

 

Sarah Möller nannte sich Madame Hypno und sie inserierte in Anzeigenblättern und im Frankfurter Abend, dass sie in die Zukunft sehen könnte. 'Kartenlegen, Kristallkugel, Handlesen. Ich kann ihr Schicksal erkennen. Wahrsagerin hilft in allen Lebenslagen' und es folgte ihre Handynummer.

Wer zu ihr kam, wurde über einen düsteren Korridor geführt, der mit Pentagrammen und allerlei magisch aussehendem Brimborium dekoriert war. Dann erreichte man einen Perlenvorhang (ein Billigduschvorhang aus dem Baumarkt). Wer den dann hinter sich gebracht hatte, betrat den magischen Raum der Wahrsagerin (acht eigentlich als Kinderzimmer geplante Quadratmeter), der von Kerzen beleuchtet und mit noch mehr magisch ausschauendem Zierrat und Nippes ausgestattet war, alles sorgsam ausgewählt aus dem Grasmück'schen Esoterik-Katalog (dem führenden Versandkatalog für allerlei Kokolores), auch empfohlen von Ex-Hupfdohle Centy MacClane, die - nachdem ihre kurze Gesangskarriere zu Ende war - im Esoterikbusiness Fuß gefasst hatte, von Talkshow zu Talkshow getingelt war und nun überteuerte Seminare gab.

Was keiner von Madame Hypnos Klienten wusste: Sie hatten es mit einer echten Hexe zu tun, die zum Zirkel Cresmonia Gwscores gehörte. Sie war die rechte Hand der Hexenmeisterin und kannte ein paar Geheimnisse der Gwscore. Sie wusste auch um ihren Spaß, den sie mit den Esoterikjüngerinnen aus dem 13. Kreis hatte. Aber auch ein paar der düsteren Eigenschaften der Gwscore waren ihr nicht unvertraut.

Auch Sarah Möller amüsierte sich königlich über ihre Klientinnen, die mit allerlei Sorgen zu ihr kamen. Sie war emphatisch veranlagt und konnte die Gefühle spüren. Das nutzte sie aus und sagte ihren Gegenübern, was sie hören wollten, und kassierte gutes Geld dafür. Sie fand, was eine Ex-Disco-Hupfdohle konnte, stand ihr schon lange zu.

Jetzt hatte Madame Hypno ein Angebot von einem TV-Sender vorliegen, eine dieser Nachtsendungen mit Wahrsagern und Astrologen zu bereichern. Und wenn der Sender noch eine Handvoll Euro draufpackte, würde sie annehmen. Dann konnte sie ihre Anzeigen, um den Zusatz 'bekannt aus Funk und Fernsehen' ergänzen und auch ihren privaten Kunden ein paar Euro mehr abknöpfen.

Madame Hypno, der Welt weniger bekannt als Sarah Möller, lief in Jeans und T-Shirt durch die Wohnung, warf einen hastigen Blick auf die Uhr und erkannte, es war an der Zeit sich umzuziehen, denn schon bald kam die nächste Kundin. Frau um die fünfzig mit Eheproblemen. Die Gefühle sind am Telefon schwächer, aber sie hatte deutlich spüren können, dass die Frau der Verdacht quälte, ihr Göttergatte triebe es mit einer Jüngeren.

Sarah Möller rannte in ihr Schlafzimmer mit dem großen Spiegel an der Decke, denn eine Vorliebe für wilden Sex verband sie mit ihrer Meisterin. Das Bett hatte sie aus dem Nachlass eines Bordells aus dem Bahnhofsviertel erworben. Sie fand das einfach passend.

In aller Eile warf sie Jeans und T-Shirt ab und zwang sich in die wallende nachtschwarze Robe, die mit silbernen und goldenen Sternen besetzt war, griff nach dem Fertigturban und schob ihn über ihre Bubikopffrisur. Ihre schwarzen Haare verschwanden völlig darunter. Dann noch in die Slipper mit dem Pentagramm vorne drauf.

Sie eilte zum Schminktisch und trug ein wenig Puder auf, um ihre Blässe zu betonen. Dann wurden die künstlichen Wimpern angeklebt, die die Augen so schön mystisch machten und der knallrote Lippenstift aufgetragen, der ihre Blässe zusätzlich betonte.

Ein letzter Blick in den Spiegel - die Verwandlung zu Madame Hypno war perfekt.

"Perfektes Timing", entfuhr es ihr, als es just in diesem Augenblick an der Tür klingelte. Es war nicht irgendeine 08/15 Haustürklingel, sondern ein Gong, der durch die Wohnung hallte, als würde Mustafa der Eunuch darselbst am byzantinischen Kaiserhof den Hammer schwingen.

Sarah Möller sammelte sich kurz, überprüfte noch einmal den mystischen Blick im Spiegel, holte tief Luft und ging gemessenen Schrittes durch den Korridor zur Wohnungstür. Der Gong schlug ein zweites Mal.

"Ja, ja", murmelte Sarah 'Hypno' Möller, "das Schicksal läuft dir ja nicht weg."

Ohne durch den Spion zu sehen öffnete sie die Tür und im gleichen Moment spürte sie, dass etwas nicht stimmte, denn sie konnte keine Gefühle erkennen. Weder die einer Frau, noch die eines Mannes. Aber noch bevor sie die Tür zuschlagen konnte, wurde diese mit enormer Kraft aufgestoßen.

Sarahs Blick fiel auf einen Mann, der aussah wie der lebendige Tod in einem zu großen Anzug.

"Sarah Möller, Hexe der Linken Hand, Mitglied des Gwscore'schen Zirkels, Mitglied der Schwarzen Familie", wurde sie von einer kalten, emotionslosen Stimme angesprochen. "Du bist des Todes."

 

***

 

"Was, bei allen Teufeln der sieben Höllenfeuer, ist das?", entfuhr es Hinnerk Lührs, als sein Blick in einen Felsendom fiel.

Mark war sprachlos. Auch Knut Ukena blickte sich staunend um. Er behielt seine Taktik bei, wissend zu schauen, auch wenn er gar nichts verstand. Und was er hier zu sehen bekam, war ihm völlig unverständlich.

Vor ihnen tat sich eine Höhle auf, die in trügerisches Zwielicht getaucht war. Was in den Gängen für ausreichende Helligkeit gesorgt hatte, verlor sich in dieser gewaltigen Höhle. Die Taschenlampen erleuchteten nur einen Teil dieser wohl überwiegend natürlichen Halle in einem Berg.

Aber was die Strahlen der Taschenlampe da aus dem Zwielicht rissen, war etwas, das einem den Atem stocken ließ. Undefinierbare technische Geräte, wie sie dem Hirn eines H.G. Wells, Jules Verne oder eines anderen der frühen Autoren von utopischen Romanen, wie man einst die Science Fiction nannte, entsprungen sein könnten.

Ungetüme von Maschinen, die aussahen, als würden sie dampfgetrieben sein, standen in unterschiedlichsten Stadien der Fertigung da.

Einfach nur so.

Manche waren so groß wie ein Autobus, andere hatten das Format von Kommoden. Einige wirkten fertig, andere waren Gerüste, Prototypen und Studien. Wieder andere sahen halbfertig aus, als würde noch das eine oder andere Teil fehlen.

Was ist das hier?, fragte sich Mark.

Die drei Männer betraten die Felsenhalle. Schritt für Schritt. Vorsichtig. Weniger aus Angst vor einer Gefahr, sondern vor Ehrfurcht.

Es standen Kisten und Kästen herum. Die auf aufgeklebten Zetteln angebrachten Beschriftungen waren zum größten Teil verblasst und unleserlich.

Keine dieser Maschinen hatte einen erkennbaren Zweck, aber nach ihrem Aussehen waren sie alle älteren Datums, vom Mittelalter oder der beginnenden Neuzeit angefangen.

"Seht mal da", entfuhr es Mark.

Da stand eine Kutsche, die ein wenig aussah wie eine Postkutsche aus den klassischen Western. Auch die typischen Speichenräder aus Holz waren angebracht. Fast erwartete Mark, der Schlag würde sich öffnen und John Wayne würde aussteigen, die Winchester lässig in der Armbeuge, den Hut tief ins Gesicht gezogen und sie mit einem fröhlichen Howdy begrüßen. Aber der Held zahlloser Western kam nicht aus dem Schlag.

So schritt Mark selbst zur Tat. Der Hüter zog den Schlag auf und prallte fast zurück. Der Innenraum der Kutsche bot nur zwei Männern Platz. Drumherum waren Skalen aus Messing, Hebel aus Stahl mit Perlmuttgriffen und Schalter aus Porzellan. Eine wahres Ungetüm ...

Knut und Hinnerk folgten ihm. Sie sahen sich das Ding näher an.

"Erdacht von Leonardo da Vinci, gebaut von Gregory van Vos, Universität Leyden, 1899", las Mark eine Tafel neben den Skalen laut vor. "Leonardo da Vinci", wiederholte er. Der legendäre Künstler und Erfinder. Von Gregory van Vos hatte er noch nie gehört.

"Das gibt es doch nicht", entfuhr es Hinnerk. "Es ist also tatsächlich wahr."

"Was ist wahr?", fragte Mark

"Das ist die Halle der Geheimnisse. Hierher sollen einige Meister des Ordens Gegenstände gebracht haben, die erfunden und gebaut waren, für die die Menschheit aber noch nicht reif war oder nie reif sein würde. Viktor von Frankensteins Labor soll auch dazu gehören. Nur drei der Meister und drei Magier wussten um diese Halle. Es heißt, die Zauberer wären dann verschwunden und keiner wisse wohin." Hinnerks Stimme war von Ehrfurcht erfüllt. "Dabei hielten selbst wir Ordensmeister das nur für eine Legende, ein Märchen."

"Was?", entfuhr es Knut Ukena. "Frankenstein ... Ich dachte das wäre nur ein Roman und viele, viele Filme mit Boris Karloff, Robert de Niro und dutzendweise weiterer Schauspieler."

"Das denken viele und das sollen sie auch", murmelte Hinnerk. "Es ist viel zu gefährlich, einen künstlichen Menschen, einen Homunkulus, zu schaffen."

"Aber was haben wir hier?", fragte Mark. "Was hat Leonardo da Vinci hier erdacht und dieser Gregory van Vos von der Universität Leyden gebaut?"

"Ich weiß es nicht", sagte Hinnerk ehrlich.

"Lass doch mal gucken", meinte Knut Ukena.

Er zwängte sich an Hinnerk und Mark vorbei und pflanzte sich auf einen der Sitze. Er betrachtete die Hebel, Schalter und all das andere Gedöns, wie Hinnerk die Innereien der Kutsche genannt hätte, und war erschrocken.

"Das sieht hier aus, wie ein Cockpit eines Flugzeuges, das Jules Verne für einen Roman schuf", ließ Knut die beiden anderen wissen. "Hier auf dieser Skala steht 1899. Das ist das Jahr, in dem das Ding gebaut wurde. Und da ist ein Regler."

"Fass bloß nichts an", meinte Mark.

"Wenn ich nichts anfassen darf, werden wir nie herausfinden, wie das Ding hier funktioniert und was es ist."

"Wir können uns später damit beschäftigen", murmelte Hinnerk. "Es gibt noch mehr zu entdecken. Hier gibt es viel Nützliches zu finden, vielleicht sogar eine Waffe für den bevorstehenden Kampf gegen die Schwarze Familie. Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was einige munkeln und andere vermuten, ruhen hier die Lösungen zu vielen Rätseln der Welt und der Menschheit."

"Aber das ist alles so altertümlich", meinte Knut Ukena. "Kann es sein, dass es vieles davon mittlerweile in anderer Form gibt? Dass das Ding hier", Knut machte eine vage Geste, "nichts weiter ist als eine Frühform des Autos?"

"Möglich", meinte Hinnerk Lührs, aber es klang nicht überzeugt. "Aber die fuhren 1899 schon."

"Stimmt", murmelte Knut. "Benz und andere hatten ja schon Erfolg."

Mark hatte sich abgewandt und ließ seinen Blick schweifen. "Wann sollen wir das alles erkunden? Die Schrift ist verblasst."

"Ich denke, wir werden uns beizeiten hier mal länger umsehen", sagte Hinnerk. "Was hier liegt, könnte für dich und deine Aufgabe wichtig sein."

"Richtig", bestätigte Knut. "Immerhin konntest du die Türen öffnen."

"Und die Tür fiel allen, außer Christine und James, erst auf, als du dich als der Letzte der Hüter und würdig erwiesen hattest", brummte Hinnerk. "Alles deutet darauf hin, dass hier einiges für dich verborgen ist, Mark."

Mark überkam ein Schaudern. "Könnte es sein, dass dieses temporäre Tor von den Geistern der Zauberer geschaffen und aufrecht erhalten wird, um mir, dem Hüter, hier Zutritt zu gewähren?", fragte er.

Hinnerk sah ihn nachdenklich an. Nach einigen Momenten nickte er.

"Das ist möglich", meinte er. "Sogar sehr wahrscheinlich. Manchmal hast du richtig lichte Momente. Du bist also mehr als ein muskelbepackter Streiter des Guten", schmunzelte Hinnerk, der langsam seine Fassung wieder zu finden begann.

"Dann sollten wir uns mit ein paar Thermoskannen Kaffee und einem Imbiss hier einfinden", meinte Knut, "um mal Inventur zu machen und herauszufinden, was wir gebrauchen können."

"OK. So machen wir’s", stimmte Mark zu.

Für einen Moment schwiegen die Männer und sahen sich um.

In diesem Moment zerriss das Echo eines Schreis die Stille. Der Schrei einer Frau. Ein Schrei, wie er in Todesgefahr ausgestoßen wird ...

"Christine ...", entfuhr es Knut Ukena.

Mark zerrte an der Makarov und rannte mit der Waffe in der Hand zum Ausgang.

 

***

 

Sabrina Funkes Schrei zerriss die Stille der Höhlen. Cornelia Bender lag tot auf dem Felsboden und das unheimliche Wesen, das ihr Lieblingshorrorautor Jason Bright einen Wiedergänger genannt hätte, wandte sich ihr zu.

Sabrina warf ihren Rucksack weg, drehte sich auf dem Absatz um und rannte davon, tiefer hinein in die labyrinthartigen Höhlen unter dem Kyffhäuser. Sie wollte das zwar nicht, aber ihr blieb nichts anderes übrig.

Zwischen ihr und dem Ausgang war er.

Der Untote.

Das Ungetüm.

Das Monster.

Die Fabelgestalt.

Sabrina hatte nicht den Eindruck voranzukommen. Zwischen ihren panikartigen Atemzügen hörte sie hinter sich das Schlurfen des Untoten, der ihr folgte wie eine Maschine.

Sabrina rannte um ihr Leben. In ihrer Panik achtete sie nicht auf den Weg, sondern wollte nur noch weg. Vor ihr ging es nur rechts oder links weiter.

Sie bog rechts ab.

Sackgasse!

Kehrt marsch!

Sabrina warf sich herum und rannte aus der Sackgasse. Sie wandte den Blick nach links.

Da war er wieder. Der Wiedergänger.

Nur drei, dann zwei Schritte war der Zombie entfernt und dann nur noch einen. Trotz seines schleppenden Schrittes bewegte er sich schneller, als man ihm das zutrauen mochte.

Sie tauchte unter den zupackenden Armen hindurch, wurde von der gegen sie prallenden lebenden Leiche fast von den Beinen gerissen, konnte sich fangen und rannte weiter.

Der Untote prallte gegen die Felswand, kam ins Stolpern und knallte auf den Boden.

Das verschaffte Sabrina einige Meter Vorsprung. Sie wagte einen kurzen Blick über ihre Schulter, konnte sehen, wie das Monstrum sich wieder aufrappelte und ihr nachsetzte.

Verdammt! schoss es ihr durch den Kopf. Verdammt! Verdammt!

In ihrem Kopf hörte sie als Melodie zum Rhythmus ihrer Schritte immer noch das Brechen von Connys Genick. Vor ihrem geistigen Auge erschien das Gesicht der Freundin. Im ersten Moment lachend, voller Energie und Lebensfreude. Im nächsten Moment brachen die Augen und sie lag tot am Boden.

Conny, warum?, schoss es ihr durch den Kopf. Was hast du getan? Warum? Warum ...? Warum ...!

Hinter sich hörte sie dieses verdammte Schlurfen eines Wesens, das es der Schulweisheit zufolge gar nicht geben durfte.

Wir haben ihn doch gerochen. Wir haben ihn gerochen. Verdammt! Verdammt! Verdammt! Verdammt! Sie sagte es sich im Rhythmus ihrer Schritte. Warum sind wir nicht verschwunden? Verdammt! Verdammt! Verdammt! Verdammt! Warum sind wir in diese Höhlen gegangen? Verdammt! Verdammt! Verdammt! Verdammt!

Ich bin schuld!

Sie wusste nicht, wie lang sie schon lief. Sekunden? Minuten? Stunden? Mit jedem Schritt hallte ein weiteres Verdammt! durch ihren Verstand. Sie war nicht bereit aufzugeben. Sie rannte und rannte. Sie schwitzte am ganzen Körper.

Sie warf ihre Jacke ab, kam fast außer Tritt und fing sich mit der Hand an der Stollenwand ab.

Conny, warum? Verdammt!

Tränen schossen ihr in die Augen. Schweiß kam von der Stirn dazu. Die Augenbrauen fingen ihn nicht mehr auf. Sie konnte es nicht verhindern. Schweiß und Tränen blendeten sie. Sie versuchte sie mit dem Ärmel im Laufen fortzuwischen. Ihr Blick verschleierte sich mehr und mehr.

Sie probierte es mit dem Handrücken, aber auf der verschwitzen Haut klebte grauer Felsstaub, den sie sich in die Augen schmierte. Das machte alles nur noch schlimmer. Sie sah nichts mehr.

Die Augen brannten.

Sie streifte mit der Stirn gegen eine tiefhängende Felsnase. Einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Sie stürzte, warf die Hände nach vorn. Der raue Boden schürfte ihre Haut wie Schmirgelpapier. Hart schlug Sabrina Funke auf.

Glühender Schmerz raste durch ihre Hände, lähmte nahezu ihren vom Laufen ausgepumpten Körper. Sie spürte, wie Blut (oder ist es Schweiß?) von ihrer Stirn lief.

Das sich nährende Schlurfen riss sie aus der Benommenheit. Sie rappelte sich auf, rannte beinahe blindlings weiter. Sie taumelte durch den Stollen wie ein außer Kontrolle geratener Bob durch die Eisrinne.

Gleich hat er mich!

Dann spürte sie den eisernen Griff der eiskalten Hände des Untoten.

Ein fast schon tierischer Schrei entrang sich ihrer Kehle. In ihm lag alle Panik und Todesangst, die ein Mensch empfinden konnte.

Aus!, durchfuhr es sie. Es ist aus.

 

***

 

Befriedigt hörte Castragor Barstow, wie das Lachen verstummte und bald darauf zwei Schreie erklangen. Der Wiedergänger kam seinem Befehl nach. Nicht mehr lang und der Untote würde zu ihm zurückkehren. Dann konnten sie endlich diesen verdammten Ratsaal des Ordens finden. Damit sie dann endlich hier weg kamen.

Aber da kam keiner. Immer noch nicht. Der hagere Schwarzzauberer sah auf seine Rolex und wurde zunehmend ungeduldiger.

Der Schwarzzauberer war einem Wutausbruch nahe, aber er musste sich beherrschen. Unter großen Mühen riss er sich zusammen. Er war hier quasi ein Späher in Feindesland. Da musste man ruhig bleiben.

Wo, beim Schwanz Luzifers, blieb dieser verdammte Wiedergänger? Weshalb habe ich ihn aus dem Grab geholt? Was hält ihn auf?, erlaubte es sich Castragor, innerlich zu schäumen.

Das alles lief nicht so ab, wie es geplant war. Ganz und gar nicht. Was immer der Verräter Belphegor Barstow erzählt haben mochte, hier war einiges nicht wie erwartet.

Von einem Irrgarten aus Gängen, Stollen und Höhlen, von offenen Türen und Weibern hatte niemand was gesagt.

Was stimmte also nicht? Traute der Orden seinen eigenen Meistern nicht? Immerhin hatte der Verräter nur von wenigen Schritten vom Tor zur Versammlungshalle mit dem runden Tisch gesprochen, hatte Belphegor Barstow erklärt. War das eine Falle für ihn, den Schwarzzauber? Gleichzeitig wusste er, dass er diese paranoide Furcht vor einem persönlichen Hinterhalt für ihn aufgeben musste.

Castragor fluchte über sich selbst, weil sich seine Gedanken im Kreise drehten. Wie er auch langsam das Gefühl bekam, in diesen Höhlen immer nur im Kreis zu gehen, als käme er nicht weiter.

Ein physischer wie psychischer Teufelskreis ...

Dass er sich hier verirrte, nicht vorankam und schlussendlich aufgeben musste und froh sein konnte, überhaupt wieder rauszufinden, konnte nicht im Sinne des Verräters, der Schwarzen Familie, nicht einmal im Sinne des Ordens sein. Und selbst Belphegor Barstows Humor kannte seine Grenzen.

Lag ein Schutzzauber über den Höhlen, der selbst den Meistern des Ordens unbekannt war, weil er sie gar nicht betraf? Es schien so.

Castragor tobte innerlich, weil dieser Untote immer noch nicht zurück war. Nach außen war er die Gelassenheit in Person. Er ging Stück für Stück weiter, kämpfte sich durch das Labyrinth, konnte sich aber nie erinnern, schon mal irgendwo gewesen zu sein.

Plötzlich hörte er um die Ecke keuchenden Atem und hektische Schritte. Eine Frau hetzte auf Armeslänge an ihm vorbei. Es folgte schlurfend sein untoter Diener, der immer noch nicht mit beiden Frauen fertig war.

Castragor Barstow folgte ihnen, denn lange konnte die Frau nicht mehr durchhalten, und er hatte wenigstens gleich seinen Wiedergänger wieder.

Die Frau rannte wie von Furien gehetzt, wischte sich Schweiß aus dem Gesicht, streifte sehr zum Vergnügen von Castragor eine Felsnase und stürzte.

Der tumbe Bodybuilder ließ sie aber wieder auf die Beine kommen. Gerade wollte der Hagere einen lauten Fluch ausstoßen, als er erkannte, dass dies nur noch ein letzter, verzweifelter Versuch der Frau war. Sie taumelte mehr als sie lief. Völlig entspannt lehnte sich der Schwarzzauberer an die Felswand, um den Tod der Frau zu genießen.

Sie stieß einen Schrei aus, der Entzücken bei Castragor Barstow auslöste. Frauen hatten kein besseres Schicksal verdient, fand er. Sie waren ein lästiges Übel, ein Irrweg der Schöpfung, ein Fehler und eine Plage. Er hatte die Gegenwart einer Frau, inklusive seiner Mutter, immer als Zumutung empfunden.

Aber wer in einem Zirkel alter Hexen aufwuchs, der konnte dem weiblichen Geschlecht gegenüber nicht anders empfinden. Er war von einem Namenlosen in der Walpurgisnacht gezeugt worden und man hatte eine Tochter erwartet, eine würdige Nachfolgerin, die die Reihen der Hexenschwestern verstärken mochte. Aber es wurde nur ein Junge.

Hätte ihn Belphegor Barstow nicht adoptiert und unter seine Fittiche genommen, wäre er zum grenzdebilen Diener seiner Mutter geworden. Aber der Herr der Barstows hatte sein Talent erkannt, als er den Zirkel im Namen des Allerhöchsten besuchte und ihn in seinem Verschlag unter der Treppe entdeckte.

Castragor Barstow verscheuchte die Gedanken an seine Jugend und wollte sich gänzlich an dem Schicksal der Frau weiden, sehen wie sie ihr Leben aushauchte. Es mochte sein, er beschwor sie und machte sie zu einer weiteren Dienerin oder er fing ihr Unsterbliches ein und quälte es eine Weile.

Castragor genoss die Todesangst der Frau, sah wie sich ihr knabenhafter Körper wand, als der Wiedergänger sich ihr näherte und zupacken wollte.

Ein weiterer Schrei, dem Wahnsinn nahe, brach sich Bahn und seine Echos verhallten in den Stollen und Höhlen unter dem Kyffhäuser.

Dann hatte das Monstrum sie im Griff. Castragor konnte ihre Furcht förmlich riechen und ihr Gefühl, dem Tode nahe zu sein, spürte er beinahe körperlich. Er ließ es wohlig schaudernd  über sich ergehen. Für einen Moment lehnte er sich an die Felswand, verschwand hinter einem Vorsprung, schloss die Augen und – genoss das Gefühl, sog es in sich auf, um sich immer wieder daran weiden zu können.

"Das ist ein Wiedergänger. Schieß in den Kopf!", hörte der Hagere, aber er begriff es nicht. So sehr war er im Rausch der Gefühle.

Ein gewaltiger Knall riss ihn zurück in die Gegenwart.

Was zur Hölle ist das!?, war sein erster Gedanke.

Vorsichtig spähte er um den Vorsprung herum ...

Noch ein Knall.

Dann eine Männerstimme. "Hol sie dir, Mark!"

 

***

 

Mark rannte mit der Makarov in der Hand durch die Halle. Ihm dicht auf den Fersen Hinnerk, der mit seiner Wampe erstaunlich schnell auf den Füßen war. Knut Ukena folgte und hielt ebenfalls die Pistole in der Hand.

Ein weiter Schrei drang durch die Stollen. Er hallte schaurig in der Halle der Geheimnisse wider, brach sich, um verstärkt zurückzukehren und einen Chor zu bilden, der von Stockhausen nicht übertroffen werden konnte. Mark hasste moderne E-Musik, erst recht Herrn Stockhausen.

"Das ist nicht Christine!", entfuhr es ihm.

"Aber jemand ist in Todesgefahr", meinte Hinnerk.

Sie hetzten auf den Gang hinaus, rannten nach links weiter. Mark fühlte sich nicht ganz wohl mit der Knarre in der Hand, aber wer da schrie, wurde von jemandem oder etwas bedroht, und diesem Jemand wollte er acht Argumente in Form einer 9,2 mm Patrone entgegenhalten können.

Die Ersatzmagazine in der Jackentasche schlugen beim Laufen gegen Hüfte und Rücken, aber er spürte es nicht.

Hinnerk, der nicht an Tempo verlor, schnaufte wie der Adler, der einst als erste Eisenbahn auf deutschem Boden von Nürnberg nach Fürth gefahren war.

Knut Ukena hielt locker mit, wusste aber immer noch nicht so recht, was er hier eigentlich tat und in was er da hinein geraten war. Er hielt die Makarov so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß hervor traten. Das einmal ein Schießeisen für ihn das letzte Stück gewohnte Realität und normale Welt waren, konnte er nicht so recht begreifen. Sein alter Studienfreund Mark jagte Vampire und beschützte die Urenkelin Gottes. Ein dicker, bärtiger Mann meinte, er könne zaubern und ein Kind sagte ihm, Mark würde sein Hilfe brauchen.

Die Welt stand für ihn Kopf, aber wenn das Kind und Mark Recht hatten, sollte er sich wohl an dieses Gefühl gewöhnen, bevor ihn die Männer mit der Jacke, die man hinten zumacht, holen kamen und er in der geschlossenen Psychiatrie seine Tage verbrachte.

Mark bog um eine Biegung und im selben Moment ging er in Kombatstellung und zielte. Knut Ukena folgte Hinnerk auf dem Fuße. Als er um die Ecke kam, sah er das Unfassbare. Ein riesiger Mann beugte sich über eine Frau und wollte ihr das Genick brechen.

"Das ist ein Widergänger. Schieß in den Kopf!", rief Hinnerk.

Mark schoss.

Die Kugel traf den Kopf und durchschlug ihn. Knut sah in Zeitlupe diverse Teile aus dem Schädel fliegen. Er schloss die Augen. Dann öffnete er sie wieder. Der Mann beugte sich weiter über die Frau. Weder das Loch im Schädel, noch das Fehlen seines halben Hinterkopfes, schienen ihn sonderlich zu beeindrucken.

Mark schoss wieder in den Kopf. Diesmal traf er in die linke Seite des Schädels. Als die Kugel austrat, riss sie die rechte Schädelseite und ein Teil des Gesichts mit sich.

Unbeeindruckt machte der Widergänger weiter. Seine Hände schlossen sich um den Hals der Frau.

"Hol sie dir, Mark!", hörte Knut sich sagen und legte an. Wenn es stimmte, was er wusste, konnte man mit der Makarov dreißig Mal in der Minute schießen. Also sollte er das Magazin in knapp fünfzehn Sekunden geleert haben. "Halt dich links. Ich besorg’s ihm!", rief Knut.

Mark rannte los und Knut zielte sorgfältig und zog durch. Er hatte auf harten Abzug gestellt. So musste er den Hahn nicht spannen. Knut Ukena schoss und traf in Kopf und Oberkörper, aber der Untote machte unbeirrt weiter.

Die Schüsse hallten wie Donner durch die Stollen und Gänge, und nicht nur Knut wünschte sich einen Gehörschutz.

Mark erreichte ihn, hebelte mit aller Kraft und dem Wissen um Kampftechniken den Griff auf.

Knut hatte das Ersatzmagazin eingeschoben und wartete auf freie Schussbahn.

"Etruskisch!", hörte er Hinnerk sagen. "Etruskisch. Ein Schwarzzauberer rief ihn aus dem Grab."

Hinnerks Gesicht nahm einen konzentrierten Ausdruck an. Worte in einer seltsamen Sprache kamen über seine Lippen. Die Frau wehrte sich in ihrer Panik gegen Marks rettenden Zugriff. Aber er versetzte ihr eine kräftige Ohrfeige. Dann warf er sich mit der Frau zur Seite und rannte geduckt in Sicherheit.

Der Wiedergänger folgte ihnen. Knut ließ eine flotte Achterrunde aus dem Lauf fliegen, aber stoppen konnte er den Untoten damit nicht. Sie hatten ihm den halben Schädel weggeschossen, aber der Widergänger stand immer noch auf den Beinen und folgte ihnen.

"Verfluchter Mist!", schnaubte Hinnerk. "Ich kann den Zauber nicht brechen. Wir müssen weg! Schnell."


 


                               Now look up, well the skies are black

                               And they're getting darker all the time

                               Watch out, for the things that you believe in

                               You're gonna be attacked, and you won't know what it is

                               Wise up, you better watch your step, you better watch your step

                               A dark light, a darkness never ending

                               A dark light, of perversion and hate

                               A dark night, is everywhere descending

                               A dark light, there's no time to wait

(Kiss – Dark Light)

4. Kapitel:

Der wandelnde Tod


Die Tiefen der Existenz zwischen Leben und Tod. Markus Fitz Lars hatte es prophezeit, dass es so sein würde. Aus den Nebeln des Vergessens wallte sein Geist empor, geweckt vom Frevel des Verbotenen.

Das war sein Reich. Sein Fluch lastete auf ihm. Sein Fluch gesprochen, als sein Geist ihn verließ und er seinen vorgezeichneten Weg erkannte. Sein Fluch, der den Löwen in die Schranken wies. Sein letzter Kampf, bis er sich aus dem nahezu ewigen Schlaf erheben würde.

Fitz Lars hatte ihm gesagt, wenn er den Landweg nähme, würde er ertrinken. Fitz Lars hatte prophezeit zu kommen, um ihm beizustehen, wenn es Gottes Wille sei.

Es war wohl nicht Gottes Wille gewesen oder Fitz Lars hatte versagt. Oder es war sein eigener, des Verfluchten, Starrsinn. Aber er musste den Landweg wählen, so viel sprach dafür. So wenig dagegen.

Er hatte das Kreuz genommen. Er war gescheitert. Er hatte auf eine Prophezeiung nicht gehört. Er hatte den Tod gefunden. Er war wiederbelebt worden, konnte aber die Grenze zwischen Tod und Leben nicht durchschreiten.

Und doch: Er erhob sich ... Jetzt!

 

***

 

Mark zerrte die nun völlig willenlose Frau in Sicherheit. Er spürte ihren Körper an seiner Seite. Sie zitterte wie Espenlaub. Was hatte das arme Ding nur erleben müssen? Vor Marks geistigem Auge erschienen die Bilder vom Blitz der Hexe, wie Hinnerk ihm den Dolch ins Herz rammte und den Prüfungen in der Kapelle in England. Das waren seine Prüfungen gewesen.

Aber er war der Hüter. Ohne es zu wissen, war er auf solche Situationen vorbereitet gewesen ... Die Frau nicht. Ob ihre Seele Schaden genommen hat?, fragte er sich. Im Moment war ihm ihre Lethargie völlig recht. So konnte er sie außer Reichweite des Wiedergängers bringen, ohne dass er ihre Panik brechen musste.

Knut Ukena leerte ein weiteres Magazin aus der Makarov auf den Wiedergänger. Ein Blick in das Gesicht des Freundes zeigte, dass das nichts half.

Er schob Nachschub in die Makarov, die zuverlässig ihren Dienst tat. Mark musste seltsamerweise an seinen alten Physiklehrer Wirsing denken.

(Was einem so alles einfällt, dachte er irritiert. Das ist wohl wie beim Ertrinken).

Der alte Wirsing war Soldat im zweiten Weltkrieg an der Ostfront gewesen, was in seinem Unterricht häufiger für fachfremde Erzählungen gesorgt hatte. Und so hatte Mark in Physik gelernt, dass sich deutsche Soldaten regelmäßig um erbeutete russische MG 70 prügelten, während sie das technische Wunderwerk aus der Heimat, das MG42, verschmähten. Zu kompliziert, zu störungsanfällig. Ein Staubkörnchen und das Ding funktionierte nicht mehr.

Er sah Wirsing förmlich vor sich, die spitze Nase eines Wiesels, die schalkhaften Augen, das streng zurückgekämmte Haar, das verschmitzte Lächeln. "Verehrte Schüler. Im Gefecht ist das Mist!" Das russische MG konnte man durch den Schlick ziehen und es schoss zuverlässig. "Das rotzte immer, wie 'ne laufende Nase im Winter", hatte Wirsing gesagt. Meist hatte er dann eine Schülerin zum Repetieren an die Tafel gebeten und ein Lied aus dem Film 'Große Freiheit Nr. 7' zitiert "Beim ersten Mal, da tut’s noch weh" und sein seltsames Lachen gelächelt.

Mark schüttelte die Gedanken ab. Die Lage war zu ernst, es mochte aber sein, dass sein Verstand ihn vor dem schützen wollte, was nicht sein konnte. Hinter ihm war eine lebende Leiche, die eine Kugel nach der anderen hinnahm. Er sah in Hinnerk Lührs besorgtes Gesicht.

Was Lehrer Wirsing über das MG 70 zu berichten wusste, schien auch auf die Makarov zuzutreffen. Auch sie rotzte ihre Kugeln zuverlässig raus. Aber es half nichts.

"Verdammich, so'n Schiet!", hörte Mark Hinnerk schnauben. "Ich kann den Zauber nicht brechen. Wir müssen weg! Schnell."

Mark hörte die Worte und konnte es nicht glauben. Hinnerk hatte den Besen der Hexe in den Nachthimmel geschleudert und den Blitz abgewehrt. Jetzt wurde er mit einem Wiedergänger nicht fertig.

"Durchs Tor, ins Haus!", rief Lührs über das Knallen der Makarov hinweg. Knut schob ein weiteres Magazin in die Waffe und feuerte noch eine flotte Runde auf den Untoten.

"Weg!", keuchte Mark. "Nur weg!"

Die Frau ließ sich willenlos mitschleifen. Ihre Füße bewegten sich mechanisch und Mark spürte ihren lethargischen, doch zitternden Körper in seinen Armen.

Vor ihm lief Hinnerk. Knut Ukena bildete die Nachhut. Immer wieder drehte er sich um und feuerte einige Zweier- oder Dreierrunden in Richtung des Monstrums, das sich an ihre Fersen geheftet hatte. Der Wiedergänger wurde immer nur kurz gestoppt, schlurfte ihnen jedoch stur hinterher.

Wie ein T-34, dachte Mark.

"Was ist das für einer?", keuchte Knut, als er das vierte Magazin einschob.

"Ein Wiedergänger, gerufen nach einem etruskischen Ritus", antwortete Hinnerk Lührs. "Ein mächtiger Magier muss ihn vollzogen haben", versuchte Hinnerk eine weitere Dreierrunde Knut Ukenas zu übertönen und sichtlich widerwillig musste er anerkennen: "Das ist ein Meisterwerk von einem gekonnten Zauber."

"Und was jetzt?", fragte Mark.

"Durch das Tor ins Glückshaus. Im Tor wird er vergehen, wenn er nicht umdreht."

"Denn man zu", knurrte Knut mit Akzent. "Mir geht hier langsam die Munition aus. Er sieht aus wie ein Sieb, aber irgendwie hält ihn das nicht auf."

"Nich sabbeln, mook to!", fordert Hinnerk Lührs.

"Was machen wir im Haus?", fragte Mark, während sie den Gang auf das Tor zuhetzten.

"Wir holen Feuer! Wir nehmen Benzin und fackeln den Unhold ab!", knurrte Hinnerk. "Die reinigende Kraft des Feuers wird ihn vom Erdball tilgen."

"Da vorn ist die Treppe!", entfuhr es Mark.

Sie rannten darauf zu und verschwanden für den Untoten plötzlich von der Bildfläche. Der marschierte stur weiter.

"Halt!", ertönte eine Stimme. "Komm zurück!"

 ***

 Castragor Barstow, der hagere Schwarzzauberer, gesandt von seinem Sippenältesten, um den Kyffhäuser und dessen Höhlen für die Schwarze Familie auszuspähen, war völlig überrascht, als ein Stück Schädelknochen und Gehirn seines Wiedergängers neben ihm an die Wand klatschten.

Zum ersten Mal konnte der Schwarzzauberer die Wirkung seines Zaubers aus nächster Nähe beobachten. Die Einzelstücke glitten die Wand hinab und wurden dann wie Eisenspäne vom Magneten wieder zum Körper gesogen, um sich wieder zu dem untoten Bodybuilder zusammenzufügen.

Etrusker und ihre Totenzauber waren unerreicht, wie Castragor fand. Dieses, im Vergleich zu den etruskischen Zaubern, moderne Voodoo war nichts dagegen. Die Toten kamen zwar aus den Gräbern, aber eine großkalibrige Kugel in den Schädel des Zombies und vorbei war die Gefahr. Und dann brauchte man noch jemanden, der den Kadaver aufsammelte, Knochensplitter zusammenfegte und Gehirn aufwischte. Viel Aufwand für den Zauberer, aber wenig Nutzen.

Die etruskischen Zauber waren da viel tiefgreifender und ungleich mächtiger. So einen Wiedergänger konnte man nur mit Feuer (großem Feuer!) und den passenden etruskischen Gegenzaubern begegnen. Die beherrschten nur wenige.

Weitere Kugeln durchschlugen den Schädel seiner Kreatur, und einer der Männer, ein hoch gewachsener Blonder, rettete die Frau aus den Fängen des Untoten.

Wer, bei der dreiköpfigen Eichel Astaroths, sind denn die? schoss es ihm durch den Kopf wie die Kugel durch den seines Dieners. Triumph durchfuhr den Hageren. Damit würden sie ihn nicht klein kriegen.

Der Schwarzzauber spürte, dass einer von ihnen einen Gegenzauber wob, aber der war viel zu schwach. Jetzt wusste Castragor Barstow immerhin, dass die etwas mit dem Orden zu tun hatten. Er warf noch ein hastigen Blick um die Ecke, als er hörte, wie ein Magazin gewechselt wurde. Den dicken, bärtigen Alten mit der Halbglatze erkannte er als einen, der dem Orden zuzurechnen war. Ob als Meister oder Zauberer, war der Schwarzen Familie schon lange ein Rätsel. Die beiden Männer um die Dreißig kannte er nicht.

Ist einer von ihnen der Hüter? Castragor verwarf den Gedanken sogleich wieder. Der Hüter kämpfte nur in Notwehr, wenn er in die Enge getrieben wurde wie eine Ratte. Ansonsten war er ein Feigling auf der Flucht. Obschon, es gab da diese obskure Prophezeiung ... In der Schwarzen Familie war es umstritten, ob es sie überhaupt gab. Angeblich sollte sie davon sprechen, dass der endgültige Sieg von Luzifers Heerscharen erst dann möglich ist, wenn der letzte Hüter bezwungen wäre und der Schatz auf dem Altar des Bösen geopfert würde.

Manch Astrologe und mit hellseherischen Kräften ausgestatteter Schwarzzauberer und Dämon hatte versucht, in die Sterne zu sehen. Aber in diesem Punkt war alles vernebelt. Doch sie, deren Blick verschleiert wurde, raunten seit langem: Das Kommen des letzten Hüters sei nah. Und er würde ein Kämpfer sein.

Castragor glaubte nicht daran. Der Hüter würde immer im Verborgenen bleiben und versuchen, den Schatz dem Zugriff der Schwarzen Familie zu entziehen. Er hatte nie was anderes gemacht. Warum sollte sich das ändern?

Castragor spähte noch einmal vorsichtig um die Ecke des Felsvorsprungs und zog seine Nase sogleich wieder ein. Der eine Blonde schoss wieder. Wie wütende Hornissen schwirrten Kugeln, die den Wiedergänger durchschlugen, durch die Stollen. Castragor Barstow machte sich klein.

Ihm, obwohl mehrere hundert Jahre alt, mochte ein solches Stück Blei das Ende bringen. Der Schwarzzauberer hing an seinem Leben. Es kostete stets viel Mühe und Kraft, sein Leben zu verlängern und so wollte er es nicht verlieren.

Er konzentrierte sich, versuchte das sinnlose Geballer auszublenden, um zu verstehen, was die Männer sagten. Aber sie faselten nur etwas von einem Glückshaus.

Castragor war verwirrt. Wussten sie, dass er da war und redeten in einem Code?

Ich werde langsam paranoid - verdammte Höhlen!

Sie verschwanden in dem Abzweig der Stollen. Der Untote stiefelte unverdrossen hinterdrein. Inmitten der wie von Geisterhand verteilten, unappetitlichen Reste folgte Castragor der Gruppe. Er drückte sich an der Wand entlang, hoffend, dass kein Querschläger ihn treffen würde. Er hasste Schmerzen, die ihm zugefügt wurden. Anderen gegenüber war er weniger empfindlich.

Die Schüsse kamen in schönster Regelmäßigkeit, aber die hatte er für sich ausgeblendet. Er hörte die wenigen Worte der Männer. Sie verschwanden hinter einer weiteren Abzweigung.

So schnell sich der Hagere traute, folgte er den drei Männern, der Frau und seinem untoten Diener.

Wir holen Feuer! Wir nehmen Benzin und fackeln den Unhold ab!, hörte Castragor Barstow jemanden sagen. Das war wohl der alte Dicke, obwohl er in diesem tranceartigen Zustand nicht genau unterscheiden konnte, wer was sagte.

Das ist ja schön. Da habe ich eine Überraschung für euch, dachte er und sein Gesicht verzog sich zu einem diabolischen Lächeln.

Dann waren sie verschwunden. Er fühlte es.

Castragor schritt um die Ecke. Er sah seinen Untoten auf ein Tor zugehen. "Halt!", brüllte er. "Komm zurück!"

Der Schwarzzauberer sammelte seine Kräfte. Sollten sie nur mit Feuer kommen!

Er sah zu, wie sich Fleisch, Knochen und Hirn wieder zusammenfügten. Irgendwie fand Castragor Barstow es faszinierend zu sehen, was dieser Zauber bewirkte. Seine Bewunderung für die alten Etrusker wuchs ins Unermessliche.

Als der Wiedergänger wieder hergestellt war, begann er seine Kraft für einen Zauber zu sammeln.

Kommt nur, dachte er, ich habe eine Überraschung für euch ... Vielleicht auch zwei, korrigierte er sich und lächelte voller Vorfreude.

***

 Sarah Möller wollte dem Mann die Tür vor der Nase zuschlagen. So dürr wie der war, würde er einen Salto zur Treppe machen und wie ein Blatt im Herbstwind zur Haustür hinunter segeln.

Aber als sie die Tür gegen die Hand des dürren Mannes schlug, der wie der lebende Tod wirkte, hatte sie das Gefühl gegen einen Felsen zu schlagen. Die Tür wurde zurückgeworfen und Sarah verrenkte sich fast den Arm.

Ohne Hast trat Bartholemew Filligrew Crwmberwood durch die Tür. Sarah Möller, der Welt als Madame Hypno bekannt, trat auf den Alten zu, die Hand erhoben, um ihm die Backpfeife seines Lebens zu verpassen. Doch mit einer nachlässigen Bewegung seines rechten Arms wurde sie zurückgedrückt und dann bekam sie eine gewaltige Ohrfeige, die sie durch den Flur schleuderte.

Der Schmerz durchfuhr Sarah Möllers Kiefer.

Der ist gebrochen, war ihr erster Gedanke. Dann knallte sie hart gegen ein Sideboard und auf den Boden, und andere Schmerzen lenkten sie von dem in ihrem Kiefer ab. Sie blieb benommen am Boden liegen.

Bartholemew Filligrew betrat in aller Ruhe die Wohnung und schloss die Tür sorgfältig hinter sich. Ohne erkennbare Hast bewegte der Scharfrichter der Schwarzen Familie sich auf die am Boden liegende Hexe zu.

Sarah Möller berappelte sich und besann sich ihrer Fähigkeiten als Hexe. Ihre erste Waffe war der Speichel, aber als sie nach Bartholemew Filligrew Crwmberwood spie, machte dieser nur eine fast schon nachlässige Handbewegung und der Speichel erstarrte in der Luft zu Eis und fiel zu Boden. Sarah murmelte einen Zauber, der den alten für Sekunden in eine Salzsäule verwandeln würde. Im selben Moment sprach der Scharfrichter der Schwarzen Familie den Gegenzauber.

"Schwächliche Hexe," meinte Bartholemew ohne besonderen Nachdruck. "Dein Unsterbliches gehört dem Satan. Dein Körper mir."

Sarah Möller erzitterte vor der Gleichgültigkeit in der Stimme ihres Gegenübers. Seine Macht hatte er demonstriert und wie alle in der Schwarzen Familie hatte sie von Bartholemew Filligrew Crwmberwood gehört.

Todesfurcht machte sich in ihr breit und die panische Angst vor den ewigen Qualen der Hölle und vor dem, was der Scharfrichter der Schwarzen Familie mit ihr machen würde.

"Du denkst, ich werde dich vergewaltigen?", lächelte Crwmberwood. "Oh, mein Kleines. Du wirst dir wünschen, ich hätte nur das im Sinn, wenn ich mit dir fertig bin."

Da überfiel Sarah Möller eine Angst, wie sie sie noch nie gefühlt hatte. Die kalte, gleichgültige Ausstrahlung und das in aller Ruhe gegebene Versprechen war mehr, als sie verkraften konnte.

Ihre emphatischen Sinne erfassten den kalten Hass Bartholemew Filligrew Crwmberwoods. Erst jetzt spürte sie die ganze Bösartigkeit, die ganze Schwärze seiner Seele, und für einen kurzen Moment kam sie zu der Erkenntnis, sich etwas verschrieben zu haben, das größer, mächtiger und gefährlicher war, als sie erkannt und geahnt hatte.

Die Erkenntnis, davon besser die Finger gelassen zu haben, nutzte ihr nichts mehr.

Sie öffnete den Mund zu einem Schrei, aber Bartholemew Filligrew Crwmberwood fasste sie mit seinen kalten Fingern an die Schulter und murmelte Worte, die einem hiesigen Taxifahrer bekannt vorgekommen wären. Kaum hatte Bartholemew Filligrew die Worte gesprochen, trat er zurück.

Sarah Möller vergaß ihren Schrei augenblicklich. Was sie sah, erfuhr keiner außer ihr, aber ihre Adern am Hals traten hervor. Ihre Augen weiteten sich, und sie wand sich in schrecklicher Qual. Ihr Puls raste. Ihr Atem pumpte. Verzweifelt zuckten ihre Arme und Beine, als wolle sie etwas abwehren oder fortwischen. Aber sie wischte nur durch leere Luft.

Das alles wirkte äußerst grotesk und auf der Bühne eines Varietes wäre es einer der Höhepunkte eine dieser unwiderstehlich komischen Hypnoseshows gewesen, die alle Welt so amüsierten. Sarah Möller konnte ihren Gefühlen nicht artikuliert Ausdruck verleihen, aber die erstickten Laute, die aus ihrer Kehle drangen, waren alles andere als begeistert oder amüsiert.

Sie wand sich in verzweifelter Todesangst. Ihre Augen weit aufgerissen, die Augäpfel zuckten wie bei einem Horrortrip. Die Pupillen waren erweitert, der Blick in unendliche Weiten gerichtet.

Ihre Seele mochte schreien, aber nichts davon erlöste sie. Sie war gefangen im Zauber Bartholemew Filligrew Crwmberwoods.

Bartholemew Filligrew Crwmberwood war dieses Anblicks überdrüssig. Vor Jahrhunderten hatte er sich stundenlang daran weiden können, aber irgendwann verlor alles seinen Reiz, selbst wenn es eine Frau war, die sich vor ihm am Boden wand.

Die Hexe würde was aushalten. Ihr Herz war jung und kräftig. Ob ihr Verstand durchhielt, war ihm egal. Den brauchte er nicht. Ohnehin glaubte Bartholemew nicht daran, dass Frauen so etwas wie Verstand besaßen.

Der Scharfrichter der Schwarzen Familie sah sich in aller Ruhe in der Wohnung um. Mit äußerster Sorgfalt und Vorsicht durchsuchte er die Wohnung mit allen Sinnen, die er zur Verfügung hatte. Er öffnete Schubladen, ließ seine Extrasinne in Schränken und Vitrinen nach Geheimfächern spüren. Geduldig und ohne etwas zu zerstören.

Nichts!

Verfluchte Hexe!, durchfuhr es den Scharfrichter der Schwarzen Familie. Doch er machte ohne Hast weiter. Er ging in das Zimmer, wo aus Sarah Möller die Wahrsagerin Madame Hypno wurde, denn irgendwo musste das sein, was er suchte und was er brauchte, um die Falle für Cresmonia perfekt zu machen.

Aus dem Flur drangen die Geräusche der unkontrolliert zuckenden Sarah Möller zu ihm, aber die nahm er gar nicht mehr wahr.

Wo hat sie es nur?, fragte er sich.

 ***

 Sabrina Funke wusste nicht wie ihr geschah. Lauter Krach, ein sich ständig wiederholendes Knallen hallte in ihren Orden wider. Irgendwer schleppte sie mit.

Wohin?

Wer?

Sie bekam überhaupt nicht richtig mit, was um sie herum geschah. Ihre Seele schützte sich durch eine Art Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlaf. Das Dröhnen der Schüsse nahm sie nur unterbewußt wahr. Für sie war es unangenehmer Donner. Dass Mark Larsen sie zuletzt fast mehr trug, als dass sie selbst lief, wurde ihr nicht bewusst. Es war ihr auch egal.

Ich müsste tot sein, hämmerte es in ihr, aber auch der Gedanke erreichte ihren Verstand nicht, der sich nach Kräften mit diesem Dämmerzustand gegen die Klauen des Wahnsinns wehrte.

Auch die Treppen zum Tor nahm sie nicht wahr. Hätte Mark sie nicht gehalten, wäre sie gestürzt. Tränen liefen ihre Wangen hinab.

... Tot ... 

... Cornelia ...

... Conny ...

... ihr leerer Blick ... anklagend ...

...  Schuld ... Sühne ... Tod ...

Sabrina Funkes gequälte Seele schrie auf, während der Hüter sie die Treppe hinaufschleppte. Immer wieder sah sie, wie diese Kreatur ihrer Freundin mit einer Bewegung das Genick brach, wie die Augen ihrer Freundin leer wurden.

Sie bekam nicht mit, als sie durch das Tor gingen. Und als sie plötzlich in der Küche des Glückshauses von Hüll standen, begriff sie nicht, was vor sich ging. Völlig verständnislos musterte sie ihre drei Retter. Die redeten wild durcheinander.

"... Benzin ..." sagte einer von ihnen und verschwand aus der Küche.

Ein alter, dicker, bärtiger Mann, fluchte vor sich hin, aber der Sinn seiner Worte ging ihr nicht auf. "... Shietkrom ... is doch wohl nicht all en donen ... kann mi mol an Mors kleien ... Ick Dösbaddel ... Disse Düvel ... Keen dat mokt het, denn schull man de Knoken in Liev toschannen kloppen ..."

An einem Herd stand ein weiterer Mann in einer Livree (Livree?), der sie besorgt ansah und mit einem Wasserkessel und Tee hantierte. Er sprach sie an, aber Sabrina verstand nicht ein Wort, wohl auch, weil der Alte so tobte.

Sie spürte die großen, kräftigen Hände ihres Retters nicht, und sie bemerkte auch nicht, dass er hilflos drein sah, nicht wissend, was zu tun war.

Dann erschien dieses Mädchen vor ihren Augen. Das kindliche Gesicht mit den großen Augen, die ihren Blick förmlich an sich sog.

Das waren nicht die Augen eines Kindes. Sie strahlten Weisheit aus, die so alt wie die Welt oder noch älter war. Es war ein Blick voller Trost, Verständnis und Liebe.

Es war ein lindernder, ein heilender Blick.

Sabrinas Seele tauchte aus ihrem Dämmerzustand auf, schrie nicht mehr, sondern nahm den Blick des Mädchens auf.

Christine nahm Sabrinas Hand und führte sie zu der Küchenbank. Mechanisch, aber auf eigenen Füßen folgte Sabrina ihr.

Mark, Hinnerk und James sahen fasziniert zu, wie sich das Mädchen der Frau annahm. Flüche und Gespräche waren verstummt. Selbst James kümmerte sich nicht mehr um seinen Tee, sondern sah seiner kleinen Lady zu.

Ohne ein Wort zu sagen, setzte sich Christine neben sie und sah die Frau unverwandt an. Deren Gesicht entspannte sich zunehmend. Der Blick wurde klarer und wieder rannen befreiende Tränen aus den Augen.

"Sie ist tot ..." flüsterte Sabrina tonlos und schluchzte.

"Ich weiß", antwortete Christine. "Ich fühle und sehe es."

"Ich bin schuld", sagte Sabrina mit erschreckender Tonlosigkeit.

"Bist du das?", fragte Christine, fesselte mit ihrem Blick erneut Sabrinas und lächelte beinahe nachsichtig, aber voller Verständnis. Sie war nicht das Kind. Sie war der Schatz. Die Nachfahrin des leiblichen Sohns Gottes. "Oder schämst du dich, noch am Leben zu sein?"

Sabrina hielt dem Blick nicht mehr stand. Sie senkte den Kopf und nickte.

"Es gibt keinen Grund, sich zu schämen." In Christines Stimme lag ein Zauber, der sich wie Balsam über Sabrinas verwundete Seele legte. "Was passiert ist, ist passiert. Niemand wird daran etwas ändern können."

"Aber warum?"

"Es ist nicht an uns, das zu fragen", entgegnete Christine. "Es ist passiert. Deine Freundin ist tot. Aber sie wird nicht dadurch wieder lebendig, dass du dir die Schuld gibst."

Die Worte waren nur ein Teil des Zaubers Christine. Sie hätte, dachte Mark, wahrscheinlich auch über irgendetwas anderes wie Ackerbau und Viehzucht sprechen können. Es hätte die gleiche Wirkung gehabt. Mark spürte eine Gänsehaut am ganzen Körper und fühlte sich zugleich erleichtert und befreit.

Christine fühlte, wie aus Sabrina Funke, dem Wrack, wieder ein Mensch wurde. Das Haus würde den Rest erledigen. Das Haus spürte es, wenn es helfen musste.

"Sieh hin!", forderte Christine und wies mit der Hand auf einen Punkt oberhalb der Tür, durch die sie gekommen war. "Siehst du die Rose?"

Nicht nur Sabrina, sondern auch Mark und die anderen sahen zur Tür, sicher wissend, dass dort nie eine Rose gewesen war.

Und doch!

Jetzt war da eine. Eine stilisierte, eine, wie sie in vielen Ornamenten gefunden wurde, gemeißelt aus dem Felsen des Kyffhäuser. Die vier Männer blickten sich fragend an. Knut Ukena fragte sich, was er da vor ein paar Jahren erworben hatte. Mark und Hinnerk blickten sich an. Der Alte zuckte mit den Schultern.

"Ja", begann Sabrina. "Ich sehe sie."

"Das ist mein Zeichen und das meiner Vorgänger. Unter diesem Zeichen mussten viele von uns leiden. Nun soll es auch dein Zeichen sein. Sei willkommen, Schwester", meinte Christine und nahm Sabrina Funke, die ihre Mutter hätte sein können, in die Arme und hielt sie einen Moment fest.

Dann löste sie sich zum Bedauern Sabrinas von ihr.

Sabrina sah in die Augen Christines und neben der Trauer konnte das Mädchen Hoffnung darin lesen. Hoffnung ... und einen wilden Wunsch nach Rache.

Christine erschauderte und erkannte, dass sie es war. Und sie hatte sie geweckt – die Walküre der Rache ... Sie trat aus dem Schatten des Schicksals hervor und würde als Gefährtin ihren Platz an der Seite Mark Larsens finden. Was in der Kapelle in England begonnen hatte, würde hier nun seinen Fortgang nehmen.

Warum nur war sie mit diesem Wissen aus England wiedergekehrt, das sich ihr nach und nach offenbarte?

Weil es dein Kreuz ist, Christine, das du tragen musst, wie ich meines trug, hörte sie flüchtig die Stimme ihres Urahnen.

Christine war sich nicht sicher, ob sie sich freuen sollte, ihn zu hören. Blut würde fließen. Leben würden gefordert werden. Der letzte Kampf hatte unwiderruflich begonnen.

Es ist nicht zu verhindern, hörte Christine die Stimme in ihrem Innern. Der Beginn ist vorgezeichnet, das Ende offen und niemand, nicht einmal Vater, vermag das Ende zu sehen. Der Jüngste Tag mag anders kommen, als wir es uns wünschen.

Das ist nicht das Schlimmste, dachte das Mädchen. Das Schweigen ist es. Das Schweigen ... Ihnen nichts sagen zu können, sie im Ungewissen zu lassen ...

Das ist das Schicksal unseres Geschlechtes, die Last für andere zu tragen, war die weiche Stimme in ihrem Innern zu hören. Vater und ich sind bei dir. Verzweifle nicht.

Aber es ist so schwer, dachte Christine.

Aber du machst es gut, Christine. Hilf Mark und Sabrina, zu Gefährten zu werden, es ist wichtig. Sie müssen im Kampf zueinander stehen. Es darf nicht scheitern. Nicht diesmal, es ist das letzte Mal, verklang die Stimme.

Ich weiß, antwortete Christine in Gedanken, aber ihr Urahn war verschwunden.

Die anderen bemerkten nichts davon und waren vom Zauber des Augenblicks gefangen.

 ***

 "Benzin, einen ganzen Kanister feinstes Super", sagte Knut Ukena, als er durch die Tür in dieses Idyll platzte und den Zauber des Augenblicks zerstörte.

"Schon mal Molotowcocktails gebaut? Die können wir jetzt gebrauchen." Knut nickte nur und verließ die Küche, um Lappen und Flaschen zu besorgen. "Das Feuer wird den Wiedergänger erlösen. Und dann müssen wir herausfinden, wo der Schwarzzauberer ist, der ihn herauf beschworen hat. Der darf nicht länger frei herumlaufen", knurrte Hinnerk. "Wir müssen herausfinden, welche Höhlen das sind, die die Halle der Geheimnisse bergen und von denen ein Tor hierher nach Hüll führt."

"Das ist der Kyffhäuser", warf Sabrina Funke mechanisch ein. "Ich ... wir waren da wandern."

"Der Kyffhäuser?", entfuhr es Hinnerk. "Der Kyffhäuser?"

"Ja", sagte bestätigte Sabrina.

"Unmög ..." begann Hinnerk, verstummte aber mitten im Wort. Der Bärtige sah verwirrt aus. Er schüttelte den Kopf. Zweifelnd sah er Sabrina an.

"Warum kann es nicht der Kyffhäuser sein?", fragte der Hüter.

"Weil ... weil ...", stammelte Hinnerk. Er sah sich um. "Das kann nicht sein. Wir versammeln uns dort seit Hunderten von Jahren. Ich war unzählige Male da. Kurz hinter dem Eingang ist der Ratssaal. Dann kommt noch ein weiterer kurzer Gang und dahinter ist sein Saal. Mehr gibt’s da nicht. Ich wüsste es, obwohl ..."

"Es war der Kyffhäuser!", beharrte Sabrina.

"Sie hat Recht Hinnerk", meinte Christine.

Hinnerk sah den Schatz verwirrt an. "Bist du sicher?"

"Man kommt durch den Wald über einen Trampelpfad. Da ist dann ein Tor im Fels." Sabrina beschrieb nun in allen Einzelheiten, was sie vorgefunden hatte.

Hinnerk nickte erst und sah Sabrina dann ratlos an. Das war nicht der Kyffhäuser, den die Ordensmitglieder kannten. Aber er hatte keinen Grund mehr, an ihr zu zweifeln.

"Was geht da vor?", fragte Hinnerk.

"... und die Tür ist noch offen."

"Gottverdammich", knurrte Hinnerk. "Disse Swienjack! Kriecht die Dör nich to."

"Hier sind Lumpen und ein paar Whiskyflaschen", erklärte Knut Ukena von der Tür her.

"Dann wollen wir mal", knurrte Hinnerk. "Jetzt machen wir erstmal diesen von etruskischer Magie auf den Füßen gehaltenen Toten unschädlich. Und dann suchen wir seinen Meister!"

Sabrinas Blick ruckte hoch: "Ich komme mit!"

"Nie und immer!", meinte Hinnerk.

"Es ist besser, hier zu bleiben. Der Schock ...", begann Mark.

"Ich will Rache!", sagte Sabrina mit einer Eiseskälte und einer Schärfe in der Stimme, die ihr keiner zugetraut hätte, als sie vor nur wenigen Minuten als heulendes Wrack in die Küche des Hauses kam. Dann wurde ihre Stimme weicher. "Und ich will Cornelia aus diesen Höhlen holen und sie begraben."

"Geh mit", meinte Christine nur zu Sabrina. "Das erste wird dir nicht gut tun, nicht helfen und dich nicht erlösen. Aber gehe mit. Es ist auch dein Kampf. Und dann hole deine Freundin heim, übergebe ihre sterbliche Hülle der geweihten Erde. Ihre Seele ist bei meinem Großvater."

"Der Orden wird dafür sorgen, dass sie ein würdiges Begräbnis erhält und keine Fragen gestellt werden", sagte Hinnerk. "Das ist der letzte Dienst, den wir ihr erweisen können."

Hinnerk dachte kurz daran, welche reizvollen Dinge er dem Verräter antun würde, wenn er ihn in die Finger bekam. Das ist das letzte, was ich für die Deern tun kann, dachte er. Es würde lange dauern und blutig sein. Einen Moment blickte Sabrina den Meister des Ordens tief in die Augen und nickte ihm dankbar zu.

Christine sah kurz zu Hinnerk und Mark hinüber, die widerstrebend nickten. Dann verschwand das Mädchen aus der Küche. Sie hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, wieder Kind zu sein, aber das konnte sie niemandem sagen ...

Christine ging in ihr Zimmer. Sie lauschte ihrer Musik und versuchte, ihr Kreuz zu tragen und zugleich Kind zu sein. Ihr half das Haus, das spürte sie. Jedem gab es das, was er brauchte, das fühlte sie. Es war das wahre Haus des Schatzes, die Trutzburg im letzten Kampf mit den Mächten der Finsternis, das wusste sie.

Das Haus der Rose ...

Knut Ukena kam zurück. In der Hand hielt er ein knappes halbes Dutzend alter Schnapsflaschen und ein paar Lumpen.

"So, Hinnerk", meinte er. "Dann wollen wir mal ein bisschen Revoluzzer spielen."

"Das waren noch Zeiten", meinte Hinnerk und lächelte versonnen.

"Was?", fragte Knut.

"Revolution, Barrikadenkampf, Straßenschlachten, die Kommune, der Sturm auf das Winterpalais ..." Hinnerk verstummte abrupt. "Lass uns die Erfindung des Herrn Molotow bauen", meinte er dann.

Knut sah den gemütlichen Alten nachdenklich an, aber er holte nur einen mitgebrachten Trichter hervor. Hinnerks Worte waren seltsam. Knut beschloss, über die Konsequenzen nicht nachzudenken.

Mark ging unterdessen zu Sabrina hinüber. Was seine Kampfgefährten redeten, entging ihm völlig. Er hatte nur noch Augen für die Frau mit der knabenhaften Figur, die er gerettet hatte.

Seit Christine Sabrina an die Hand genommen hatte, beobachtete er die schlanke Frau mit der schmalen Figur und der wild gelockten, nachtschwarzen Frisur.

Er blickte ihr in die grünen Augen und suchte nach Spuren der Agonie, die sie in den Höhlen am anderen Endes des Tores in ihren Klauen hatte. Aber er konnte nichts finden.

Sabrina erwiderte den Blick, hielt den forschenden Augen Mark Larsens stand und musterte ihren Retter, der sich ihr gegenüber auf einen Stuhl setzte.

"Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt", meinte Mark, weil er das Gespräch ja irgendwie beginnen musste.

Frauen gegenüber war er immer etwas schüchtern gewesen, obwohl sein Aussehen und sein gewinnendes Wesen ihm stets geholfen hatten, wenn er nicht weiter wusste. Dennoch war er schon ein halbes Jahr solo und Claudia trieb sich als Animateurin am Mittelmeer herum. Das war ihr Leben. Party, feiern aktiv sein. Die Eintänzerin der Fischbratküche spielen und vor allem sein.

Das war nie Marks Welt gewesen. Er hatte sich ohnehin gewundert, dass es zwei Jahre gedauert hatte. Im letzten Herbst war Schluss gewesen. Claudia hatte ihre Koffer gepackt und ab in irgendeinen Club Piranha oder so.

Sabrina lächelte matt. In einer Bar, unter anderen Umständen hätte sie ihm die Telefonnummer der Bahnhofsmission in Hamburg verpasst und sich verdrückt. Aber das hier war keine Bar und der blonde Mann hatte ihr das Leben gerettet.

Wenn sie auch noch nicht wusste, was hier passierte, wo sie überhaupt war und was sie hier tat, seit sie in das Gesicht des Mädchens geblickt und ihre Hand gehalten hatte, war sie nicht mehr die Sabrina Funke, die sie einst gewesen war. In ihr loderte ein wildes Feuer. Und etwas schien es zu schüren.

Rache war ein Gefühl, dass Sabrina fremd war. Aber jetzt spürte sie wildes Verlangen danach. Christine hätte es ihr erklären können, aber sie tat es nicht, weil es nicht an ihr war. Sie musste sich selbst erkennen. Aber Sabrina machte sich auch keine Gedanken darum. Sie wärmte ihre waidwunde Seele an dem Verlangen.

Da war dieser Mann, der sie musterte, aber dennoch fühlte sie sich nicht wie eine Kuh auf der Bullenschau.

"Ich bin Sabrina Funke, Germanistin, Gesamthochschule Kassel", sagte sie. "Nennen Sie mich Sabrina."

"Mark Larsen, Anthropologe, Völkerkundemuseum Hamburg", entgegnete Mark mit einem Lächeln, das Sabrina Funke erwiderte. "Nennen Sie mich Mark."

"Akademiker also", meinte Sabrina, um irgendwas zu sagen.

"Wie Sie", erwiderte Mark und kam sich ziemlich dumm vor. "Und das von der linken Kaderschmiede.“

Sabrina lächelte flüchtig über diese Bemerkung. In der Tat genoss Kassel nicht den bestmöglichen Ruf, sowohl was die Kaderschmiede anging als auch akademisch. Galt dieses Konstrukt doch als ein Sündenfall und Folge der 68er.

"Wer war das Mädchen?" fragte Sabrina nicht auf Marks Bemerkung eingehend. "Sie alle haben sie angestarrt wie ein Wundertier."

"Das ist sie auch", meinte Mark. "Das ist sie wirklich."

"Und wer sind Sie, dass Sie das wissen?"

"So etwas wie ihr Beschützer und Pflegevater", meinte Mark und fand, er hatte es ziemlich gut umschrieben, was er hier tat.

"Sag’s ihr Mark", meinte Christine von der Tür her und sah ihren Hüter dabei unmissverständlich an..

"Christine!", stöhnte Hinnerk. "Ich dachte, du bist auf deinem Zimmer!“

„Da war ich auch“, erwiderte sie. „Aber jetzt wird mein Rat hier gebraucht. Also, Mark, sag’s ihr.“

Hinnerk seufzte. „Die halbe Welt weiß es bald ..."

"Junge Lady", mischte auch James sich ein.

"Es ist wichtig", meinte Christine nur und verschwand wieder.

Langsam wird sie mir etwas unheimlich, dachte Mark und sah hilfesuchend auf Hinnerk, der mit einer halb mit Benzin gefüllten Flasche und einem Stück Lumpen in der anderen Hand dastand und dem Schatz nachstarrte, als hätte sie nicht alle Tassen im Schrank.

"Was ist los?", fragte Sabrina, die den seltsamen Wortwechsel interessiert verfolgt hatte und sich fragte, in was sie da hinein geraten war.

"Das kann jetzt länger dauern", meinte Knut.

"Nichts da!", entfuhr es Mark. "Wir haben keine Zeit. Der Wiedergänger und sein Herr sind da unten und das Tor ist offen. Wir müssen los, sobald ihr fertig seid."

"Ich verstehe kein Wort", warf Sabrina ein.

"Du brauchst nicht zu verstehen, mien Deern", mischte sich Hinnerk Lührs ein. "Du musst bloß glauben."

"Was soll sich glauben?"

"Das Mädchen ist ...", begann Mark und zögerte einen winzigen Moment, um dann fortzufahren, "... eine Nachfahrin von Jesus Christus, so eine Art Urenkelin des Sohnes Gottes."

Sabrina sah Mark Larsen in die Augen. Alles in ihrem Kopf schoss durcheinander. Und wenn sie nicht höchstpersönlich erlebt hätte, wie ein wandelnder Toter ihrer Freundin das Genick brach. Die Erinnerung versetze ihr einen Stich, aber sie fühlte nur noch eine milde, nagende Trauer und nicht mehr das Gefühl der Schuld und der Angst. Der Wunsch nach Rache dagegen loderte heiß.

"Ich möchte mir erlauben, dieser stark zusammenfassenden Darstellung des Sachverhalts zuzustimmen", wagte James sich einzumischen, der immer noch Tee machte. Der ganze Tag zerrte doch arg an seinen Nerven und es war ein harter Kampf die Miene professioneller Gelassenheit aufrecht zu erhalten.

"Ich glaube Ihnen, Mark", meinte Sabrina und brachte ein Lächeln fertig.

"Tee?", fragte James.

"Kaffee bitte", meinte Sabrina.

James verneigte sich und griff nach der Thermoskanne.

"Ich nehme eine Tasse", meinte Knut. Sein ostfriesisches Erbe brach durch.

"Für Kaffee ist noch Zeit", befand Hinnerk. Und auch Mark schloss sich an.

Während Hinnerk und Knut also nun die Molotowcocktails fertig stellten, tranken sie auf die schnelle Kaffee und Tee.

"Wenn Sie uns begleiten", begann Mark vorsichtig, "dann sollten wir nicht förmlich sein. Ich bin Mark. Das sind Knut, Hinnerk und James."

"Ich bin Sabrina", antwortete sie und reichte Knut, Hinnerk und zum Abschluss Mark die Hand. Sie hielt Mark Larsens Hand eine Spur länger als nötig. Sie stellte fest, dass sie den schüchternen Anthropologen mochte.

"Fertich", verkündete Hinnerk. "Wir können!"

"Und Sie sind sicher mitzuwollen, sich dem", Mark zögerte, "noch mal auszusetzen ..."

"Ich will meine Rache", befand Sabrina.

"Na denn", sagte Knut Ukena, "wäre ja alles geklärt."

 ***

 Bartholemew Filligrew Crwmberwood wurde langsam ungehalten und er versetzte der sich in Panik am Boden windenden Sarah Möller einen nachlässigen Tritt in die Magengegend.

"Wo hast du Schlampe es? Wo?", entfuhr es ihm einen Hauch weniger gelassen als gewöhnlich. Ein weiterer Tritt nach der Hexe verschaffte ihm Luft. Die Rippen bogen sich bedrohlich, brachen aber nicht.

Er müsste es doch spüren, aber nichts. Dieses schlaue Miststück verbarg es vor ihm. Die ganze Wohnung hatte er abgesucht. Sollte er doch damit beginnen, diese Bude systematisch auseinander zu nehmen? Er würde wohl nicht darum herumkommen.

Aber erst würde er dem Stück Mist am Boden noch ein paar Rippen brechen.

Doch er besann sich.

Der Scharfrichter der Schwarzen Familie brauchte den Frauenkörper unversehrt und in gutem Zustand.

Leider!

Er würde es seinem Werkzeug heimzahlen, wenn er die Gwscore in seiner Gewalt hatte und eine alte - verdammt alte Rechnung - begleichen würde. Dann würde auch sein Werkzeug leiden. Mehr als das. Sie würde sich wünschen, in Luzifers Schwefelklüften zu sein und die Qualen des Zaubers, in dem sie gefangen war, genießen, noch bevor er mit ihr fertig war.

Sarah 'Hypno' wand sich in stummer Qual. Der Sabber rann ihr aus dem Mundwinkel, Schaum stand ihr vor dem Mund. Ihre Augen zeigten fast nur noch das Weiße. Sie bäumte sich immer wieder auf und ihre Hände versuchten unsichtbare Gegner abzuwehren.

Wo, bei den Hufen Luzifers, hat sie das verdammte Teil?, fluchte Bartholemew Filligrew Crwmberwood in sich hinein.

Noch einmal suchte er alle Räume der Wohnung ab, ließ seine Extrasinne durch die Zimmer schweifen und konnte immer noch nichts finden.

Wie kann eine Frau, er versetzte ihr noch ein Tritt, als er bei dem Gedanken an ihr vorbeiging, um ihr mystisches Zimmer nochmals unter die Lupe zu nehmen, so ein gutes Versteck finden? Diese hirnlosen Bestien denken doch nur mit ihren Vaginen, Bartholemew scheute selbst in Gedanken vulgäre Ausdrücke für die privaten Teile weiblicher Anatomie, und ihren Brüsten.

Er betrat durch den Perlenvorhang aus dem Baumarkt das Zimmer, in dem Sarah Möller als Madame Hypno ihre Klienten empfing und für sie in die Zukunft sah und dafür gute Euro in die Tasche steckt.

Hier muss es sein, dachte Bartholemew Filligrew Crwmberwood. Hier und nirgendwo anders. Und gnade dir der gnadenlose Höllenkaiser, wenn nicht, Schlampe.

Der Scharfrichter der Schwarzen Familie dachte noch einige weniger fröhliche Gedanken, dann riss er sich zusammen. Er musste es finden, sonst würde es richtig gefährlich werden, die alte Hexe zu stellen, die ihn in Ely gedemütigt hatte.

Seit über tausend Jahren war der Groll auf die Hexe gewachsen und nie hatte er ihr habhaft werden können. Und schließlich war sie durch ihren Übertritt zur Schwarzen Familie unangreifbar geworden.

Bis jetzt ...

Asmodi hatte es ihm gesagt. Es war soweit.

Bartholemew riss sich nun zusammen. Er dürfte das Fell der Gwscore nicht verteilen, bevor er sie hatte. Aber wenn es soweit war, würde er es in Streifen abziehen, gerben und Verse von einer wahrhaftigen Erhabenheit darauf zu schreiben, um sich daran an langen Winterabenden zu erfreuen.

Bartholemew Filligrew Crwmberwood, nun ist aber Schluss. Lass deine Gefühle nicht dein Werk gefährden, sagte er in Gedanken zu sich selbst. Finde es endlich. Jetzt.

Er wurde ungehalten, wie er befand. Das durfte er nicht. Der Scharfrichter der Schwarzen Familie atmete tief durch, suchte seine innere Balance und fand sie.

Er ging um den Tisch mit Madame Hypnos Kristallkugel herum. Vom Flur her klang das Klingeln des altmodischen Telefons Sarah Möllers an sein Ohr und störte ihn.

Mit einer ausgesprochen ärgerlichen Bewegung fuhr Bartholemew Filligrew Crwmberwood herum. Er stieß die Kristallkugel hinunter, die hart auf den Boden schlug, auch der Fuß, auf der das erhabene Teil geruht hatte, fiel um und da sah er es. Der Fuß war mit Blei ausgekleidet und hatte den Gegenstand abgeschirmt. Doch das tat er jetzt nicht mehr.

Da lag, was der Scharfrichter der Schwarzen Familie so lang und angestrengt gesucht hatte. Es schimmerte silbern und war von der Größe einer Walnuss. Mit einem schnellen Griff und einer fließenden Bewegung nahm er es an sich und ließ es in seiner Jackentasche verschwinden, als befürchte er, es könne sich in Luft auflösen.

Bartholemew Filligrew Crwmberwood atmete erleichtert auf. Er ging zurück auf den Flur, berührte mit Ekel im Gesicht die Schulter Sarah Möllers und flüsterte einige Worte in das Ohr der wahrsagenden Hexe mit TV-Plänen.

Das Telefon klingelte ein letztes Mal und verstummte dann.

Augenblicklich entspannte sie sich leicht und ihr Verstand kehrte zurück. Als ihr Blick sich klärte, erkannte sie Bartholemew Filligrew Crwmberwood.

Nichts als nackte Angst war in ihrem Gesicht zu lesen. Mechanisch wischte die Frau den Speichel mit dem Ärmel ihres Gewandes fort.

"Das war nur ein Vorgeschmack dessen, was ich tun kann", flüsterte Bartholemew Filligrew Crwmberwood in das Ohr der Hexe. "Willst du es noch mal durchmachen?"

Sarah Möller war unfähig, ein Wort hervorzubringen. Ihr Atem ging noch stoßweise, als hätte sie einen Marathon im Spurt gelaufen und ihr Herz raste. Jeglicher Widerstandswille war gebrochen. Sie schüttelte ergeben den Kopf, hoffend, dass diese Antwort richtig war, denn sie hatte nicht wirklich verstanden, was der Scharfrichter der Schwarzen Familie sie gefragt hatte.

"Gut", fuhr er mit ruhiger, gelassener Miene fort. "Willst du alles tun, was ich von dir will?"

Sarah Möller nickte und betete wieder dafür, die richtige Antwort gefunden zu haben, als säße sie einem Quizmaster gegenüber, der die Eine-Million-Euro-Frage gestellt hatte.

"Eine kluge Frau", entfuhr es Bartholemew Filligrew Crwmberwood mit einem erstaunten Unterton. "Was es nicht alles gibt! Komm, wir wollen gehen."

Er erhob sich und wies Sarah Möller an vorzugehen, ganz Gentleman, der er war. Jetzt hatte er das, was er wollte, um dieser verfluchten Cresmonia Gwscore die Falle zu stellen, die sie zur Strecke bringen und ihm seine Rache verschaffen würde ...

Sarah Möller fiel nicht ein zu fragen, wohin die Reise ging und was Bartholemew Filligrew Crwmberwood vorhatte. Sie war dem Scharfrichter der Schwarzen Familie vor lauter Furcht einfach nur ergeben ...

***

 Zum zweiten Mal an diesem Tag im Mai ging Mark die Treppe hinab zu dem Tor, das sie zu den Höhlen im Kyffhäuser bringen würde. Er trug in seinen Taschen zwei Molotowcocktails und ein Feuerzeug. Letzteres witzigerweise ein Geschenk von Claudia. Eines von der Sorte, die wie Coca Cola und Camel mit der Army der USA auf Welttournee waren. Ein Zippo mit der unverwüstlich einfachen Technik. Claudia hatte gemeint, es passe zu ihm.

Mark war entschlossen, dem Spuk ein Ende zu setzen und diesen Wiedergänger zu erlösen. Dann würden Hinnerk und er sich dessen Herren annehmen, während Knut Sabrina in Sicherheit bringen würde. Er musste vernichtet werden.

Keiner sagte ein Wort. Jeder war mit etwas Anderem befasst. Mark stand wieder an einem Wendepunkt. Er zog nun aus, um seinen ersten großen Kampf zu bestehen.

Knut Ukena wusste eigentlich nicht so recht, was er tat. Er war in etwas hinein geraten, dessen Größe er überhaupt noch nicht überblickte. Aber er war dabei, weil Mark sein Freund war und sie schon in Studienzeiten immer zusammengehalten hatten. Knut würde einfach sehen, wohin ihn das bringen würde. Er war trotz der Erlebnisse der letzten Stunden einfach nur ein großer, unbekümmerter Junge. Und das Abenteuer und die Herausforderung reizten ihn.

In Sabrina brannte der Wunsch nach Rache, auch wenn ihr Christine Worte nicht aus dem Sinn gingen, dass es ihr nicht helfen würde. Aber sie wollte die Asche dieser Kreatur, die ihr die beste Freundin genommen hatte, in alle Winde verstreuen und sehen, wie der Schwarzzauberer, der diese Kreatur aus dem Grab geholt hatte, starb. Starb, wie Conny ... Nur diese Wünsche hatten in ihrer Seele Platz. Aber da war noch etwas. Ein Anthropologe vom Völkerkundemuseum hatte sich in ihr Herz eingeschlichen, aber dieses Gefühl war noch zu klein. Sie bemerkte es kaum. Ihr Blick ruhte allerdings auf Marks Rücken.

Hinnerk machte sich seine Gedanken. Die Prophezeiung brachte Dinge mit sich, die ihn irritierten. Christine war verändert aus England zurückgekommen. Sie mischte sich ein, verlangte dies und jenes und erklärte nichts. Der Respekt vor dem Schatz verbot es ihm, sie zu maßregeln oder etwas anderes als ihre Wünsche zu erfüllen. Aber es war ungewohnt. Bis zu jenem Tag, da die Vampire das Herrenhaus angegriffen hatten, war sie nur das kleine Mädchen Christine gewesen. Wie so viele vor ihr, die in Demut ihre Aufgabe erfüllten. Doch nun war es etwas anderes. Als sie sich Sabrina Funkes angenommen hatte, war sie der Schatz. Als sie verkündet hatte, Knut Ukena und die Sabrina sollten das Geheimnis um sie erfahren, sprachen ihre Augen mehr als eine Bitte aus.

Dann war da noch der Kyffhäuser. Ungezählte Male hatte der Orden sich dort versammelt. Warum wussten sie nicht um die Ausmaße der Gänge?

Welche Macht hatte das verhindert?

Hinnerk war nicht glücklich über diese Entwicklung. Der Orden verlor die Kontrolle und hatte noch einen Verräter in seinen Reihen. Hinnerk war tief erschüttert. Die Welt war nicht mehr so, wie er sie lange gekannt hatte. Was Hinnerk seltsam vorkam: Diese Veränderungen gefielen ihm und waren eine Herausforderung für ihn, denn er konnte sie mitgestalten. Was immer da noch kommen mochte, er war dabei.

Und nun steckte noch ein Schwarzzauberer mit meisterlichen Fähigkeiten, wie Hinnerk neidlos anerkennen musste, seine Nase noch unbekannter Größe in die Geheimnisse des Ordens und schnüffelte in den Hallen des Kyffhäuser herum. Hinnerk verfluchte und feierte den Tag zugleich.

Dann waren sie auch schon am Tor und traten hindurch. Der Alte schüttelte jeden anderen Gedanken ab. Jetzt musste seine ganze Konzentration dem Ungeheuer und dessen Meister gelten, die da durch Gänge, Stollen und Höhlen gingen, die heiliger Boden waren, denn hier ruhte er und wartete auf den Tag seiner Wiederkehr.

Sie waren hindurch.

"Nichts von der Bestie zu sehen", meinte Knut, der wie alle anderen Molotowcocktail und Feuerzeug bereithielt.

Mark verhielt augenblicklich im Schritt und hob den Kopf, als wittere er etwas. Seine Instinkte sagten ihm, es hatte sich hier was verändert. Die Luft war schwer, die Atmosphäre dumpfer. Hier war etwas passiert oder es passierte gerade. Und es verhieß nichts Gutes.

"Fällt das nur mir auf?", fragte Mark. "Oder ist hier unten stickiger geworden?"

Hinnerk kniff die Augen zusammen. "Finstere Zauber! Hier wob jemand finstere Zauber. Disse Düvel!"

"Wo ist derjenige?", fragte Mark.

"In der Halle der Geheimnisse", befand Hinnerk. "Dort ist er und seine schwarze Magie."

"Auf geht’s!", kommandierte Mark und rannte auf die Halle der Geheimnisse zu. Seine Gefährten folgten ihm auf dem Fuß.

Etwas in ihm drängte Mark, sich zu beeilen. Er rannte los. In der Linken die Flasche, in der Rechten das Zippo. Als er auf die Halle zulief, konnte er den gewaltigen dunklen Schatten des Monstrums sehen.

Mark ließ das Zippo aufflammen. Zuverlässig wie eh und je zündete das Feuerzeug. Mark hielt die Flamme an den Lappen, der sogleich Feuer fing. Hinnerk verstand sein Handwerk.

Dann warf Mark den Molotow in Richtung des Ungetüms. Die Flasche zerschellte an der Wand und ein feuriger Regen wurde auf den Untoten geschleudert.

Der Hüter hatte schon seine zweite Flasche in der Hand, zündete auch den Lappen an und warf. Wieder ein fast perfekter Wurf.

Das Monstrum kam ihnen entgegen.

"Knut!", forderte Mark den Freund auf.

"Geh aus dem Weg", war die Antwort und der Hüter drängte sich an die rechte Seite des Gangs. Kurz darauf zerschellte die Flasche.

Der Untote ging weiter.

"Der brennt ja gar nicht!", rief Sabrina Funke.

Sie alle konnten es sehen. Die Flammen erreichten nicht den Körper des Wiedergängers. Sie umloderten zwar seinen Körper, erreichten aber nicht dessen Haut oder Kleidung. Und: Er war völlig wiederhergestellt, wie sie durch den Flammenschein erkennen konnten.

"Was ist das für ein Ungeheuer?", rief Mark.

"Shiet ook!", fluchte Hinnerk. "Wech, af in't Huus!"

Sie wandten sich zur Flucht, rannten so schnell sie konnten.

Sabrina Funke zuerst. Dahinter Knut und Hinnerk. Mark bildete die Nachhut.

Nur noch wenige Schritte. Sabrina war fast da, als sie gegen eine unsichtbare Wand lief und zurückgeschleudert wurde ...

Hinnerk und Knut konnten nicht mehr bremsen und knallten ebenfalls gegen die unsichtbare Wand.

Mark kam rechtzeitig zum Stehen.

Hinnerk kam fluchend auf die Beine und schüttelte die Benommenheit ab. "Wir sitzen in der Falle", stellte der Alte lapidar fest.



                                                      The world is full of kings an queens

                                                      who blind your eyes than steal your dreams

                                                      It's Heaven and Hell

(Black Sabbath – Heaven And Hell)

5. Kapitel:

Rotbarts Fluch


Frevler!

Frevler in seinem Reich. Sie handelten wieder sein Gebot, wider seinen Willen. Er war es gewohnt, dass man ihm gehorchte. Kaum jemand hatte es gewagt, wider seinen Geboten zu handeln. Die meisten von ihnen hatte er zerquetscht wie eine lästige Fliege.

Der Löwe, ja der Löwe, sein ewiger Widersacher hatte ihm eine Zeitlang erfolgreich Paroli geboten, aber in der wirklichen Welt und in der verborgenen hatte er auch den Löwen letztlich in seine Schranken gewiesen.

Seine Schritte waren zunächst unsicher, doch sie gewannen an Kraft mit jedem Meter. Seine Bewegungen blieben mechanisch, waren nicht beseelt, nicht lebendig, sondern getrieben von seinem Fluch und den Wunsch, die wider seinem Gebot Handelnden zu bestrafen. Doch sein Körper mochte an Kraft gewinnen. Seine Seele und sein Geist dämmerten weiter in dem Reich zwischen Leben und Tod dahin, brachen nicht hervor, verliehen seinem Gesicht wider diese Mimik, der keiner widerstehen konnte.

Er passierte eine Halle, hatte keinen Blick für den erhabenen runden Tisch, die Stühle daran. Der Frevel trieb ihn vorwärts.

Er hatte ihnen dieses Refugium gegeben, hatte es geschützt mit seiner und der Macht der Drei. Und wie dankten sie es ihm?

Mit Frevel!

Tausend Jahre hatte es keiner gewagt. Und nun erschütterten ihn die Verstöße. Rissen ihn fast aus seinem ewigen Schlaf ...

Das Tor ist offen, er spürte es. Er verschloss es mit seinem Willen, ohne sich dessen bewusst zu werden. Seine Ohren hörten nicht das Schaben von Fels auf Fels.

Er spürte nicht die Unruhe der Geister um ihn herum. Er nahm nichts wahr.

Es war noch nicht seine Zeit und doch wandelte er umher. Und er kannte nur ein Ziel.

Strafe für die Frevler.

Er brachte ihnen den Tod ...

***

 

Castragor Barstow hatte sich mit seinem wiederhergestellten Wiedergänger vom Tor zurückgezogen. Als er ihm und den Ordensmännern, die die Frau gerettet hatten, gefolgt war, war er auf eine Halle gestoßen. Dort würde er nun die Überraschung für die Männer vorbereiten, sie töten, herumschnüffeln und dann verschwinden.

Sie würden ihre Leute benachrichtigen, aber bis dahin konnte er hier noch Schaden anrichten und herumstöbern, Geheimnisse ergründen und dann hoffen und zum Höllenvater beten, dass Belphegor Barstow damit zufrieden war. Und damit er das konnte, brauchte er seinen Diener. Der würde die Männer des Ordens vernichten, wenn er mit ihnen fertig war.

Da sie nun wussten, dass die Schwarze Familie hier war, würde der Orden den Ort in Zukunft meiden wie die Pest. Das hatten sie immer so gemacht, aber diesmal verloren sie einen ihrer geheimsten Stützpunkte. Nie war es ihnen gelungen, auch nur in die Nähe zu kommen. Belphegor Barstow musste zufrieden sein. Mehr konnte man unter diesen Umständen nicht für die Schwarze Familie herausholen. Das musste der Sippenherr doch sehen ...

Bis die Männer des Ordens zurückkamen, um seine Kreatur mit Feuer anzugreifen, musste er fertig sein. Schnellen Schrittes steuerte er die Halle an. Der Untote schlurfte ihm mit hängenden Armen und leerem Gesicht nach.

"Komm schon!", kommandierte Castragor.

Dann sammelte er sich innerlich, um den Zauber zu weben, der ihm vorschwebte und die Männer des Ordens in arge Schwierigkeiten bringen würde.

Während er voran ging, rekapitulierte er jede Silbe des Zaubers. Ein falsches Wort und der Zauber wurde wirkungslos und bedeutete etwas ganz Anderes. Aber es war der beste, der im einfiel. Und dieser hier war ausgesprochen schwer und kompliziert zu sprechen. Er enthielt Silben, die den menschlichen Kiefer strapazierten. Nur wenige hatten ihn je gelernt. Zu kompliziert, zu gefährlich. Aber Castragor fand, jetzt wäre der richtige Moment, das Risiko einzugehen.

Castragor bog in die Halle und erstarrte. In der Hektik, nicht von einer verirrten Kugel getroffen zu werden, hatte er vorhin gar nicht bemerkt, was er jetzt zu sehen bekam, und es verschlug ihm den Atem.

Das musste die auch in der Schwarzen Familie sagenumwobene Halle der Geheimnisse sein. Jeckylls Elixier, Frankensteins Testament. All das verschwand von der Bildfläche. Für den perfekten Homunkulus würde Belphegor Barstow seine rechte Hand geben.

Warum hat der Verräter das nicht erwähnt?, dachte der hagere Schwarzzauberer bei sich. Das bedeutet: Änderung des Plans und ein zufriedener Sippenherr.

Ihm war sofort klar, dass er nicht alles würde hinausschleppen können, aber wenn es ihm gelang, Frankensteins Testament, das Rezept für Jeckylls Elixier oder etwas Vergleichbares zu finden und Belphegor Barstow zu Füßen zu legen, wäre sein Kopf gerettet.

Der Hagere erstarrte angesichts dessen, was der Orden hier angehäuft hatte. Dann wurde er durch einen Stoß aus seiner Vorfreude gerissen. Der Bodybuilder lief gegen ihn.

"Stopp, Tölpel!", kommandierte Castragor und konzentrierte sich auf das Nächstliegende, den Wiedergänger.

In der längst vergangenen Sprache der Etrusker murmelte er für alle außer etruskischen Ohren Unverständliches. Die Luft wurde schwer und Castragor trat der Schweiß auf die Stirn. Es war nicht so schwer, wie den Toten aus dem Grab zu rufen, aber noch schwer genug, so dass der Hagere die letzten Worte des Zaubers keuchend, aber korrekt hervorstieß.

Er gab dem Untoten seine Befehle, deren Schluss lautete: "Töte sie, töte alle, die da kommen mögen!"

Feuer würden sie säen, den Tod ernten. Der Hagere war ausgesprochen zufrieden mit sich und er hatte noch eine weitere Überraschung in petto. Etwas Kleines, Nettes. Es würde Kraft kosten, aber das war es wert und würde den Orden all diejenigen kosten, die er durch das Tor (von dem der Verräter auch nichts gesagt hatte!) schicken mochte.

Es war alles so großartig. Der hagere Schwarzzauberer machte sich sogleich an die Arbeit, als sein Diener sich abwandte.

All seine Sinne flogen über Listen, Kästen und Maschinen auf der Suche nach etwas Brauchbarem für seinen Herren.

Wenn ich dem Anderen dienen würde, wäre das wie Weihnachten, dachte er voller Freude bei sich. Was er hier vor sich hatte, war einmalig.

Da! Da ist es!, jubilierte es in ihm.

Frankensteins Testament. Die Geschichte und das Verfahren, den perfekten Homunkulus zu schaffen. Kein kraftraubendes Beschwören von Toten aus den Gräbern, sondern eine Armee künstlicher Menschen, die der Schwarzen Familie den Weg zum Schatz und der Hölle den Sieg erkämpfen würden.

Ein Heer von blind gehorchenden Geschöpfen, niemandes Befehl als dem der Schwarzen Familie folgend. Das war der Traum der Diener Luzifers seit fast zweihundert Jahren, als das Monster-Testament Frankensteins verschwunden war.

Eilig lief er zu der Kiste, wo er das Testament mit seinen magischen Sinnen ertastet hatte.

Die Kiste war alt und morsch. Mit bloßen Händen konnte er den Deckel abziehen. Darin befand sich in Leder eingebunden der Text Dr. Viktor von Frankensteins "Ühber die Kreation des Homo Novus" in etwa zehn Bänden.

Castragor Barstow nahm diese Bände an sich und barg sie mit der Zärtlichkeit einer Mutter in seinen Armen.

Vom Gang her hörte er Stimmen, das Klirren von Glas, eine Verpuffung und das Prasseln von Feuer.

Das ist euer erstes Geschenk, Huren des Schatzes, lächelte Castragor in sich hinein, und das zweite folgt sogleich.

Castragor ließ seine Sinne weiter durch die Halle gleiten. Und dann war da auch noch das Rezept des Dr. Henry Jeckyll. Castragors Nerven vibrierten.

Nichts wie weg!, durchfuhr es ihn. Mehr konnte er gar nicht mehr gewinnen. Soll doch der blöde Wiedergänger hier rumlaufen, bis der Berg einstürzt.

Er hatte, was er wollte.

Castragor Barstow beeilte sich. Wenn der Orden Verstärkung anforderte, mochte die auch von der Kyffhäuserseite kommen, und dann kam er nicht mehr raus. Das war nicht im Sinne Castragor Barstows, der an der Seite Luzifers und seines Sippenherren über die Erde und ihre Seelen herrschen würde.

Castragor stürmte aus der Halle der Geheimnisse heraus und in Richtung Kyffhäuser davon. Hektisches Stimmengewirr drang an seine Ohren und er hörte zunehmende Verzweifelung heraus. Erste Schüsse krachten.

Die nächste Abzweigung und dann ...

... hatte Castragor Barstow das Gefühl, gegen eine Mauer gelaufen zu sein.

 

***

 

"Was jetzt?", fragte Mark.

Sabrina Funke warf den letzten Molotowcocktail auf die Bestie, aber die Flammen umloderten den Wiedergänger wie eine Aura.

"Ick weet nich", murmelte Hinnerk

"Ich mische mich ungern ein", meinte Knut Ukena, "aber sollte das Feuer die Kreatur nicht zuverlässig erledigen?"

"Dat schullt egentlich", begann Hinnerk, "aber unser Gegner ist ein außergewöhnlich talentierter Bastard. Disse Swienjack. Es hieß immer, es gäbe einen Feuerschutzzauber aus Tuscia, der diese Bestien schützt, aber man hatte den ins Reich der Märchen geschoben."

"Kannst du die Barriere nicht irgendwie", meinte Mark, machte ein Pause und eine vage Geste, "wegzaubern, wie du den Blitz der Hexe abgewehrt hast?"

Hinnerk sah ihn zweifelnd an. "Ich durchschaute die Natur des Zaubers der Hexe. Das hier ..." Er deutete auf die unsichtbare Wand zwischen ihnen und dem rettenden Tor. "... ist mir fremd. Wenn ich zwei, drei Tage Zeit hätte ..."

"Wohl kaum!", rief Sabrina und deutete auf den Untoten, der flammenumlodert auf sie zukam.

"Höchstens 'ne halbe Minute", knurrte Knut Ukena, zerrte die Makarow hervor und begann zu schießen.

Mark tat es ihm gleich. Hatten sie wenigstens was zu tun.

"Hört auf!", brüllte Hinnerk. "Das hat doch keinen Sinn."

"Er ist langsam und schwerfällig", sagte Mark und ging zu Sabrina Funke hinüber, deren Hass verhinderte, dass sie wieder dieser Agonie verfiel. "Sabrina, kannst du uns den Weg zum Ausgang zeigen?"

"Das kann ich!", behauptete Sabrina, obwohl sie es selbst nicht genau wusste. „Wenn ihr mich zu dem Punkt bringt, wo ihr mich gefunden habt."

Mark berührte sie an den Schultern. "Danke", sagte er.

"Was hast du vor?", fragte Knut.

"Der Gang ist breit und der Kollege da vorn ist langsam und schwerfällig."

"Und?", fragte Knut.

"Wir werden an ihm vorbei laufen. Einer nach dem anderen und dann zum anderen Ausgang. Wenn wir hier warten, bringt er uns um.“

"Guter Plan!", sagte Hinnerk. "Wer macht den Anfang?"

"Ich", sagte Sabrina spontan.

Sie ging langsam auf den umloderten Untoten zu. Dann rannte sie plötzlich, täuschte den Weg nach rechts an und rannte links an ihm vorbei. Sie spürte die Hitze der Flammen.

Der Untote blieb stehen, wusste nicht, wohin er sich wenden sollte.

Den Moment nutzte Knut Ukena, der wie ein Irrwisch an dem Untoten vorbei huschte, der wiederum völlig überrascht war.

Gleich darauf rannte Hinnerk los, erstaunlich behände für sein Alter unter der Statur. Der Untote hatte sich nun entschlossen, sich den schon an ihm vorbei Gekommenen zuzuwenden, so dass Hinnerk in seinem Rücken vorbei kam.

Den Schluss bildete Mark Larsen selbst. Er wollte Hinnerk auf dem Fuß folgen, aber der Untote schien die Bewegung hinter ihm zu spüren und wandte sich um. Mark sah die brennenden Hände und Arme, die ihn packen wollten. Er warf sich nach vorn, tauchte drunter durch und schlug hart auf dem Boden auf.

Für einen Moment blieb ihm die Luft weg. Er spürte kräftige Händ, die ihn auf die Füße zerrten.

Es waren Knut und Hinnerk.

"Alles okay?", fragte der Alte.

Mark nickte nur.

Die vier rannten weiter und hörten das fast schon vertraute Schlurfen des Untoten, der ihnen auf den Fersen war.

"Das ging ja leichter als gedacht", sagte Knut Ukena.

"Jetzt zum anderen Ausgang und das Untier hier einsperren", sagte Mark.

Sie rannten zu der Abzweigung, wo an dem anschließenden Stollen die Halle der Geheimnisse war.

Da wartete eine Überraschung auf sie ...

 

***

 

Castragor Barstow fielen die Bände mit dem Testament Frankensteins und der Pergamentsammlung Jeckylls aus der Hand, als er gegen eine Gestalt wie eine Mauer rannte. Es schepperte metallen und Castragor Barstow wurde zurückgeworfen.

Das Triumphgefühl schwand, Verwirrung kam auf.

Hart schlug er auf den Boden .Dann öffnete er die Augen. Im Zwielicht stand ein Mann über ihm, gekleidet in eine Rüstung. Der Helm fehlte. Und der rote, wallende Bart identifizierte ihn.

Kaiser Barbarossa!

Die Sagengestalt stand hoch wie ein Berg über ihm. Des Kaisers handschuhbewehrte Hände griffen nach dem Schwarzzauberer, der keinerlei Ausweichbewegung machte, und zogen ihn nach oben.

Der Blick des Kaisers war verschleiert, als wäre nicht ganz bei sich. Als wäre er zwischen Tod und Leben gefangen.

"Niemand zaubert in Unserem Reich!", verkündete der Kaiser mit einer Stimme, sie so hohl klang, als käme sie aus einer tiefen Gruft. Sie war mehr ein Echo als eine Stimme, bis Castragor Barstow begriff, daß die Stimme in seinem Kopf erklang und nicht in seinen Ohren.

Mit einer nachlässigen Bewegung schleuderte der Kaiser Castragor Barstow von sich. Der fühlte sich, als läge er auf einem Katapult.

Als er gegen die Wand des Stollens schlug, wusste er, dass das stimmte. Die Luft zu atmen blieb ihm weg. Einen Moment drohte er, die Besinnung zu verlieren.

Bei Astraroths Eiern! durchfuhr es ihn.

Die Benommenheit hielt ihn gefangen. Er registrierte kaum, wie er  selbst versuchte, zurück auf die Füße zu kommen. Etwas in ihm schrie: Bloß weg!

Aber das war einfacher gesagt als getan. Sein Blick war verschleiert.

London im Nebel, ging es ihm durch den Kopf.

Die komplette Ohnmacht drohte. Etwas in Castragor Barstow kämpfte dagegen an. Der Wille zu Überleben ließ sein Unterbewusstsein handeln. Aber der Körper des Schwarzzauberers spielte nicht mit, konnte nicht mitspielen.

"Auf die Füße und stell dich, Schwarzzauberer!", klang es in Castragors Kopf, der den Sinn der Worte nicht begriff, bis ihn Barbarossa auf die Füße zog. Barbarossa stellte ihn wie eine Puppe vor sich hin.

Der Schwarzzauberer der Barstow-Sippe erlangte nun wieder das Bewusstsein. Er kam sich vor, als klettere er aus einem dunklen Keller empor. Sein Blick klärte sich. Er sah, wie der Legendenkaiser an seinem Schwert nestelte, das ohne einen Rostfleck aus der Scheide glitt.

Der Schwarzzauberer wandte sich zur Flucht. Er taumelte mehr als er rannte, doch das änderte sich. Die Todesangst verlieh ihm Flügel. Nach wenigen Metern rannte er so schnell wie sein Lebtag nicht. Er pumpte verzweifelt Luft in seine Lungen, sein Blut rauschte im Kopf, aber es ging um nichts weniger als sein Leben. Castragor Barstow, Schwarzzauberer der Barstow Sippe, hing sehr daran. Das war diese Anstrengungen wert, fand er.

Rein in die Halle der Geheimnisse, mit dem Kaiser Verstecken spielen, dann raus, die Beute auflesen und in aller Eile zum offenen Eingang. Dann zu seiner Karre und nichts wie weg hier. Castragor spürte beinahe schon den Fahrtwind.

Was anderes fiel ihm nicht ein. Das war seine einzige Möglichkeit.

Vielleicht fand er auch eine Waffe oder einen Zauber, aber die Panik hielt ihn fest im Griff und nichts wollte ihm einfallen.

Also laufen.

"Feigling", klang die dumpfe Stimme des Herrschers auf. "Elendiger Feigling mit einer Seele schwarz wie Ruß. Wir werden dich der Hölle anempfehlen!"

Castragor dachte noch, dass Feigheit jetzt der bessere Teil der Tapferkeit war, und wollte gerade wieder in die Halle verschwinden, sah noch kurz in Richtung des Kaisers, als er eine stechenden Schmerz in der Brust wahrnahm. Als er auf den Boden aufschlug, hatte er sein finsteres Leben bereits ausgehaucht.

Kaiser Friedrich Barbarossa trat zu dem Kadaver,  zog ihm seinen Dolch aus der Brust, wischte ihn an der Kleidung des Schwarzzauberers sauber und schob ihn wieder in seine Scheide. Dann ging der Kaiser weiter, denn es war noch mehr verbotener Zauber in seinem Reich. Das durfte nicht sein. Wer in seinen Hallen Zauber wob, war des Todes und niemand sollte es wagen, seinem Gebote zuwiderzuhandeln.

Leise schepperte seine Rüstung, die in beinah tausend Jahren keinen Rost angesetzt hatte, als er weiter ging.

Der Kaiser hob das Schwert, als ihm vier weitere entgegen kamen, die plötzlich anhielten und ihn verwirrt anstarrten.

"Das ist Barbarossa!", sagte einer von ihnen und trat vor. "Er ist noch nicht ganz wach."

Der Mann trat auf ihn zu. Auch er hatte hier gezaubert.

"Frevler, kommst du, um dein Urteil zu empfangen?", fragte ihn der Kaiser.

"Welches Urteil?", war die Antwort.

In diesem Moment sah der Kaiser Unruhe aufkommen in der Gruppe, die ihm gegenüberstand. Ein flammendes untotes Ding kam auf ihn zu.

"Zu dir kommen Wir gleich", sagte Barbarossa und drängte sich an Mark, Knut und Sabrina vorbei, ohne sie richtig wahrzunehmen und zu wissen, wer sie waren oder was sie taten. Es interessierte ihn nicht. Sie hatten nicht wider seinen Fluch gefrevelt.

"Steh!", befahl der Kaiser, aber der Wiedergänger hatte keine Seele und keinen Geist mehr, in denen die Stimme des Mächtigen aufklingen konnte.

Barbarossa sammelte seine Macht und sein Schwert fuhr nieder und zerriss das Gespinst des Zaubers Castragor Barstows. Mit einem Schlag fällte er den Untoten. Dessen Kopf prallte gegen den Stollen und der Körper brach nach einem Schritt zusammen.

Man munkelte, Alberich selbst habe diese Klinge einst geschmiedet, aber was wusste man schon ...

Barbarossa wandte sich um.

Er ließ seine Stimme in allen Köpfen aufklingen. "Tritt vor, Graubart. Empfange den Tod für deinen Frevel."

"Welchen Frevel?", fragte Hinnerk, der auf die Knie gesunken war.

"Es wurden Zauber gewoben in Unserer Halle. Unser Fluch trifft jeden, der dem Gebot des Kaisers und Großmeisters zuwiderhandelt."

"Dann will ich meine Strafe empfangen", meinte Hinnerk und neigte seinen Kopf.

"Bußfertig er ist", nickte Barbarossa und hob sein Schwert, um Hinnerk Lührs den Schädel abzuschlagen. Der Alte hatte sich dem Kaiser unterworfen und sich ihm auf wohl und wehe ergeben. Denn ohne Zweifel er hatte wider Barbarossas Gebot gefrevelt.

"Halt!", hörte der Kaiser eine Stimme, die ihm nur zu vertraut war, so dass er fast erwachte, aber nur fast. Etwas hielt ihn immer noch in dem Reich zwischen Leben und Tod fest. Denn die Zeit des Erwachens war nicht gekommen. Noch nicht ...

"Markus Fitz Lars?", hörten die vier Menschen in ihren Köpfen die überraschte Stimme des Kaisers. "In der Tat Fitz Lars. Du bist es! Du erscheinst immer, wenn Wir nicht mit dir rechnen. Warum hast du Uns nicht gerettet?"

 

***

 

Bartholemew Filligrew Crwmberwood winkte ein Taxi heran und hatte seinen Arm (obwohl es ihn anwiderte) lässig auf die Schulter seiner jungen Begleiterin gelegt. Seine andere Hand umschloss in seiner Jackentasche den Gegenstand, den er so lange und ausdauernd suchen musste. Er wollte ihn auf keinen Fall verlieren. Das war der Schlüssel zu seinem Plan, um die schlüpfrige Gwscore zu fangen, ihrer verdienten Strafe zuzuführen und Rache für Ely zu nehmen.

Für die zahlreichen Passanten auf der Mainzer Landstraße im Zentrum Frankfurts sah es so aus, als ob die Enkelin ihren todkranken Großvater stützte oder aber der Lustgreis mit seinem jungen Betthäschen an der Straße stand, um in einen Stundenhotel zu entschwinden. Welche Version auch immer, sie erregten kein Aufsehen in der Metropole Frankfurt.

Sarah Möller wusste nur zu gut, dass der Arm auf ihrer Schulter mehr als eine Drohung war. Die junge Hexe würde nichts, aber auch gar nichts unternehmen, um auf sich aufmerksam zu machen. Ihr ganzes Inneres war noch völlig erschüttert, obwohl sie sich an nichts mehr erinnerte, was sie durchgemacht hatte. Aber in ihr tobte noch der wilde Orkan der verzweifelten Todesangst und sie würde alles tun, um das nicht noch mal durchmachen zu müssen. Alles.

Und wenn ich die Beine breitmache und ihm einen blase. Ich mache alles mit. Alles, schwor sich Sarah 'Madame Hypno' Möller. Das darf nicht noch mal geschehen!

Die Gänsehaut wollte nicht weichen. Die Angst lähmte ihr Schmerzzentrum, denn sie spürte weder Crwmberwoods Ohrfeige noch die Prellungen von ihrem Fall durch den Korridor ihrer Wohnung.

Das Taxi fuhr heran und Bartholemew Filligrew Crwmberwood nannte den Bahnhof als Fahrtziel. Der Fahrer diskutierte sehr zur Freude des Scharfrichter der Schwarzen Familie nicht mit ihm über Kurzstrecken und mindere Einnahmen, sondern fuhr einfach los, ohne seinen Fahrgästen gesteigerte Aufmerksamkeit zu schenken. Ihm war es egal, was der Opa mit der jungen, seltsam gekleideten Frau vorhatte.

Kurz darauf fuhren sie am Bahnhof vor. Der Frankfurter Hauptbahnhof war ein Sackbahnhof. Bartholemew Filligrew Crwmberwood war das egal. Auch hier fuhren Züge ab. Mit seiner jungen Begleiterin ging er durch die Halle zu den Fahrkartenschaltern.

"Wohin bitte?"

"Mit dem nächsten ICE nach Kassel, zweimal erster Klasse", ließe Crwmberwood die freundliche Dame hinter dem Schalter wissen.

"Haben sie eine Bahncard?" fragte die Dame freundlich.

"Meinen Sie, ich kann mir die Fahrt ohne die Karte nicht leisten? Hätten sie bitte einfach die Güte, mir meinen Wunsch zu erfüllen?" entgegnete Bartholemew Filligrew Crwmberwood unwirsch.

"Aber, mein Herr. Eine Bahncard ..."

Bartholemew Filligrew Crwmberwood starrte die Dame einfach nur an, aber es reichte, um sie zum Verstummen zu bringen. Wortlos kam sie dem Wunsch des Fahrgastes nach.

Crwmberwood reichte ihr einen fünfhundert Euro Schein, den sie sorgfältig prüfte. Dann händigte sie ihm Wechselgeld, Fahrkarte und Reiseplan aus.

Bartholemew Filligrew Crwmberwood nickte nur kurz und ging seiner Wege, Sarah Möller wohlmeinend im Arm haltend.

"Was haben Sie vor?" fragte Sarah Möller.

"Ich will die Meisterin deines Ordens. Und du bist mein Köder", ließ sie Bartholemew Filligrew Crwmberwood freimütig wissen.

"Ich bin meiner Herrin kaum wichtig genug. Nicht einmal die Walpurgisnacht hat sie mit uns verbracht", ließ Sarah den Scharfrichter wahrheitsgemäß wissen. Eine Lüge traute sie sich nicht. Ihr Selbstvertrauen war erschüttert. Die Macht des Dämons hatte in ihr zu gewaltige Spuren hinterlassen.

"Du unterschätzt deine Meisterin", lächele Bartholemew. "Sie hat ein naives Faible für die ihr Anvertrauten. Und hätte sie die Walpurgisnacht mit euch gefeiert, wäre ihr viel künftiges Leiden erspart geblieben", Crwmberwood meinte damit nicht die Leiden in den Klüften der Hölle, wo die verdammten Seelen heulten, "und mir viel Vergnügen entgangen."

Sarah Möller traute sich nicht, etwas zu erwidern. Sie ergab sich in ihr Schicksal, wie immer das auch aussehen mochte. Vielleicht konnte sie einen schnellen Tod für sich erreichen. Mehr, so erkannte sie, als sie die Aura des Scharfrichter der Schwarzen Familie spürte, würde ihr nicht bleiben ...

Was er mit ihr als Köder wollte, vermochte sie nicht zu sagen. Herrin Cresmonia würde nicht kommen. So dumm konnte sie nicht sein. Oder?

Die Zeit würde es zeigen und Sarah Möller betete inständig, dies zu er- und zu überleben. Denn sie wusste auch: Die Hoffnung stirbt zuletzt ...

 

***

 

In einer Jugendstilvilla am Stadtrand London, das umgeben war von weitläufigen Parkanlagen, hockte Belphegor Barstow und bebte vor Zorn. Er hatte das Dahinscheiden Castragors gespürt. In der Familiengruft war die schwarze Kerze des Schwarzzauberers erloschen. Eine Spezialität der Barstows. Starb einer von ihnen, erlosch sein oder ihr Lebenslicht in der Gruft. Die schwarze Kerze würde nicht mehr zu entzünden sein. Und jede der verloschenen Kerzen bedeutete ein Stich im schwarzen Herz des Sippenherrn. Nicht, dass er wirklich um Castragor trauerte, aber es missfiel Belphegor Barstow, einen seiner Sippe zu verlieren. Schon viele, die einen der seinen getötet hatten, waren voller Bedauern nach Monaten der Qual gestorben. Ein- oder zweimal hatte er sich dabei auch der Dienste Bartholemew Filligrew Crwmberwoods versichert, der derlei ausgezeichnet erledigt hatte. Denn da waren die seinen durch Verräter aus den eigenen Reihen gefallen.

Belphegor Barstow wusste nur zu gut, dass die Idee der Schwarzen Familie eine Illusion war. Die Sippen wurden gezwungen durch den Willen des Allerhöchsten auf Erde und seines Dieners Bartholemew Filligrew Crwmberwood zusammenzustehen, aber bei jeder sich bietenden Gelegenheit wurde versucht, andere Sippen zu schwächen.

Belphegor Barstow empfand keinerlei Schudbewußtsein, dies auch hier und da getan zu haben, denn für ihn ging es wirklich um den Zusammenhalt. Nicht aus edlen Motiven, aber er glaubte daran, dass eine Zeit kam, die dies nötig machte. Und so hatte er die Gelegenheit genutzt, wenn sie sich bot, Unruhestifter zu erledigen.

Dieser Tod sollte nicht ungesühnt bleiben. Auch war dem Verräter nicht zu trauen, denn zum zweiten Mal war einer der durch den Mann des Ordens initiierte Plans gescheitert. Zukünftig galt es, ihm nicht mehr wirklich zu trauen.

Belphegor Barstow war ein Anhänger der Schwarzen Prophezeiung vom Kampf gegen den letzten Hüter. Seit Jahrhunderten hatte er in seinem Studierzimmer Berechnungen angestellt und versucht, in die Zukunft zu sehen, doch diese war im Nebel verborgen. Ees hatten sich trotzdem drei Termine herausgestellt. Zwei waren verstrichen, ohne dass etwas passiert war. Doch als der dritte nahte, die Walpurgisnacht diesen Jahres, da erschien der Verräter  vom Orden.

Das erste Zeichen für das Kommen des letzten Hüters ...

Der Angriff der Vampire auf den Schatz des Nazareners war durch die Schuld der Hexe gescheitert. Sie hatte es in der Hand und hatte darauf verzichtet oder war an ihrer Angst oder Trauer gescheitert. Die Lesarten der Pergamente waren da nicht eindeutig.

Das zweite Zeichen für das Kommen des letzten Hüters ...

Nun am Ende der "Zeit der Prüfung", wie der Schwarze Prophet die Zeit zwischen der Walpurgisnacht und dem heutigen Tag nannte, war der Schwarzzauberer gefallen, dessen Diener flammenumloht gegen den Fluch des Kaisers frevelte. Castragor war der Schwarzzauberer. Ob und was der Rest des Spruches zu bedeuten hatte, wüsste Belphegor Barstow gern, aber es war auch egal.

Das dritte und letzte Zeichen für das Kommen des letzten Hüters ...

Belphegor wusste nun, dass dieser Letzte der Hüter unter ihnen weilte und die Zeit des Kampfes gekommen war. Die alten Pergamente sagten es deutlich, überdeutlich. Seit Jahrhunderten hatte er geduldig gewartet. Nun musste es soweit sein.

Aber kaum einer innerhalb der Schwarzen Familie glaubte an den Dunklen Propheten und seine Schriften. Sein Schicksal und sein Leben war selbst für einen Dämon zu abstrus gewesen. Nur er und Mephisto, Herr der Brandfugger'schen Sippe, glaubten fest daran.

Mephisto und er würden ein Bündnis schmieden müssen. Gegen den Orden und den Verräter. Belphegor Barstow griff zu seinem Telefon, um sich mit Mephisto von der Brandfugger'schen Sippe bei Augsburg ins Benehmen zu setzen. Er wählte eine Nummer, die ihn direkt mit Mephisto verband. Es war Belphegor zuwider mit Untergebenen und Lakaien zu sprechen. Schon seine eigenen waren eine Last, die von anderen nur eine Plage.

Es sollten schwere Zeit für all jene kommen, die ihnen immer noch widerstanden. Den Hüter, den Orden und dem Schatz standen Zeiten bevor, die ihnen Niederlage und Tod bringen würden. Denn fortan stand der letzte Kampf an. Von nun an lohnte es sich, um den Sieg zu ringen.

Belphegor Barstow wartete in aller Ruhe ab, bis am anderen Ende abgenommen wurde. Er trauerte den Zeiten vor dem Nazarener nach, da sie über Tausende Kilometer telepathisch Kontakt aufnehmen konnten. Der Zauber hierfür war einfach, aber er belastete, ging an die Kräfte. Es war einfacher, mehrere Tonnen Salzsäcke zu schleppen, als einen zusammenhängenden Gedanken über eine riesige Distanz zu übermitteln. Es war einfacher, das Telefon zu benutzen, abhörsichere Telefone.

Es hieß, die Geheimdienste hörten mit ...

Und ein bisschen Zauber war auch dabei. Sollte sich ein Geheimdienst, ob Freund oder Feind Englands in dieses Gespräch einmischen, würde er nur Spanisch verstehen. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Für den Geheimdienst würde es ein Gespräch unter kolumbianischen Drogenbaronen sein. Sie verabredeten einen Deal.

Belphegor Barstow sollte es nicht wundern, wenn die CIA oder der Secret Service einen Trupp Marines oder eine Einheit des SAS losjagen würden, um dreißig Tonnen Kokain zu vernichten und drei der wichtigsten Bosse der südamerikanischen Kokainmafia zu verhaften oder zu töten.

Unglücklicherweise würden die tapferen Kämpfer auf einer verwaisten Lichtung im Dschungel landen, wo Jaguar und Capybara sich 'Gute Nacht' wünschten.

"Was gibt es, Belphegor?" hörte die knarzende, heisere Stimme Mephistoteles Brandfuggers. Er, der das Vorbild für Goethe gewesen war, hatte alles andere als die ihm per Theaterstück zugeschriebene, einschmeichelnde Stimme, die Öl in das Ohr des Dr. Faustus träufelte. Mephisto hatte in den fünfziger Jahren in Hamburg eine Aufführung des Stücks gesehen und ihm von Gustav Gründgens vorgeschwärmt, dessen Stimme einschmeichelnd, sanft und lockend war. Dann hatten die beiden Sippenherren gelacht wie junge übermütige Schwarzzauberer, die einem ihrer Lehrer Blähungen angehext hatten.

Eher klang der Herr der Brandfuggers wie ein Rocksänger nach fünf Monaten Tour, hundert Filterlosen und einer Flasche Whisky am Tag.

"Die Zeit der Entscheidung ist da", ließ sich Belphegor Barstow vernehmen. "Die drei Zeichen der Schwarzen Prophezeiung sind eingetreten."

Langes Schweigen war die Antwort. Dann hörte man ein Räuspern. "Und was denkst du, sollten wir tun?"

"Der Verräter verrät nicht nur den Orden, sondern auch uns. Er verliert seine Nützlichkeit. Er ist gefährlich ..."

"Das denke ich auch. Der Bursche spielt ein undurchschaubares Spiel. Wenn da nicht die Prophezeiung gewesen wäre und er nicht eines der Zeichen, ich hätte all meine Macht mobilisiert, ihn zu bekommen", schnaubte Mephistoteles Brandfugger und wechselte kurz das Thema. "Der Höchste unterrichtete mich heute, dass er Bartholemew Filligrew Crwmberwood auf die Hexe angesetzt hat. Aber von einer Gefahr durch den Verräter will er nichts wissen. Er findet ihn immer noch ausgesprochen nützlich", war die Reibeisenstimme Mephistos aus der Muschel zu vernehmen.

"Cresmonia Gwscore? Sie war für uns auch nur wegen der Prophezeiung interessant. Ich will hoffen unser Scharfrichter versagt nicht wieder wie einst in Ely, als der Schatz fast unser war", gab sich Belphegor Barstow Erinnerungen hin.

"Ist mir egal, was aus der Schlampe wird. Als Buhlin ist sie ein echtes Erlebnis. Ich hatte sie auf mehr als einem Sabbat und es war nie langweilig. Aber als Mitglied der Schwarzen Familie war sie immer nur eine Last. Sie und ihr Zirkel sind ein Ärgernis. Viel wichtiger sind der letzte Hüter und der Verräter", knarzte Mephisto Brandfugger.

"Man müsste beide Fliegen mit einer Klappe schlagen", sinnierte Belphegor Barstow. "Und das ohne unseren Allerhöchsten gegen uns aufzubringen. Ich hätte ungern mit Bartholemew Filligrew Crwmberwood zu tun", lockte Belphegor Barstow seinen Gesprächspartner in das angestrebte Bündnis.

"Bei Seiner Höllischen Majestät, das wäre etwas. Aber wie kann das nur gelingen?" röhrte Mephistoteles Bandfugger in sein Mikro.

Belphegor Barstow schmunzelte und stellte sich vor, dass der alte Brandfugger das Wort 'Phone Call' falsch verstand und ihn wirklich anzurufen versuchte und nun in seinen Hörer bölkte.

"Darüber sollten wir nachdenken. Treffen wir uns in Auerbachs Keller?" meinte Belphegor Barstow. "Ich glaube, ich weiß, wie das gelingen kann", lockte der Herr Barstow-Sippe, in dessen Gedanken sich wage eine Idee abzeichnete. Dann erinnerte er sich gerade noch an jemanden und wenn er nicht so oft bei den Brandfuggers zu Gast gewesen wäre, hätte es sein können, dass er nie darauf gekommen wäre. Der vergessene Brandfugger, dachte er, schmunzelte und sagte: "Und bringe Randolphus mit. Er mag uns nützlich sein."

"Auerbachs Keller?" lachte Mephistoteles Brandfugger. "Du und dein Sinn für Symbole, Belphegor. Aber ich bin gespannt, auch was Randolphus angeht, mir erscheint er nutzlos."

"Laß dich überraschen, Bruder Brandfugger", sagte Belphegor Barstow in die Muschel seines Telefons.

Belphegor lachte und verabschiedete sich. Gleich darauf ließ er seinen Privatjet bereit machen mit Ziel Leipzig. Es galt Fliegen zu jagen und es mussten keine sieben werden, nur zwei ... Belphegor lachte in sich hinein und erhob sich.

Bald würde die Schwarze Familie triumphieren ...

Eine Einheit Marines wurde in aller Eile in zwei Hubschrauber verfrachtet und die wurde in Richtung Südamerika in Bewegung gesetzt. Die Instruktionen waren eindeutig. Beschlagnahme von Drogen, Drogenbosse gefangen nehmen oder töten.

Der Geheimdienst hatte in der Tat mitgehört, eindeutig Stimmen identifiziert und witterte nun die einmalige Chance im Kampf gegen Drogenmafia Punkte zu sammeln.

Die Vorgesetzten waren begeistert und setzten schon mal Communiques auf, die dann aber doch nie an die Presse verteilt wurden.

Statt dessen wunderte man sich am nächsten Morgen und versuchte den verwendeten Code zu knacken, um in Zukunft am richtigen Ort zu landen.

 

***

 

"Fitz Lars, warum hast du Uns nicht gerettet?", fragte der Kaiser noch einmal und Verzweifelung und Erinnerung an seinen Tod waren in seiner Stimme zu hören.

Mark hatte sich sofort gefangen, obwohl er nicht wusste, wen oder was der Kaiser in ihm erkannt hatte. Doch er benutzte seinen Namen, wenn auch in anderer Zusammenstellung. Markus, die lateinische Urform von Mark, Fitz war bei den Normannen im Mittealter "Sohn". Zusammen mit Lars ergab das seinen Nachnamen.

Markus Fitz Lars.

Markus, Sohn von Lars.

Mark Larson.

Mark Larsen!

Die Gedanken rasten in Marks Kopf. Der Kaiser starrte ihn mit leerem Blick an, war aber dennoch Ehrfurcht gebietend. Seine Erscheinung war von einer Aura der Macht umgeben. Einer der größten Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation stand vor ihm. Im Geschichtsunterricht hatte er von ihm gehört. Er kannte die Sage, aber dem deutschem Sagengut zu begegnen war doch eine andere Sache.

Auf dem Kreuzzug war er in Kleinasien in einem Flüsschen ertrunken. Er hatte ihm Gegensatz zu Richard Löwenherz und Philipp von Frankreich den Landweg gewählt, während der englische und der französische König den Seeweg genommen hatten.

Was antworten? fragte sich Mark.

"Es war nicht Gottes Wille", folgte er einer Eingebung, denn der Kaiser war ein gottesfürchtiger Mann. Mark hoffte, diese Eingebung würden den Kaiser zufrieden stellen, denn Mark wusste beim besten Willen nicht, wann er die Möglichkeit gehabt haben sollte, Kaiser Barbarossa zu retten.

Der Kaiser nickte, und rührte nicht an dem Thema. Es war, als hätte er diese Antwort erwartet.

"Warum wollt ihr diesen Mann bestrafen?" fragte Mark und deutete auf Hinnerk. Er machte zwei Schritte und stellte sich zwischen Barbarossa und Hinnerk.

"Geh Uns aus dem Weg, Fitz Lars! Warum sollen Wir den Mann nicht bestrafen für seinen Frevel wieder Unser Gebot?", fragte der Kaiser, zögerte aber. "Was hast du zu seiner Verteidigung vorzubringen? Sprecht schnell mit beredter Zunge! Was gibt es zu Gunsten dieses Mannes zu sagen, der gegen Unser Gebot in Unserem Reich handelte?"

Mark brauchte nicht lange zu überlegen. Das war ganz einfach. Die Worte lagen ihm sofort auf der Zunge. Er hoffte nur, dass sie den Kaiser überzeugen mochten.

"Er tat es, um den Schatz und den Hüter zu retten. Er tat es, um die Dämonen der Hölle zu bezwingen. Er tat es für den Orden und die Menschen. Er tat im Kampf für das Gute, Wahre und Reine."

Mark schwitzte, hoffte die rechten Worte gefunden zu haben, die Barbarossa besänftigten, ihm zeigten, dass Hinnerk es nicht getan hatte, um zu freveln.

Der Hüter wünschte, Christine wäre hier. Sie würde auch die Macht des Kaisers beugen. Sie war der Schatz, aber das Mädchen war nicht hier. Es hing an ihm und dem, was er gesagt hatte.

"Wer bist du, Fitz Lars, dass du so mit Uns zu sprechen wagst?" fragte der Kaiser grollend und schien dabei kaum besänftigt.

"Ich bin der prophezeite, letzte Hüter, der den Kampf gegen die Schwarze Familie der Linken Hand führen soll. Und dieser Mann, den Ihr Frevler nennt, der ist mein wichtigster Berater, ein Kampfgefährte, Freund, ein Meister des Ordens und loyaler Diener des Schatzes."

"Fitz Lars, du überraschst mich. Du, der Letzte der Hüter? Auf dich wartet eine hehre, aber schwere Aufgabe. Doch du bist flink mit der Zunge, Fitz Lars. Das warst du immer und du setzt deine Worte wohl", der Kaiser klang milde gestimmt. "Wir hätten auf Dich hören sollen. Dann wollen Wir es jetzt wenigstens tun. Wir wollen dich nicht deiner Berater und Gefährten berauben! Wir sehen, seine Gründe waren ritterlich und aufrecht. Ihm soll verziehen werden. Erhebt Euch", wandte sich der Kaiser an Hinnerk Lührs, der sich langsam erhob. "Lebe wohl, Fitz Lars. Es kommt der Tag, da Wir dich wieder sehen werden. Wir schließen die Pforten zu diesen Hallen, bis der Tag kommt. Du, Fitz Lars, magst jedoch kommen und gehen, wie es Dir gefällt, Dir und Deinen Getreuen."

Der Kaiser ging davon, ohne ihnen weitere Beachtung zu schenken. Er ging, um des Tag des Erwachens zu harren.

"Danke", sagte Hinnerk nur, aber sein Blick sagte viel mehr.

Mark nickte ihm zu und erwiderte nichts.

Mark blickte dem Kaiser nach. Hinnerk tat es ihm gleich, wobei der Blick des Alten undeutbar blieb. Auf seinem Gesicht zeichneten sich verschiedene Empfindungen ab, wie Erleichterung, aber auch ein finsterer Schatten huschte darüber. Sabrina und Knut waren gefangen von dem Eindruck, einer Sage begegnet zu sein.

Ohne es zu eigentlich zu bemerken, trat Sabrina neben Mark. Dieser schloss sie ohne nachzudenken in die Arme.

Hinnerk sah Mark an. Seine blauen Augen blicken forschend, als wollten sie in die Tiefe von Marks Seele eintauchen. "Woher kennen die dich?", fragte er. "Erst Cresmonia auf dem Flugfeld. Jetzt der Rotbart. Was verschweigst du, Mark?"

"Ich habe nicht die leiseste Ahnung", antwortete Mark und probierte einen Scherz. "Weder die eine noch der andere gehörten bisher zu meinem Umgang."

Hinnerk sah ihn strafend an.

"Fitz Lars?", sinnierte Hinnerk. "In den Überlieferungen des Ordens gibt es einen Fitz Lars. Er warnte den Kaiser auf dem Landweg nach Palästina zu ziehen, um Jerusalem den Heiden zu entreißen. Gekleidet war er wie ein Mönch, aber man bezweifelt, dass er wirklich einer war. Manche bezeichneten ihn als Hexenmeister, andere als Boten des Herrn. Was auch immer er war, er muss Dir sehr ähnlich gesehen haben."

"Davon weiß ich nichts", sagte Mark und versuchte es erneut mit einem Scherz. "Das war nicht Thema in Geschichte."

"Kein Wunder", meinte Hinnerk. "Der Orden hat sich bemüht, diese Episode und die Erinnerung daran zu löschen. Es gibt Dinge, die muss nicht jeder Schüler lernen. Obwohl, irgendetwas sagt mir, du solltest mir mehr darüber erzählen können."

"Wirklich nicht", sagte Mark und hob die Schultern.

Knut war dem Kaiser unbemerkt von den anderen ein paar Schritte gefolgt. Er konnte nicht so recht glauben, was er gesehen hatte. Um es wirklich zu begreifen, war er dem Kaiser nachgegangen. Das hatte es nicht glaubhafter gemacht, aber vielleicht würde er sich mit der Zeit daran gewöhnen. In Gegenwarts Marks würden viele Dinge passieren, dabei standen sie laut Hinnerk erst am Anfang.

Als der Kaiser um die Biegung verschwunden war, hatte Knut die Bücher gefunden, die Castragor mitnehmen wollte und verloren hatte.

"Guckt mal, was ich auf dem Gang gefunden habe", sagte er und wollte Mark die Bücher übergeben, aber Hinnerk war es, der sie ihm abnahm.

Hinnerk sah sich an, was Knut gefunden hatte. Seine Augen weiteten sich.

"Wenn er damit entkommen wäre, hätte der Kampf mit der Schwarzen Familie nicht lange gedauert. Kommt, wir legen es zurück."

"Wohin?", fragte Mark.

"In die Halle der Geheimnisse. Du hast es gehört, nur du und deine Gertreuen kommen noch hier herein. Der Orden wird sich etwas Neues suchen müssen."

Zu viert gingen sie in die Halle. "Ich habe den Eindruck", meinte Knut. "Wir werden hier noch des öfteren sein."

"Das denke ich auch", antworte Mark, der sich erleichtert und übermütig fühlte, weil er überlebt hatte, und wegen des warmen Körpers Sabrinas an seiner Seite. Den Gedanken an die traurige Pflicht, die ihnen noch bevor stand, verdrängte er – im Moment.

Er nahm allen Mut zusammen, zog sie noch näher an sich und gab ihr einen Kuss, den sie nach kurzem Zögern erwiderte ...

Knut und Hinnerk enthielten sich bissiger Kommentare ...


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