Bd. 8 - Tod dem Verräter
Maybe someday our paths will cross
(Tom Petty & Heartbreakers, You And I Will Meet Again)
1. Kapitel:
Dem Verräter auf der Spur
Vergangenheit, September 2006
Der Verräter konnte nicht fassen, welch ignorante Trottel die anderen Ordensmeister waren.
Ein Wachmann der Treasure Security entfernt sich von seinem Arbeitsplatz, stolpert wie volltrunken vor einen LKW, obwohl er keinen Tropfen Alkohol im Blut hat, und was tun die Meister? Sie verbuchen dieses Ereignis unter merkwürdig. Dass nur Minuten später am gleichen Ort ein Amoklauf in einem Kino begangen wird, fällt ihnen nicht auf!
Gut, man musste ihnen zugute halten, dass sie nicht wie der Verräter auf derart sonderbare Vorkommnisse gewartet hatten. Dennoch: Man hätte schon erwarten dürfen, dass sie etwas mehr tun, als nur zu stutzen.
Na ja, ihm sollte es recht sein. So konnte er seinen Plan durchziehen, ohne dass jemand Verdacht schöpfte!
Der Verräter grinste. Er umschritt den Kreis, den er mit einer Mischung aus Schwarzpulver, Schwefel und einigen magischen Bestandteilen auf den Steinboden seines Kellers gestreut hatte.
Die Beschwörungssymbole waren da, wo sie sein mussten. Die Schälchen mit den Kräutern und den Ratteneingeweiden standen ebenfalls an ihrem Platz.
Gleich konnte es losgehen!
Der Verräter sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten bis Mitternacht. So lange musste er sich noch gedulden, bis er den zweiten Teil des Plans einleiten konnte.
Wenn der auch nur annähernd so glatt lief wie der erste, konnte nicht mehr viel schief gehen. Die Frage war nur, ob er tatsächlich so glatt laufen würde, jetzt wo Randolphus auf der Bildfläche erschienen war.
Anfangs hatte der Verräter schon Bedenken gehabt, sich beim Telefonat mit Belphegor Barstow nicht unaufrichtig genug angehört zu haben, aber offenbar hatte er ihn doch genau dorthin bekommen, wo er ihn haben wollte.
Dass Barstow herausfinden wollte, wer der Verräter war, damit war zu rechnen gewesen. Dass er sich aber Randolphus’ Dienste bediente, hatte den Verräter überrascht.
Und verwirrt!
Er hatte gehofft, nie mehr auf Mephistos Neffen zu treffen. Doch nun, nach so vielen Jahren würde es geschehen: Randolphus Brandfugger würde auf den Dämon stoßen, der ihn damals benutzt hatte, um in die Schwarze Bibliothek zu gelangen!
Aermrinh Elrel Jildisch Tolregun musste lächeln, als er daran dachte, was für ein naives Kerlchen Randolphus gewesen war!
Wir dringen in die Schwarze Bibliothek ein, besorgen uns die mächtigsten Zaubersprüche und entmachten Asmodi! Dann herrschen wir über die Schwarze Familie!
Randolphus hatte eifrig genickt, als Aermrinh ihm diesen schwachsinnigen Plan vorgeschlagen hatte. Konnte jemand tatsächlich so leichtgläubig sein? Offenbar!
Natürlich war es Aermrinhs Plan gewesen, Asmodi zu entmachten. Er war es immer noch! Asmodis Auffassung, dass der Kampf gegen die Seite des Lichts im Verborgenen zu führen sei, war zum Kotzen. In der Schwarzen Bibliothek lagerte die Macht, die Menschheit zu überrennen! Aber Asmodi weigerte sich, diese Macht zu teilen. Herrschsüchtiges Miststück!
Dieser Weichling war nicht würdig, die Schwarze Familie anzuführen!
Dennoch war er zu stark, um ihn stürzen zu können.
Aermrinh hatte von Anfang an gewusst, dass das nur mit einem langfristigen Plan gelingen konnte. Er hatte gewusst, dass er keinesfalls offen gegen Asmodi vorgehen durfte.
Deshalb hatte er beschlossen, Asmodis Feinde im Kampf zu unterstützen: den Orden!
Doch das war nicht ganz einfach.
Zum einen war die Politik des Ordens ähnlich wie die von Asmodi. Er scheute den offenen Kampf, war defensiv. Aermrinh war sich zwar sicher, dass er den Orden dazu bringen könnte, sich dem Bösen aktiv entgegenzustellen, wenn er erst einmal selbst Ordensmeister war.
Die Frage war nur: Wie sollte er in den Orden eindringen?
Man konnte sich nicht für ihn bewerben, zumal die Menschen, die nichts mit ihm zu tun hatten, ohnehin nichts von seiner Existenz ahnten.
Er beobachtete, wartete, dass sich ihm eine Gelegenheit bot. Er war ein Dämon! Er hatte Zeit!
Schneller als erhofft kam ihm der Zufall zu Hilfe.
Es musste 1840 oder 1841 gewesen sein. Da heuerte Aermrinh (natürlich in seiner menschlichen Gestalt) in Havanna auf einem Schiff namens Rosalie an. Er wollte mit den Menschen an Bord spielen, ihnen Angst einjagen, sie auf hoher See in den Wahnsinn treiben. Eben einfach etwas Spaß haben.
Kaum waren sie ausgelaufen, bemerkte er die dämonische Ausstrahlung eines Matrosen. Sein Name war Ramon oder Roman. Es war kein Zweifel möglich: Ramon oder Roman war kein Mensch, sondern ein Dämon!
Wie konnte das sein? Aermrinh hatte noch gestern mit Ramon gezecht - und da war er eindeutig ein Mensch gewesen.
Aermrinh beschloss, ihn zu fragen. Da er selbst ein kalter Dämon war (wie er diesen blöden Ausdruck hasste!), der keine Aura besaß und von anderen nicht erspürt werden konnte, sollte es ihm leicht fallen, Roman oder Ramon eine Falle zu stellen.
Er drang in die Kajüte des Kapitäns ein und brachte ihn um. Dann errichtete er eine Schwarze Brücke, die gleich hinter der Kajütentür begann und in die Gewölbe unter seiner damaligen Villa führte.
Dort zeichnete er mit Hühnerblut das stärkste Bannsymbol auf den Boden, das er kannte. Schließlich zog er noch einen Kreis mit schwarzer Kreide, der das Symbol und den Ausgang der Brücke umschloss. Das sollte ihm zumindest für kurze Zeit Gewalt über einen niederen Dämon geben.
Dann wartete er.
Nach nicht einmal acht Stunden geschah es!
Der Dämon, der vorgab, der Matrose Ramon oder Roman zu sein, wütete unter der Schiffsbesatzung. Er zertrümmerte Schädel, fraß Fleisch und soff das Blut der Besatzung. Doch den Kapitän fand er nicht.
Also kam er in dessen Kajüte, um dort nachzusehen.
Hätte er geahnt, was ihm bevorstand, hätte er einen dämonischen Hauch wahrgenommen, hätte er auch nur einen vagen Verdacht gehabt, dass er nicht der einzige Dämon an Bord war, wäre er wohl nicht so leicht in die Falle getappt. Aber so riss er die Tür auf, wollte mit gefletschten Hauern in die Kajüte stürmen - und landete stattdessen in Aermrinhs Gewölbe.
Aermrinh schloss sofort die Schwarze Brücke und aktivierte den Bannzauber.
Nach wenigen Sekunden stellte sich heraus, dass der vermeintliche Matrose tatsächlich nur ein Dämon niederen Ranges war und weder Roman noch Ramon hieß. Sein wirklicher Name war so lang und kompliziert, dass selbst Aermrinhs voller Name dagegen einfach anmutete. Heute wusste Aermrinh nur noch, dass er mit Khrklytk begann - und das war noch das unkomplizierteste der mindestens zehn Wörter!
Unter Schmerzen (offensichtlich hatte Aermrinh den Bannzauber zu hoch dosiert) erzählte Khrklytk, dass er einst der Diener eines hochstehenden Dämons namens Krestagor gewesen war. Dem war vor Hunderten von Jahren der Zutritt zur Schwarzen Bibliothek gestattet worden, weil er wegen eines alten Fluchs auf der Suche nach einem Zauber war, mit dem man eine Seuche über die Menschheit bringen konnte.
Während Krestagor mit dem Schwarzen Bibliothekar unterwegs war, um in „Der schwarze und andere Tode“ nachzuschlagen, stöberte Khrklytk unbemerkt in einigen Pergamentrollen nahe des Bibliothekseingangs.
Er stieß auf einen faszinierenden Zauber: Wenn man die Lebensenergie eines Menschen anzapfte, konnte man dessen Aussehen, sonstige Merkmale und auch Wissen annehmen.
Genauso wie Khryklytk kurz vor dem Auslaufen das Aussehen des Matrosen Ramon angenommen hatte.
Aermrinh war von den Möglichkeiten, die ihm dieser Zauber bot, so begeistert, dass er sich beschreiben ließ, wo in der Bibliothek die Pergamentrolle aufbewahrt wurde, anstatt sich einfach nur erklären zu lassen, wie der Zauber durchzuführen war.
Als Aermrinh seinen Fehler bemerkte, war es zu spät: Er fühlte, wie ihm die Kontrolle über den Bannzauber entglitt. Er versuchte, ihn aufrecht zu erhalten, doch die Erregung über seine neuen Erkenntnisse führte dazu, dass er sich nicht genug konzentrieren konnte. Stattdessen öffnete er versehentlich eine schwarze Brücke.
Khrklytk nutzte die Gelegenheit und floh. Jedoch nur zur Hälfte. Denn noch bevor er ganz durch die Öffnung schlüpfen konnte, schloss Aermrinh die Brücke und zerteilte Khrklytks Körper.
Aermrinh hörte noch den verhallenden Schrei von der anderen Seite, da zerplatzte die zurückbleibende Hälfte in einem Schwall schwarzen Schleims. Mit ihm zerplatzte die Möglichkeit, den Zauber gleich an Ort und Stelle zu lernen.
Es blieb Aermrinh also nichts anderes übrig, als sich das Pergament in der Bibliothek zu besorgen.
Natürlich konnte er Asmodi nicht um Einlass bitten. Also suchte er jemanden, dessen Wissen groß genug war, um einen der Zugänge zur Schwarzen Bibliothek zu kennen, und dessen Verstand klein genug war, Aermrinh hineinzuführen.
Diesen Jemand fand er in Randolphus Brandfugger. Es war natürlich bereits bei ihrem Einbruch geplant gewesen, Mephistos naiven Neffen dem Oberhaupt der Schwarzen Familie als Schuldigen zu präsentieren.
Eigentlich hatte er gehofft, Asmodi würde Randolphus in seinem Zorn töten. Aermrinh hatte ihm zwar mit dem Fluch, den er auf die Athame gesprochen hatte, die Erinnerung an seinen Namen gestohlen, letzte Sicherheit bot dies aber nicht. Hätte Asmodi Randolphus geglaubt, hätte er den Vergessensfluch sicher von ihm nehmen können.
Für viele Jahre verkroch Aermrinh sich aus Angst vor Asmodis Zorn.
Erst als er sich sicher war, dass Asmodi an Randolphus Namen genauso wenig dachte, wie der an den des Verräters, widmete er sich wieder seinen Plänen: Er spionierte den Orden aus. Was schwer genug war! Schließlich wusste niemand, wer dem Orden angehörte.
Immer wieder machte Aermrinh Gebrauch vom Geliehenen Gewand, wie der Zauber hieß, den er aus der Schwarzen Bibliothek gestohlen hatte. Er schlüpfte in die Gestalten von Kirchenmännern (was ihm meist furchtbar zuwider war), Politikern (was ihm wesentlich mehr zusagte), humanitären Weichlingen, die den Hunger in der Welt bekämpften. Er trat auf als Kämpfer gegen die Apartheid, als moralisierender Weltverbesserer, als erbitterte Kriegsgegner.
Überall, wo er vermutete, dass der Orden seine Finger im Spiel haben könnte, schlich er sich ein, beobachtete, folterte, verführte, tötete.
Hunderte von Menschen mussten sinnlos ihr Leben geben. Gut, der Tod eines Menschen war niemals sinnlos, aber die hier brachten ihn seinem Ziel kaum näher.
Doch wieder war ihm das Glück hold. Der 239. Mensch, dessen Geliehenes Gewand er trug, war tatsächlich Mitarbeiter des Ordens.
Endlich hatte er einen Fuß in der Tür!
Er kam den Meistern näher und immer näher. Gute zwei Jahre später kannte er sie alle.
Als dann eines Tages eine Stelle frei wurde und ein neuer Meister berufen werden sollte, schlüpfte er in die Rolle des Nachrückers.
Er hatte sein Ziel erreicht! Er war Meister des Ordens!
Und diesmal hatte er so viel Glück, dass er es selbst kaum fassen konnte. Er erfuhr, dass es eine Prophezeiung des Nazareners gab, nach der ein letzter, kämpfender Hüter auserkoren würde, die letzte Schlacht zu schlagen. Ihm sollte es gelingen, den dunklen Statthalter des Bösen auf Erden zu besiegen!
Aermrinh traute seinen Ohren kaum! Er brauchte den Orden gar nicht zum Kampf aufstacheln. Er brauchte auch Asmodi nicht selbst angehen, denn das würde der Hüter für ihn tun!
Was für eine köstliche Ironie des Schicksals. Der Hüter würde Asmodi vom Thron stoßen. Asmodi, den Übervorsichtigen, der gegen den offenen Kampf war! Asmodi, der glaubte, wenn die Menschheit bewiesen bekäme, dass es das Böse tatsächlich gibt, würde sie ihre Religionsstreitigkeiten überwinden und in ungeahnter Stärke zum Glauben finden. In einer Stärke, die der Schwarzen Familie den Sieg erschweren, wenn nicht unmöglich machen würde. Deshalb und nur deshalb hatte er angeordnet, den Kampf im Verborgenen zu führen.
Was für ein Blödsinn! Die Menschheit würde niemals zu einem gemeinsamen Glauben finden, selbst dann nicht, wenn ihnen Kaiser Luzifer auf die Füße latschen würde!
Und nun würde der Hüter diesen Narren Asmodi besiegen und dadurch, ohne es zu wollen, Aermrinh auf den Thron hieven. Der Hüter würde zum Geburtshelfer eines neuen Herren der Schwarzen Familie werden, der die geballte Macht der Schwarzen Bibliothek gegen den Orden, den Schatz und die gesamte Menschheit anwenden wollte.
Doch zunächst musste dieser letzte Hüter gefunden und die Zuverlässigkeit der Prophezeiung geprüft werden.
Also nahm Aermrinh Kontakt zu einer Hexe auf, von der er schon einiges gehört hatte: Cresmonia Gwscore. Da sie, wie auch er vor noch nicht allzu langer Zeit, keinen der Ordensmeister kannte, gab er sich wahrheitsgemäß als einer von ihnen zu erkennen, benützte dazu aber sicherheitshalber das Geliehene Gewand eines armen Kerls, der zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort war.
Aermrinh verlebte etliche nette Stunden mit der Hexe. Er ließ sie glauben, er sei ihr verfallen. Cresmonia tat, was er erwartet hatte: Sie begann ihn auszufragen.
Um den Schein zu wahren, zierte er sich anfangs noch, doch schließlich verriet er ihr den Aufenthaltsort des Schatzes.
So nahmen die Dinge ihren Lauf.
In all den Jahren verfolgte Aermrinh auch das Schicksal von Randolphus Brandfugger. Allzu viel zu verfolgen gab es da aber nicht, weil er, kurz nachdem er von Asmodi mit dem Dämonenwahn beschenkt worden war, von der Bildfläche verschwand.
Aermrinh hatte gedacht, die Angst überwunden zu haben, Randolphus könnte sich wieder an seinen Namen erinnern. Doch jetzt war er wieder aufgetaucht - und mit ihm die Angst!
Mochte der Teufel wissen, wie Barstow es fertig gebracht hatte, den vergessenen Brandfugger von seinem Fluch zu befreien. Aber es war unerheblich! Ändern konnte Aermrinh es ohnehin nicht.
Wichtig war jetzt, dass er höllisch aufpasste. Ein Schwarzzauberer mit der Kraft des Dämonenwahns war ein schwieriger Gegner! Selbst, wenn er früher ein naives Bürschchen gewesen war.
Aermrinh seufzte. Schwieriger Gegner war noch untertrieben. Er kannte den Fluch des Dämonenwahns! Vor hunderten von Jahren hatte er einen Vampir gesehen, der bei Asmodi in Ungnade gefallen und mit diesem Fluch belegt worden war. Hätte sich der Blutsauger in seinem Wahn nicht an der schwarzen Energie seiner Opfer überfressen und wäre geplatzt wie eine überreife Frucht, hätte ihn niemand stoppen können.
Randolphus hingegen würde sich nicht überfressen. Barstow war es irgendwie gelungen, die negativen Auswirkungen des Fluchs zu verhindern, ohne dabei die außerordentlichen Fähigkeiten des Verfluchten zu beschneiden.
Das machte Randolphus nicht zu einem schwierigen Gegner.
Es machte ihn zu einem schier unbesiegbaren.
Aermrinhs einziger Vorteil war, dass er davon wusste, was wiederum weder die Barstows noch die Brandfuggers wussten. Denn sie hatten natürlich keine Ahnung davon, dass der Verräter am Orden ein alter Bekannter von Randolphus war.
Trotzdem ärgerte sich Aermrinh über sich selbst. Er hatte gewusst, dass Barstow Kontakt zur Brandfuggerschen Sippe hatte. Daran hätte er denken müssen! Also war er selbst schuld daran, dass er seine Kräfte erneut mit Randolphus messen musste. Nur waren die von Randolphus inzwischen deutlich gewachsen.
Aermrinh sah wieder auf die Uhr.
Mitternacht! Endlich!
Er holte einen langen Span hervor, der aussah wie ein überdimensioniertes Streichholz. Er entzündete ihn und tauchte die grünliche Flamme in das auf den Boden gestreute Pulver.
Sofort bildete sich ein Kreis aus tänzelnden Feuerzungen.
Er murmelte einige kehlige Worte. Die Beschwörungssymbole begannen dunkelrot zu glimmen. Aus den Schälchen mit den Kräutern und den Eingeweiden stieg klebriger Qualm auf.
Plötzlich neigten sich die Flämmchen dem Inneren des Kreises zu, als ob ein Luftzug von allen Seiten sie dorthin drückte. Als sie sich im Zentrum berührten, peitschte ein Knall durch den Keller.
Von einer Sekunde auf die andere stand ein Dämon im Kreis. Er hatte nachtschwarze Haut, die von einem Netz aus hellroten, pulsierenden Adern durchzogen war. Von seinen Lefzen triefte stinkender Speichel.
Aermrinh grinste.
Was das Beschwören und Bannen von Dämonen anging, hatte er in den letzten hundert Jahren viel gelernt.
Aus gelben Augen starrte die Kreatur Aermrinh an.
„Wer bist du? Was willst du?“, knurrte sie.
„Wer ich bin, braucht dich nicht interessieren. Ich möchte dir einen Vorschlag machen.“
„Einen Vorschlag machen? Du mir?“ Das Lachen des Dämons klang wie ein mit Schweinen beladener Güterzug, der bei Tempo 130 entgleist. „Ich mach dir einen Vorschlag: Entlass mich aus deinem Bann und dein Tod wird schmerzfrei sein!“
Aermrinh winkte ab und machte ein gelangweiltes Gesicht. „Spiel dich nicht so auf! Auch wenn du dich bemühst, einen gefährlichen Eindruck zu machen, bist du nur ein lächerlicher niederer Dämon, den selbst die unwürdigsten Mitglieder der Schwarzen Familie als Abschaum ansehen.“
Die Kreatur kniff die gelben Augen zu Sicheln zusammen. „Und?“
„Und ich kann dir dabei helfen, an Ansehen zu gewinnen. Dafür musst du mir helfen, den Orden um den Schatz etwas an der Nase herumzuführen.“
Die Kreatur öffnete das Maul und ein Batzen seines Speichels klatschte zu Boden. „Was springt für dich dabei heraus?“
„Eine persönliche Genugtuung. Interesse?“
Der Dämon starrte Aermrinh für einige Sekunden an.
„Was soll ich tun?“
***
Gegenwart
Als Mark mit Hinnerk die Ratshalle im Kyffhäuser betrat, richteten sich die Härchen auf seinen Armen auf. Lag das nur an der Kühle, die hier herrschte, oder auch an der Angst vor dem, was ihnen bevorstand?
Sie waren nicht auf schnellstem Wege durch die Halle der Geheimnisse gegangen. Stattdessen waren sie durch die Gänge zwischen den Fundstücken geschlendert, als wollten sie das Unvermeidliche hinausschieben.
„Los jetzt!“, hatte Hinnerk dann nach fünfzehn Minuten gedrängt. „Es hat doch keinen Sinn, hier herumzulungern, Mark. Lass uns gehen.“
Im Versammlungssaal herrschte schon geschäftiges Treiben. Der Kronleuchter über dem runden Tisch in der Mitte des Saals war mit frischen Kerzen bestückt.
Die Ordensmeister standen in Zweier- und Dreiergrüppchen um den Tisch herum und diskutierten. Nur einer der Meister, ein alter Mann, saß bereits auf seinem Stuhl und starrte in keine bestimmte Richtung. Sein Gesicht war voller Falten.
Wenn Mark sich richtig erinnerte, war das Lucio Carrabba, ein Kardinal im Vatikan.
Hinter ihm stand Fabio Cassani, der Großmeister des Ordens. Wobei Mark diese Bezeichnung in Anbetracht einer Körpergröße von ungefähr 160 Zentimeter für unglücklich gewählt hielt. Cassani war im Gespräch mit einem schlaksigen Mann, der gefühlte fünf Köpfe größer war. Dank seines buschigen Oberlippenbarts und den wirren Haaren hatte er Ähnlichkeit mit Albert Einstein.
Nicolas Gainsbourg, fiel Mark ein. Chef einer gigantischen Chemiefirma.
Als Cassani Mark und Hinnerk bemerkte, warf er einen demonstrativen Blick auf die Armbanduhr und runzelte die Stirn.
Im Gegensatz dazu grinste Gainsbourg Mark an. Dann gönnte er Cassani einen schiefen Seitenblick, zuckte mit den Achseln und sein Grinsen wurde noch breiter.
So ist er halt, mochte diese Geste aussagen.
Mark lächelte zurück. Doch als er daran dachte, dass sich der Verräter durchaus auch hinter einer freundlichen Maske verstecken konnte, erlahmte das Lächeln.
Mark ließ seinen Blick über die restlichen Meister schweifen. Jeder von ihnen konnte der Verräter sein.
Ich befinde mich in seiner unmittelbaren Nähe. Wer von euch ist es? Wer ist der Judas?
Er sah Dieter Feldmann, einen Bankier aus der Schweiz, der ihn mit seinem nach hinten gekämmten, weißen Haar an einen Schauspieler erinnerte, dessen Name ihm partout nicht einfallen wollte.
Der Bankier stand zusammen mit dem Anwalt aus New York. Wie war noch gleich sein Name? Ach ja, richtig: Henry Fullbright. Auch George Sandford gehörte zur Gruppe. Er hatte etwas mit Computern zu tun, Mark konnte sich aber nicht mehr erinnern, was genau.
Ist es einer von euch? Oder seid ihr dem Orden treu?
Die drei warfen ihm einen kurzen Blick zu, Fullbright nickte zur Begrüßung, und dann versanken sie wieder in ihrem Gespräch.
Mark sah Stephen Falk, den australischen Baugiganten, und Peter Lord von der CIA. Trotz der Kühle zeichneten sich unter den Achseln Schweißflecken auf Lords Hemd ab. Die beiden Meister lauschten gerade Jason Bright, dem Autor von Horror-Bestsellern.
Auch sie bemerkten Mark. Falk winkte ihm zu, Lord sah hin, aber gleich wieder weg, während Bright lächelte.
Vielleicht einer von euch?
Das letzte Grüppchen aus Ordensmeistern bestand aus Ruben Hernandez, samt Panamahut ganz in Weiß, dem Filmmogul Stanley Henley („Sprich ihn bloß nicht auf den Reim in seinem Namen an“, hatte Hinnerk Mark noch vor Stunden gebeten. „Der ist ihm furchtbar peinlich.“) und Reinhold Strössner, einem Berliner Waffenproduzenten.
Doch die Meister waren nicht die einzigen Menschen in der Halle. Sie waren nicht einmal in der Überzahl, denn mindestens zwanzig Wachmänner der Treasure Security tummelten sich im Stollen zum kyffhäuserseitigen Ausgang, in der Halle selbst und an den Abzweigungen zu Barbarossas Saal und zur Halle der Geheimnisse.
Mark war überrascht. Hatte Fabio Cassani doch noch Kräfte mobilisieren können? Oder war dieser Sicherheitsaufwand von Anfang an geplant gewesen?
Auf der anderen Seite wäre es Mark erheblich lieber gewesen, wenn statt der Wachmänner Mitglieder der neuen Einsatzteams der TS anwesend gewesen wären.
Sicherlich, die Ausbildung der Wachmannschaft war vorzüglich! Aber im Vergleich zum Drill der Einsatzteams nahm sie sich aus wie Schulsport neben dem Training eines Topathleten.
Mark fragte sich, wie viele TS-Leute noch vor der Höhle postiert sein mochten.
Konnte Christine sich geirrt haben? Bei diesem Aufgebot an Sicherheitskräften konnte doch gar nichts passieren. Oder?
Es kehrte Ruhe im Saal ein und die Meister setzten sich. Da die Bestuhlung ursprünglich für 13 Meister ausgelegt war, befürchtete Mark für einen Augenblick, sie müssten Reise nach Jerusalem spielen, um herauszufinden, wer von ihnen stehen bleiben musste.
Doch dann sah er, dass neben Hinnerks Stuhl noch ein Klappstuhl aufgestellt worden war. Besser als nichts. Auch wenn es dank Hinnerks Volumen eng werden könnte.
Als alle Meister saßen, erhob sich Fabio Cassani auch schon wieder von seinem Stuhl.
„Einer von euch ist ein Verräter!“, sagte er auf Englisch.
Na, das nenne ich ja mal eine originelle Begrüßung, dachte Mark und sah in die Runde.
Einige nahmen diese herzlichen Worte ungerührt zur Kenntnis, andere musterten mit lebhaftem Interesse die Tischplatte, wieder andere fummelten an den Stiften in ihren Jacketts herum. Nicolas Gainsbourg lächelte immer noch. Dieter Feldmann, der Schweizer Bankier, verdrehte die Augen. Ruben Hernandez musterte Mark und richtete seinen Blick auf den nächstgelegenen Meister, als Mark zu ihm hinsah.
„Die Formulierung gefällt mir nicht“, sagte Reinhold Strössner mit einer hohen, geschlechtslos klingenden Stimme.
Mark sah zu ihm hinüber. Strössner war ein großer, irgendwie ungelenk wirkender Mann. Sein rechts gescheiteltes Haar fiel ihm diagonal in die Stirn. Über den Ohren standen kleine Büschel ab, die wohl auch kein Kamm in die etwas zu lange Haarpracht hätte zurückzwingen können. Mit langen Fingern, um die ihn jeder Pianist beneidet hätte, tippte und tappte er auf die Tischplatte, als würde er wirklich gerade Klavier spielen.
Cassani warf ihm einen grimmigen Blick zu. „Tatsächlich?“
„Ja, denn auch du könntest der Verräter sein. Es wäre angebrachter gewesen, einer von uns zu sagen als einer von euch.“
Cassani wedelte unwirsch mit der Hand. „Einer von euch ist ein Verräter“, wiederholte er. „Deshalb habe ich die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt.“
Mit einer weit ausholenden Armbewegung zeigte er auf die Wachmänner der Treasure Security. Dann wies er auf ein dünnes Männchen, das Mark bisher nicht bemerkt hatte. Es saß auf einem Klappstuhl vor der Felswand. Sein schlecht geschnittener Anzug wirkte wie eine Verkleidung. Hinter dicken Brillengläsern huschten kleine Äuglein hin und her.
„Das ist Salvatore Sentocchio“, sagte Cassani.
Sentocchio zauberte ein unsicheres Lächeln auf die Lippen. Jetzt erst bemerkte Mark, dass er sich einen Stapel Papier an die Brust presste, als wolle er sich daran festhalten.
„Er wird euch Informationen geben, die ihr für die Abstimmung brauchen werdet.“
„Abstimmung?“, fragte Ruben Hernandez. „Worüber?“
Cassani sah den spanischen Hotelier an. „Das wirst du erfahren. Von Salvatore Sentocchio!“
„Warum sind wir überhaupt wieder hier in diesem kalten Loch? Ich dachte, hier sollen keine Versammlungen mehr stattfinden.“
Mark wunderte es nicht, dass dem Spanier kalt war. Schließlich war sein Hemd bis zum Nabel aufgeknöpft.
Cassani nickte. „Das ist eine Ausnahme. Salvatore?“
Sentocchio stand von seinem Stuhl auf, die Unterlagen immer noch wie einen Panzer vor die Brust gepresst.
„Danke ... äh, Fabio.“
Sein Blick irrte durch die Runde. Niemanden sah er länger als eine halbe Sekunde an.
„Es geht heute ... äh, um ein Fundstück, dass in der Halle der Geheimnisse ... nun, äh, gefunden wurde.“
Er legte seinen Papierstapel auf den Tisch und nahm seine Brille ab. Er hauchte sie an, zog einen Hemdzipfel aus der Hose und wienerte damit über die Brillengläser.
Mark schaute einige Sekunden zu, dann sah er zu Hinnerk. Der zuckte mit den Schultern und runzelte die Stirn. Auch die anderen Meister wussten sichtlich nicht, was sie vom Auftritt Sentocchios halten sollten.
Endlich setzte der die Brille wieder auf und stopfte sich den Hemdzipfel zurück in die Hose.
„Wo war ich? Ah ja, nun, äh, da diese Entdeckung von weit reichender Bedeutung sein dürfte, ist es meines Erachtens wichtig sicherzustellen, dass Sie alle, nun ja, äh, den gleichen Wissensstand haben. Deshalb darf ich Sie bitten, mit mir in die Halle ... äh, also, mir zu folgen.“
***
Vergangenheit, Oktober 2006
Randolphus Brandfugger stand inmitten von Häusern, die bis in den Himmel ragten. Wollten die Menschen heutzutage ihrem Gott so nahe sein, dass sie so hoch bauten? Hatte ihnen die Erfahrung aus Babel nicht gezeigt, dass der das für keine so tolle Idee hielt?
Die Häuser schienen fast ausschließlich aus Glas zu bestehen, dennoch konnte man nicht in sie hineinsehen. Jeder Quadratzentimeter strahlte Reichtum und Macht aus.
Randolphus zog ein Blatt Papier aus der Gesäßtasche seiner Jeans. Er faltete es auseinander und fast hätte es ihm der Herbstwind, der durch die Häuserschluchten wehte, aus den Händen gerissen.
Sieben Namen neben sieben Bildern standen darauf. Die Namen und Gesichter der Meister, die der Wachmann vor dem Kyffhäuser gekannt hatte. Die ersten drei waren durchgestrichen. Blieben noch vier.
Die Meister, die zu den durchgestrichenen Namen gehörten, hatte er bereits nach seiner Methode verhört. Ergebnislos. Es wäre auch zu schön gewesen, gleich mit dem ersten oder zweiten Versuch einen Treffer zu landen.
Allerdings hatte Randolphus bei den Verhören nicht annähernd so tief in den Verstand eindringen können wie bei dem Wachmann. Von dessen Gehirn war nach dem Verhör nur ein krümeliger Keks übrig geblieben, zu keinem vernünftigen Gedanken mehr fähig.
Bei dem einen oder anderen Meister würde das vielleicht nicht einmal auffallen!, dachte er und musste grinsen.
Wegen der Vorsicht, die er walten lassen musste, hatte er bei keinem der bisher Verhörten konkrete Erinnerungen oder Gedankengänge lesen können. Es war mehr, als würde er auf die Oberfläche eines Sees starren und versuchen, daraus auf dessen Tiefe und Reinheit zu schließen.
Aber Randolphus ging davon aus, dass das ausreichte. Dass er den Verräter schon erkennen würde, wenn er auf dessen See schaute. Dass die Oberfläche so schmutzig, trübe und undurchschaubar war wie die Absichten des Verräters.
Sollte er sich täuschen, musste er eben von vorne anfangen. Den Ärmel hochkrempeln, vorsichtig ins Wasser greifen und sehen, was er zu fassen bekam, ohne dabei große Wellen zu schlagen.
Vielleicht hatte Mephisto bis dahin auch die Namen der restlichen sechs Meister herausgefunden. Dann konnte er erst einmal sie nach der behutsamen Methode verhören.
Inzwischen hatte sich Randolphus tatsächlich an die neue Welt außerhalb seiner Verliesmauern gewöhnt. Die Kleidung hielt er zwar noch immer für grauenerregend, aber das, was Mephisto als moderne Technik bezeichnete, faszinierte ihn ungemein.
Da musste er nur daran denken, wie einfach es gewesen war, den Namen, die Randolphus aus dem Verstand des Wachmanns gelesen hatte (oder gescannt, wie Onkel Mephisto es nannte), die zugehörigen Menschen zuzuordnen. Sein Onkel hatte sich einfach an eines dieser Fernsehgeräte gesetzt, ein wenig auf einem Brett mit vielen Tasten herumgehämmert und schon wusste er Bescheid.
Im Gegensatz zu Randolphus, der sich fragte, warum Mephisto dieses Brett Keyboard genannt hatte, obwohl daran kein einziger Schlüssel befestigt war.
„Die Ordensmeister müssen einflussreiche Persönlichkeiten sein. Andernfalls könnten sie nichts bewirken“, hatte Mephisto gesagt. „Deshalb muss im Internet etwas über sie zu finden sein.“
Randolphus hatte nach der Erklärung seines Onkels zwar immer noch nicht verstanden, warum dieses Ding nach einem netten Inder benannt war, und bestenfalls eine vage Vorstellung davon, wie es funktionierte, aber das musste ihn auch nicht interessieren. Für ihn war wichtig, dass er den Fluch des Dämonenwahns loswurde und endlich ohne diesen blöden Handschuh herumlaufen konnte.
Nach nicht einmal einer Stunde hatte Mephisto eine Liste von Personen zusammengestellt, die in Frage kamen. Da die Ordensmeister natürlich kein Exklusivrecht auf ihre Namen hatten, tauchten auf der Liste mehrere Menschen auf, die den gleichen Namen trugen.
Zunächst musste Randolphus die Nieten aussieben, also die Leute, die zwar den Namen eines Ordensmeisters trugen, aber keiner waren. Dazu beobachtete er alle Kandidaten anderthalb Monate lang. Mit wem trafen sie sich? Welchen Geschäften gingen sie nach? Hatten sie Kontakte zu anderen Personen auf der Liste?
Mephisto hatte ihm verboten, während dieser Beschattungen seine Kräfte einzusetzen.
„Wenn du danach jedes Mal ein Kino leerfrisst, fällt das auf“, hatte er gesagt. „Das müssen wir vermeiden, so lange es geht. Wenn du die Meister scannst, wird das ohne deine Kräfte - und den anschließenden Hunger - nicht gehen. Deshalb dürfen wir nicht schon vorher eine Spur hinterlassen!“
Wenn es nach Randolphus gegangen wäre, hätte er nicht so sanfte Methoden angewandt. Er hätte sich einen der Kerle gekrallt, deren Namen nur einmal auf der Liste vorkamen. Dann hätte er sein Gehirn ausgeschlürft wie eine Auster. Er war zuversichtlich, dass er alle Informationen bekommen hätte, die er brauchte: Die Namen der anderen Meister, die Berufe, die sie in ihren bürgerlichen Existenzen ausübten, und vieles mehr.
Den unvermeidlichen Tod des Verhörten hätte er als Unfall hinstellen können, als Selbstmord, als Hirnschlag, als was auch immer.
Er hatte mit Mephisto darüber geredet, aber der hatte sein Ansinnen harsch zurückgewiesen. Auch Barstow hatte auf ihn eingeredet. Sie hatten ihn so mit Argumenten überhäuft, dass er am Schluss nicht mehr wusste, was sie am Anfang gesagt hatten.
Schließlich hatte Randolphus zurückgesteckt. Er musste Onkel Mephisto und Barstow dankbar für die Chance sein, die sie ihm gaben. Die wollte er nicht aufs Spiel setzen, indem er zugab, dass er ihre Argumentation nicht begriff.
Wenn sie der Meinung waren, dass er unauffällig sein sollte, dann war er unauffällig. Wenn sie sagten, er dürfe den Verräter nicht gleich töten, dann ließ er ihn so lange leben, bis Onkel Mephisto sagte, dass der richtige Zeitpunkt gekommen wäre.
Vor dem Glasturm, den Randolphus beobachtete, hielt eine der gelben Kutschen, von denen Mephisto ihm erzählt hatte. Ein Mann stieg aus, dessen gut geschnittener Anzug Randolphus’ kritischem Auge fast schon Anerkennung abverlangte.
Der Mann reichte dem Kutscher ein paar Scheine dafür, dass er ihn sicher durch diese große Stadt geleitet hatte. Dann ging er auf den grauhaarigen Mann zu, der vor dem Portal zu dem Glasturm stand.
Da der eine reich geschmückte Uniform trug, mit goldenen Knöpfen und Schnüren und ähnlichem Zierrat mehr, nahm Randolphus an, dass er ein Wachmann sein musste.
Eine Waffe konnte Randolphus aber nicht erkennen. Doch selbst die hätte ihn natürlich nicht von dem abhalten können, was er nun tun musste.
Er warf noch einen letzten Blick auf die Liste. Ja, das Gesicht des Anzugträgers stimmte mit dem Bild überein.
Randolphus konzentrierte sich für einen Augenblick und wieder gerann die Zeit zu einem kaum merklich voranschreitenden Strom erkaltender Magma. Sämtliche Kutschen blieben auf der Straße stehen, die Menschen erstarrten, alle Geräusche verstummten. Er faltete die Liste zusammen und steckte sie in die Gesäßtasche.
Dann ging er über die Straße zu dem Anzugträger. Der hatte vermutlich gerade etwas zu dem lamettaverzierten Wachmann sagen wollen, denn sein Mund stand halb offen, was seinem Gesicht einen dümmlichen Ausdruck verlieh.
Plötzlich begann Randolphus’ rechte Hand zu kribbeln. So, als wüchsen auf der Innenseite des Handschuhs unzählige Härchen, die hin- und hertänzelten, über seine Haut, seine Fingernägel, seine Gelenke.
Hunger!
Jetzt schon? Hatte es das letzte Mal nicht viel länger gedauert, bis ihn der Gebrauch seiner Kräfte hungrig gemacht hatte?
Sei’s drum. Es würde nicht lange dauern, dann hätte er den Anzugträger gelesen (gescannt, erinnerte er sich) und könnte seinem Appetit nachgeben.
Randolphus legte ihm die Fingerspitzen gegen die Schläfen und tastete ...
Wenn nur dieses lästige Kribbeln nicht gewesen wäre! Es raubte ihm seine ganze Konzentration! Und dann war da noch dieser ...
Hunger!!!
Randolphus schüttelte den Kopf.
Jetzt reiß dich aber zusammen!
Also, noch einmal.
Er legte dem Anzugträger die Fingerspitzen gegen die Schläfen und tastete sich vor. Suchte den See. Versuchte, einen Blick auf dessen Oberfläche zu erhaschen. Ganz behutsam, nur keine Wellen schlagen, nur nicht ...
Randolphus zuckte zurück!
Das, was er im Inneren des Anzugträgers vorgefunden hatte, war nicht menschlich. Da war kein See, sondern ein Tümpel, ein stinkender, brackiger Sumpf. Bosheit, Heimtücke, Grausamkeit. All das hatte Randolphus überschwemmt.
Der Anzugträger war ein Dämon!
War das möglich? Warum hatte er dann die dämonische Ausstrahlung nicht schon auf der anderen Straßenseite wahrgenommen? Weil er vor der Zeitverlangsamung nicht darauf geachtet hatte? Weil sie sich während der Zeitverlangsamung genauso wenig ausbreiten konnte, wie Geräusche es konnten?
Er wusste es nicht. Letztlich war es wohl auch egal.
Da man nicht davon ausgehen konnte, dass mehrere faule Eier im Nest des Ordens lagen, konnte seine Entdeckung nur eines bedeuten: Er hatte den Verräter gefunden!
Er musste sofort zu Onkel Mephisto und ihm Bericht erstatten. Er würde stolz auf ihn sein! Und die Begnadigung durch Asmodi war in greifbarer Nähe. Jetzt wollte er nur noch ...
HUNGER!!!
... fressen! Erst musste er seinen Hunger stillen. So lange würde Mephisto sich gedulden müssen.
Und dann musste er mit Barstow wegen des Handschuhs reden! Aus dem Kribbeln war inzwischen ein unerträgliches Brennen geworden. Das konnte nicht normal sein!
Randolphus ging hinüber zu seinem alten Beobachtungsplatz und stieß das Karussell der Zeit wieder an. Sofort brandete ihm der Verkehrslärm entgegen.
Auf der anderen Straßenseite ging alles weiter wie zuvor. Der Anzugträger (der Verräter!) ging zu dem Uniformierten, schüttelte ihm die Hand und plauderte mit ihm. Dann verschwand er in dem Glasturm.
Randolphus sah auf die Uhr. Kurz nach sieben Uhr abends. Zeit für ein ausgiebiges Abendessen!
There is no escape
and that is for sure
This is the end we won’t take any more
(Metallica, Seek & Destroy)
2. Kapitel:
Dem Verräter auf der Spur
Vergangenheit, Oktober 2006, zur gleichen Zeit an einem anderen Ort
„Ich mache mir Sorgen“, sagte Belphegor Barstow.
„Warum?“, fragte Mephistoteles Brandfugger. „Bisher läuft doch alles gut.“
Die beiden saßen wieder in Mephistos Schwarzem Salon. Jeder hatte einen großen und reichlich gefüllten Schwenker mit Cognac und eine Kaffeetasse vor sich auf dem Tisch stehen. Der Kaffee war gerade erst serviert worden und verströmte einen aromatischen Duft.
„Ja, bisher schon. Ich fürchte nur, dass der Handschuh nicht so viel von dem Dämonenwahn in sich aufzunehmen vermag, wie ich gehofft hatte.“
Mephisto sah Barstow fragend an.
„Ist dir aufgefallen, dass Randolphus immer mehr Opfer braucht, um seinen Hunger zu stillen?“
Mephisto schüttelte den Kopf.
„Im Kino waren es nur ein paar Menschen. Im Restaurant waren es schon um die zehn Tote, im Autohaus an die fünfzehn. Sein letzter Einsatz kostete über zwanzig Menschen das Leben.“
„Du hast doch nicht etwa Mitleid mit den Opfern?“
„Unsinn! Nur hat er gerade mal drei Meister verhört. Im ungünstigsten Fall muss er noch zehn weitere scannen. Ich weiß nicht, ob der Handschuh so lange durchhält. Ich befürchte, dass ihn der Wahn dahinrafft, noch bevor wir wissen, wer der Verräter ist! Er soll sterben, wenn er ihn getötet hat, aber nicht eher!“
Mephistos dunkle Augen glichen Kohlestücken, als er Barstow musterte.
„Und was sollen wir dagegen unternehmen?“, knarzte er.
Barstow zuckte mit den Schultern. „Mir fallen nur zwei Möglichkeiten ein. Entweder wir tun nichts und warten ab. Dann besteht das Risiko, dass Randolphus zu früh ... von uns geht.“
„Oder?“
Barstow nahm seinen Cognac-Schwenker, hielt die Nase über die große Öffnung und atmete mit geschlossenen Augen einmal tief ein. „Oder ich versuche, den Handschuh noch einmal zu reinigen. Dann wäre er vielleicht wieder so aufnahmefähig wie zu Beginn.“
Auch Brandfugger griff nach dem Cognac. „Dann tu das doch!“
„Es ist riskant! Ich weiß nicht, ob es klappt. Im günstigsten Fall geht alles gut. Vielleicht passiert auch gar nichts. Aber wenn es schief geht ...“
„Ja?“
„Wenn es schief geht, kann ich dabei auch den Handschuh zerstören. Dann geht unser Plan den Bach hinunter. Das ist aber nicht das einzige Problem. Ich fürchte, es ist nicht einmal das größte! Unser Plan wäre zwar gescheitert, aber uns wäre nichts passiert.“
„Jetzt red nicht um den heißen Brei herum“, herrschte Mephisto ihn an. „Welches Problem siehst du noch?“
„Es könnte sein, dass die Reinigung des Handschuhs zu gut funktioniert. Bisher basiert unser Plan darauf, dass wir Randolphus einen falschen Handschuh unterschieben, bevor er die Versammlung des Ordens überfällt. Er dringt ein, tötet den Verräter und noch ein paar Meister dazu. Meine Hoffnung war, dass er wegen der reinigenden Wirkung des Handschuhs erst vom Dämonenwahn überwältigt wird, wenn der Verräter tot ist. Oder dass er spätestens, wenn er seinen Hunger stillen will, davon heimgesucht wird. Wie auch immer: Er muss an diesem Tag ein Opfer des Wahns werden!
Ich fürchte, dass er durch die Ritualverstärkung länger als gewünscht vor dem Wahn beschützt wird, selbst wenn er den Handschuh nicht trägt.“
„Wie soll das gehen?“
Barstow zuckte mit den Schultern. „Es ist wie ein hoch dosiertes Medikament, dass noch eine gewisse Zeit wirkt, selbst wenn man es nicht mehr einnimmt. So ist es auch gewollt. Das Medikament soll wirken, bis der Verräter tot ist. Im Augenblick laufen wir aber Gefahr, dass es gar nicht mehr wirkt, selbst wenn Randolphus es noch einnimmt. Weil das Medikament zu schwach dosiert, der Handschuh schon voll gefressen ist. Wenn wir aber die Dosierung verstärken, könnte es vielleicht länger wirken, als uns lieb ist. Stell dir vor, er überlebt den Angriff auf den Verräter! Dann bekämen wir gewaltigen, wahrscheinlich tödlichen Ärger mit Asmodi, denn dann könnten wir Randolphus nicht mehr als Ausbrecher hinstellen, der den Orden überfallen hat, um bei Asmodi auf Gnade hoffen zu können.“
„Das ist in der Tat ein Problem“, schnarrte Mephisto.
Für einige Sekunden lang versanken beide in Schweigen und stierten in ihre Cognac-Schwenker.
„Aber ich glaube, wir sollten die Reinigung des Handschuhs riskieren. Wir wissen nicht, ob es zu dieser Überdosierung, wie du es genannt hast, tatsächlich kommt. Doch selbst wenn er länger gegen den Wahn immun ist, besteht noch Hoffnung. Ich kenne meinen Neffen! Er ist maßlos! Wenn er bemerkt, dass er sich austoben kann, dann wird er das auch tun. Vielleicht wird ihm seine Immunität sogar zum Verhängnis, weil er nicht einschätzen kann, wann er aufhören muss. Vielleicht löscht er ja den ganzen Orden aus. Also, ich sage: Verstärke das Ritual.“
***
Vergangenheit, Oktober 2006
Belphegor Barstow war nicht der Einzige, den die Entwicklung beunruhigte. Auch der Verräter in Reihen des Ordens war nervös.
Aermrinh Elrel Jildisch Tolregung knüllte die Zeitung zu einer fußballgroßen Papierblüte zusammen und schleuderte sie davon. Noch bevor sie die Wand treffen konnte, ging sie in Flammen auf und regnete in fettigen Ascheflocken auf den Boden.
Seit er den zweiten Teil seines Plans durchgeführt hatte, studierte er Nachrichten und Gazetten aus aller Welt. Immer auf der Suche nach grausigen Verbrechen, die aussahen, als gingen sie auf das Konto eines Irren, die tatsächlich aber auf den Hunger eines dem Dämonenwahn verfallenen Schwarzmagiers zurückzuführen waren.
Schon bald war er fündig geworden: Ein Amoklauf in einem Restaurant! Die Begleitumstände deuteten darauf hin, dass Randolphus konsumierender, nicht aber zahlender Gast dieses Restaurant gewesen war. Denn derjenige, der für das Massaker verantwortlich war, hatte nicht einmal fünf Minuten gebraucht, um etwas anzurichten, wofür geübte Amokläufer mindestens eine Stunde gebraucht hätten.
Was Aermrinh sicher machte, dass Randolphus begonnen hatte, den Verräter zu suchen, war die Tatsache, dass der Amoklauf am Wohnort eines Meisters stattgefunden hatte. Randolphus hatte mit dem Meister etwas angestellt, womit er herausfinden wollte, ob der der Verräter war.
Also war doch alles bestens, oder? Es lief alles, wie es laufen sollte! Richtig?
Falsch!
Aermrinhs zur Faust geballte Hand donnerte auf das kleine Tischchen in seinem Wohnzimmer und zertrümmerte es. Ein animalischer Schrei der Wut drang aus seiner Kehle.
Seine menschliche Gestalt flackerte für einen Augenblick und ließ darunter eine Erscheinung aus zerfetztem Fleisch erahnen.
Erste Unruhe hatte Aermrinh bereits einen Tag, nachdem er den Bericht über das Massaker entdeckt hatte, verspürt. Er hatte den betroffenen Meister angerufen und sich nach dessen wertem Befinden erkundigt. Um dem Telefonat den Anschein von Sinn zu verleihen, hatten sie sich noch etwas über die Fundstücke in der Halle der Geheimnisse unterhalten, und sich anschließend mit den besten Wünschen verabschiedet.
Kein Wort von merkwürdigen Ereignissen am Vortag. Kein Wort darüber, dass dem Meister ein Verfolger aufgefallen wäre. Kein Wort darüber, dass sich ein modebewusster Schwarzmagier für des Meisters Ordenstreue interessiert hätte.
Aermrinh wusste nicht, auf welche Art Randolphus den Meister auf seine Verräterschaft hin untersucht hatte, aber sie musste sehr effektiv gewesen sein. Denn erstens hatte sie ihn einiges an Kraft gekostet, wie der ausgedehnte Imbiss in dem Restaurant bewies, und zweitens hatte der Meister offenbar nicht den Hauch einer Ahnung, dass er das Ziel einer Beobachtung oder einer Untersuchung gewesen war.
Zuerst hatte Aermrinh nicht glauben können, dass der Dämonenwahn Randolphus zu einer solch erstaunlichen Leistung befähigen konnte. Etwas musste der Meister doch gemerkt haben, bei Luzifer! Irgendetwas!
Aermrinh beobachtete weiter. Er sah sich Nachrichtensendungen an und las die Weltpresse.
Hah! Die Weltpresse! Dabei hätte die regionale Zeitung voll und ganz ausgereicht!
Mit Erschrecken hatte Aermrinh feststellen müssen, dass die Spur zu ihm führte! Er konnte es nicht fassen, und doch entsprach es der Wahrheit: Das letzte Gemetzel, das auf Randolphus’ Konto ging, war hier begangen worden! Hier! In der Heimatstadt des Meisters, in dessen Haut Aermrinh geschlüpft war.
Was das bedeutete, war klar: Randolphus hatte auch ihn, Aermrinh, untersucht. Und wie auch schon die Meister vor ihm hatte er nichts davon bemerkt. Absolut nichts!
Bedeutete das nun, dass sein Spiel aus war? Hatte Randolphus ihn enttarnt? Warum hatte er ihn dann nicht getötet?
Oder hatte Randolphus ihn doch nicht erkannt? Schließlich war er ein kalter Dämon, also einer ohne eine Aura des Bösen. Hatte ihn das vor einer Entdeckung geschützt? War der Dämonenwahn doch nicht so stark?
Aermrinh wusste es nicht. Und das machte ihn wahnsinnig! Noch nie in seiner langen Existenz hatte er sich so hilflos gefühlt.
Mit einem lange anhaltenden Schrei zertrümmerte er noch den großen Esstisch, zwei Stühle und den Fernseher.
Besser fühlte er sich danach nicht.
***
Vergangenheit, Oktober 2006 - Sechstes Zwischenspiel der Meister
Der Nebel, der London wie in Watte packte, war so dicht, dass George Sandford vom Fenster seines Büros nicht einmal den Hauptsitz der Barclays Bank sehen konnte, und das, obwohl deren Hochhaus in Spuckweite lag. Auch vom Rest von Canary Wharf, dem riesigen Bürogebäudekomplex in den Docklands von London, war nichts zu sehen.
Doch George Sandford hätte selbst bei traumhaftem Wetter vom Ausblick keine Notiz genommen. Er saß an einem monströsen Gebilde aus Chrom und Glas, das er sich vor einigen Jahren von einem Designer unter der Bezeichnung Schreibtisch hatte anfertigen lassen, und starrte geradeaus.
Der Schreibtisch war alles anderes als schön, aber für den Eigentümer der Comware, einer der größten Softwarefirmen weltweit, stand Schönheit an zweiter Stelle. Zweckmäßig und repräsentativ musste er sein.
Die Hände lagen gefaltet auf der Tischplatte, die sie sich mit einer Telefonanlage, einer Stiftschale und einem Dreißig-Zoll-Flachbildschirm der Marke Dell teilen mussten.
Über den Bildschirm ratterten Zahlenkolonnen, blieben für einen Augenblick stehen, ratterten weiter, blieben wieder stehen, veranlassten den Computer unter dem Tisch zu einem kläglichen Piepen, ratterten weiter.
Ein grünes Lichtlein an der Telefonanlage flammte auf, doch George Sandford reagierte nicht darauf. Ein paar Sekunden später erlosch das Licht wieder, nur um gleich darauf wieder anzugehen. Diesmal begleitet von einem leisen Summen.
Als Sandford wieder nicht reagierte, erklang eine blecherne Frauenstimme: „Mr. Sandford? Frank Fenwick aus der Entwicklungsabteilung ist hier. Er hat einen Termin.“
Ohne hinzusehen griff Sandford hinüber zur Telefonanlage, brachte das Licht zum Erlöschen und die Stimme zum Verstummen.
Wenige Augenblicke danach klopfte es. Die Bürotür öffnete sich einen Spalt und der Kopf einer etwa fünfzigjährigen Blondine schob sich hindurch.
„Mr. Sandford? Ist alles in Ordnung?“
Als Minette Doshpound ihren Chef hinter dem Schreibtisch sitzen sah, entspannte sich ihr Gesichtsausdruck ein wenig.
„Mr. Sandford, Sir? Frank Fenwick ist hier.“
Endlich löste sich Sandfords Blick von der Wand. Er sah zur Tür und zog die Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammen.
„Minette? Oh ja, äh, danke.“
„Soll ich ihn reinschicken?“
„Wen?“
„Frank Fenwick. Er hat einen Termin. Ist wirklich alles in Ordnung mit Ihnen?“
Sandford nickte. „Natürlich ist alles in Ordnung“, blaffte er.
Minette Doshpound zuckte zusammen, sagte aber nichts.
Sandford strich sich über seinen kurzen, sorgfältig gestutzten Vollbart. Dann seufzte er.
„Entschuldigen Sie, Minette“, sagte er, ohne wirklich bedauernd zu klingen. „Ich habe gerade zu tun. Vereinbaren Sie einen neuen Termin mit Fresnick und schicken Sie ihn weg.“ Nach einem Augenblick des Schweigens fügte er noch hinzu: „Bitte.“
Minette zögerte einen Moment, dann zog sie ihren Kopf wortlos aus dem Spalt zurück und schloss die Tür hinter sich.
Da ertönte vom Computer her ein Bing.
Sandford sah zum Monitor. Die Zahlenkolonnen waren verschwunden. Stattdessen zeigte der Bildschirm eine Grafik mit einem grünen und einem roten Balken. Der rote Balken war erheblich länger. Vor der Grafik war eine Meldung eingeblendet.
Decodierung Stufe 3 beendet
Decodierungsstatus 26,2%
Benötigte Zeit 1754 Minuten
Voraussichtliche Dauer für Decodierung Stufe 4: 8000 Minuten
Decodierung Stufe 4 beginnen?
Sandford schüttelte den Kopf.
„Was ist das nur für ein Code?“, murmelte er.
Als das Telefon klingelte, verdrehte er die Augen. Er wollte das Gespräch gerade mit einem Tastendruck abweisen, als ihm auffiel, dass auf dem Display ein Name angezeigt wurde.
H. Fullbright, NY
Sandford runzelte die Stirn.
„Des Teufels Advokat? Was wird der denn wollen?“, brummelte er und nahm ab.
„Henry!“, rief er in den Hörer. „Was verschafft mir das unerwartete Vergnügen?“
„Gregory van Vos.“
Sandford dachte einen Augenblick nach, dann schüttelte er den Kopf. „Sagt mir nichts. Ein Mandant von dir?“
Fullbrights Lachen drang aus dem Telefonhörer. „Nein, kein Mandant. Eigentlich sollte dir der Name geläufig sein. Gregory van Vos? Leonardo da Vinci? Kutsche? Dämmert’s?“
Als da Vincis Name fiel, zuckte Sandfords Blick zu den farbigen Balken auf dem Monitor. „Oh, klar, natürlich. Er hat Leonardos Maschine gebaut!“
„Richtig. Ich hatte den Auftrag, etwas über ihn herauszufinden. Vor ein paar Wochen musste ich allerdings die Waffen strecken. Was ich auch versucht habe, entpuppte sich als Sackgasse.“
„Wie kann ich dir dabei helfen?“
Fullbright hüstelte. „Na ja, Fabio hat gesagt, dass du mit Leonardo da Vincis Aufzeichnungen befasst bist. Ich hatte die Hoffnung, dass der Name da Vos vielleicht dort auftaucht.“
„So, hat unser werter Großmeister das gesagt? Stand auf dem Schild in der Kutsche nicht auch das Jahr, in dem da Vos sie gebaut hat?“
„1899, wenn ich mich recht erinnere.“
„Wie soll also in Leonardos Manuskript dieser Name auftauchen, wenn es gute 400 Jahre vorher entstanden ist?“
„Guter Punkt. Aber trotzdem: Vielleicht entstammt Gregory einer Familie, mit der da Vinci zu tun hatte. Vielleicht war da Vos unsterblich und hat so lange gebraucht, um die Maschine zu bauen. Vielleicht ist da Vinci älter geworden, als man annimmt. Was weiß denn ich! Ich greife nach jedem Strohhalm.“
Wieder schielte Sandford zum Bildschirm hinüber. „Nein, tut mir Leid. Bisher Fehlanzeige. Allerdings ist erst ein gutes Viertel des Manuskripts entschlüsselt.“
„Was? Wie kann das denn sein?“
Sandford seufzte. „Ich habe keine Ahnung. Wir benutzen ein Decodierungsprogramm, das wir für die CIA entwickelt haben. Das hat bisher noch jeden Code geknackt. Manchmal dauert es länger, manchmal geht es schneller.“
„Und hier dauert es länger.“
„So ist es. Dabei ist der Code 500 Jahre alt! Es ist mir ein absolutes Rätsel. Ich schätze, mit der nächsten Entschlüsselungsstufe kommen wir auf 35 bis 40 Prozent. Aber dafür wird der Rechner fünf bis sechs Tage brauchen.“
„Also hast du keinerlei Vorstellung davon, worum es in dem Manuskript geht?“
Sandford schwieg ein paar Sekunden lang. „Doch“, sagte er schließlich. „Es geht um die Kutsche. Das war schnell klar.“
„Was du nicht sagst!“, leierte Fullbright. „Das habe ich mir schon gedacht. Aber was ist diese Kutsche? Warum erscheint es Fabio so wichtig, dass wir alle uns vorrangig um dieses Teil kümmern?“
„Da musst du ihn selbst fragen.“
„Aber du weißt es?“
Wieder zögerte Sandford.
„Ja, ich weiß es.“
„Jetzt stell dich nicht so an und spuck’s aus!“
Also erzählte Sandford alles, was er wusste.
Als er geendet hatte, herrschte erst einmal Stille am anderen Ende der Leitung.
„Habe ich es mir doch gedacht!“, sagte Fullbright endlich. „Das ist fantastisch! Denk nur, was für Möglichkeiten sich auftun! Du musst unbedingt den Rest des Manuskripts entschlüsseln.“
„Würde ich gerne, aber im Augenblick werde ich von einem Ordensmeister aufgehalten.“
„Sehr witzig.“
„Ja, nicht wahr? Vielleicht besteht die Möglichkeit, das Decodierungsprogramm noch zu optimieren. Möglicherweise werden wir dadurch ein wenig schneller.“ Sandford schielte auf die kleine Uhr im Eck des Computermonitors. „Eigentlich wollte einer aus der Entwicklungsabteilung vorbeikommen und mit mir über das Problem sprechen. Tut mir Leid, Henry. Ich muss Schluss machen und Minette auf die Suche nach diesem Fenrick schicken.“
***
Gegenwart
Mark saß wieder auf dem Klappstuhl am Tisch im Versammlungssaal des Ordens.
Die Besichtigungstour in der Halle der Geheimnisse hatte sich länger hingezogen, als er erwartet hatte. Auch wenn er jetzt nicht mehr sagen konnte, was da so lange gedauert hatte. Denn die von zahlreichen Ähs und Nuns unterbrochenen Ausführungen Salvatore Sentocchios waren an ihm vorbeigerauscht wie Wasser an einem Klostein.
Wobei Besichtigungstour ohnehin das falsche Wort war, denn Sentocchios Interesse galt ausschließlich der Kutsche, die nach dem Schild in ihrem Inneren von Leonardo da Vinci erdacht und von Gregory van Vos erbaut worden sein sollte. Er ließ sich aus über den Stil der Kutsche, über die verwendeten Materialien, über Qualität, Maserung und Lackierung des Holzes.
Als Mark zwischendurch versucht hatte, Sentocchios Vortrag zu folgen, hatte der gerade über die mutmaßliche Füllung der Sitze referiert. Mark hatte sofort wieder abgeschaltet.
Ihm ging fortwährend etwas Anderes durch den Kopf.
Einer von euch wird die Schwelle des Todes überschreiten und der andere wird es nicht verhindern können!
Das war es, was Christine zu ihnen gesagt hatte, bevor er und Hinnerk zur Versammlung aufgebrochen waren.
In den ersten Minuten war dieser Satz einsam durch Marks Verstand gestreift. Doch es hatte nicht lange gedauert, da war er hinter einer von Marks Hirnwindungen auf einen Kumpel gestoßen:
Ich befinde mich in unmittelbarer Nähe des Verräters!
Kaum hatten sich die beiden Sätze getroffen, griffen sie sich bei den Händen und begannen, Ringelreihen durch Marks Hirn zu tanzen. Die Musik dazu lieferte die Angst, die mit eisigen Fingern auf Marks Nerven eine trübsinnige Melodie spielte.
Einer von euch wird die Schwelle des Todes überschreiten und der andere wird es nicht verhindern können!
Ich befinde mich in unmittelbarer Nähe des Verräters!
Immer und immer wieder wechselten sich die Sätze ab.
Mark konnte sich nicht mehr daran erinnern, dass sie die Halle der Geheimnisse verlassen und sich an den Versammlungstisch gesetzt hatten.
Und doch saß er jetzt hier und hörte Salvatore Sentocchios Stimme, ohne dessen Worte wirklich wahrzunehmen.
„Nun, meine Herren. Diese ... nun, äh, Kutsche, die wir uns gerade angesehen haben ...“, faselte er.
Einer von euch wird die Schwelle des Todes überschreiten ...
„... entspringt, wie Sie wissen, dem Verstand Leonardo da Vincis.“
... und der andere wird es nicht verhindern können.
„Wir haben seine ... äh, Aufzeichnungen zu entschlüsseln versucht. Da er aber einen ... nun ja, Code, äh, verwendet hat, ist das noch nicht zur Gänze gelungen.“
Ich befinde mich in unmittelbarer Nähe des Verräters.
„Wir sind uns aber inzwischen sehr sicher, welchen Zweck diese Kutsche erfüllen soll. Sie ist, nun ja ... ähem, also, eine Zeitmaschine.“
Wie bitte?
Als wäre ein Stromstoß durch seinen Körper gejagt, saß Mark plötzlich aufrecht da. Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund starrte er das stammelnde Männlein an.
Nur langsam beruhigte sich sein Puls wieder. Es war also tatsächlich die Wahrheit!
Schon seit einigen Wochen schlich das Gerücht durch die Reihen des Ordens, dass Leonardos Kutsche eine Zeitmaschine sei. So war es eben, wenn ein Meister dem anderen etwas unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählte.
Irgendwann hatte auch Hinnerk davon erfahren. Verfälscht und verwässert wie gepanschter Wein. Mit einem hämischen Lächeln hatte er Mark davon berichtet und mit einem breiten Grinsen mitgeteilt, was er selbst davon hielt.
Das musste irgendwann letzten oder vorletzten Monat gewesen sein, erinnerte sich Mark. Auf jeden Fall, bevor Sabrina und er von Connor Baigent entführt worden waren.
Dennoch hatte Mark nie ernsthaft daran geglaubt, dass an den Gerüchten etwas dran sein könnte. Es ging hier schließlich um eine Zeitmaschine, mein Gott! Wie könnte man so ein Gerücht ernst nehmen? Das hier war nicht ein Roman von H.G. Wells, Jules Verne oder Jason Bright, sondern die richtige Welt! In der gab es keine Zeitmaschinen.
Nein, aber Vampire, Werwölfe, Dämonen! Hallo? Merkst du was? Wach auf, Mark! Tief in deinem Inneren bist du noch zu sehr in alten Verhaltensmustern verwurzelt. Wenn du der Welt wirklich den Sieg über das Böse bescheren willst, dann musst du deine letzten unbewussten Zweifel über Bord werfen - und glauben!
Auch in die Ordensmeister war Unruhe gekommen. Ein paar wenige saßen ruhig da, einige andere tuschelten hin und her und wieder andere schnatterten durcheinander. Die erste Gruppe wusste vermutlich von Anfang an Bescheid, weil sie mit der Auswertung und Erforschung der entsprechenden Artefakte befasst war. Die zweite heuchelte Erstaunen, weil sie von der ersten unter dem Siegel der Verschwiegenheit davon erfahren hatte. Und die dritte war wirklich und wahrhaftig überrascht.
Obwohl Hinnerk schon von dem Gerücht gehört hatte, war auch er hörbar erstaunt.
„Dat is’ ja mol’n Ding!“, murmelte er.
Auch die Wachmänner der Treasure Security zeigten Unruhe. Während die, die im Gang nach draußen standen, nur etwas miteinander tuschelten und verblüffte Blicke austauschten, begannen die vor dem Zugang zur Halle der Geheimnisse, aufgeregt miteinander zu diskutieren.
Mark schüttelte den Kopf. Auf der einen Seite hatte ihn diese Entwicklung geplättet, auf der anderen Seite war sie nichts wirklich Neues. Schließlich hatte die Gerüchteküche laut genug gebrodelt. Also hätte Cassani sich die Geheimniskrämerei, worum es in dieser Versammlung gehen sollte, doch schenken können, nicht wahr? Oder hatte er etwa nicht mitbekommen, dass die Geschichte von der Zeitmaschine schon so weite Kreise gezogen hatte?
Doch daran konnte Mark nicht glauben. Vermutlich hatte er genau gewusst, dass bereits mehrere Meister Bescheid wussten. Da er aber die Identität des Verräters nicht kannte (sofern er es nicht selbst war), konnte er auch nicht sicher sein, dass auch der schon um das Geheimnis der Zeitmaschine wusste. Und warum ein unnötiges Risiko eingehen?
Mark nickte. So musste es gewesen sein.
Da hörte Mark ein Räuspern, dass im allgemeinen Nuscheln und Schnattern beinahe untergegangen wäre. Er sah hinüber zu Salvatore Sentocchio, der verzweifelt versuchte, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
„Wenn ich dann ... äh, wenn ich bitte fortfahren dürfte. Bitte. Äh, hallo? Meine Herren? Wenn ich vielleicht ...“
Nach und nach kehrte wieder Ruhe ein.
Sentocchio griff mit zwei Fingern nach seiner Brille, schob sie etwas nach oben, dann wieder nach unten, und war mit seiner Korrektur erst zufrieden, als sie wieder in der gleichen Stellung auf der Nase saß wie zuvor.
„Danke sehr. Nun, äh, um hier eventuell aufkommende Missverständnisse von vorneherein auszuräumen, möchte ich Sie zunächst auf den ... äh, derzeitigen Stand der Forschungen bringen. Wie Sie wissen, wurde in der Halle der Geheimnisse ein Manuskript von Leonardo da Vinci gefunden. Die Zeichnungen und Skizzen reichten von Fahrzeugen, die bestenfalls eine vage Ähnlichkeit mit der Kutsche haben, über Stühle, Sessel, Rucksäcke, Gestelle, bis hin zu detaillierten Grafiken von technischen Gerätschaften, die wir noch nie gesehen haben, die wir auch in der Kutsche nicht finden konnten und deren Funktion völlig unklar geblieben ist.“
Er nahm einen Schluck Wasser und räusperte sich.
Mark klebte an seinen Lippen. Jetzt, wo Sentocchio offenbar in seinem Element war und kaum noch ein Äh den Redefluss unterbrach, gelang es Mark viel besser zuzuhören.
„Zumindest äußerlich konnten wir diese Geräte nicht finden. Auseinander genommen haben wir die Kutsche bislang nicht. Der Text im Manuskript war, nun ja, ähm, sagen wir: schwierig. Zunächst einmal war er wie viele von da Vincis Arbeiten in Spiegelschrift verfasst. Schnell stellte sich heraus, dass Leonardo eine Verschlüsselung benutzt hat. Mr. Sandford, wenn Sie vielleicht ein oder zwei Sätze dazu, äh, sagen könnten?“
Wie alle anderen auch sah Mark hinüber zu dem Softwaregiganten. Der fuhr merklich zusammen. Dass er zu Wort kommen sollte, war offenbar nicht abgesprochen gewesen.
„Äh, ja, natürlich, Mr. Sentonio“, sagte er, ohne sich dabei von seinem Stuhl zu erheben. Er kratzte sich im Vollbart. „Erst haben wir den Text mit dem Computer gespiegelt und dann eine hoch entwickelte Übersetzungssoftware darüber laufen lassen, die sich allerdings die Zähne daran ausgebissen hat. Es gab unzählige Passagen, die italienisch aussahen, die aber in keinem Wörterbuch und keiner Sprachdatenbank gefunden werden konnten. Wieder andere Passagen waren zwar eindeutig altes Italienisch, widersprachen aber jeder Regel von Satzaufbau, Grammatik oder innerem Sinn. Sätze wie Blumen sagt singen Walfett grünster Todloch. Was auf Italienisch zwar wesentlich melodiöser klingt, aber auch nicht mehr Sinn ergibt.“
Einige der Meister lächelten.
„Wiederum andere Stellen beinhalteten korrekte Sätze, ergaben aber keinen erkennbaren Sinn, wie Der Reiher rollt den Schnee gen Norden. Also ließen wir die ausgefeiltesten Decodierungsprogramme über den Text laufen. Programme, wie ich in aller Bescheidenheit sagen darf, die die Comware selbst entwickelt hat und die sogar von der CIA eingesetzt werden. Ich möchte betonen, dass dies an der Qualität der Programme liegt und nicht an unserer unvergleichlichen Beziehung zur CIA.“
Bei diesen Worten grinste er Peter Lord an, der ihm genau gegenübersaß. Dessen Hängebacken hoben sich jedoch nicht einmal zu einem müden Lächeln.
„Nun, wie auch immer. Obwohl wir die Programme optimiert und in aufwendigen Verfahren gekoppelt haben, waren sie nicht in der Lage, den Text komplett zu entschlüsseln. Derzeit liegen etwa 75 Prozent in Klartext vor. Der Rechner ist derzeit bei seinem letzten Durchlauf, der wird aber nach aktuellem Stand der Dinge noch gute zwei oder drei Wochen dauern und höchstens eine Entschlüsselung von insgesamt 80 Prozent bringen. Die restlichen 20 Prozent ...“
Er zuckte mit den Schultern.
„... tja, die sind entweder so gut codiert, dass wir sie trotz eines technischen Vorsprungs von mehreren hundert Jahren nicht knacken können, oder sie gehören gar nicht zum Code. Es ist denkbar, dass da Vinci sinnlose Zeichen und Wörter eingebaut hat, um eine Entschlüsselung zu erschweren.“
Mit diesen Worten nickte er Salvatore Sentocchio zu, der mit einem Lächeln zurücknickte.
Nach ein paar Sekunden sagte George Sandford: „Das war’s. Mehr hab ich nicht zu berichten, Mr. Sentonio.“
Da erst begriff Sentocchio den Sinn des Nickens. „Oh, ja, natürlich.“
Er blätterte in seinem Stapel Papier umher, rückte seine Brille zurecht, blätterte noch einmal. Dabei warf er sein Wasserglas um, in dem aber nur noch ein Schluck gewesen war. Er gab ein erschrecktes Quieken von sich, griff sich das Glas, hielt es unter die Tischkante und schob ein paar Wassertropfen mit der Handfläche hinein. Dann sah er wieder in die Runde.
„Das Problem, das wir nun haben, liegt vermutlich nicht an den nicht lesbaren 20 oder 25 Prozent des Manuskripts“, fuhr er fort, als er seiner Verwirrung hinreichend Herr geworden war. „Wir gehen nicht davon aus, dass in den fehlenden Passagen Ausführungen enthalten sind, die uns, nun ... äh, weiterbringen als die bisherigen Stellen. Da Vinci lässt sich in seinem Manuskript über das Wesen der Zeit aus, das er aus physikalischer, philosophischer und noch einigen anderen Sichtweisen beschreibt. Er fabuliert über Reisen in Zeit und Raum, stellt theoretische Überlegungen auf, gibt eine sehr vage Bauanleitung für eine Zeitmaschine. Nur, nun ja, wie diese Zeitmaschine funktioniert, wie man sie bedient, wie sie wirkt, was sie kann, das verrät er nicht.“
„Moment mal“, meldete sich Peter Lord, der CIA-Agent, zu Wort. „Verstehe ich das richtig? Wir beißen uns die Zähne an einem Manuskript aus, das ohnehin nichts Vernünftiges aussagt? Wie konnte dann dieser Belgier die Maschine bauen?“
„Holländer“, sagte Sentocchio. „Wir vermuten, dass Gregory van Vos Holländer war. Sicher können wir aber natürlich nicht sein. Um Ihre Frage zu beantworten: Wir wissen nicht, woher van Vos seine Informationen hatte. Die im Manuskript enthaltene Bauanleitung ist zu vage, als dass er sie zugrunde gelegt haben dürfte. Und dass in den restlichen ... äh, 25 Prozent des Textes die entscheidenden Passagen enthalten sind, glauben wir nicht. Nur zur Klarstellung: Die nicht entschlüsselten Textstellen sind nicht zusammenhängend. Sie ziehen sich durch das ganze Manuskript. Das heißt, alleine aus statistischen Gründen müssen wir davon ausgehen, dass auch diese Passagen, nun ja, äh, wenig Wertvolles enthalten.“
Er griff nach dem Wasserglas, doch als er sich daran erinnerte, dass darin nicht mehr viel Trinkenswertes war, stellte er es auf den Tisch zurück.
„Vielleicht ist dieses Manuskript nicht vollständig. Vielleicht gibt es noch ein anderes, in dem ein Bauplan enthalten ist. Wir wissen es nicht.“
Mark hob zaghaft die Hand, doch Sentocchio nahm ihn nicht wahr. Erst als Hinnerk laut und vernehmlich hüstelte, richtete sich Sentocchios Blick auf den Hüter.
„Äh, ja, bitte?“
„Entschuldigen Sie, aber ich verstehe den Sinn noch nicht. Wir haben eine Zeitmaschine, wissen aber nicht, wie sie funktioniert. Wozu soll nun diese Versammlung dienen?“
„Ja, äh, vielen Dank für den Hinweis. Sie haben natürlich vollkommen Recht. Nun, die Mittel, uns von der theoretischen Seite der Maschine anzunähern, haben wir leider ausgeschöpft. Um weiterzuforschen, bleibt uns nur noch ein Weg offen: Wir müssen mit der Maschine experimentieren. Es stellen sich hier aber einige Fragen, die einer eingehenden Erörterung bedürfen. Ist es ethisch verantwortbar, mit einer Technologie, deren Auswirkungen wir nicht abschätzen können, Experimente zu unternehmen?“
Da stand der Großmeister des Ordens, Fabio Cassani, von seinem Stuhl auf.
„Was Salvatore damit sagen will: Sollen wir oder sollen wir nicht von der Maschine Gebrauch machen?“
„Was für eine Frage?“, rief Henry Fullbright und sprang auf. „Natürlich dürfen wir so eine Gelegenheit nicht verstreichen lassen! Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist doch nicht, ob wir die Maschine verwenden, sondern wie wir das tun!“
Cassani sah ihn einen Augenblick schweigend an. Dann sagte er: „Wir sind hier nicht in einem New Yorker Gerichtssaal. Also setz dich und denk nach.“
Fullbright zuckte zusammen und sank auf seinen Stuhl.
Mark war erstaunt, wie widerstandslos sich der Anwalt fügte.
„Niemand weiß, was wir mit dieser Maschine anrichten können. Unsere Aufgabe ist es, die Menschheit vor Übel zu bewahren. Wer garantiert uns, dass wir sie durch Einsatz einer Zeitmaschine nicht erst zum Untergang verdammen?“
„Aber ...“, begann Fullbright mit brüchiger Stimme.
„Das ist keine billige Grusel-Serie, in der der Held ...“ Bei diesem Wort zeigte er auf Mark. „... eine Zeitmaschine findet, in die Vergangenheit reist und den Tag rettet. Das hier ist bitterer Ernst.“
Er stützte sich mit beiden Armen auf den Tisch und sah in die Runde. Sein Blick wanderte reihum von einem Meister zum anderen. Mark hatte den Eindruck, dass er an ihm besonders lange hängen blieb.
„Lasst uns darüber reden. Und anschließend abstimmen.“
So begann eine Diskussion, die zuerst gar kein Ende nehmen wollte, doch schließlich eines fand, das niemand erwartet hätte.
***
Vergangenheit, November 2006
Belphegor Barstow hockte im Schneidersitz mit geschlossenen Augen so auf dem Boden seines Ritualzimmers, dass die Oberschenkel auf den Schenkeln des südlichen Zackens des Pentagramms zu liegen kamen. Die Hände ruhten im Schoß, der Oberkörper wiegte hin und her, vor und zurück. Der Mund war einen Spalt breit geöffnet. Heraus quoll ein monotones Summen.
Im Zentrum des Pentagramms stand ein Holzstuhl, auf dem eine junge, schwarzhaarige Frau saß. Ihre Augen waren aufgerissen, der Blick huschte durch den Raum und auf ihrer Stirn schimmerte ein Schweißfilm. Sie war nicht gefesselt, dennoch bewegte sie sich nicht. Schuld daran war ein Bannzauber, den Barstow gesprochen hatte, bevor er mit dem Ritual begonnen hatte. Er sorgte dafür, dass der Schmutzeimer, wie Barstow die Frau bezeichnete, vom Hals abwärts gelähmt war und auch den Kopf nur eingeschränkt bewegen konnte.
Auf dem Schoß der Frau lag ein Handschuh aus Schweinsleder. Randolphus’ Handschuh!
Barstow und Mephistoteles Brandfugger hatten lange diskutiert, ob der Handschuh wirklich gereinigt werden sollte. Nur zwei oder drei Stunden, nachdem sie sich dazu entschlossen hatten, war Randolphus in den Schwarzen Salon in Mephistos Anwesen gestürmt, ein Strahlen auf dem Gesicht, wie ein Zwölfjähriger, der es zum ersten Mal über sich gebracht hat, ein Mädchen zu einer Cola einzuladen. Es hätte nur noch gefehlt, dass er von einem Bein auf das andere hüpfte.
„Ich hab’s geschafft!“, platzte er heraus. „Und es war gar nicht schwer.“
Barstow und Brandfugger starrten ihn an und sagten kein Wort.
„Ich musste nur die Zeit langsamer ablaufen lassen, dann konnte ich in den Meistern lesen wie in einem offenen Buch.“
Sie warteten weiter. Mephisto kannte Randolphus gut genug, dass er ihm sein kleines Stück vom Selbstbeweihräucherungskuchen gönnte.
„Und sie haben nicht einmal gemerkt, dass ich sie gecannst habe ...“
„Gescannt“, murmelte Barstow.
Vier Minuten lang mussten sie Randolphus’ Geschwafel über sich ergehen lassen, bis er endlich den Namen des Verräters ausgespuckt hatte.
Ihre Befürchtung, dass Randolphus noch weitere Meister scannen musste, hatte sich also als unbegründet erwiesen. So waren sie zunächst unschlüssig, ob sie die Reinigung des Handschuhs tatsächlich durchführen sollten.
Doch als sie in den Nachrichten von dem Massaker erfuhren, das Randolphus in einem Theater angerichtet hatte, war ihnen klar, dass die Schwammwirkung des Handschuhs nicht mehr lange anhalten würde.
Das Problem war nur, dass sie nicht wussten, wann die nächste Versammlung des Ordens stattfinden sollte. Der Verräter hatte sich bisher noch nicht gemeldet.
Auch wenn Randolphus seine Kräfte bis zur Versammlung nicht mehr einsetzen musste, war er dennoch einer stetigen Versuchung ausgesetzt. Doch selbst, wenn er ihr widerstehen konnte, zehrte der Dämonenwahn an seiner Substanz. Ob er aß oder trank, ob er lief oder nur regungslos dastand, selbst wenn Randolphus schlief, saugte sich der Handschuh immer weiter voll. Sekunde für Sekunde, Tropfen für Tropfen nährte er sich vom Wahn und schritt unaufhaltsam auf den Augenblick zu, in dem er durchbrennen würde wie eine alte Sicherung. Seine schützende Wirkung würde wohl noch ein oder zwei Monate anhalten, aber dann würde Randolphus losziehen, seine Kräfte einsetzen und niedermetzeln, was ihm in den Weg kam.
Wenn Barstow und Brandfugger nicht rechtzeitig bemerkten, dass der Handschuh seine Wirkung verloren hatte und es ihnen nicht gelang, Randolphus wieder in sein Verlies zu sperren, mussten sie sogar um ihr eigenes Leben bangen.
Aber egal, ob er sich überfressen oder den Rest seines Lebens verwahrlost und zerzaust in seinem Gefängnis verbringen würde, wenn der Schutz des Handschuhs noch vor der Ordensversammlung zusammenbrach, war Barstows Plan, den Verräter zu beseitigen, gescheitert.
Also kamen sie nach erneuter stundenlanger Diskussion überein, dass Barstow ungeachtet der neuen Situation den Handschuh einem Reinigungsritual unterziehen sollte.
Barstows Summen wurde lauter und schwoll an zu einem dissonanten Gesang. Erste Worte mischten sich unter das Summen, verbanden sich zu Sätzen und schließlich zum Text eines rituellen Liedes.
Es war ein alter etruskischer Zauber, der einst als Inschrift auf einer Bleiplatte in Volterra in der Toskana gefunden wurde. Die Schriftgelehrten in aller Welt rätselten noch über die Bedeutung des Textes, von dem tatsächlich nur auserwählte schwarze Magier wussten, dass es sich um einen Fluch in Form eines Reinigungszaubers handelte. Und die würden das Geheimnis hüten wie einen Staatsschatz.
Belphegor Barstow war einer dieser Wissenden. Auf den ersten Blick handelte es sich nicht einmal um ein schwarzes Ritual. Mit ihm konnte man Menschen von schweren Krankheiten heilen, Häuser und Plätze von einem Spuk befreien, Hexenflüche von einem Menschen nehmen. Das Tückische an dem Zauber war jedoch, dass der Magier ein Gefäß brauchte, das statt des ursprünglichen Trägers die Krankheit oder den Fluch aufnehmen würde. Da das Gefäß zwingend ein Mensch sein musste, wurde das Ritual in der Regel selbst als Fluch verwandt, um zum Beispiel Getreide von der Fäule zu befreien und sie stattdessen einem verhassten Menschen anzuhängen.
Diesmal war es aber kein Korn, das von der Fäule gereinigt, kein Hund, der von der Tollwut geheilt werden sollte. Diesmal war es ein Handschuh. Das Gefäß, das dessen Schmutz aufnehmen sollte, war die schwarzhaarige Frau.
Barstows Stimme wurde drängender, fordernder. Mit geschlossenen Augen stemmte er sich aus seiner Position hoch und hob die Hände über den Kopf.
Plötzlich zuckte der Handschuh. Die leeren Fingerhülsen begannen im Schoß der Schwarzhaarigen zu beben.
Die Frau riss die Augen noch weiter auf, verzog den Mund wie zum Schrei, doch kein Laut kam hervor.
Dann krallte sich der Handschuh an der Bluse der Frau fest - und kletterte nach oben. Zentimeter für Zentimeter schob er sich hoch, erreichte Nabelhöhe, überwand die Brüste, vorbei am Hals und legte sich schließlich mit gespreizten Fingern auf das Gesicht.
Endlich drang ein Laut aus ihrem Mund. Doch was ein Schrei hatte werden sollen, verkümmerte zu einem armseligen Wimmern und wurde vom Leder des Handschuhs so gedämpft, dass es in Barstows Gesang unterging.
Doch auch der wurde leiser und leiser, verwandelte sich zurück in ein Summen und verstummte ganz. Stattdessen lag nun ein leises, aber stetiges Knistern in der Luft wie von einer elektrischen Entladung. Ozongeruch machte sich breit.
Um die Fingerspitzen des Handschuhs tänzelten schmutzig braune Funken.
Als Barstow den panischen Ausdruck in den Augen des Schmutzeimers sah, lächelte er.
Die Frau versuchte, den Kopf hin und her zu werfen und den Handschuh vom Gesicht zu schleudern, doch Barstows Bannzauber ließ keine ruckhaften Bewegungen zu. Und so versandete der Versuch in einem zaghaften Kopfschütteln.
Ihr Herz schlug so kräftig, dass sich das Pochen auf den Stoff ihrer Bluse übertrug. Die rote Seide zitterte kurz, lag wieder still auf ihrem Busen, zitterte, lag still.
Poch - poch - poch.
Doch mit jedem Augenblick, der verging, wurde der Schlag schneller und immer schneller, bis die Seide schließlich gar nicht mehr ruhig lag.
Pochpochpochpoch ...
Was tat sie denn jetzt?
Barstow sah, wie die Schwarzhaarige unter dem Handschuh eine Grimasse schnitt. Spitzte sie die Lippen? Versuchte sie etwa, den Handschuh wegzupusten?
Bei diesem Gedanken brach Barstow in Gelächter aus.
Er war zufrieden. Die Reinigung war im Gange! Jetzt musste er nur darauf achten, dass er das Ritual rechtzeitig beendete, denn sonst würde nicht nur der Dreck des Dämonenwahns auf die Frau übergehen, sondern auch die Bannwirkung des Handschuhs.
Aber das würde Belphegor daran erkennen, dass die Funken die Farbe von schmutzigem Wischwasser verlieren würden. Stattdessen würden sie ...
„Entschuldigen Sie die Störung, Sir“, ertönte eine Stimme hinter ihm.
Barstow zirkelte herum.
Vor ihm stand Quentin Lanfoy, Ghoul und treuer Diener im Hause Barstow.
„Verdammt!“, fuhr Belphegor Barstow ihn an. „Ich hab doch gesagt, ich will nicht gestört werden bei ... dem hier.“ Er machte eine fahrige Handbewegung zu der Frau auf dem Stuhl.
Quentin schielte zu der Frau und leckte sich die Lippen.
„Ich weiß, Sir, und es tut mir aufrichtig Leid. Aber hier ist ein Anruf für Sie. Ich habe versucht, den Herrn auf später zu vertrösten, doch er hat mir eindringlich und glaubhaft versichert, dass es von enormer Wichtigkeit sei und Sie schon sehnsüchtig darauf warteten.“ Er zuckte mit den Schultern. „Entschuldigen Sie, aber ich zitiere nur.“
Da erst sah Barstow das schnurlose Telefon in Quentins Hand.
Der Verräter! Das musste der Verräter sein!
Barstow sah hinüber zum Schmutzeimer. Die Funken um die Fingerspitzen des Handschuhs hatte sich noch nicht verändert. Er hatte sicher noch etwas Zeit, bis es soweit war.
Er seufzte und nahm Quentin das Telefon aus der Hand.
„Danke, du kannst gehen.“
Als Quentin die Tür des Ritualzimmers hinter sich schloss, hielt Barstow den Hörer ans Ohr.
„Sie haben ein wirklich beschissenes Timing!“
„Ja, ich freue mich auch, mit Ihnen zu sprechen“, drang die Stimme aus dem Telefon.
Auch wenn sie wieder verfremdet war, konnte es keinen Zweifel geben: Es war der Verräter.
„Sie erinnern sich noch an unser kleines Abkommen?“
„Natürlich“, fauchte Barstow. „Wie könnte ich das vergessen?“
„Na ja, in ihrem Alter ...“ Ein blechernes Lachen erklang im Hörer. „Nein, keine Sorge, war nur ein Scherz.“
„Wie kommen Sie darauf, dass ich Humor habe? Also, wann ist die Versammlung?“
Für einen Augenblick herrschte Schweigen. „Was haben Sie vor?“
Barstow schnappte nach Luft. „Was soll die Frage? Was ich vorhabe, geht Sie einen Dreck an! Sie sagen mir ja auch nicht, welche Pläne Sie verfolgen! Wollen Sie etwa einen Rückzieher machen?“
„Nein, natürlich nicht.“
„Das wäre auch nicht sehr förderlich für das von Ihnen eingeklagte Vertrauen!“
Wieder lachte der Verräter. „Sie verkennen die Situation, Barstow! Ich habe vor ein paar Monaten lediglich gesagt, dass ich es sehr bedauern würde, wenn Sie mir nicht vertrauen. Es wäre schade, mir aber dennoch egal! Also blasen Sie sich nicht so auf!“
„Ich blase mich auf, so lange es mir passt! Wir haben eine Vereinbarung, Mister Unbekannt! Und die halten Sie gefälligst ein!“
Schweigen am anderen Ende. Dann: „Nun, wenn Sie das so sehen, gebe ich Ihnen einen Rat!“
„Welchen?“
„Lecken Sie mich am Arsch!“
Es ertönte ein Klicken im Hörer.
„Hallo?“
Nichts! Der Verräter hatte aufgelegt.
„Verfluchte Scheiße!“, brüllte Barstow und feuerte das Telefon in den Lesesessel, von wo es hochfederte und auf den Steinboden purzelte.
Wie hatte er sich nur so hinreißen lassen können? Mit seiner Unbeherrschtheit hatte er den ganzen Plan gefährdet! Ach was! Was hieß hier gefährdet? Versaut hatte er ihn! Schlicht und ergreifend versaut!
Die Substanz, die er während der Rituale zur Entweißung des Handschuhs gelassen hatte, Randolphus’ Rückkehr aus seinem Verlies, das Reinigungsritual - all das war nun nicht mehr wert als der eitrige Pickel auf dem Arsch eines Priesters!
Barstow stampfte zur Tür, packte das daneben stehende kleine Tischchen und schleuderte es gegen die Wand. Das trockene Knacken der abbrechenden Tischbeine ging in seinem wilden Schrei unter.
Wie, verdammt noch mal, hatte er sich nur so hinreißen lassen können? Wie? Wie? Wie?
„Verfluchte Scheiße!“, plärrte er noch einmal. „Scheiße, Scheiße, Scheiße!!!“
Da klingelte das Telefon.
Auf den Hacken fuhr er herum und starrte das kleine silberne Ding auf dem Fußboden vor dem Lesesessel an. Nur einen Moment später hetzte er durch den Raum, schnappte sich den Hörer und drückte die grüne Taste.
„Hallo?“, keuchte er hinein.
„Sie klingen so außer Atem!“, stellte die gut gelaunte Stimme des Verräters fest. „Haben Sie die letzten Minuten genutzt, um sich körperlich zu ertüchtigen und dabei ein wenig nachzudenken?“
„Sie haben das vorhin missverstanden ...“
„Das glaube ich nicht. Aber das ist jetzt auch egal. Bevor Sie wieder einen Fehler machen, lassen Sie sich folgendes gesagt sein: Dies ist Ihre letzte Chance! Wenn Sie mir widersprechen, wenn Sie mich unterbrechen, wenn ich den Eindruck habe, dass Sie unaufrichtig sind, wenn Sie sich an der falschen Stelle räuspern, mit anderen Worten, wenn Sie mir auch nur das kleinste Bisschen auf den Sack gehen, werde ich wieder auflegen. Und diesmal wird es endgültig sein. Haben Sie das verstanden?“
„Ja“, flüsterte Barstow.
„Wie bitte? Ich habe Sie nicht gehört!“
„Ja, verdammt! Ich habe verstanden.“
„Sehr gut. Ich wusste doch, dass Sie ein vernünftiger Mann sind. Also, noch einmal: Was möchten Sie mit dem Wissen anstellen, dass ich Ihnen verschaffen soll?“
Hitzewallungen durchfluteten Barstows Körper. Was sollte er sagen? Er konnte schlecht beichten, dass sie einen Attentäter zur Versammlung schicken würden, der den Verräter töten sollte.
Er ging zum Fenster, zog den Vorhang ein paar Zentimeter zur Seite und starrte hinaus in den nächtlichen Garten.
„Wir wollen, äh, ich meine, ich will versuchen, den Versammlungsort vorher so zu ... äh, präparieren, dass ich die Sitzung abhören kann und Informationen über den Orden gewinne.“ Bravo, Belphegor! Diesen Stuss glaubt er dir sicher!
„Was ist denn das für ein hilfloses Gestammel, Barstow? Sie lügen mich doch nicht an?“
„Nein, nein“, beeilte sich Barstow zu sagen.
„Sie planen doch nicht etwa einen Angriff auf den Orden?“
Verdammt, ahnt der Hund etwas? „Nein, natürlich nicht!“
„Das will ich Ihnen auch geraten haben. Schließlich bin ich bei der Versammlung anwesend. Und ich habe keine Lust, um meine Sicherheit fürchten zu müssen!“
„Nein, da seien Sie ganz unbesorgt.“
„Dann will ich Ihnen das mal glauben, Barstow. Aber wenn es doch einen Angriff geben sollte, dann werde ich Sie besuchen kommen. Und dann reiß ich Ihnen das Herz durch Ihr verlogenes Maul heraus, ist das klar?“
„Sonnenklar! Aber ich versichere Ihnen, dass es nicht soweit kommen wird.“ Weil du dann nämlich längst tot sein wirst, du großkotziger Hurensohn!
„Also gut. Die Versammlung findet am 28. Januar um 21 Uhr statt. Und jetzt halten Sie sich fest, der Ort ist Ihnen nämlich schon bestens bekannt: Es ist die Höhle im Kyffhäuser, in der ihr so lange betrauerter Verwandter sein schwarzes Leben gelassen hat.“
„Sparen Sie sich die Häme!“
Der Verräter lachte. „Sie hatten Recht, Barstow. Sie haben wirklich keinen Humor.“
Mit diesen Worten legte er auf.
Belphegor Barstow atmete tief durch. Im Kyffhäuser also. In zwei Monaten.
Das war noch eine lange Zeit. Vielleicht würde der Handschuh noch so lange halten. Vielleicht aber auch nicht. Deshalb war es sicherer, das Reinigungsritual ...
Das Reinigungsritual! Bei Luzifer, das hatte er völlig vergessen!
Er fuhr herum, schloss dabei nicht einmal den Vorhang und glotzte mit großen Augen zu dem schwarzhaarigen Schmutzeimer auf dem Stuhl.
„Nein!“, kreischte er. Er schmetterte das Telefon gegen die Wand, das zersplitterte und in zehn oder elf einzelnen Plastikteilen zu Boden regnete.
Der Schmutzeimer saß wie vorhin auf dem Stuhl, den Kopf im Nacken. Der Handschuh lag auf ihr wie ein erschöpfter Liebhaber. Es waren keine Funken mehr zu sehen, weder in schmutzigem Braun noch in sonst einer Farbe. Sie waren erloschen.
Was das hieß, war Barstow sofort klar. Zu lange hatte er das Reinigungsritual studiert, zu oft hatte er es schon durchgeführt.
Der Handschuh war tot! Er war nur noch ein einfaches, nutzloses Stück Schweinsleder.
Barstow stürzte in das Pentagramm und riss den Handschuh vom Gesicht der Frau.
Ihre Augen waren nur mehr blicklose, gelbliche Murmeln. Auf ihren Lippen lag ein dümmliches Lächeln.
Als wollte er sie zu einem Duell herausfordern, schleuderte Barstow der Schwarzhaarigen den Handschuh ins Gesicht. Einmal, zweimal, dreimal.
„Du dumme Schlampe!“, schrie er sie an. „Du selten dämliches Weibsstück!“
Ohne den Handschuh loszulassen, packte er mit beiden Händen ihren Kopf und brach ihr mit einem Ruck das Genick.
Dann starrte er auf das nutzlos gewordene Stück Leder. Was sollte er jetzt tun? Was, verdammt noch mal, sollte er jetzt tun?
Die Antwort war einfach: Nichts! Er konnte nichts tun! Er konnte nur abwarten und hoffen, dass Randolphus auch ohne den Handschuh lange genug aushalten würde.
Aber was, wenn nicht? Was, wenn er in seinem Wahn über ihn oder Mephisto herfallen würde? Was dann?
Barstow musste unbedingt Mephisto anrufen.
Er starrte die Plastikteile auf dem Fußboden an, die vor wenigen Minuten noch ein Telefon gewesen waren.
Scheiße! Er musste dringend an seiner Unbeherrschtheit arbeiten.
Aber egal, dann würde er eben den Apparat draußen in der Halle benutzen.
Bevor er das Ritualzimmer verließ, drehte er sich noch einmal um und schaute auf die Leiche der Frau.
„Miststück!“, fauchte er noch einmal. Dann rief er quer durchs Haus: „Quentin, Essen ist fertig!“
***
Aermrinh lächelte, als er die Verbindung zu Belphegor Barstow trennte.
Es war riskant gewesen, vorhin einfach aufzulegen. Aber Barstows anschließender devoter Tonfall hatte gezeigt, dass ihm unglaublich viel daran lag, den Termin der Versammlung zu erfahren. Das hieß, dass er tatsächlich etwas plante. Und das war ganz sicher keine Abhöraktion.
Der 28. Januar 2007 würde der Tag sein, an dem er auf seinen alten Freund Randolphus Brandfugger treffen würde. Da war er sich sicher.
Aber er würde vorbereitet sein.
Who can say
what’s wrong or right
(Blind Guardian, Time What Is Time)
3. Kapitel:
Eine Frage der Moral
Vergangenheit, Dezember 2006 - Letztes Zwischenspiel der Meister
„Das hier ist die wichtigste Abteilung unserer Anlage“, sagte Reinhold Strössner und stieß eine zweiflüglige Glastür auf. Seine hohe Stimme hallte in dem gefliesten Gang wieder. „Die Kantine!“
Dieter Feldmann und Stephen Falk, die zwei Schritte hinter ihm gingen, lächelten.
Die Ordensmeister machten einen Rundgang durch den Entwicklungskomplex von Strössners Firma. Wenn Strössner nach seinem Betätigungsfeld gefragt wurde, antwortete er gerne mit: „Ich entwickle PKWs: Panzer, Knarren und sonstige Witwenmacher!“
Als Strössner seine Führung mit diesen Worten begonnen hatte, hatte sich auf Stephen Falks Gesicht ein verständnisloser Ausdruck breit gemacht. Und das hatte nicht daran gelegen, dass Falk als Australier der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig gewesen wäre, um das humoristische Potenzial dieses Satzes zur Gänze zu begreifen.
Denn auch Dieter Feldmann hatte nicht gelacht - und der war Schweizer.
Die gut 400 Personen, die in dem großen, schmucklosen Bau am Stadtrand von Berlin arbeiteten, stellten die Waffen nicht selbst her. Die Produktionsanlagen von Strössners Firma waren zwar über die ganze Welt verstreut, aber hier im Hauptsitz befanden sich nur die Verwaltung, die Entwicklung - und seit neustem ein sehr spezieller Trainings- und Testparcours für die Missionsteams der Treasure Security.
Da der Orden davon ausging, dass den Missionsteams in Zukunft eine größere Rolle zukommen würde, hatte er beschlossen, noch zwei oder drei weitere Einrichtungen wie die in Berlin strategisch über den Erdball zu verteilen. Mit dem Bau der ersten sollte nächstes Jahr in den USA begonnen werden.
Deshalb waren Stephen Falk und Dieter Feldmann hier, um sich ein Bild von der Anlage zu machen. Stephen Falk, weil er als weltweit operierender Bauunternehmer grundsätzlich für die Bauvorhaben des Ordens herangezogen wurde. Dieter Feldmann, weil er als Eigentümer eines der größten privaten Schweizer Bankhäuser für die Verwaltung und stetige Vermehrung des Ordensvermögens zuständig war.
Natürlich würden mehrere Subunternehmer und Kreditinstitute zwischengeschaltet werden, um die Verflechtungen zu verschleiern, aber letztlich würden die Investitionen wie immer ordensintern abgewickelt werden.
„Du willst mir nicht sagen, dass ich von Sydney nach Berlin geflogen bin, um mir anzusehen, wie ich eine Kantine zu bauen habe, oder?“, fragte Stephen Falk.
Sein Deutsch war grammatikalisch einwandfrei, fast schon geschliffen, seine Aussprache klang jedoch, als hätte er einen heißen Kieselstein im Mund.
„Nein, natürlich nicht“, sagte Strössner. „Aber das ist der kürzeste Weg zum nächsten Aufzug.“
Als sie die Kantine durchquerten, folgten ihnen die Blicke aller Anwesenden, was vermutlich an Falks abenteuerlichem Äußeren lag. Sein sonnengebräuntes Gesicht zierte nämlich ein imposanter blonder Vollbart, der ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Dan Haggerty in seiner Rolle als Grizzly Adams verlieh. Auch seine Kleidung erinnerte weniger an ein Mitglied eines Ordens als an Daktari.
Die Ordensmeister verließen die Kantine auf der anderen Seite und folgten dem sich anschließenden Gang.
„Was ich euch zeigen möchte, ist das Herzstück der Anlage. Wie ihr vielleicht wisst, bereiten sich die Missionsteams der Treasure Security im Bannister-House bei London auf ihre Einsätze vor“, sagte Strössner.
„Einsätze? Sind die nicht noch in der Aufbauphase?“, unterbrach ihn Dieter Feldmann.
„Stimmt. Aber wie man hört, macht Team ALPHA gute Fortschritte. Die beiden anderen Teams hinken noch hinterher, aber sie wurden auch erst später zusammengestellt. Für Team ALPHA dauert es aber sicher nicht mehr lange bis zur ersten Mission.“<!--[if !supportFootnotes]-->[1]<!--[endif]-->
Strössner strich sich die Haartolle aus dem Gesicht, die ihm diagonal in die Stirn hing, doch sie fiel sofort wieder herunter.
„Im Bannister-House spielen sie verschiedene Szenarien durch, trainieren Kondition und Teamverständnis und so. Den Kampf gegen echte Dämonen können sie dort natürlich nicht üben. - So, hier müssen wir rechts.“
Sie kamen an eine T-Kreuzung, bogen rechts ab und standen wenige Meter später vor dem Aufzug.
„Was ist nun der genaue Bedeutungsgehalt deiner Worte?“, fragte Stephen Falk im Fahrstuhl.
„Das hast du aber schön formuliert“, leierte Strössner und drückte auf den Knopf mit dem K.
„Er ist ein Poet, gefangen im Körper eines zu stark behaarten Wildhüters“, sagte Feldmann und grinste.
„Nun“, fuhr Strössner fort, „wie ihr wisst, gibt es viele verschiedene Arten dämonischen Gezüchts. Es gibt Vampire, Werwölfe, Dämonenwölfe, Ghouls. Es gibt Schwarzmagier, Widergänger und Wesen, die so einzigartig sind, dass sie nicht einmal einen Gattungsnamen haben.“
Strössner beobachtete die Etagenanzeige des Aufzugs, während er sprach. Feldmann zeigte größeres Interesse an seinen Fußspitzen, wohingegen Falk zu Strössner sah.
„Das Problem ist, dass sich all diese Kreaturen unterschiedlich vernichten lassen. Pfähle, geweihtes Silber, Weihwasser, Zauberrunen, magische Tinkturen. Sie alle wirken von Wesen zu Wesen anders.“ Er zuckte mit den Schultern und erwiderte Falks Blick. „Oder auch gar nicht.“
Es hallte ein Pling durch die Aufzugskabine und die Tür öffnete sich.
Vor ihnen öffnete sich ein langer, steril wirkender Gang, der in unregelmäßigen Abständen von Quergängen und Türen unterbrochen wurde. Neben jeder der Türen befand sich eine Tastatur.
„Ich geh einfach mal vor“, meinte Strössner und schlenderte nach links. Blicklos passierten sie drei oder vier der gesicherten Türen. „Die Vielseitigkeit der dämonischen Gegner macht es den Einsatzteams schwer, richtig bewaffnet in eine Auseinandersetzung zu gehen. Deshalb experimentieren wir mit Munition, die von allem ein wenig enthält. Geweihtes Silber, Eichenholz, kleine magische Runen. Wir testen unterschiedliche Zusammensetzungen und verschiedene Rituale, um die Kugeln zu weihen, aber natürlich auch die ballistischen Eigenschaften, Durchschlagkraft und Stabilität.“
Ein paar Meter vor ihnen öffnete sich eine Tür. Herausgestapft kam ein Mann, wie man ihn eher in einem Dschungelkriegsfilm erwartet hätte. Er trug militärische Tarnkleidung, einen leeren Patronengurt und ein genauso leeres Waffenholster. Sein Gesicht war mit braunen und grünen Streifen beschmiert. Das war aber nicht der einzige Grund, warum er zum Fürchten aussah. Auch sein Gesichtsausdruck hätte einen schreckhaften Menschen umgehend in die Flucht geschlagen.
„Das ist Matthew Harper“, sagte Reinhold Strössner. „Er leitet das Team ALPHA und ist mit seiner Mannschaft zu einem Übungsdurchgang im Haus.“
Strössner ging mit ausgestreckter Hand auf Harper zu. Der ging jedoch nicht darauf ein, sondern packte Strössners Handgelenk mit der Linken und klatschte ihm mit der Rechten ein Pistolenmagazin in die Hand.
„Wenn Sie mich nicht mögen und umbringen wollen, dann schießen Sie mir das nächste Mal in den Kopf“, bellte er. „Aber versuchen Sie es nie wieder, indem Sie uns mit diesen Knallerbsen ausrüsten. Wäre das ein echter Einsatz gewesen, hätte sich die TS nach einem neuen Team ALPHA umsehen müssen.“
Strössner starrte mit offenem Mund auf das Magazin in seiner Hand. Für einige Sekunden erfüllte nur das leise Summen der Klimaanlage den Gang.
„Äh“, erwiderte Strössner dann. Nach einigen Sekunden des Überlegens fügte er ein „Öh“ hinzu.
Noch bevor er sich auf weitere wichtige Wörter der deutschen Sprache besinnen konnte, war Harper davongerauscht und hinter der nächsten Gangabzweigung verschwunden.
Strössner sah Feldmann und Falk abwechselnd an, lächelte verkrampft und ließ das Magazin in seine Jackentasche gleiten. Dann strich er sich die Tolle aus der Stirn (mit dem gleichen Erfolg wie vorhin) und versuchte die Haarbüschel über seinen Ohren mit der flachen Hand in die Frisur zurückzudrücken.
„Nun ja, wir sind noch in der Entwicklungsphase, aber ich bin sicher, dass wir das beizeiten in den Griff bekommen.“
Dann drehte er sich um und ging durch die Tür, durch die Matt Harper gekommen war.
Falk und Feldmann grinsten sich an und folgten ihrem Kollegen.
Sie gelangten in einen Raum, der an Schmucklosigkeit kaum zu überbieten war. Er war etwa drei Meter breit, dafür aber gute zehn Meter lang. Mittendrin standen ein Tisch und ein paar Stühle.
In eine der Längswände war ein riesiges Fenster eingelassen, das sich fast über die ganze Wand erstreckte. Daneben war eine Metalltür zu sehen, auf der in großen gelben Buchstaben stand: „Zugang zum Trainingsgelände! Benutzung des Aufzugs nur durch autorisiertes Personal!“
Falk ging zu dem Fenster und pochte mit dem Zeigefingergelenk dagegen.
„Wundervolle Aussicht!“, sagte er. Womit er allerdings leicht übertrieb, denn er konnte nur zwei Zentimeter weit schauen.
„Wenn dir das schon gefällt“, sagte Strössner, „dann warte erst mal ab, bis der Rollladen offen ist.“
Er ging zu einem Schaltkästchen, auf dem zwei Knöpfe zu sehen waren. Einer mit einem Pfeil nach oben und einer mit einem nach unten.
Strössner räusperte sich. „Es ist mir eine Ehre, euch unseren Trainingsparcours vorstellen zu dürfen. Vorhang auf!“
Er drückte auf den Knopf mit dem Pfeil nach oben.
Geräuschlos fuhr der Rollladen hoch und gab den Blick auf ein Gelände frei, das man kaum in einem Keller erwartet hätte.
Etwa zehn Meter unter ihnen erstreckte sich ein abwechslungsreich gestaltetes Gebiet von der Größe von vielleicht zwei, drei Fußballplätzen. Die Meister sahen ein paar Hütten, einen Kinderspielplatz samt Sandkasten und einige Meter weiter dichtes Gestrüpp. Es gab Rasenflächen, ein paar Autos, die anscheinend wahllos über die Gegend verteilt waren, und Bäume, die bis fast unter die Decke reichten.
Ob Bäume, Sträucher oder Gras künstlich waren, konnte man vom Beobachtungsraum aus nicht sagen, aber es sah alles verdammt echt aus.
„Geräumiger Keller“, murmelte Feldmann.
Direkt unter ihnen, am Beginn des Geländes, befanden sich drei Schießstände. Dort, wo sonst der Platz für die Schützen war, standen vier Männer mit weißen Kitteln. Zwei von ihnen hielten Pistolen in der Hand. Die vier waren in eine hitzige Diskussion verwickelt.
Strössner öffnete eine Klappe unterhalb des Fensters. Er schnappte sich den Telefonhörer darin und drückte auf den einzigen Knopf des Displays.
Einer der Weißkittel löste sich aus der Gruppe und ging zu einer Metallsäule neben dem Schießstand. Auch hier war eine Mulde für einen Hörer eingelassen, den sich der Mann nun ans Ohr hielt. Dabei sah er zum Fenster hoch und winkte kurz.
„Was war denn los?“, fragte Strössner. „Harper war furchtbar aufgebracht!“
Er lauschte in den Hörer, während der Weißkittel heftig gestikulierend etwas erklärte.
„Ich verstehe ... ja, aber warum ... Sie hätten doch aber ... Ja, verstehe ...“
Plötzlich nahm sein Kopf die Farbe eines gekochten Hummers an.
„Was? Serie 3/b war noch gar nicht freigegeben! Die hätten Serie 2/b testen sollen!“ Strössners ohnehin schon hohe Stimme überschlug sich nun beinahe. „Welcher Idiot hat das veranlasst? - Glauben Sie, wir bezahlen Ihnen soviel, dass Sie hier Menschenleben gefährden? Das nächste Mal können Sie das Team durch den Parcours begleiten! Würde mich wundern, wenn Ihnen das Ihren Leichtsinn nicht austreiben würde.“
Während Strössner weiter schimpfte, wurden die Gesten des Weißkittels immer sparsamer und erlahmten schließlich ganz. Bald stand er mit hängenden Schultern da und ließ das Donnerwetter seines Chefs über sich ergehen.
Nach drei Minuten hatte er es hinter sich.
Strössner jammerte noch etwas über die Inkompetenz seiner Mitarbeiter, gab dem Weißkittel ein bis zwei Tiernamen und legte dann mitten im Satz auf. Mit einem lauten Seufzen drehte er sich zu seinen Kollegen um.
Feldmann runzelte die Stirn. „Ich muss gestehen, ich verstehe die Aufregung nicht ganz.“
„Dieser Trottel da unten hat dem Missionsteam die falsche Munition ausgegeben! Sie war bisher noch nicht auf Wirksamkeit getestet worden.“
„Das ist mir klar. Aber ist das denn so schlimm? Das ist schließlich nur ein Trainingsparcours!“
„Ja! Aber ein besonderer!“
Plötzlich konnte Strössner wieder lächeln. Erneut griff er nach dem Telefonhörer und drückte den Rufknopf.
Diesmal ging ein anderer der Weißkittel an den Apparat.
„Demonstrieren Sie mir bitte ein paar Schuss der 3/b“, sagte Strössner und hängte auf. Dann wandte er sich Falk und Feldmann zu. „Richtet eure Aufmerksamkeit auf die Ziele.“
Einer der Weißkittel drückte am Schießstand auf einen Knopf und hinten, wo die Zielscheibe hätte sein müssen, öffnete sich ein Tor.
„What the fuck ...“, murmelte Falk und starrte aus dem Fenster.
Auch Dieter Feldmanns Kiefer sank nach unten.
Auf dem Schießstand gab es keine Zielscheiben. Weder runde Zahlenscheiben, noch Pappkameraden. Stattdessen standen im Zielbereich zwei dicke Holzstämme - und ein nackter Mann, der mit Ketten dazwischen gespannt war.
Mit verzerrtem Gesicht riss er an den Fesseln.
Der Weißkittel legte an und zielte.
„Ist der wahnsinnig?“, schrie Feldmann. „Was treibt ihr denn hier? Ihr könnt doch nicht ...“
Doch es war zu spät.
Der Weißkittel drückte ab.
Obwohl sie keinen Knall hörten, sahen die Ordensmeister, wie der Rückstoß der Waffe dem Schützen die Hand ein wenig nach oben riss. Sie sahen, wie ein Loch in die unbehaarte Brust des Mannes gestanzt wurde und hinter ihm Gewebefetzen gegen die Wand klatschten.
Doch der Mann starb nicht! Stattdessen wurde er kurz ruhig, blickte nach unten zur Brust und begann dann um so heftiger an den Ketten zu zerren.
„Was ...?“, begann Feldmann.
„Wie gesagt: Die Munition dieser Serie funktioniert noch nicht so, wie wir wollen. Das, was ihr da unten seht, ist kein Mensch, sondern ein Dämon. Kein besonders hoch stehender. Nun ja, um genau zu sein: einer von der niedersten Sorte. An ihnen testen wir die Wirksamkeit der Munition. Wir haben auch ein paar Vampire und anderes Geschmeiß vorrätig.“
„Das ist ja widerlich!“
„Widerlich? Warum? Das sind Dämonen! Wir sind der Orden. Der Orden vernichtet Dämonen. Also, was ist daran widerlich?“
„Nun ja, dass ... dass ...“
„Ich sehe keinen Unterschied, ob sie der Hüter oder die TS im Kampf töten, oder ob wir es hier zu Forschungszwecken tun. So oder so dezimieren wir Asmodis Fußvolk. Wo liegt das Problem?“
Feldmann schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Es kommt mir irgendwie ... na ja, falsch vor.“
„Woher bezieht ihr eure Testobjekte?“, wechselte Falk das Thema.
„Manche werden beschworen, manche fangen wir. Das geht natürlich nur, weil es sich um weitestgehend unbedeutende Kreaturen handelt, mit denen auch wir oder die Männer des TS-Wachdienstes fertig werden.“
Strössner machte eine weitschweifige Armbewegung.
„Das ganze Gelände da unten ist weißmagisch gesichert. Die Schwarzblütler können nicht entkommen. Für Trainingszwecke setzen wir ein paar der Dämonen aus und schicken das Missionsteam rein.“
„Bedeutet das nicht eine zu große Gefahr für die Teams?“, wollte Falk wissen.
Er sah Feldmann an, der immer noch mit angewidertem Gesichtsausdruck durch das Fenster starrte. Gerade konnte er beobachten, wie Mitglieder der TS-Wachmannschaft dem Dämon einen Mundschutz umschnallten, ihm die Arme auf den Rücken fesselten und ihn abführten.
Bei Falks Frage verzog Strössner das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. „Nicht, wenn die Munition funktioniert! Außerdem haben wir überall Sicherheitskräfte in weißmagisch gesicherten Verstecken, die jederzeit eingreifen können.“
Strössner hüstelte verlegen.
„So, wie es vorhin wohl der Fall war!“
Feldmann drehte sich vom Fenster weg und sah Strössner in die Augen.
„Ich verstehe trotzdem nicht, was das soll“, sagte er. „Ich hab noch nie von Anti-Terror-Teams gehört, die sich mit echten Terroristen in einen Raum sperren lassen, um realistischer üben zu können.“
„Wir sprechen hier nicht von Terroristen! Das sind Kreaturen der Hölle! Da muss man andere Maßstäbe anlegen!“
Feldmann nickte. „Eben! Statt den Feind gleich zu vernichten, wird er erst gefangen genommen! Alleine das stellt ein Risiko dar. Genauso, wie sie den Missionsteams als Sparringspartner zur Verfügung zu stellen. Weißmagische Absicherung hin, Wachmannschaften her. Mal ganz davon abgesehen, dass ich das Ganze für moralisch höchst bedenklich halte. Natürlich sind das Dämonen. Natürlich müssen sie bekämpft werden. Aber sie zu fangen und dann für Forschungszwecke abzuschlachten, halte ich für verwerflich.“
„Glaubst du, die Dämonen hätten auch solche Vorbehalte?“
„Nein, aber ich finde es richtig und wertvoll, dass es Dinge gibt, in denen wir uns von den Schwarzblütlern unterscheiden. Würden wir mir deren moralischer Einstellung an die Sache herangehen, wären wir nicht besser als sie. Bevor ich die Mittel für weitere solche Anlagen genehmige, muss ich mich eindringlich mit Fabio darüber unterhalten.“
„Was?“ Strössners Gesicht lief wieder rot an. Seine Ohrläppchen glühten. „Soll das heißen, du willst den Kampf gegen die Schwarze Familie blockieren?“
Feldmann winkte ab. „Blödsinn! Ich will gar nichts blockieren. Ich will mit Cassani nur über die Zweckmäßigkeit dieser Maßnahmen sprechen.“
Strössner schüttelte den Kopf und die Haarsträhne, die ihm diagonal in die Stirn hing, machte aufgeregte Sprünge.
„Ich versteh deine Ablehnung nicht! Wir müssen bestmöglich gerüstet sein! Stephen, sag doch auch was!“
Falk sah ihn nur an und zuckte mit den Schultern.
Strössner ächzte. „Versteht ihr denn nicht, was davon abhängt, eine gut vorbereite Truppe zu haben? Vergiss den Hüter! Die Missionsteams sind die Zukunft!“
„Was soll das denn nun wieder heißen?“
„Na was wohl? Wenn die TS in der Vergangenheit erst mal richtig aufgeräumt hat, brauchen wir in der Gegenwart keinen Hüter mehr! Wenn sie ... Oh, verdammt!“
Strössner schlug die Hand vor den Mund.
„Vergesst es“, murmelte er, nachdem er die Hand wieder weggenommen hatte. „Ist nicht so wichtig.“
„Nein, nein! So nicht, mein Freund! Was meinst du mit: Wenn die TS in der Vergangenheit aufgeräumt hat?“
Strössner ging zum Tisch und ließ sich auf einen der Stühle plumpsen. Sein Blick ging zu Boden. Seine langen Finger tanzten im Schoß hin und her.
„Na ja, ihr kennt doch sicher auch die Gerüchte“, hauchte er schließlich.
„Welche Gerüchte?“
„Die über die Kutsche von Leonardo da Vinci.“
Falk schüttelte den Kopf.
Feldmann starrte Strössner in die Augen, doch der musterte weiterhin den PVC-Boden.
„Na gut, aber sagt niemandem, dass ihr es von mir wisst. Die Kutsche ist ... na ja, sie ist eine Zeitmaschine. Denkt nur, was wir für Möglichkeiten hätten!“
Sein Kopf ruckte wieder hoch. In seinen Augen lag ein begeisterter Glanz.
„Wir könnten schwer bewaffnete, top ausgebildete Teams in eine Vergangenheit schicken, in der diese Waffen noch gar nicht bekannt sind. Wie leicht müsste es ihnen fallen ...“
***
Gegenwart
„... das Dämonengezücht auszurotten! Versteht ihr? Wenn wir die Missionsteams in ausgewählte Zeiten schicken, können sie mehr bewirken, als fünf Missionsteams in der Gegenwart. Wir könnten dafür sorgen, dass es bei uns kaum noch ernst zu nehmende Gegner gibt.“
Strössner fuchtelte mit seinen Pianistenhänden in der Luft herum, als er zum ungefähr fünften Mal an diesem Abend seinen Standpunkt klarmachte.
Mark seufzte in sich hinein.
Seit fast zwei Stunden diskutierten die Meister nun über die Frage, ob der Orden Leonardos Maschine erforschen sollte oder nicht. Und seit ungefähr einer Stunde wiederholten sich die Argumente. Sie unterschieden sich nur noch in Grammatik und Wortwahl, nicht jedoch im Inhalt.
Mark sah hinüber zu Dieter Feldmann, der gleich wieder das Wort ergreifen würde - so wie jedes Mal, wenn Strössner seine Utopien verkündet hatte.
Doch diesmal schüttelte er nur den Kopf. Sein sonst so sorgfältig nach hinten gekämmtes, fast weißes Haar stand wirr ab.
Er hat resigniert, dachte Mark.
„Dein Plan klingt verlockend, Reinhold“, sagte stattdessen Jason Bright. „Aber er hat eine kleine Schwäche: Er ist Spekulation. Auf meiner Liste, welche denkbaren Auswirkungen Eingriffe in die Vergangenheit haben, steht diese Möglichkeit ganz weit unten. Ich hatte das Vergnügen, für diese Versammlung einige Hausaufgaben zu machen und für Fabio Unterlagen zusammenzustellen, wie in der Geschichte der Literatur und des Films Zeitreisen bisher behandelt wurden.“
Brights Widerworte trieben Strössner eine ungesunde Röte ins Gesicht. „Warum steht diese Möglichkeit auf deiner Liste ganz unten? Du hast auch nicht mehr Ahnung als ...“
Bright hob die Arme und lächelte. „Langsam, Reinhold. Langsam. Wir alle haben deine Argumente, aber auch die Standpunkte der anderen gehört. Ich denke, es ist an der Zeit, die letzten zwei Stunden zusammenzufassen. Weitere sechzig Minuten Diskussion werden kaum neue Erkenntnisse bringen.“
Er sah sich um. Die meisten Ordensmeister nickten.
Mark zwinkerte ihm dankbar zu und lächelte.
Bright lächelte zurück.
In diesem Augenblick stand Salvatore Sentocchio auf und trat zum Tisch. „Nun ja, äh, wie Sie meinen. Also, wenn ich die Diskussion zusammenfassen müsste, dann ... äh, würde ich sagen, dass die Standpunkte doch sehr unterschiedlicher Natur waren und ...“
„Du sagst es, Salvatore.“ Fabio Cassani legte dem dürren Männlein eine Hand auf die Schulter und schob es zur Seite. „Und deshalb wird Jason das tun. Einverstanden, Salvatore?“
„Äh, nun ... ja, sicher. Natürlich.“
Bright schmunzelte den Großmeister an und stand auf. „Danke, Fabio. Nun, die Diskussion hat gezeigt, dass wir zwei grundlegende Dinge unterscheiden müssen.“
Er legte den rechten Zeigefinger auf den linken.
„Erstens: Welchen Nutzen kann die Zeitmaschine für uns haben?“
Dann legte er den rechten Zeigefinger auf den linken Mittelfinger.
„Zweitens: Welche Auswirkungen haben Eingriffe in die Vergangenheit für die Gegenwart? Daraus ergibt sich die Frage ...“
Jetzt war der linke Ringfinger an der Reihe.
„... ob der Nutzen die Folgen aufwiegt.“
Er sah in die Runde und nahm Blickkontakt zu fast jedem einzelnen Ordensmeister auf.
Mark beobachtete die Beteiligten genau. Trotz aller Aufregung, in die ihn die Existenz der Zeitmaschine versetzt hatte, vergaß er nicht, dass einer der Meister ein Verräter war. Auch Christines Worte, dass einer von ihnen - Mark oder Hinnerk - die Schwelle des Todes überschreiten würde, gingen ihm ständig durch den Kopf.
Er fühlte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Nervosität? Ein Zeichen dafür, dass Christines Worte kurz davor standen, sich zu erfüllen?
Doch wie würde das geschehen? Würde sich der Verräter zu erkennen geben und die Meister oder den Hüter attackieren?
Mark hoffte, rechtzeitig etwas zu entdecken, das ihm helfen konnte, das Schlimmste zu vermeiden. Döste Lucio Carrabba, der faltige Kardinal des Vatikans, tatsächlich vor sich hin oder war es nur die Schauspielerei eines Verräters? Aber dieser alte Mann? War das wahrscheinlich?
Starrte Strössner so wütend in die Runde, weil er seine Argumente nicht noch einmal vorbringen durfte, oder war er sauer, weil die geballten Sicherheitsvorkehrungen ihm einen Angriff erschwerten?
Was war mit Henry Fullbright? Seit er nach seinem verbalen Ausbruch von Cassani so angeschnauzt worden war, hatte er kein Wort mehr gesagt. Flackerte sein Blick deshalb durch die Höhle, weil Fullbright von den unzähligen Argumenten so verwirrt war? Wartete er auf etwas? Überlegte er, in welcher Reihenfolge er die Anwesenden töten würde?
„Diese drei Punkte lassen sich nicht unabhängig voneinander beurteilen“, fuhr Bright fort. „Welche Möglichkeiten und Gefahren bieten also Zeitreisen?“
Er sah einen Augenblick George Sandford an und blickte wieder in die Runde.
„George vertritt die Auffassung, dass Zeitreisen keinerlei Wirkung haben.“
Mark sah Sandford nicken.
„Die Vergangenheit ist vergangen und somit geschehen. Alles, was sie beeinflussen könnte, ist bereits passiert. Nehmen wir an, ich besteige morgen eine Zeitmaschine, reise zwei Tage in die Vergangenheit und komme hierher in die Höhle. Aus unserer heutigen Sicht wäre also mein morgiges Ich bereits gestern hier gewesen.“
Bright zeigte auf die Höhlenwand zu seiner Rechten.
„Nehmen wir weiter an, ich pinsle ein großes X an diese Wand. Aus unserer heutigen Sicht wäre das bereits gestern geschehen, auch wenn ich erst morgen zu meiner Reise aufbreche. Das heißt, das X wäre jetzt an dieser Wand sichtbar.“
Er lächelte Sandford an.
„Ein logisches Argument und einem Software-Hersteller würdig. Reinholds Plan, die Dämonen in der Vergangenheit zu bekämpfen und sie dadurch aus unserer Gegenwart zu radieren, kann also nicht funktionieren. Egal, aus welch ferner Zukunft wir die Missionsteams in die Vergangenheit schicken würden, aus unserer heutigen Sicht wären sie bereits dort gewesen und hätten die Schwarzblütler vernichtet. Was, wie wir alle wissen, aber nicht der Fall ist.“
Bright machte eine kleine Pause.
Mark fiel auf, dass er dabei Reinhold Strössner nicht aus den Augen ließ. Vielleicht fürchtete er ein erneutes Aufbegehren des Waffenproduzenten, weil dessen Lieblingstheorie erneut herabgewürdigt wurde. Doch der hielt sich zurück.
„Unterstellen wir für einen Augenblick, Georges Argumentation wäre richtig. Was brächten uns also Zeitreisen? Nicht viel, könnte man meinen. Wir könnten Hitler durch den Mord an seiner Mutter genauso wenig verhindern, wie Arnold Schwarzenegger die Geburt John Connors verhindern konnte.“
Mark musste bei diesem Vergleich grinsen. Das verwirrte Gesicht von Ruben Hernandez zeigte ihm allerdings, dass der vermutlich nie einen Teil der Terminator-Reihe gesehen hatte.
„Das Attentat auf John F. Kennedy könnten wir genauso wenig verhindern, wie die Tatsache, dass Italien letztes Jahr Fußball-Weltmeister wurde.“
Bright schmunzelte Fabio Cassani an, doch dessen Gesicht blieb regungslos.
„Was also brächten Zeitreisen? Die Antwort lautet: Informationen! Kennedy ist tot, also können wir das Attentat nicht verhindert haben! Aber vielleicht waren wir ja Augenzeugen? Wer weiß? Vielleicht entdeckt man mich oder George irgendwo in der Menschenmenge, wenn man sich die alten verwackelten Filme ansieht. Vielleicht beschließen wir in einigen Monaten, in die Vergangenheit zu reisen, um herauszufinden, was damals wirklich geschah, und sind deshalb heute schon auf den Filmen zu sehen?
Wenn ich daran denke, welche Möglichkeiten mir das für meine Romanrecherchen gäbe, werde ich ganz kribbelig.“
Einige der Meister lachten. Selbst Strössner musste lächeln. Nur Fullbright verzog keine Miene und sah hektisch in der Höhle umher.
Mark runzelte die Stirn und beschloss, ihn etwas genauer zu beobachten.
„Sicherlich mag der eingeschränkte Nutzen solcher Zeitreisen ein Nachteil sein. Aber da alle Ereignisse der Vergangenheit bereits geschehen sind, selbst wenn sie von einem zukünftigen Reisenden ausgelöst wurden, können wir sicher sein, dass die Gegenwart, wie wir sie kennen, vor der versehentlichen Änderungen oder gar der Zerstörung geschützt ist. Das wäre ein nicht zu unterschätzender Vorteil.
Noch einmal: Es wäre uns also nicht möglich, in das New York des Jahres 1962 zu reisen und das Attentat an Kennedy zu verhindern.“
Strössner lachte. „Vielleicht solltest du tatsächlich besser recherchieren! Kennedy wurde 1963 ermordet. Und zwar in Dallas, nicht in New York.“
Bright sah ihn an und lächelte. „Richtig. Dazu konnte es aber nur kommen, weil wir das Attentat in New York verhindert haben.“
Mark war verwirrt. In den Gesichtern der Meister konnte er erkennen, dass er nicht der Einzige war, dem es so erging.
„Die Frage ist: Kommen wir mit der Logik in Georges Argumentation überhaupt weiter? Ist es für einen normal denkenden Menschen logisch, dass der Ablauf der Zeit von der Geschwindigkeit abhängt, mit der man sich bewegt? Meines Erachtens nicht! Dennoch ist es laut Herrn Einstein so. Können wir also, wenn es um Fragen der Zeit geht, mit Logik argumentieren? Ist Georges Argumentation richtig, nur weil sie logisch klingt?“
Bright schaute fragend in die Runde.
„Nehmen wir einmal an, John F. Kennedy wäre tatsächlich 1962 in New York erschossen worden. Wir benutzen die Zeitmaschine, setzen den Attentäter rechtzeitig außer Gefecht und verhindern so Kennedys Tod. Wir kehren zurück in die Gegenwart und müssen feststellen, dass Kennedy dennoch ermordet wurde. Und zwar 1963 in Dallas.
Können wir uns so etwas vorstellen? Jeder geschichtlich Interessierte weiß, dass JFK 1962 erschossen wurde. Wir machen unseren Ausflug in die Vergangenheit und nach unserer Rückkehr kann sich niemand mehr an das tatsächliche Datum erinnern. Stattdessen weiß jeder, dass er 1963 gestorben ist. Nicht einmal wir selbst wissen von dem ursprünglichen Mord, weil wir ihn ja verhindert haben und er dadurch nie geschehen ist.
Können wir uns so etwas vorstellen? Ich bin ehrlich: Ich kann es nicht. Und ich bin Schriftsteller! Ich kann mir verdammt viel vorstellen!“
Wieder lachten die meisten Ordensmeister. Wieder tat es Fullbright nicht.
„Doch können wir diese Möglichkeit auszuschließen, nur weil wir sie uns nicht vorstellen können? Sicher nicht. Wenn wir nun Georges Modell von der unabänderlichen Vergangenheit verwerfen und stattdessen das eben genannte als das richtige annehmen, ist es sehr viel schwieriger, die richtige Entscheidung zu treffen. Wir wissen nämlich nicht, was wir alles anrichten könnten. Natürlich könnten wir Reinholds Vorschlag folgen und versuchen, die Dämonen in der Vergangenheit zu töten. Natürlich könnten wir versuchen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Aber wie heißt es so schön? Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Vorsätzen!
Lasst uns in die Vergangenheit reisen und das Dritte Reich ungeschehen machen. Lasst uns Hitlers Mutter umbringen oder mit einem anderen Mann verkuppeln, so dass ihr Sohn nie geboren wird.
Um uns von unserem Erfolg zu überzeugen reisen wir nicht gleich in die Gegenwart zurück, sondern erst einmal ins Jahr 1945. Wir finden ein blühendes Deutschland vor. Wir haben unzählige Menschenleben gerettet!
Doch was ist, wenn wir dadurch ausgerechnet die Frau retten, deren noch ungeborener Sohn zu einem Diktator wird, der nicht nur Teile, sondern die ganze Welt in Schutt und Asche legt? War es dann wirklich klug, Hitler zu verhindern?“
Mark schwirrte der Kopf. Als er zu Beginn dieses Abends von der Zeitmaschine erfahren hatte, hatte er doch tatsächlich gedacht, man könne sich einfach hineinsetzen und Gutes tun.
Jason Bright grinste Mark an. „Verwirrend, stimmts?“
Mark nickte.
„Aber es wird noch besser! Ich habe vorhin gesagt, selbst wir können uns nicht mehr an Kennedys ursprünglichen Tod erinnern, weil wir ihn verhindert haben. Stellen wir uns vor, wir könnten uns doch daran erinnern. Alle anderen, die keine Zeitreise gemacht haben, wissen nichts von dem Mord in 1962. Für sie ist Kennedys Todesjahr 1963. Wir aber kennen die ursprüngliche Vergangenheit. Wir kennen aber auch die neue Vergangenheit. Wie oft könnten wir in die Historie eingreifen und unsere Erinnerung duplizieren, bevor wir völlig den Überblick darüber verlieren, was die aktuelle Vergangenheit ist und was eine mögliche, aber von uns verhinderte?“
Bright trank einen Schluck Wasser, bevor er fortfuhr.
„Aber es kommt noch dicker, denn es gibt noch ein anderes erquickliches Thema: Zeitparadoxa. Wir alle kennen diese Gedankenspiele. Ich reise in die Vergangenheit und töte meinen Großvater. Dadurch werde ich nie geboren, kann folglich nicht in die Vergangenheit reisen, um meinen Großvater zu töten. Er überlebt also, ich werde doch geboren und reise in die Vergangenheit, um ihn zu töten. Dadurch werde ich nie geboren, und so weiter und so fort.
Erwartet von mir nicht, dass ich euch einen Lösungsansatz präsentiere. Ich habe keinen.
Es soll uns nur zeigen, dass das Thema Zeitreisen so komplex ist, dass man mit jeder weiteren Minute, die man darüber nachdenkt, auf noch dümmere Ideen kommt.
Können wir uns in der Vergangenheit selbst besuchen und uns vor der Hochzeit mit der Frau warnen, die wir morgen kennenlernen werden? Können wir unser vergangenes Ich töten?
Können wir ein zweites Mal zurückreisen und uns daran hindern, Adolf Hitler ungeschehen zu machen? Ein interessantes Gedankenspiel. Heute reise ich zurück, um das Dritte Reich zu verhindern. Morgen reise ich zurück, um mich selbst davon abzuhalten, weil das das Ende der Menschheit bedeuten könnte. Stellen wir uns vor, es gelingt mir. Wer garantiert mir, dass nicht übermorgen jemand, der das Ende der Menschheit will, in die Vergangenheit reist, um mich davon abzuhalten, mich davon abzuhalten, das Dritte Reich zu verhindern? Und nächste Woche reist noch jemand hinterher, um ihn daran zu hindern.
Mit anderen Worten: Ist die Vergangenheit bei der Existenz einer Zeitmaschine überhaupt jemals sicher? Laufen wir nicht immer Gefahr, dass alles geändert werden kann, selbst wenn der Verändernde erst in Tausenden von Jahren seine Reise unternimmt?
Mit seiner Maschine hat Leonardo uns eine ungeheure Verantwortung aufgebürdet. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass sie nicht in falsche Hände gerät. Und zwar nicht nur heute oder in den nächsten hundert oder tausend Jahren, sondern für immer! Denn was bedeutet Zeit für jemanden, der so eine Maschine sein Eigen nennt?“
Bright angelte einen Halsbonbon aus der Hosentasche.
„Sorry, aber ich bin es nicht gewohnt, so lange zu reden. Da liegt mir das geschriebene Wort doch mehr. Ich will euch aber nicht mehr lange aufhalten. Ich möchte eure Aufmerksamkeit nur noch auf ein anderes Modell lenken, das in der Diskussion noch gar nicht erwähnt wurde.“
Er kramte etwas in seinen Unterlagen.
„Wie einigen von euch bekannt sein dürfte, gibt es eine Theorie, nach der sich die Wirklichkeit ständig in neue Wirklichkeiten aufteilt. Jedes Mal, wenn ein Ereignis verschiedene Folgen haben kann, spaltet sich die Realität und in jedem neuen Zweig tritt eine dieser Folgen ein. Das passiert ständig, zu jedem Zeitpunkt, an jedem Ort. Die daraus resultierenden Realitäten sind sich anfangs noch sehr ähnlich, doch je weiter und häufiger sie sich verzweigen, umso größer werden die Abweichungen.
Ich bin gestern mit dem Flugzeug nach Deutschland gekommen. Stellen wir uns vor, eine der Turbinen hatte einen kleinen Fehler. In den meisten Wirklichkeiten hat sich das nicht ausgewirkt. In anderen musste der Pilot notlanden, mit wiederum unterschiedlichen Folgen. In ein paar Realitäten ist das Flugzeug abgestürzt und ich bin dabei umgekommen.
Es gibt Realitäten, in denen letztes Jahr England Weltmeister geworden ist. Es gibt welche, in denen Hitler als Maler erfolgreich geworden ist und andere, in denen er nie geboren wurde. Es gibt Welten, in denen der Zweite Weltkrieg noch heute tobt, und solche, in denen er nie stattgefunden hat.
Realitäten, in denen die Saurier die Herren der Welt sind, weil der Komet, der sie ausgelöscht habt, an der Erde vorbeigezogen ist. Realitäten, in denen er die Erde so heftig getroffen hat, dass es darauf überhaupt kein Leben mehr gibt.
Welten, in denen die Briten auf der rechten Straßenseite fahren, die USA von der Weltmacht Malta unterdrückt werden und Suaheli Weltsprache ist. Es gibt vielleicht sogar Welten, in denen Stephen King erfolgreicher ist als ich.
Alles ist möglich!
Was ist, wenn wir mit Reisen in die Vergangenheit nur neue Realitätszweige erschaffen, ohne die alten dabei zu verändern? Was, wenn wir nicht mehr auf unseren Zweig zurückfinden?
Stellt euch einen Käfer vor, der auf einem winzigen Zweig eines riesigen Baumes hockt. Er muss immer nur geradeaus zurücklaufen und wird zwangsläufig zur Wurzel gelangen. Wenn er dort umkehrt, wird er sich bei unzähligen Gabelungen entscheiden müssen, welchen Weg er nimmt. Ich behaupte, es ist ihm unmöglich, seinen Zweig wiederzufinden.“
Mark riss die Augen auf. Daran hatte er überhaupt nicht gedacht!
„So unterschiedlich all diese Modelle auch sein mögen, so haben sie doch eines gemeinsam: Es sind lediglich Theorien. Vielleicht trifft eine davon zu. Vielleicht ist es auch eine Mischung aus allen Theorien. Vielleicht ist es aber in Wahrheit auch ganz anders. Viel einfacher oder viel skurriler. Vielleicht sind Zeitreisen überhaupt nicht möglich. Wir wissen es nicht. Die Frage ist nun: Sollen wir es herausfinden oder nicht?“
Jason Bright sah noch einmal in die Runde, dann nahm er wieder Platz.
Gleichzeitig stand Fabio Cassani auf. „Danke, Jason. Kommen wir zur Abstimmung. Mark Larsen?“
Mark fuhr zusammen. „Was?“
„Wie stimmen Sie?“
Mark sah Hinnerk an, der in seinen Bart grinste.
Er hätte nie damit gerechnet, als erster sein Votum abgeben zu dürfen. Nun ja, streng genommen hatte er nicht einmal damit gerechnet, überhaupt etwas beitragen zu dürfen.
Und dann noch so schnell! Brights Vortrag war gerade vorüber, und schon sollte er sich entscheiden?
Du wirst dir doch innerhalb der letzten zwei Stunden eine Meinung gebildet haben!
Er legte die Hände aufeinander und dachte nach. Wie sollte er abstimmen?
Niemand von ihnen wusste, wie sich Zeitreisen auswirken würden. Niemand! Sämtliche Theorien, so wohlklingend sie auch sein mochten, waren nicht mehr als das: Theorien! Die Aufgabe des Ordens war es, die Menschheit vor dem Bösen zu schützen. Konnten sie es da verantworten, Experimente zu veranstalten, deren Auswirkung niemand auch nur abschätzen konnte?
Anderseits würden die Wissenschaftler, die mit der Erforschung betraut werden würden, mit allergrößter Vorsicht vorgehen. Und wenn sich abzeichnete, dass ihnen die Sache über den Kopf wuchs, konnten sie es immer noch stoppen.
Außerdem: Er suchte immer noch die Waffe, mit der er laut Prophezeiung Asmodi vernichten konnte. Was sollte er tun, wenn er sie nicht fand, weil er nicht einmal wusste, worum es sich dabei handelte? Hätte er eine Zeitmaschine, könnte er in die Vergangenheit reisen und Jesus fragen.
Gut, ganz so einfach wäre das sicher nicht, aber dennoch: Es wäre eine Möglichkeit!
War es vertretbar, hierfür in den Lauf der Zeit einzugreifen und wer weiß was anzurichten? Konnte man es riskieren, den Lauf der Geschichte zu verändern? Zum Besseren, aber vielleicht auch zum erheblich Schlechteren?
Aber mal ehrlich: War das wahrscheinlich? War das Universum so ein fragiles Gebilde, dass eine Maschine alles zerstören konnte?
Mark knetete die Hände. Er atmete tief durch.
Dann sah er Fabio Cassani in die Augen.
„Ich stimme dafür. Lasst uns die Maschine erforschen!“
***
Vor drei Tagen
Mephistoteles Brandfugger sah von seiner Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf und schoss ein paar giftige Blicke in den Schwarzen Salon.
„Könntest du damit aufhören, mir Spuren in den Teppich zu laufen?“
„Entschuldige“, sagte Belphegor Barstow und blieb stehen. „Ich bin ein klein wenig angespannt.“
„Ich auch. Aber das ist kein Grund, mir den Perser dünn zu latschen.“
Barstow setzte sich in einen der Sessel, goss sich einen großzügig bemessenen Cognac ein und leerte das Glas in einem Zug.
Seit das Ritual zur Reinigung des Handschuhs fehlgeschlagen war, gehörte er gewissermaßen zum Mobiliar in Brandfuggers Haus. Er fürchtete, dass ihr Plan daran scheitern könnte, dass der Verräter im falschen Augenblick angerufen hatte und er, Barstow, sich dabei so aufgeregt hatte, dass er darüber den entscheidenden Moment des Rituals verpasst hatte.
Also saß er seit mehreren Wochen Mephisto auf der Pelle - und beobachtete Randolphus.
Sie hatten den vergessenen Brandfugger eindringlich ermahnt, bis zu seinem großen Auftritt keinen Gebrauch von seinen Fähigkeiten zu machen. Da der aber nach wie vor davon ausging, dass der Handschuh wirkte, konnten sie ihm schlecht erklären, warum sie das von ihm wollten. Also hatten sie ihm ein Menü aufgetischt, zubereitet aus weich gekochten Erklärungen über Unauffälligkeit und garniert mit zähen Vorträgen über die Notwendigkeit, verräterische Spuren zu vermeiden. Zum Dessert kredenzten sie ihm zuckersüße Versprechungen von Asmodis Vergebung. Um jedoch Vergebung zu bekommen, musste Randolphus vorsichtig sein! Schließlich wollte er Asmodi doch nicht die ganze Überraschung verderben, oder?
Die Tage tropften dahin wie Harz. Ständig rechnete Barstow damit, dass Randolphus erneut dem Dämonenwahn verfallen und mit irrem Grinsen das Haus dem Erdboden gleich machen würde.
Doch nichts geschah.
Noch nicht!
Je näher der Tag der Ordensversammlung rückte, desto größer wurde Barstows Hoffnung, dass alles den geplanten Ausgang nehmen würde.
Doch dann hatte er gemeint, die ersten Veränderungen an ihm festzustellen. Oder bildete er sich das nur ein? Randolphus war ohnehin nie ein Ausbund an Ruhe und Ausgeglichenheit gewesen, aber war er nicht zappeliger und nervöser als bisher? Leckte er sich nicht zu oft die Lippen, so als liefe ihm vor Appetit das Wasser im Mund zusammen? Und die Augen! War ihr Blick nicht starrer und dennoch wilder als noch vor ein paar Tagen?
Barstow stellte den Cognac-Schwenker auf den Tisch zurück.
„Ich mache mir Sorgen, dass wir Randolphus zu früh an den Dämonenwahn verlieren.“
„Behalt die Nerven“, schnarrte Brandfugger. „Die Versammlung ist in drei Tagen. Morgen verlässt uns mein lieber Neffe, um sich mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen. Er hält schon noch so lange durch.“
„Aber wer weiß, was er in den nächsten zwei Tagen anstellt, wenn wir ihn nicht zur Vorsicht ermahnen können? Wenn er sich seinem Drang ergibt, bricht er womöglich zu früh zusammen!“
Brandfugger zuckte mit den Schultern. „Dann ist unser Plan eben gescheitert und wir brauchen einen neuen. Wichtig ist nur, dass wir aus dem Schneider sind und Asmodi nicht merkt, dass wir gegen seinen Willen gehandelt haben. Wenn Randolphus noch vor der Versammlung von uns geht, wird er das nicht merken.“ Er machte eine Pause. „Das wäre mir sogar lieber, als wenn er die Versammlung überleben würde.“
Barstow nickte. „Auch wieder wahr. Sehen wir es positiv: Wir riskieren nicht sein Misstrauen, weil wir ihm einen falschen Handschuh aufschwatzen müssen.“
„So ist es!“
Brandfugger legte die Zeitung zusammen und warf sie auf den Tisch.
„Und nun sollten wir ihn zu uns bitten und ihm ein paar letzte Anweisungen mit auf den Weg geben. Soll ich dir was sagen? Ich habe ein gutes Gefühl! In ein paar Tagen wird der Verräter tot sein und mit etwas Glück auch der eine oder andere Meister. Und soll ich dir noch was sagen? Irgendwie glaube ich sogar, dass es ihm gelingen wird, den Hüter zu töten!“
Now I'm stronger and so cold
cold as ice)
(Blind Guardian – Welcome to dying)
4. Kapitel:
Tod dem Verräter!
Fabio Cassani kritzelte nach Marks Votum etwas auf den Zettel vor sich.
„Hinnerk Lührs?“, fragte er dann.
Hinnerk räusperte sich. „Ich vertraue auf das Urteil des Hüters. Deshalb stimme ich für die Erforschung der Maschine.“
Wieder krakelte Cassani etwas auf den Zettel.
„George Sandford?“
„Da ich glaube, Zeitreisen bringen ohnehin nichts, bin ich dagegen.“
Ein Nicken, ein Kritzeln.
Auch Mark machte sich eine innerliche Notiz. Vielleicht konnte das Abstimmungsverhalten der Meister Hinweise auf den Verräter geben. Da der zu den Bösen gehörte, würde er sicherlich gegen die Maschine stimmen, weil sie eine zu große Gefahr für Asmodi und seine Schergen darstellte. Auf der anderen Seite: Falls eine Zeitreise wirklich zu Chaos führen würde, müsste das doch im Interesse der Schwarzen Familie sein, oder etwa nicht?
„Reinhold Strössner?“, hörte Mark Fabio Cassani fragen.
„Meine Meinung ist hinreichend bekannt. Lasst uns Asmodi bekämpfen, wo er nicht mit uns rechnet: In der Vergangenheit! Ich bin dafür!“
Drei zu eins für die Maschine, dachte Mark. Das schien eine klare Angelegenheit zu werden.
Plötzlich war da wieder dieses Kribbeln in seinem Nacken. Ein Zeichen seiner Anspannung?
„Nicolas Gainsbourg?“
„Die Maschine birgt wissenschaftliches Potenzial, das wir nicht einfach verschenken dürfen. Ich stimme dafür.“
Die Härchen in Marks Nacken richteten sich auf. Ein eisiger Hauch huschte über seine Haut. Was war nur los?
Er fühlte sich beobachtet!
„Ruben Hernandez?“
„Wir müssen jede Chance nutzen, die wir haben. Wir können uns nicht nur auf die ...“ Ein Zögern. „... Fähigkeiten des Hüters verlassen. Ich bin für die Erforschung.“
Mark drehte sich auf seinem Klappstuhl um, soweit es ihm möglich war, aber er konnte nichts Auffälliges entdecken. Er schaute den Gang entlang, der zur Halle der Geheimnisse führte. Einer der TS-Wachmänner lächelte ihn an, ein paar andere lauschten der Abstimmung. Die meisten jedoch versuchten in Sachen Pokerface den Wachen vor dem Buckingham Palace Konkurrenz zu machen.
„Als nächstes gebe ich meine eigene Stimme ab“, sagte Cassani. Da erst fiel Mark auf, dass der Großmeister bei der Abstimmung in der Reihenfolge der Sitzordnung vorging. „Ich stimme dagegen.“
Wenn Mark sich nicht verzählt hatte, stand es nun fünf zu zwei für Leonardo da Vinci.
Mark sah zu dem Stollen, der nach draußen führte. Auch hier war alles ruhig. Kein Anzeichen einer Gefahr. Die Wachmänner lehnten zum Teil an den Höhlenwänden. Einer bohrte mit verträumtem Gesichtsausdruck in der Nase.
„Lucio Carrabba?“
„Wir haben unsere Aufgabe sehr lange auch ohne neumodische Technik erfüllt. So sollten wir es weiterhin handhaben. Ich stimme dagegen.“
Mark fragte sich, ob man eine Erfindung von Leonardo da Vinci als neumodische Technik bezeichnen konnte, sagte aber nichts.
Wieder drehte er den Kopf.
Auch im Gang zu Barbarossas Saal war es ruhig. Keiner der Anwesenden wirkte übernervös. Nichts deutete auf eine drohende Gefahr hin.
Dennoch war irgendetwas nicht in Ordnung! Aber was?
„Peter Lord?“
„So eine Maschine ist auf Dauer nicht geheim zu halten. Wenn erst einmal bekannt wird, dass sie funktioniert, wird die Schwarze Familie alles daran setzen, sie zu bekommen. Ich stimme dagegen.“
Der Vorsprung schmolz zusehends dahin.
„Entschuldigt mich einen Augenblick“, murmelte Mark und stand auf.
Fabio Cassani warf ihm einen mürrischen Blick zu, ging aber gleich wieder zur Tagesordnung über.
„Henry Fullbright?“
„Was? Oh ja, Entschuldigung. Äh, ich bin dagegen.“
Cassani stutzte. „Warst du vor der Diskussion nicht noch ein begeisterter Befürworter?“
„Jetzt bin ich dagegen.“
Cassani zuckte mit den Schultern und kritzelte auf seinen Zettel. „Dieter Feldmann?“
„Ich glaube, bei gewissenhaftem Umgang mit der Verantwortung, kann die Maschine eine unglaubliche Chance darstellen. Ich stimme dafür.“
Mark stand mitten im Raum und sah sich unschlüssig um. Dann ging er ein paar Schritte in den Gang hinein, der zum Höhlenausgang führte.
Bereits nach wenigen Metern stellte er fest, dass alles in Ordnung war. Die Tür nach draußen war verschlossen, der Stollen von Wachmännern beinahe überfüllt. Was sollte hier schon passieren? Aber warum hatte er dann so ein ungutes Gefühl, verdammt noch mal?
„Jason Bright?“, hörte er Cassanis Stimme aus dem Ratssaal.
„Ich muss gestehen, dass meine Schriftsteller-Fantasie mit mir durchgeht. Ich kann mir unzählige Szenarien ausmalen. Die wenigsten davon gefallen mir. So reizvoll Zeitreisen wären, stimme ich dagegen. Tut mir Leid.“
„Stanley Henley?“
„Mir geht es wie Jason. Zeitreisen mögen ein faszinierendes Thema für Filme sein. Aber in der Realität sind die Risiken zu groß, als dass man damit herumspielen sollte. Deshalb stimme ich dagegen.“
Mark betrat wieder den Ratssaal.
Na toll! Nach seiner Zählung gab es jetzt sechs Stimmen für, aber bereits sieben gegen die Erforschung. Nur noch ein Meister blieb übrig und der konnte bestenfalls für ein Unentschieden sorgen. Was würde dann passieren?
Mark blieb mitten im Saal stehen.
Was nun?
Sollte er sich die anderen Gänge auch noch ansehen?
Nein, das war unnötig! Die Halle der Geheimnisse war so sicher, wie sie nur sein konnte. Und in Barbarossas Saal lag nur der alte Rotbart und schlief.
Moment mal!
Vielleicht war er wieder aufgewacht! Wie schon vor knapp einem dreiviertel Jahr.
„Stephen Falk?“
Während Mark das Gangsystem zu Barbarossas Saal betrat, hallte ihm Falks Antwort nach.
„Die tatsächlichen Risiken sind gemessen an dem bestenfalls vermuteten Nutzen als zu hoch zu werten. Ich stimme dagegen.“
Na super! Das war’s also. Da spielt einem das Schicksal eine Zeitmaschine in die Hände und der Orden ist feige!
Mit deutlich weniger Elan schlurfte Mark in Barbarossas Höhle.
Der alte Kaiser schlief! Natürlich! Er lag auf seiner steinernen Ruhestätte, die Hände vor der Brust um den Schwertgriff gelegt. Die Waffe lag auf ihm wie ein zu langer, martialischer Schlips.
Mark stellte sich neben den Rotbart und musterte ihn.
Hier war es noch eine Spur kälter als im Ratssaal. Eine Gänsehaut huschte Mark über den Rücken, die Arme und den Nacken. Und da war auch wieder dieses Kribbeln!
„Was soll ich denn jetzt machen? Wenn ich nur wüsste, was hier nicht in Ordnung ist! Warum hab ich nur so ein beschissenes Gefühl?“
Natürlich erwartete Mark keine Antwort. Er hatte bisher nur ein einziges Mal mit Barbarossa gesprochen, letztes Jahr, als der für einen Augenblick aus seinem Schlaf erwacht war. Und da war er nicht wirklich bei Sinnen gewesen! Er hatte Mark doch tatsächlich für einen alten Weggefährten gehalten.
Mark schüttelte die Erinnerung weg und lächelte.
Die Vorstellung war absurd! Er, Mark Larsen, ein alter Weggefährte eines Mannes, der vor über achthundert Jahren gestorben ... na ja, entschlafen war. Wie sollte so etwas gehen? Dazu bräuchte er ja ...
... eine Zeitmaschine!
Marks Kopf ruckte Richtung Ratssaal.
Das konnte nicht sein! Die Erforschung von Leonardos Kutsche war gerade abgelehnt worden!
Oder?
Würde er vielleicht doch irgendwann einmal in Barbarossas Zeit reisen und ihn dort kennen lernen?
Hätte Mark gewusst, wie nah er damit der Wahrheit kam und wie meilenweit er dennoch davon entfernt war, wäre er wahrscheinlich in den Versammlungssaal gestürmt und hätte seine sofortige Pensionierung beantragt.
Die Ordensmeister hätten sich diesem Antrag aber im Augenblick nicht sehr hingebungsvoll widmen können, denn plötzlich hörte Mark, wie draußen im Ratssaal die Hölle losbrach!
***
Es war ein skurriles Bild, das sich einem Wanderer in den Wäldern des Kyffhäuser geboten hätte. Ein Bild, von dem er am Stammtisch unbedingt seinen Freunden hätte erzählen müssen. Was natürlich nicht möglich gewesen wäre, da er dafür nicht lange genug gelebt hätte ...
Im käsigen Licht des Monds saß ein Mann auf einer Bank, dessen Garderobe und Frisur schon bessere Zeiten gesehen hatte. Sein Hemd war zerrissen und blutverschmiert, die Haare wirr und verdreckt.
Mit dem Oberkörper machte er sanfte Wiegebewegungen zur Melodie eines unhörbaren Liedes.
„Asmodi wird zufrieden sein“, murmelte er. „Oh ja, sehr, sehr zufrieden wird er sein mit mir.“
Speichel rann ihm aus dem Mundwinkel und seilte sich an einem silbern schimmernden Faden vom Kinn in den Schoß.
„Wenn nur dieser Hunger nicht wäre. Dieser dumme, dumme Hunger.“ Wieder wiegte er den Oberkörper hin und her und her und hin und summte dazu die Melodie eines Kinderliedes. „Aber bald wird Asmodi mir verzeihen. Dann gibt es keinen Hunger mehr. Nein, nein und nein.“
Er schleuderte den Handrücken der rechten Hand auf die Kante der Bank.
„Warum wirkt dieser dumme, dumme Handschuh nicht mehr? Ich dürfte doch gar keinen dummen, dummen Hunger haben! Dürfte ich nicht, oh nein, dürfte ich nicht! Aber ich hab ihn! Stimmts, Jungs?“
Er blickte auf.
Um die Bank herum standen gut dreißig Männer. Eishockey-Spieler. Tote Eishockey-Spieler, um genau zu sein.
Die meisten trugen noch ihre Helme, ein paar hatten auch noch ihre Schlittschuhe an. Einer umklammerte sogar noch seinen Schläger.
Sie alle boten ein wahres Sammelsurium grauenhafter Verletzungen. Einer hielt seinen abgerissenen linken Arm in der rechten Hand, ein anderer hatte eine aufklaffende Bauchhöhle, aus der Reste von Gedärm hingen, wieder ein anderer war verunstaltet von einem riesigen Krater im Kopf, als hätte ihm ein Raubtier das Gesicht weggebissen.
Was nicht völlig falsch war! Nur, dass dieses Raubtier auf zwei Beinen ging und Randolphus Brandfugger hieß.
Kaum war er in Ehernau eingetroffen, hatte er wieder diesen nagenden Hunger verspürt. Wie vor ein paar Monaten, nachdem er den Wachmann des Ordens ausgefragt hatte.
Dabei hatte er seine Fähigkeiten doch diesmal gar nicht eingesetzt! Genauso wie Barstow und Onkel Mephisto es von ihm verlangt hatten.
Er wollte nur die Höhle beobachten. Sehen, wie viel Sicherheitspersonal zum Einsatz kam. Zwei Tage lang alles studieren, was um die Höhle herum vor sich ging.
Er war noch nicht einmal in die Nähe der Höhle gekommen, da hatte er sich gemeldet: der Hunger. Er nagte an seinen Eingeweiden, seinem Widerstandsvermögen und seinem Verstand.
Doch Randolphus durfte ihn nicht stillen! Auch das hatten Barstow und Mephisto ausdrücklich verboten. Er durfte seine Fähigkeiten nicht vor der Versammlung einsetzen und er durfte seinen Hunger nicht stillen.
Er durfte nicht!
Andrerseits: Onkel Mephisto war weit weg. Für ihn zählte nur das Ergebnis. Und das hieß: Tod dem Verräter! Er würde gar nicht merken, wenn Randolphus gegen das Verbot verstieß!
Niemand konnte von ihm erwarten, noch zwei lange Tage diesen Hunger auszuhalten. Niemand! Nicht einmal Onkel Mephisto!
Aber ...
Nichts aber! Er würde nur ein klein wenig naschen. Mehr wollte er nicht. Nur etwas naschen. Einen kleinen Imbiss nur!
Also marschierte er, angelockt von der Beleuchtung, schnurstracks zu einer Eissporthalle, wo er die Mannschaft des ERC Ehernau beim Abschlusstraining vorfand.
Aus dem Imbiss wurde eine vollwertige Mahlzeit, aus der Mahlzeit ein reichhaltiges Buffet, aus dem Buffet unkontrollierte Völlerei.
Noch bevor er sich dessen bewusst wurde, war er wie im Rausch. Er wütete unter den Spielern, genoss den frischen Geschmack des Blutes, das herbe Aroma der Angst. Er riss, schlang, biss, zerschmetterte, fetzte und fraß.
Und hätte sich beinahe überfressen!
Er spürte, wie die Lebensenergie der Sportler seine Lust erfüllte, sie gleichzeitig aber auch anschürte. Er gierte nach mehr, immer mehr. Mehr Energie. Mehr Lust. Mehr Blut. Er fühlte, wie sein Tank voller und voller wurde.
Und wie er schließlich überlief!
Es hätte nicht viel gefehlt und er wäre zerplatzt wie eine Tomate, die man aus dem fünften Stock auf die Straße warf. Doch kurz bevor es dazu kommen konnte, stand seine rechte Hand plötzlich in Flammen.
Zumindest fühlte es sich so an.
Ein mörderisches Brennen jagte durch seine Finger. Wie eine wütende Bestie schoss der Schmerz durch seinen ganzen Körper - und verdarb ihm den Appetit.
Mit einem Mal war Randolphus wieder klar im Kopf.
Er wusste natürlich nicht, dass Barstow den Handschuh in einem Ritual in ein totes Stück Tierhaut verwandelt hatte. Besser gesagt: in ein beinahe totes Stück Tierhaut. Denn die jämmerlichen Reste seiner Energie, die nicht einmal Barstow hatte erkennen können, hatte der Handschuh in diesem Augenblick noch einmal vereint und sich in einem letzten Aufbäumen gegen den Dämonenwahn gestemmt.
Instinktiv wusste Randolphus, dass der Handschuh nun zerstört war. Er würde ihm nicht mehr helfen können.
Ausgerechnet jetzt, wo er vollgestopft war mit der Energie seiner Opfer. Er fühlte, wie es in ihm brodelte. Er musste die überschüssige Energie loswerden, wenn er nicht krepieren wollte! Dieses verdammte fremde Leben in ihm musste verschwinden! Irgendwohin! Egal wohin. Hauptsache weg!
Aber wie sollte er das anstellen?
Da fielen ihm die Leichen der Eishockey-Spieler ein.
Ohne zu wissen, was er da tat oder wie er es machte, öffnete er sich. Das überschüssige Leben floss aus ihm heraus und ergoss sich in die Spieler.
So schuf Randolphus versehentlich eine kleine Armee von Widergängern. Schnell stellte er fest, dass sie ihm aufs Wort gehorchten. Das hing vermutlich damit zusammen, dass ihnen der Funke des untoten Lebens von Randolphus eingepflanzt worden war. Die Energie, die sie in sich trugen, kam zwar ursprünglich aus ihnen selbst, war aber inzwischen zu der von Randolphus geworden.
Vielleicht hatte es auch einen anderen Grund, aber darum scherte Randolphus sich einen Dreck. Hauptsache, die Kerle gehorchten.
In diesem Augenblick reifte ein Plan in Randolphus heran!
Von Anfang an hatte er sich wegen der Wachmänner Sorgen gemacht. Er wusste nicht, wie viele der Orden aufbieten würde, aber sicherlich wären es mehr als eine Handvoll.
Unter normalen Umständen wäre er wohl auch mit einer großen Anzahl fertig geworden. Das hatten ihm seine bisherigen Speisungen deutlich gezeigt. Nur waren die Umstände alles andere als normal!
Erstens: Der Orden würde wohl kaum Restaurantgäste, Autoverkäufer oder Versicherungsvertreter als Wachpersonal einsetzen. Er musste also mit erheblich mehr Schwierigkeiten rechnen als bei seinen bisherigen Festbanketten.
Zweitens (und das war das größte Problem): Die Ereignisse in der Eishalle hatten ihn gelehrt, dass er seine Fähigkeiten nicht mehr uneingeschränkt einsetzen konnte. Er hielt nicht mehr so lange durch, musste häufiger Pausen einlegen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, wieder außer Kontrolle zu geraten. Gerade eben hatte ihn der Handschuh noch einmal gerettet, aber irgendwie wusste er, dass sich das nicht wiederholen würde.
Folglich konnte er seinen Angriff nicht komplett bei gebremster Zeit durchziehen. Er würde immer wieder in den normalen Ablauf zurückkehren müssen. In diesen Augenblicken war er angreifbar, verletzlich.
Doch nun hatte er seine Armee! Die würde ihm gute Dienste leisten.
Als Randolphus mit seiner Gefolgschaft aus der Eishalle zog, lag ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht.
Das ihm bereits nach wenigen Stunden wieder verging!
Der Hunger kam zurück, drängender und qualvoller als je zuvor. Doch diesmal wusste Randolphus, dass er nicht nachgeben durfte. Er wusste, dass es für ihn dann keine Rettung mehr gäbe.
Die nächsten Tage wurden für Randolphus zu einer Tortur. Anfangs gelang es ihm noch, sich mit der Beobachtung der Höhle zumindest zeitweise abzulenken, doch bald nagte der Drang an ihm wie ein hungriger Köter an einem Knochen.
Und jetzt saß er hier auf einer Bank und versuchte sein Verlangen ein letztes Mal in den Griff zu bekommen.
Du musst dich auf deine Aufgabe konzentrieren!
Ja, ich muss diese dumme, dumme Versammlung sprengen, den Verräter töten - und fressen!
Reiß dich zusammen! Wichtig ist der Verräter! Und Asmodis Vergebung.
Asmodi hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich zwei oder drei der Meister fresse, sie aufreiße, meine Zähne in ihr saftiges Fleisch schlage und ...
Schluss jetzt! Reiß dich zusammen, in Satans Namen! Du musst Asmodi zufriedenstellen!
Ich könnte auch den Hüter zerfleischen, diesen dummen, dummen Kämpfer für das Gute. Vielleicht kann ich auch den Spross des Nazareners finden und mir sein Herz ins Maul ...
Ich sagte: Schluss jetzt!
Ja, Schluss jetzt. Ich habe einen Auftrag zu erfüllen.
Unvermittelt sprang Randolphus von der Bank auf.
„Kommt mit, Jungs!“, sagte er zu seiner Armee. „Wir haben zu tun!“
***
Schreie!
Fußgetrappel!
Satzfetzen!
Und gedämpfte Schüsse!
Nach seiner Erfahrung mit dem Untoten, der letztes Jahr hier sein Unwesen getrieben hatte<!--[if !supportFootnotes]-->[2]<!--[endif]-->, wusste Mark, wie Schüsse in Höhlen klangen. Die hier waren leiser, hallten nicht so wider. Sie mussten von draußen kommen!
Mark hetzte durch das Gangsystem zwischen Barbarossas Höhle und dem Ratssaal.
„... müsst draußen ... verteidigen ...“
„... Angriff ... mindestens zwanzig Widergänger ... brauchen jeden Mann ...“
„... Zugang zur Höhle schützen ... alle Wachmänner raus ...“
Stimmengewirr drang an Marks Ohr. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? Was ging da vor?
„... sehen aus wie Eishockey-Spieler ...“
Mark zuckte zusammen.
Eishockey-Spieler?
Knut Ukena hatte nach seiner Internet-Recherche von der Mannschaft des ERC Ehernau erzählt, die seit vorgestern verschwunden war und nur blutiges Eis und einzelne Trümmer ihrer Ausrüstung zurückgelassen hatte. Sollte sie jetzt zurückgekehrt sein? Als Trupp aus Widergängern?
Mark bremste ab. Vielleicht sollte er nicht so ungestüm in die Höhle rasen. Wer wusste schon, was ihn dort erwartete?
Die aufgeregten Stimmen wurden leiser. Was blieb, waren die entfernten Schüsse.
Und die Schreie. Aber auch die mussten von draußen kommen.
Mark blieb vor dem letzten kleineren Knick im Stollen stehen. Lauschte. Lugte ums Eck.
Im Ratssaal selbst war es nun ruhig.
Marks Herz raste und es hätte ihn nicht gewundert, wenn man das Donnern der Schläge bis in die Halle gehört hätte.
Er schob sich noch etwas weiter vor.
Fast alle Meister, die Mark sehen konnte, waren aufgestanden und starrten zum Gang, der nach draußen führte. Von den Männern der Treasure Security war nichts mehr zu sehen.
„Wie konnte das geschehen?“, hörte Mark den schweizer Bänker Dieter Feldmann murmeln. „Woher wussten die von der Versammlung?“
„Dumme Frage!“, herrschte Fabio Cassani ihn an.
Mark hätte es anders formuliert, aber in der Tat konnte es nur eine Antwort darauf geben. Mark wollte gerade aus dem Gang treten, als den Meistern diese Antwort gegeben wurde.
Wie aus dem Nichts erschien ein Mann mitten im Ratssaal. Er wandte Mark zwar den Rücken zu, dennoch spürte er sofort den Wahnsinn, den der Eindringling ausstrahlte.
Als der Besucher zu kichern begann, ruckten die Köpfe der Meister herum. Auf einigen der Gesichter konnte Mark die stumme Frage ablesen:
Wo kommt der so plötzlich her?
„Ihr seid verraten worden, ihr Kindlein“, sagte der Fremde und kicherte erneut. „Wenn ihr ganz brav Bitte bitte sagt, dann offenbart euch der liebe Onkel Randolphus vielleicht sogar, von wem. Und anschließend werde ich einen Happen essen.“
***
Es war leichter gewesen, als er es sich vorgestellt hatte! Wenn nur nicht diese dummen, dummen Hungerattacken gewesen wären!
Vor der Höhle standen sieben oder acht Wachmänner. An denen vorbeizukommen, war das geringste Problem. Größere Sorgen machten Randolphus da schon die Leute in der Höhle, von denen er natürlich nicht wissen konnte, wie viele es waren.
Noch hatte der Sicherheitsdienst Randolphus und seine Untoten nicht entdeckt, weil der Wald genügend Schutz bot.
Der vergessene Brandfugger schnappte sich einen der Widergänger. Einen bulligen Kerl, dessen einer Fuß in einem Schlittschuh steckte. Vom anderen Fuß fehlte jede Spur. Vermutlich war Randolphus gerade dabei, ihn zu verdauen.
Kaum hatte Randolphus dem Untoten die Hand auf die Schulter gelegt, bremste er das Zeitkarussell bis kurz vor dem Stillstand ab. Mit dem Widergänger, der von der Zeitverlangsamung durch den Körperkontakt genauso wenig betroffen war wie Randolphus selbst, kam er aus dem Wald und schlenderte zu dem Wachmann, der ihnen am nächsten stand.
Wenige Schritte vor dem TS-Mann ließ er den Eishockey-Spieler los und verbannte ihn dadurch in die verlangsamte Zeitschiene.
Dann versteckte er sich wieder im Wald und stieß das Zeitkarussell an.
Als der Wachmann die grauenhafte Gestalt sah, die da so plötzlich auf ihn zugehinkt kam, reagierte er wie gewünscht.
„Alarm!“, plärrte er, zerrte seine Pistole aus dem Halfter und leerte das Magazin in den Untoten.
Nun befahl Randolphus auch den Rest der Eishockey-Mannschaft zu ihrem letzten Bully.
In den nächsten Sekunden verwandelte sich das Idyll des Kyffhäuser in ein Schlachtfeld.
Ein TS-Mann öffnete die Höhle, holte Verstärkung.
Die Untoten fielen über die Wachmänner her. Diese wehrten sich nach Kräften, schlugen die Widergänger ein ums andere Mal durch die Wucht ihrer Waffen zurück, konnten sie aber nur selten vernichten. Schüsse in die Körper waren ohnehin sinnlos und die in die Köpfe wurden häufig genug durch die Helme so stark gebremst, dass sie nicht mehr genug Kraft entwickelten, das untote Hirn zu zerstören.
Randolphus hätte gerne länger zugesehen, hätte am liebsten selbst mitgemischt.
Ich muss nur noch einmal die Zeit bremsen. Dann komme ich über sie wie ein Schwarm Heuschrecken. Noch bevor sie wissen, wie ihnen geschieht, habe ich sie ausgeweidet!
Nein! Reiß dich zusammen! Das ist nicht, was du tun sollst.
Aber ich habe Hunger. Schrecklichen Hunger!
NEIN! Geh in die Höhle und erfülle deinen Auftrag.
Aber ...
Geh! Jetzt!
Also bremste Randolphus tatsächlich die Zeit ab, durchquerte das Stillleben aus Blut und Gewalt jedoch nur. Die Wachmänner ahnten nicht, dass sie sich in einem Ablenkungsmanöver aufrieben. Sie bemerkten nicht, dass der Tod durch ihre Reihen schritt.
Als Randolphus den Stollen betrat, brach sofort wieder der Hunger über ihn herein.
Ich muss etwas essen, bevor ich den Verräter töte. Nur einen klitzekleinen Happen, dass dieser Hunger vergeht.
Du weißt, wozu das führen würde!
Diesmal könnte ich mich beherrschen.
Könntest du nicht!
Doch! Ich muss essen! Ich muss fressen! Ich brauche das. Und ich brauche es jetzt. Es strengt an, die Zeit zu verlangsamen.
Dann lass los!
Ich werde hinausgehen und mir einen oder zwei der Wachmänner einverleiben. Ich werde ...
Lass los!
... meine Zähne in ihr Fleisch schlagen, ihr Blut trinken und ihre Lebensenergie aufsaugen wie ...
LASS LOS!
Mit einem kurzen Gedanken ließ Randolphus die Zeit wieder normal ablaufen. Er lehnte sich an die Felswand. Sein Gesicht war schweißüberströmt und er keuchte wie eine Dampflok.
Das war knapp gewesen. Verdammt knapp! Fast hätte er die Kontrolle verloren!
Er schlich durch den Stollen zum Ratssaal. Immer auf der Hut, immer darauf gefasst, doch noch auf einen der Wachmänner zu stoßen.
Aber da war keiner mehr. Sie waren alle draußen, kämpften um ihr Leben und vernachlässigten das der Meister.
Randolphus kicherte in sich hinein.
Kurz bevor er den Saal der Meister erreichte, blieb er stehen. Er hörte, wie einer der Versammelten fragte, wie es zu diesem Angriff kommen konnte.
Das werde ich euch verraten, meine Kindlein!
Ein weiteres Mal verlangsamte er die Zeit und betrat den Ratssaal.
***
Verdammt! Was soll ich jetzt machen?
Mark stand da, starrte in den Versammlungssaal und wusste nicht mehr weiter.
„Wer sind Sie?“, hörte er Cassani fragen.
„Das willst du gerne wissen, kleiner Mann“, kicherte der Eindringling. „Ich bin der Fuß, den Asmodi in euren Ordensarsch rammt. Du darfst mich Fußi nennen!“
Was ist denn mit dem los? Ist der irre?
„Da hocken sie also beisammen in ihrer schönen Höhle und sind ratlos. Sogar der Hüter ist da! Du bist also das Kindermädchen für euren Schatz, ja?“
Mark zuckte zusammen. Sein Herz begann zu stampfen, als wäre ein Subwoofer in seinen Brustkorb implantiert.
Wie konnte der mich entdecken? Ich steh doch hinter ihm, verdammt noch mal! Warum dreht er sich nicht um, wenn er mit mir spricht?
Mark nahm all seinen Mut zusammen und wollte gerade aus seinem Versteck heraustreten, als der Eindringling sagte:
„Sei mir nicht böse, aber ich hab mir dich anders vorgestellt. Nicht so ein dürres Männchen mit einer dicken Brille. Du aufgestellter Mausdreck willst wirklich euren feinen Schatz beschützen?“
Mark hielt inne.
Was redet der für einen Mist?
Da fiel Marks Blick auf Salvatore Sentocchio, der mit hängenden Schultern etwas abseits des Tisches stand. Hielt der Fremde etwa ihn für den Hüter?
Nun ja.
So viel zum Urteilsvermögen der Schwarzen Familie.
Mark zog sich tiefer in den Stollen zurück.
Was konnte er jetzt tun? Sollte er versuchen den Eindringling von hinten anzugreifen? Hatte er da eine Chance? Wenn man sein plötzliches Erscheinen bedachte, hatte der Fremde offenbar Fähigkeiten, die ihn unberechenbar machten. Außerdem: Mark hatte ja nicht einmal eine Waffe dabei!
Warum zum Geier hatte er nach Christines unheilschwangeren Worten auch keine mitgenommen? Wie konnte man nur so dämlich sein?
Sollte er versuchen, in die Halle der Geheimnisse zu kommen und sich dort nach einer Waffe umzusehen? Aber wie sollte er unbemerkt den Ratssaal durchqueren können?
Nein, das war eine blöde Idee.
Warum musste es auch keine direkte Verbindung zwischen der Halle der Geheimnisse und Barbarossas Saal geben?
Mark stutzte ... und schalt sich im nächsten Augenblick einen vernagelten Döskopp!
Barbarossa!
Der würde ihm helfen!
So leise es ihm möglich war, schlich er davon.
***
Randolphus sah das kleine Männchen mit dem schlecht sitzenden Anzug an.
Das sollte der Hüter sein? Randolphus konnte selbst nicht daran glauben, aber wer sollte es sonst sein? An der großen Tafel saßen dreizehn Männer. Die Meister.
Dieser lächerliche Wicht musste also der Hüter sein.
„Äh, reden Sie ... na ja, also, äh, meinen Sie mich?“, stammelte das Männlein.
Randolphus kicherte und schlug sich auf die Schenkel.
„Natürlich meint der liebe Onkel Randolphus dich!“, sagte er in einem Tonfall, als ob er mit einem Kleinkind sprach.
„Aber ich bin doch nicht ... äh, also, Sie scheinen mich zu ...“
„Was wollen Sie?“, unterbrach Fabio Cassani.
„Was ich will?“ Randolphus kratzte sich das Gestrüpp auf seinem Kopf und verdrehte die Augen. „Wie war das doch gleich wieder? Ah, richtig! Ich will ein bisschen bei euch mitspielen!“
Kichern.
„Und dann möchte ich euer kleines Fest verderben.“
Erneutes Kichern.
„Den Hüter zerfetzen und vielleicht ein paar der Meister. Aber eigentlich möchte ich ...“
„Den Hüter zerfetzen?“, japste das Männlein und rückte mit zittrigen Händen seine Brille zurecht. „Damit meinen Sie jetzt aber, äh, na ja, doch nicht, äh, mich, oder?“
Aus Randolphus’ Kichern wurde ein heiseres, bellendes Lachen.
„Natürlich meine ich dich! Das hat dir der liebe Onkel Randolphus doch schon gesagt!“
„Aber ...“, begann das Männlein. Dann griff es mit der rechten Hand unter sein Jackett.
Gefahr!
Ohne nachzudenken, bremste Randolphus die Zeit wieder ab. Sofort gefror die Szenerie um ihn herum.
Er ging um den Tisch und baute sich vor dem Hüter auf.
Ich will dich zerfetzen, mein kleines, lustiges Männlein. Da darfst du doch nicht versuchen, auf mich zu schießen! Das macht den lieben Onkel Randolphus ganz dolle böse!
Er packte den Kopf des Hüters und drehte ihn mit einem einzigen Ruck um 180 Grad. Die gespenstische Lautlosigkeit, mit der das Genick brach, Haut, Sehnen und Fleisch rissen, bemerkte er gar nicht.
Und wenn ich ganz dolle böse werde, kann das ganz dolle weh tun! Denn dann ...
Was war denn das?
Hieß es nicht immer, dass im Augenblick des Todes noch einmal das ganze Leben an einem vorbeizog? Da schien etwas Wahres dran zu sein, denn als Randolphus das lautlose Brechen der Knochen spürte, wurde er plötzlich überflutet von den Erinnerungen des frisch Verstorbenen.
Erinnerungen an ein Leben im Dienste der drögen Wissenschaft! Nichts von einem Schatz, nichts vom Kampf gegen die Schwarze Familie.
Dieses lächerliche kleine Männlein war gar nicht der Hüter!
Randolphus ließ den Kopf des Mannes los und griff ihm ins Jackett.
Hättest mir vielleicht sagen sollen, dass du nicht der Hüter bist, du dummes, dummes Kerlchen. Wollen wir doch mal sehen, was du da zu fummeln hattest!
Er zog ein Glasfläschchen voller kleiner, weißer Tabletten heraus.
Er lächelte und warf das Fläschchen zu Boden.
Oh! Ich glaube, die brauchst du nicht mehr. Was auch immer dich geplagt hat, ich habe dich davon geheilt! Du solltest dich artig bei mir bedanken. Sei nicht so unhöflich! Und schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede! Sonst ...
... werde ich dich fressen!
Nein!
Doch! An ihm ist zwar nicht viel dran, aber ich werde ihn mir schmecken lassen. Seine Lebensenergie ...
Randolphus! Nein! Das darfst du nicht! Noch nicht!
Aber seine Lebensenergie! Gleich verlässt sie seinen Körper. Ich kann sie doch nicht einfach so verschwenden. Dieses leckere, leckere Leben. Ich möchte es trinken, in mich aufsaugen!
In Satans Namen! Verdirb nicht alles! Beruhige dich. Und lass los!
Aber ich habe Hunger!
Lass los!
Randolphus schob die Zeit wieder an.
Aus dem Mund des kleinen Männleins drang ein atemloses Ächzen. Dann brach es zusammen.
Wie auf Kommando ruckten die Köpfe der Meister herum.
„Was ... was haben Sie getan?“, fragte einer der Männer. Mit langen Fingern wischte er sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Ich habe euch gezeigt, was ich kann!“, keuchte Randolphus.
Er ging wieder um den Tisch herum und stellte sich auf seinen alten Platz.
„Ich habe euch gezeigt, dass ihr keine Chance gegen mich habt! Keiner von euch ist schnell genug, um mich aufzuhalten. Also seid ganz liebe Kindlein. Versucht nicht, einen garstigen Totschießer zu ziehen. Wenn ihr nichts tut, was den lieben Onkel Randolphus ganz dolle böse macht, dann lass ich vielleicht einen oder zwei von euch am Leben. Schließlich wollen wir ja, dass jemand übrig bleibt, der vom Sieg der Schwarzen Familie erzählen kann.“
Wieder kicherte er sein wahnsinniges Kichern.
Er sah von einem Meister zum anderen. Auf dem, von dem er wusste, dass er der Verräter war, blieb sein Blick etwas länger hängen.
Randolphus lächelte ihn an. Na ja, gut, es war eher ein debiles Grinsen.
Zu dir komme ich gleich noch, verhieß sein Blick.
Es war faszinierend, was er in den Gesichtern lesen konnte. In manchen erkannte er Angst, in anderen entdeckte er Ratlosigkeit und Verwirrung. Der bärtige Fettsack dort drüben war offensichtlich stinksauer und konnte seine Wut nur mit Mühe unterdrücken.
„Ach, Kinder“, seufzte Randolphus, „ist das schön bei euch! Und weil wir gerade so nett plaudern: Für wie blöd haltet ihr mich, mir diese Witzfigur als Hüter vorgaukeln zu wollen?“
Mit einem Nicken deutete er auf Sentocchios Leiche hinter dem Tisch. Obwohl sie auf dem Bauch lag, starrte sie mit fassungslosem Blick zur Höhlendecke.
„Aber weil ich heute noch ein feines, feines Geschenk von Asmodi erwarte, bin ich gut genug gelaunt, um euch noch eine Gelegenheit zu geben. Wo ist der Hüter?“
Für einen Augenblick herrschte Stille in der Höhle. Nur die Schüsse und Schreie von draußen tobten ununterbrochen weiter.
„Wollt ihr wirklich, dass der liebe Onkel Randolphus ganz dolle böse wird? Wo ist der Hüter?“
Plötzlich spürte Randolphus einen Lufthauch im Nacken.
„Hinter dir“, sagte im gleichen Augenblick Henry Fullbright.
***
Leise! Ganz leise!
Mark schlich zurück in Richtung Ratssaal. Mit beiden Händen umklammerte er den Griff von Barbarossas Schwert.
Nur nicht mit der Klinge gegen den Fels schrammen! Kein Geräusch machen! Der Eindringling darf dich nicht hören.
Zuerst war es Mark nicht gelungen, das Schwert den starren Fingern des Rotbarts zu entwinden. Mark zerrte und riss, aber die Finger des Kaisers wollten nicht nachgeben.
Doch dann flüsterte Mark Barbarossa etwas ins Ohr: „Ich bin es! Fitz Lars! Erkennst du mich? Ich brauche deine Hilfe. Ich will dein Schwert nicht stehlen. Bitte leih es mir!“
Und im nächsten Augenblick konnte Mark die Waffe widerstandslos an sich nehmen. Gott sei Dank hatte er sich an den Namen erinnert, mit dem ihn der alte Rotbart letztes Jahr angesprochen hatte!
Auf leisen Sohlen näherte er sich dem letzten Knick im Stollen. Danach würde er in den Ratssaal sehen können.
Mark atmete tief durch.
Er musste etwas gegen den Fremden unternehmen. Dank Barbarossa war er jetzt bewaffnet und ...
Gefährlich?
Nein, wohl kaum!
Mark war entsetzt von der Unhandlichkeit des Schwertes. Er fragte sich, wie er damit einen gezielten Schlag führen sollte.
Seit er der Hüter des Schatzes geworden war, hatte er zwar stetig trainiert. Schusswaffen, Stichwaffen, Nahkampf. Aber auf die Idee, Schwertkampf zu üben, war er bisher noch nicht gekommen.
Aber das Gezeter führte zu nichts! Er musste das Beste aus der Situation machen! Eine andere Waffe hatte er nun mal nicht.
Unmittelbar vor dem Stollenknick blieb er stehen.
Er umklammerte den Schwertgriff fester. Seine Hände waren schweißnass.
Er wischte sie an der Hose ab, dann spähte er ums Eck.
Wie vorhin stand der Eindringling vor dem Tisch und wandte Mark den Rücken zu.
Das war gut. Sehr gut sogar.
Ein letztes Mal sprach Mark sich Mut zu. Dann schlich er aus seinem Versteck.
„Ach, Kinder“, hörte er den Eindringling sagen. „Ist das schön bei euch! Und weil wir gerade so nett plaudern: Für wie blöd haltet ihr mich, mir diese Witzfigur als Hüter vorgaukeln zu wollen?“
Da erst fiel Mark auf, dass er Salvatore Sentocchio nicht mehr sah. Sollte der Fremde etwa ...
Lass dich jetzt nicht ablenken! Tu, was du tun musst!
Er setzte einen Fuß vor den anderen.
Leise.
Ganz leise.
„Aber weil ich heute noch ein feines, feines Geschenk von Asmodi erwarte, bin ich gut genug gelaunt, um euch noch eine Gelegenheit zu geben. Wo ist der Hüter?“
Mark zuckte zusammen und stockte für einen Augenblick.
Obwohl alle Meister, die den Eindringling anschauten, auch ihn sehen mussten, hatten sie sich erstaunlich gut im Griff. Er sah zwar, wie Jason Brights Blick zu ihm zuckte. Doch kurz darauf starrte der Autor wieder den Eindringling an, ohne eine Miene zu verziehen.
Mark musste sich eingestehen, dass er den Meistern diese Abgebrühtheit nicht zugetraut hätte.
Der nächste leise Schritt.
Gleich würde er in Reichweite des Eindringlings sein.
Mit beiden Händen hob er das Schwert über den Kopf. Fertig zum Schlag.
„Wollt ihr wirklich, dass der liebe Onkel Randolphus ganz dolle böse wird? Wo ist der Hüter?“
Noch ein Schritt.
Jetzt! Schlag zu!
Nein, ein Schritt noch, dass ich ihn auch sicher treffe.
Wieder ein Fuß vor den anderen.
Da sagte Henry Fullbright: „Hinter dir!“
Mark ließ das Schwert nach unten sausen.
Die Klinge durchschnitt die Luft, raste auf den Eindringling zu.
Doch der war plötzlich verschwunden.
Ungebremst krachte das Schwert zu Boden. Die Klinge schrammte über den Fels. Die Wucht des Aufpralls bog Marks Finger auf und die Waffe wurde seinen feuchten Händen entrissen. Unter lautem Scheppern sprang sie noch einmal auf und blieb schließlich liegen.
„Ich hab gesagt, ich bin schneller als ihr“, sagte eine Stimme hinter ihm.
Noch bevor er sich umdrehen konnte, spürte er, wie sich zwei Hände um seinen Kopf legten.
Dann war nur noch Schmerz.
Und als der Schmerz verging, war gar nichts mehr.
***
Ohne darüber nachzudenken, bremste Randolphus die Zeit. Zum wiederholten Male an diesem Tag.
Sofort sprang ihn der Hunger an, schlug seine spitzen Zähne in seinen Verstand.
Er drehte sich um und sah vor sich einen jungen Mann, der im Begriff war, Randolphus mit einem Schwert den Schädel zu spalten.
Du Aas! Dafür reiß ich dir dein Gedärm raus und schling es ungekaut hinunter! Mich mit einem Schwert anzugreifen! Mich! Deine Lebensenergie wird mir besonders munden.
Nein, das darfst du nicht! Das weißt du!
Aber das ist der Hüter! Das muss der Hüter sein! Ich werde ihn zerfetzen. Ich zerreiß ihn in so kleine Stückchen, dass man ihn durch ein Teesieb drücken kann.
Hör auf! Konzentrier dich auf deine Aufgabe.
Nein, das tu ich nicht. Ich kann nicht mehr! Ich muss fressen! Ich werde fressen! Und mit diesem Helden mach ich den Anfang. Der Hüter! Man stelle sich das vor! Er wird besonders köstlich schmecken. Ich werde seinen Lebensnektar aufsaugen wie ...
Zum letzten Mal: Hör auf! Ja, töte ihn! Aber du darfst dich nicht an ihm laben. Erst muss der Verräter sterben, vorher kannst du nicht riskieren, die Kontrolle zu verlieren.
Aber ich will sein Herz! Ich will es zwischen meinen Zähnen spüren! Ich hab bald keine Kraft mehr. Wenn ich jetzt nicht fresse, weiß ich nicht, ob ich noch genügend Energie habe, den Verräter zu töten!
Schluss jetzt! Du musst es riskieren. Denn wenn du jetzt frisst, wirst du außer Kontrolle geraten. Vielleicht wirst du den Verräter dabei töten, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht wirst du auch vorher sterben! Dann war alles umsonst! Lass die Zeit weiterlaufen! Töte den Hüter vor den Augen der Meister! Demütige den Orden. Aber lab dich nicht an ihm.
Randolphus seufzte.
Dann ging er um Mark herum und schob die Zeit wieder an.
Nein, diesmal schob er nicht wieder an, sondern das Zeitkarussell riss sich los, kaum dass er den Griff lockerte.
Er hatte kaum noch Kraft!
Aber bald hatte er es geschafft! Er musste nur noch ein bisschen durchhalten.
Nur noch ein kleines bisschen länger!
„Ich hab gesagt, ich bin schneller als ihr!“
Er packte den Kopf des Hüters, wollte in ihm lesen, wollte sein Wissen aufsaugen.
Wenn er schon nicht sein Leben aufsaugen durfte ...
Hart und erbarmungslos stieß er zu. Einer mentalen Vergewaltigung gleich rammte er seinen Geist in den Verstand des Hüters.
Im nächsten Augenblick wusste er alles!
Er kannte eine Frau namens Sabrina Funke. Er kannte den Schatz. Er kannte Knut Ukena. Und er wusste, wo sie sich versteckt hielten.
Er hatte den Aufenthaltsort des Schatzes gefunden!
Asmodi würde jubeln. Er würde ihm verzeihen. Ganz sicher würde er ihm verzeihen.
Randolphus spürte, wie der Körper des Hüters erst steif wurde und gleich darauf erschlaffte. Dann fühlte er, wie das Leben aus dem Körper des Hüters floh.
Das Leben, das er nicht aufsaugen durfte! Was für eine sinnlose Verschwendung!
„Neeeiiin!!!“
Aus dem Augenwinkel sah Randolphus, wie ein Schatten auf ihn zuraste.
Er ließ die Leiche des Hüters los, drehte sich um und bremste die Zeit ab.
Der Schatten raste immer noch auf ihn zu!
Verdammt, er hatte nicht mehr genug Kraft, um die Zeit zu verlangsamen.
Gleich war der Schatten heran. Da erkannte Randolphus, dass es einer der Meister war.
„Jason! Nein!“, brüllte ein anderer. Wenn Randolphus es richtig sah, war das der bärtige Fettsack.
Er mochte zwar nicht mehr die geistigen Reserven für Zeitmagie haben, aber körperlich war er dank des Dämonenwahns immer noch jedem Menschen überlegen.
Kurz bevor der Schatten, den der bärtige Fettsack als Jason angesprochen hatte, Randolphus erreichte, machte der einen kleinen Schritt zur Seite, packte den Angreifer am Kragen und schleuderte ihn quer durch die Höhle.
Mit dem Rücken prallte der Kerl gegen die Felswand. Er gab noch ein letztes Uff von sich, dann ging er zu Boden und blieb liegen.
Randolphus sah in die Reihen der Ordensmeister, die ihn alle mit fassungslosen Gesichtern anstarrten.
„Will noch jemand ein Spielchen wagen, oder können wir zum nächsten Punkt der Tagesordnung gehen?“, fragte er und ging auf den Tisch zu.
***
Schmerz.
Unendlicher Schmerz.
Aber nur kurz.
Dann ein Ruck.
Schweben.
Nach oben.
Hoch, höher, immer höher.
Bis unter die Decke.
Er sieht den Eindringling, der eine Leiche fallen lässt.
SEINE Leiche!
Er sieht Jason Bright, der sich auf den Eindringling stürzen will.
Vergeblich.
Und zu spät!
Trauer.
Er hat versagt.
Christine hat Recht gehabt. Einer von ihnen hat die Schwelle des Todes überschritten. Und es war nicht Hinnnerk!
Aus Trauer wird wieder Schmerz.
Schmerz über sein Scheitern.
Schweben.
Noch höher. Über die Höhlendecke hinaus.
Die Szenerie unter ihm verwischt.
Wird unwichtig.
Über ihm: Licht!
Ein gleißender Schein.
Blendend, aber nicht schmerzhaft.
Und warm. Unendlich warm!
Aus Schmerz wird Friede.
Er will zum Licht. In die Wärme.
Schweben.
Höher und höher.
In das Licht!
***
Hinnerk schossen Tränen in die Augen.
Es war geschehen! Es war tatsächlich geschehen!
Mark lag am Boden, glotzte mit gebrochenem Blick in die Unendlichkeit.
Und Hinnerk hatte nicht eingreifen können.
Der Fremde hatte ihnen gezeigt, dass er schneller war als sie.
Er zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen. Hätte er versuchen sollen, dem Eindringling einen Zauber entgegenzuschleudern? Aber wäre das nicht genauso zum Scheitern verurteilt gewesen, wie alle anderen Angriffe bisher?
Er brauchte nur daran zu denken, mit welch spielerischer Leichtigkeit er Jason Bright gegen den Fels geschleudert hatte. War auch er tot?
Spielte das überhaupt eine Rolle? Jetzt, wo der Hüter tot war? Der letzte Hüter, die Hoffnung der Menschheit auf einen positiven Ausgang im Kampf Gut gegen Böse.
Eine vergebliche Hoffnung!
Hinnerk schloss die Augen. Er wollte nicht länger hinsehen.
***
Randolphus grinste den Meister an, der ihn vor dem Angriff des Hüters gewarnt hatte.
„Da sag ich aber ganz artig Danke schön, dass du den bösen, bösen Hüter verraten hast.“
Henry Fullbright glotzte ihn nur an.
„Aber darin hast du ja Übung, stimmts?“
„Wie meinen Sie das?“, fragte Cassani.
„Och, kleiner Mann, weißt du, der nette Onkel Fullbright dort drüben ...“
„Sie kennen seinen Namen?“
Randolphus lachte. „Na, was denkst du denn? Ist aber schon blöd, dass er gar nicht der liebe Onkel Fullbright ist, sondern ein Dämon, der nur so aussieht.“ Er wandte sich Fullbright zu. „Ist doch so, oder? Willst du deinen Spielkameraden nicht zeigen, was für ein hässlicher Wicht du in Wirklichkeit bist?“
Randolphus konzentrierte sich. Der Verräter durfte ihm nicht entkommen! Deshalb musste er noch einmal die Zeit verlangsamen.
Er hoffte, dass er inzwischen etwas zu Kräften gekommen war. Nicht, dass er wieder so kläglich scheiterte wie vorhin, als ihn dieser übermütige Ordensmeister anspringen wollte.
„Na komm schon!“, reizte Randolphus ihn weiter. „Zeig uns deine hässliche Dämonenfratze!“
„Von uns zweien bist ja wohl eindeutig du der Hässlichere“, sagte Fullbright - für alle anderen Meister völlig unerwartet. Dann plötzlich änderte sich seine Stimme, wurde rauer, kehliger. „Was soll dieser Mist überhaupt? Das hier läuft nicht so ab, wie ...“
In diesem Augenblick griff Randolphus in das Zeitkarussell. Zunächst konnte er es nicht sofort bremsen. Immer wieder glitt es ihm durch die Finger. Doch nach und nach wurde es tatsächlich langsamer.
Fullbright hatte offenbar gerade entschieden, Randolphus’ Empfehlung zu folgen, denn er verwandelte sich. Doch durch die Verlangsamung des Zeitflusses wurde auch die Metamorphose gebremst. Sein Gesicht bekam schwarze Flecken, die Haut platzte auf. Darunter kam ein Geflecht aus hellroten, pulsierenden Adern zum Vorschein. Das Platzen und Pulsieren wurde stetig langsamer, geschah beinahe schon in Zeitlupe und hörte schließlich ganz auf.
Er hatte es geschafft!
Aber er fühlte, wie die Zeit sich losreißen, wie sie ihren normalen Gang gehen wollte. Lange würde er sie nicht halten können!
Er rannte um den Tisch und baute sich hinter dem Dämon in Henry Fullbrights Gestalt auf.
Er legte die Handflächen aufeinander und rammte mit aller Kraft dem Verräter die Fingerspitzen in den Rücken. Er spürte keine brechenden Knochen, vermutlich weil da keine waren. Dennoch fühlte er, wie er das faulige Fleisch des Dämons zur Seite pflügte. Er fühlte, wie die Hände auch durch die Brust des Verräters brachen.
Und er fühlte, wie just in diesem Augenblick die Zeit wieder zu laufen begann.
***
Schweben.
Höher und höher.
Hin zum Licht.
Plötzlich ein Widerstand.
Etwas hält ihn, zerrt an ihm.
Etwas Kaltes, Dunkles.
Er will weg, will hinauf.
In die Wärme.
In das Licht.
Das Kalte, Dunkle lässt ihn nicht.
Hält ihn fest.
Reißt ihn zurück.
Weg vom Licht.
Hinab in die Dunkelheit.
Er schreit.
Wehrt sich.
Vergebens.
Schmerz.
Roter Schmerz.
Das Licht erlischt.
Die Wärme vergeht.
Roter, pulsender Schmerz.
Doch auch die Dunkelheit lässt los.
Und dann ist er zurück.
***
Mark japste und schlug die Augen auf.
Nein, falsch.
Er hatte sie schon offen gehabt. Die ganze Zeit.
Doch plötzlich konnte er wieder mit ihnen sehen.
Seine ausgetrockneten Augäpfel brannten wie die Hölle. Sein Kopf fühlte sich an wie blubbernd kochender Grießbrei.
Sofort stürzten die Erinnerungen über ihn herein.
Er rappelte sich hoch und stützte sich mit den Ellbogen ab.
Er sah Jason Bright regungslos auf dem Boden liegen. Auch er war ein Opfer des Eindringlings geworden.
Was war mit den anderen Meistern?
Keiner von ihnen nahm von Mark Notiz. Sie alle starrten Henry Fullbright an. Dem schienen aus der Brust zwei weitere Arme zu wachsen.
Trotz der Brutalität dieses Bilds gab es etwas, das Mark noch mehr entsetzte: Fullbright hatte sich verändert!
Es war, als läge noch eine zweite Gestalt über der des Anwalts. Eine abstoßende, dämonische Gestalt. Und sie gewann immer mehr an Dominanz, verdrängte Fullbrights bisheriges Aussehen.
„... mir gesagt wurde“, röchelte Fullbright.
Da entdeckte Mark, dass die Arme, die aus der Brust des Anwalts ragten, dem Eindringling gehörten. Er stand hinter Fullbright, das Gesicht zu einer irren Fratze verzerrt.
Und Mark fiel noch etwas auf: Vor ihm auf dem Boden lag Barbarossas Schwert!
***
„Asmodi, ich erflehe deine Gnade“, brüllte Randolphus.
Dann riss er die Arme auseinander - und dadurch auch den Dämon!
„Betrug!“, kreischte der Dämon noch.
Bereits im nächsten Augenblick verteilten sich Innereien und Organe, die kein Mediziner bisher gesehen hatte, auf den Tisch des Ordens, auf die Kleidung der Meister, auf deren Gesichter, wo sie zu heißem, klebrigem Schleim wurden.
Die schwarze Energie floh aus dem Leichnam des Dämons und diesmal konnte Randolphus nicht an sich halten. Er musste trinken, musste fressen, musste endlich satt werden.
Er öffnete sich, sog die Energie ein.
Ah, welch Labsal!
Doch es war nicht genug. Er brauchte mehr! Mehr! Mehr!
Und er würde mehr bekommen! Der ganze Saal war voll mit köstlichem Leben. Er würde sich einen nach dem anderen vornehmen.
Beginnen würde er mit den Alten, Knochigen. Dann würde er seinen Genuss steigern und sich über die Jungen, Frischen hermachen.
Oder er würde sich den Hüter vornehmen, der da mitten im Raum stand und ...
Der Hüter?
Der war doch tot!
Wie konnte er da vor ihm stehen und dieses vermaledeite Schwert auf ihn schleudern?
Die Zeit!
Er musste sie bremsen! Jetzt! Bevor es zu spät war!
Doch was war das?
Da gab es noch freie Energie im Raum. Köstliches, schwarzes Leben. Dämonisches Leben!
Er musste es nur aufsaugen, sich laben.
Wieder öffnete er sich, gierte nach der dämonischen Energie, schlürfte sie in sich hinein.
Und mit der Energie kam die Erinnerung. An einen lange vergessenen Namen!
Aermrinh!
Das war Aermrinhs Lebensenergie! Er war der Verräter gewesen?
Er, der Randolphus überhaupt erst in diese Lage gebracht hatte!
Doch warum hatte er das vorhin noch nicht bemerkt, als er die Energie des sterbenden Dämons aufgeschlürft hatte? Warum erst jetzt? War womöglich ...
Bevor er den Gedanken zu Ende bringen konnte, traf ihn Barbarossas Schwert mitten ins Herz und machte seiner schwarzen Existenz ein Ende.
***
Epilog 1
„Warum ziehst du so ein Gesicht?“, fragte Hinnerk, nahm einen Schluck von seinem Dithmarscher und legte die Füße auf den Küchentisch.
Mark zuckte mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht. Ich verstehe das alles nicht!“
„Unsinn! Du solltest glücklich sein! Du bist von den Toten zurückgekehrt, hast den strubbeligen Eindringling besiegt, der Verräter ist tot und die Kutsche wird erforscht. Was willst du mehr?“
Nach den Ereignissen in der Höhle hatte Hinnerk eine erneute Abstimmung über die Erforschung der Zeitmaschine beantragt. Er hatte auf die Gefahren hingewiesen, die von der Schwarzen Familie ausgingen und auf die Chancen, die die Maschine bot.
Fast alle Meister waren körperlich und geistig am Ende. Jason Bright war nach seinem erzwungenen Techtelmechtel mit der Höhlenwand benommen an den Tisch geschlurft. Lucio Carrabba war völlig entkräftet. Doch auch die Anderen waren gezeichnet. Verbrennungen von den Resten des Verräters und eine eigenartige Schwäche, als wäre ihnen die Kraft aus dem Körper gesaugt worden. Nur Hinnerk und Dieter Feldmann hatten sich gut gehalten.
Obwohl die Meister ein Bild des Jammers boten und nur noch nach Hause wollten, stimmten sie erneut ab. Mit überwältigender Mehrheit beschlossen sie, die Zeitmaschine nun doch zu erforschen. Lediglich George Sandford, der Londoner Software-Gigant, und Kardinal Lucio Carrabba waren nach wie vor dagegen.
Mark seufzte. „Ich denke an die toten TS-Leute. Nur vier haben überlebt! Nur vier! Wären die Widergänger nicht in dem Augenblick zusammengebrochen, in dem ich diesen Kerl vernichtet habe, hätten sie sich auch noch die restlichen Sicherheitsleute und uns vorgenommen!“
„Der Tod der Männer ist wirklich schrecklich, aber so ist der Kampf gegen die Schwarze Familie nun einmal! Sieh lieber das Positive und sei glücklich!“
„Das kann ich nicht. Da gibt es zu viele Dinge, die ich nicht verstehe. Warum bin ich von den Toten zurückgekehrt? Wer oder was hat mich zurückgeholt?“
Er sah Hinnerk eindringlich an. „Du hattest wirklich nichts damit zu tun?“
„Nee, mien Jung! So etwas steht nicht in meiner Macht!“
„Das ist aber noch nicht alles! Warum hat der Eindringling nicht seine Schnelligkeit ausgespielt, als ich das Schwert nach ihm schleuderte? Die größte aller Frage aber ist: Warum hat er seinen Informanten getötet? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn! Ich habe ein ganz beschissenes Gefühl bei der Sache!“
„Deshalb haben wir den Anderen ja auch noch nichts von unserem Versteck erzählt. Du siehst, Sabrina ist nicht die Einzige, die Wert auf dein Gefühl legt!“
Jetzt huschte doch ein Lächeln über Marks Gesicht.
Hätte er gewusst, wie goldrichtig er mit seinem Gefühl lag, wäre ihm das aber augenblicklich wieder vergangen.
***
Epilog 2
Er öffnete eine Schwarze Brücke und betrat das Gewölbe, von dem niemand wusste, wo es lag.
Im Raum schwebten die nackten Körper zweier Männer. Sie hatten Arme und Beine ausgebreitet wie da Vincis vitruvianischer Mensch. Beide wurden von grünlichen Lichtkugeln umhüllt, auf deren Oberflächen graue Schlieren trieben.
Er trat vor die beiden Männer und lachte sie an. Der eine sah genauso aus wie er selbst, der andere war Henry Fullbright. Beide Gefangenen waren bei Bewusstsein, doch während Fullbright den Ankömmling aus großen Augen anstarrte, glotzte der andere mit totem Blick ins Irgendwo. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass sein Verstand in den langen Jahren der Gefangenschaft porös geworden war wie ein fauler Zahn.
„Hallo, Henry“, sagte Aermrinh. „Ich kann dir sagen, dass alles wunderbar geklappt hat.“
Fullbright antwortete nicht. Natürlich nicht.
„Ich möchte mich noch einmal dafür entschuldigen, dass ich dich aus deiner Hütte entführt habe. Aber ich brauchte einen harmlosen Trottel, den ich dem Orden als Verräter präsentieren konnte.“
Aermrinh kicherte.
„Hab ich dich jetzt als Trottel bezeichnet? Tut mir Leid. Ach, ich kann dir sagen, du hättest dich bei der Versammlung köstlich amüsiert! Schon alleine das Gesicht des Dämons, den ich in dein Geliehenes Gewand gesteckt habe, war ein Brüller. Ich hatte ihm erzählt, dass der Orden von einem Schwarzmagier gesprengt werden würde. Wegen meiner angeblichen Zweifel an den Fähigkeiten des Magiers hatte ich ihn gebeten, in deiner Gestalt auch an der Versammlung teilzunehmen, um unterstützend eingreifen zu können.
Und soll ich dir was sagen? Dieser Trottel hat mir diese idiotische Geschichte tatsächlich abgenommen!
Erst als Randolphus ihn zerfetzt hat, ist ihm aufgegangen, dass ich ihn reingelegt habe.“
Aermrinh lachte.
„Ach, ist das köstlich! Der arme Kerl hatte ja noch nicht einmal gemerkt, dass er von Randolphus vorher gescannt worden war. Na ja, gut, ich hatte es auch nicht gemerkt, als ich an der Reihe war. Hätte er danach nicht ein Restaurant in der Nähe meines Hauses leergefressen, wüsste ich es bis heute nicht!
Ein paar Tage lang habe ich ernsthaft befürchtet, aufgeflogen zu sein. Aber als ich dann die Nachricht von dem Massaker in dem New Yorker Theater gelesen hatte, wusste ich, dass er mich nicht erkannt hatte. Denn sonst hätte er ja nicht weitermachen müssen! Und nach New York, nach dem Scan dieses trotteligen Dämons, war dann auch Ruhe.“
Aermrinh schlenderte um den Energieball herum. Fullbright folgte ihm mit dem Blick, soweit es ging.
„Und der Hüter! Sei froh, dass du nicht mehr für diesen Verein arbeiten musst. Hätte ich Larsen nicht noch abgefangen, bevor seine Seele ins Reich eures Chefs eingegangen wäre, wäre der letzte Hüter inzwischen nur noch eine langweilige Erinnerung. Was ja gar nicht so schlecht wäre, wenn im Augenblick nicht der Falsche auf dem Thron der Schwarzen Familie sitzen würde.
Selbst bei Randolphus’ Vernichtung musste ich ihm helfen, indem ich einen großen Brocken meiner Lebensenergie ausgewürgt habe. Ich war ganz schön fertig danach, das kann ich dir sagen!
Na ja, aber ich will dich nicht länger mit meinen Geschichten langweilen. Wichtig ist, dass nun alle denken, der Verräter sei tot.
Kannst du dir vorstellen, wie erschrocken ich war, als ich hörte, dass Asmodi mich für nützlich hält? Mich? Denjenigen, der ihn entthronen will? Luzifer sei Dank, dass auch Asmodi bisher meine wahre Existenz nicht kannte. Wenn er wüsste, dass der ach so nützliche Verräter in die Schwarze Bibliothek eingebrochen ist und ihm den dämlichen Brandfugger dafür ans Messer geliefert hat ...“
Wieder musste Aermrin kichern.
„Wie auch immer. Es war schön, noch einmal mit dir zu plaudern, aber jetzt brauche ich dich nicht mehr.“
Er machte eine Handbewegung, als würde er eine Glühbirne in die Fassung drehen.
Gleich darauf platzte der Energieball und Fullbrights Körper stürzte zu Boden. Noch bevor er sich an seiner neuen Freiheit erfreuen konnte, trat Aermrinh zu ihm und brach ihm das Genick.
Dann ging er zu der anderen Kugel und sah seinem Ebenbild in die milchigen Augen.
„Ich weiß, dass du dir das auch wünschst. Aber ich muss dich enttäuschen. So lange Asmodi mit seinem Arsch noch den Thron der Schwarzen Familie wärmt, muss ich deinen Stuhl im Orden wärmen.“
Er drehte sich um und verließ das Gewölbe über die Schwarze Brücke.
Sein Lachen hallte noch nach, als die Brücke schon längst geschlossen war.
Wird fortgesetzt
<!--[endif]-->
<!--[if !supportFootnotes]-->[1]<!--[endif]--> Womit er Recht hat, wie wir aus „Treasure Security 0 - Legende der Hölle“ von Stefan Albertsen wissen.
<!--[if !supportFootnotes]-->[2]<!--[endif]--> Siehe Hüter Nr. 3 „Rotbarts Fluch“ von Horst von Allwörden