Leit(d)artikel KolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Bd. 10 - Schreckensnacht

                                                                               Tibi          I am a man who walks alone

                                     And when Im walking a dark road

                                     At night or strolling through the park

                                     When the light begins to change

                                     I sometimes feel a little strange

                                     A little anxious when its dark

                                     Fear of the dark, fear of the dark

                                     I have a constant fear that someones always near

                                     Fear of the dark, fear of the dark

                                     I have a phobia that someones allways there

(Iron Maiden – “Fear of the dark”)

 

1. Kapitel:

 

Auftakt zur Schreckensnacht


 


Vor fünf Nächten:

Die Tür zum Nachtgemach wurde aufgestoßen und krachte gegen die Wand.

Die beiden Menschen im Inneren des Zimmers wurden brutal aus ihrer besinnlichen Stimmung gerissen.

Sie zuckten synchron zusammen und blickten blass zu demjenigen, der in der geöffneten Tür stand.

„Hoppala, war wohl ein klein bisschen zu schwungvoll, wie?“

Der Ankömmling kicherte mädchenhaft und tänzelte, ja er tänzelte in das Gemach zu den beiden erschrockenen Menschen.

Es war ein älteres Ehepaar, beide zählten schon über 70 Lenze. Sie hatten sich auf dem das Zimmer dominierenden Himmelbett ausgebreitet und mit bedrückten Mienen auf den Ankömmling.

„Tut mir Leid, wenn ich störe, aber wir haben nun einmal einen Zeitplan einzuhalten.“

Der Mann und seine Frau nickten stumm, denn sie wussten, was ihnen bevorstand, und genauso wussten sie, dass es ihnen nicht mehr möglich war, einen Rückzieher zu machen.

Sie erinnerten sich daran, wie sie vorhin mit dem geheimnisvollen Mann, den sie nur Monsieur Asnard nennen durften, darüber gesprochen hatten.

Und er hatte daraufhin ziemlich eindeutig geantwortet.

„Wir von der ‚Schwarzen Familie’ gelten zwar als unsterblich, sind aber von Natur aus nicht unbedingt geduldig. Vor allem schätzen wir es nicht, wenn jemand, mit dem wir einen Handel ausgemacht haben, den Schwanz einzieht.“

Zugegeben, das Ehepaar hatte lange darauf hin gearbeitet, war über Jahrzehnte hinweg eher erfolglos gewesen und hatte sich viel Spott und Hohn eingehandelt.

Doch heute Nacht sollte der Grundstock für eine große Veränderung gelegt werden.

Damit waren sie auch schon bei ihrem Problem, denn diese ‚Grundstocklegung’ würde ihnen einiges abverlangen.

Der Ankömmling hatte sich nun zu seiner vollen Größe aufgerichtet und die Alten eingehend mit seinen unglaublich dunklen Augen gemustert.

„Lasst mich raten ... ihr habt Schiss, richtig?“

Die Frage klang beiläufig, nicht beachtenswert, doch weder die Frau, noch ihr Mann begingen den Fehler, sich dahingehend zu täuschen.

„Nun, wir sind etwas verunsichert, aber...“

„Aber?“

Dieses eine Wort unterbrach die Rede des Alten und es lag etwas Mahnendes und Lauerndes darin, das zur Vorsicht riet.

„Aber? ABER? A B E R?“

Das letzte ‚Aber’ brüllte der Ankömmling und trat langsam vor.

An sich wirkte er – zumindest auf den ersten Blick, und vielleicht sogar noch auf den zweiten – überhaupt nicht gefährlich.

Weder der burgunderfarbene Samtanzug, noch das altmodisch wirkende Rüschenhemd und auch nicht die unglaublich eng sitzende Hose oder die von Haarspray und Gel verklebten weißblonden Haare vermochten ihn bedrohlich wirken zu lassen.

Dennoch gab es etwas Anderes, das auf den ersten (und den zweiten) Blick nicht offensichtlich wurde. Für die beiden Alten jedoch war es erkennbar, und ihnen wurden in diesen Augenblicken die Knie weich.

„Hört mir gut zu, ihr ... ihr ...“

Der Ankömmling suchte nach einem geeigneten Schimpfwort, doch es wollte ihm keines einfallen. Er war einfach zu wütend und zu überrascht!

„Da versucht ihr beiden armseligen Gestalten so lange Jahre Kontakt zu einem aus der Familie aufzunehmen, es gelingt euch beiden praktisch in letzter Minute, denn ihr steht ja schon hüfttief in euren Gräbern. Und dieser Kontakt...“

Er deutete nun auf sich und fügte ein übertriebenes „Moi“ hinzu.

„... bietet euch auch noch die Chance eures elendigen, fast beendeten Lebens an. Und dann kommt ihr Schießbudenfiguren mir mit einem ‚ABER’ an?“

Die dunklen Augen des Ankömmlings hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt, die Stimme hatte ihren kieksigen und schrillen Unterton verloren und rumorte dem Paar wie ein dumpfes Grollen entgegen und ein eigenartiger Geruch stieg ihnen in die Nase. Intensiv, süßlich und ekelhaft. Sie kannten ihn nur zu gut, denn er war ihnen vertraut.

Es war der Geruch von Moder, Verwesung und Tod.

„Es war doch nicht so gemeint“, beeilte der Mann sich nun zu sagen und seine Frau nickte schnell.

„Wir würden niemals an Ihnen zweifeln, Monsieur Asnard. Niemals, aber bitte verstehen Sie uns doch auch. Es ist nur wegen der Schmerzen, die Sie erwähnten. Davor fürchten wir uns.“

Monsieur Asnard entspannte sich sichtlich und zauberte sogar wieder ein schmales Lächeln auf seine Lippen, über denen ein dünnes dunkles Bärtchen und unter denen ein ebenso gefärbtes Bartdreieck zu erkennen war.

„Na, na, na... ist schon in Ordnung. Ich kann euch ja verstehen, aber die Schmerzen sind leider nicht zu vermeiden.“

Er trat zwischen die beiden, trennte sie somit, hakte sich bei ihnen schwungvoll unter und führte sie nun zum Bett.

„Schmerzen sind bestimmt nicht schön, aber sie gehören nun einmal dazu. Ich kann sie leider nicht wegzaubern oder dergleichen. Das Elixier hat leider genau diese Nebenwirkung.“

Nach dieser Eröffnung hatten die beiden ihren schwachen Widerstand aufgegeben, sich auf ihr Bett gelegt und den „Tablettencocktail“, der wohl absolut tödlich war, zu sich genommen.

Und nun war Asnard zurückgekehrt und hielt ihnen zwei etwa Zeigefinger große Glasphiolen entgegen.

Beide ergriffen jeweils eine davon und zögerten nun doch einige Sekunden lang.

Dann allerdings nickten sie sich entschlossen zu, zogen die kleinen Stöpsel heraus und leerten die Phiolen.

Asnard nahm die Phiolen wieder an sich und ließ sie wieder verschwinden, als die erste Wirkung einsetzte.

Ein eigenartiges Prickeln, ausgehend vom Magen, breitete sich über ihre Körper aus, bis in die Finger- und Haarspitzen.

Er berichtete Asnard davon und dieser nickte eifrig.

„Richtig so, so soll es sein. Und gleich kommt der Schmerz. Etwa...“

Asnard schielte auf seine verspielte Designeruhr am Handgelenk.

„... jetzt!“

Und in der Tat, brach die Qual über das Paar herein.

Fast zeitgleich stießen sie ihre Schmerzschreie aus, begannen sich elendig zu winden und rissen die Augen überweit auf.

Asnard trat einen Schritt vom Bett zurück und betrachtete das Ganze wie ein Schauspiel, das er persönlich inszeniert hatte. „Oh wie vortrefflich! Selten habe ich so ausdrucksstarke Todeskämpfe miterleben dürfen.“

Das Paar vernahm die Stimme Asnards nicht, sondern spie keuchend die angestaute Luft aus, und nicht enden wollende, immer stärker werdende Krämpfe und ließen das Bett erbeben.

Asnard hörte das alte Gestell quietschen und grinste unverschämt. „So hat es sich hier nächtens wohl öfters angehört, als ihr noch jünger wart, was?“

Er kicherte ob seines eigenen Scherzes, blickte erneut auf die Uhr am Handgelenk und nickte dann beeindruckt, während sich die Leiber vor ihm immer mehr verkrümmten.

„Uiuiui, ihr seid aber wirklich ganz schön ausdauernd. Die meisten anderen Sterblichen wären schon längst hinüber...“, ließ Asnard vernehmen und dann... bäumten die beiden Alten sich, ebenfalls fast zeitgleich, noch ein letztes Mal auf, um danach zurückzufallen und reglos liegen zu bleiben.

Asnard hob seine Augenbrauen empor und nickte erneut.

„Schade! War eine nette Show. Aber alles muss wohl mal enden.“

Er trat nun wieder dichter ans Bett, schaute in die weit aufgerissenen Augen des Paars und berührte sowohl den Mann, als auch die Frau seitlich am Hals, um nach dem Pulsschlag zu forschen.

Wie er bereits angenommen hatte, war da nichts mehr zu fühlen. Die beiden Menschen waren tot und begannen sogar schon etwas auszukühlen, was ebenfalls ein Nebeneffekt des Elixiers war.

„Gut so“, murmelte Asnard und die Verspieltheit seiner Stimme fehlte nun ebenso wie die gekünstelte Art, die er bisher an den Tag gelegt hatte. Schweigend begann er die Leichen etwas anders zu drapieren, damit man keine Spuren des extremen Todeskampfes erkennen konnte.

Danach blickte er sich noch einmal im Zimmer um, ob hier etwas herumlag, was auf eine andere Todesursache außer Selbstmord schließen ließ oder etwa sogar auf seine Anwesenheit, doch zu seiner Zufriedenheit fand er nichts.

Stattdessen verließ er das Schlafgemach, eilte eine breite, leicht gewunden verlaufende Treppe ins Erdgeschoss und betrat den Raum, den der just Verstorbene immer als Arbeitszimmer benutzt hatte.

Ein letzter Kontrollblick auf den Schreibtisch vergewisserte Asnard, dass der Tote daran gedacht hatte den Umschlag mit der Liste dort abzulegen.

Asnard ergriff den unverschlossenen Umschlag und entnahm die Liste, die handschriftlich angefertigt worden war.

Lawrenz, der Notar, würde sie erhalten und die Anweisungen darin genau befolgen.

Die Testamentseröffnung würde hier auf dem Schloss stattfinden, in deren Gruft die Leichen ihre letzte Ruhestätte finden sollten und was noch viel wichtiger war alle Personen auf der Liste sollten dabei anwesend sein.

Asnard las die Namen halblaut vor.

„Andreas Falk, Miriam Burkhard, Hans Krestner, Petra Kern und...“

Asnard machte eine kurze Pause, die wohl theatralisch wirken sollte, auch wenn niemand da war, den er damit hätte beeindrucken können.

„... Dr. Mark Larsen!“

 

***

 

Düster und geheimnisvoll erhob sich das Schloss aus der trüben Masse, in die der Regen die abendliche Szenerie verwandelt hatte.

Eigentlich erkannte Mark Larsen beim Näherkommen nur undeutliche Umrisse des gewaltigen Baus, jene Teile der Wand, die vom Scheinwerferlicht des 7er BMWs angestrahlt wurden und natürlich die erleuchteten Fenster, die wie zahlreiche Signale im eher herbstlich anmutenden Dunkel wirkten.

Der Hüter tippte kurz mit dem Fuß auf die Bremse und begutachtete mit gemischten Gefühlen das, was er von dem Prachtbau derer von Klangstein erkennen konnte.

Zum einen war er genervt, denn hinter ihm lagen knapp sieben Stunden Autofahrt, die er sich gerne gespart hätte, zumal er fast zwei davon in ausgewachsenen Staus zugebracht hatte.

Seinen Plan Aschaffenburg zeitgerecht zu erreichen, sich ein Zimmer zu suchen, in dem er ausruhen, duschen und sich umziehen konnte, hatte er mit Verstreichen der Zeit im Stau, abschreiben müssen. Es ärgerte ihn ungemein, denn nun musste er, verspannt, müde, hungrig und etwas verschwitzt, zur Testamentseröffnung gehen, zu der er geladen worden war.

In Mark rumorte aber auch Neugier, die sich jedoch mit Skepsis gepaart hatte.

Der Hüter atmete schwer durch, verdrehte die Augen dermaßen, dass er in die grauschwarze Eintönigkeit des Himmels blicken konnte, nahm das fortwährende Plattern des Regens auf dem Autodach wahr, welches sich mit dem Summen der Scheibenwischer vermengte und stellte sich nun ernsthaft die Frage, ob er tatsächlich in das Schloss gehen sollte.

Er konnte problemlos umdrehen, aber es war nun einmal so, dass die Neugierde in ihm stärker war.

Und so wischte er die Bedenken beiseite (jedoch nicht ohne sich zu ermahnen, weiterhin vorsichtig und wachsam zu sein) und lenkte den BMW zügig vor das hohe Portal des alten Schlosses.

Obwohl Mark sich sehr beeilte und er die zehn Stufen zum Portal förmlich hochflog und ihm nach seinem Klingeln fast unverzüglich geöffnet wurde, war er, als er eintrat, vom Regen bis auf die Haut durchnässt.

„Wen darf ich melden?“

Mark wischte sich das nasse Haar aus dem Gesicht und zwinkerte einige Wassertropfen aus den Augenwinkeln. Nun sah er in das Gesicht eines mittelgroßen Mannes mit ausgeprägten Hängebacken und einem etwas blasiert wirkenden Blick.

Der Hüter wurde unwillkürlich an den Butler Hudson aus der TV-Serie Das Haus am Eaton Place erinnert, als er die dunkle Livree des Mannes entdeckte, und lächelte verlegen.

„Mark Larsen“, meinte er nur und fühlte, wie ihm nun, trotz der Wärme die hier im Raum herrschte, kälter wurde und er zu zittern begann.

Der Livrierte hob seine buschigen, grauen Augenbrauen und musterte Mark wie eine bemitleidenswerte, aber gleichzeitig nicht ernst zu nehmende Kreatur.

„Sehr wohl. Sie werden erwartet. Wenn Sie mir bitte folgen würden.“

Mark tat, worum er gebeten worden war, und schloss sich dem Butler oder Diener an (egal, wie man es nennen mochte), nur um einige Meter weiter erneut zu verharren und sich aus dem klatschnassen Mantel helfen zu lassen.

Auf dem Weg zu dem Ort, an den ihn der Butler zu führen hatte, bewunderte Mark einige besonders schöne Wandteppiche, Ritterrüstungen, Gemälde und antike Möbelstücke.

Alles hier im Schloss kündete von einer glorreichen Vergangenheit, über die der Hüter nur unzureichend informiert war.

Als ihn am gestrigen Tage die Email des Würzburger Notars Peter Lawrenz erreicht hatte, war ihm nicht viel Zeit geblieben, sich ausgiebig über das Adelsgeschlecht derer von Klangstein zu informieren.

Im Internet war er auf einige wenige Verweise in vergangene Zeiten gestoßen, in denen die eine oder andere Geschichte oder Sage über dieses Adelsgeschlecht erzählt wurde. Aber alles in allem war er bei seiner Suche leer ausgegangen.

Grübelnd hatte er vor dem Computer gesessen und sich den Text des Notars durchgelesen, in dem dieser Mark zur bevorstehenden Testamentseröffnung von Bernward und Beatrice von Klangstein in deren Schloss einlud.

Lawrenz hatte einen detaillierten Routenplan beigefügt, mit dem es selbst dem orientierungslosesten Menschen gelungen wäre, hierher zu finden.

Mark hatte eine Mail zurückgesandt und gefragt, weshalb ausgerechnet er eingeladen worden war, obwohl er das verstorbene Ehepaar überhaupt nicht persönlich gekannt hatte, aber Lawrenz hatte ihm dahingehend keine Angaben machen können, weil er selber nichts wusste.

Alles Weitere würde sich bestimmt am Abend der Testamentseröffnung zeigen, wie Lawrenz abschließend noch hinzugefügt hatte.

Und so war die Neugierde in Mark erwacht und er hatte sich entschlossen, die Einladung anzunehmen.

Leider war er alleine hierher gekommen, da Hinnerk Lührs für ein paar Tage nach England geflogen war, um sich dort – wie er angedeutet hatte – um Angelegenheiten als Ordensmeister zu kümmern, und auch Knut Ukena war nicht in Hüll gewesen, als Mark sich entschloss loszufahren.

So ließ der Hüter den Schatz in der Obhut seiner Liebsten Sabrina Funke und des treu sorgenden James, war in den BMW gestiegen, den Hinnerk ausnahmsweise nicht benutzt hatte (er war murrend mit einem Taxi zum Flughafen gefahren) und in Richtung Süden davon gedüst.

Der Butler blieb vor einer Tür stehen und schlug vorsichtig gegen das glänzende Holz. „Ja bitte“, drang es aus dem dahinter liegenden Raum und zusammen mit Mark, den das Klopfen aus seinen Gedanken gerissen hatte, betrat der Hudson-Klon einen breiten, fürstlich ausgestatteten Salon.

„Herr Lawrenz! Dr. Larsen ist angekommen.“

An einem langen Tisch, der wohl vor Urzeiten bei ausgiebigen Festgelagen genutzt worden war, stand ein distinguiert gekleideter Mann in mittleren Jahren, der sich nun umdrehte und den Ankömmling anlächelte.

„Ah... Dr. Larsen, sehr schön, dass Sie so kurzfristig kommen konnten.“

Lawrenz trat auf Mark zu und streckte ihm die rechte Hand entgegen, die der wortlos ergriff.

Mark war es seit seiner Ernennung zum Hüter - und somit seit Beendigung seiner Tätigkeit für die Universität Hamburg - überhaupt nicht mehr gewohnt, mit seinem akademischen Titel (auf den er sich ohnehin nie viel eingebildet hatte) angesprochen zu werden.

„Es tut mir wirklich Leid, dass alles so überhastet ablief, aber es war ziemlich schwierig, Sie ausfindig zu machen“, erklärte Lawrenz, nachdem das Händeschütteln beendet und der Butler gegangen war.

„Ja, ich lebe ziemlich zurückgezogen“, erwiderte Mark nur kurz angebunden und blickte sich weiterhin in der Halle um.

Der Raum war gigantisch und der Hüter schätzte, dass etwa die Hälfte des Glückshauses hier hätte untergebracht werden können.

Überall waren Gemälde angebracht, wachten aufrecht dastehende, glänzende Rüstungen, hingen altertümliche Waffen und Wappen an den Wänden und luden breite Sessel zum Niederlassen ein.

Mittelpunkt der Halle war der breite, lange Tisch, um den hochlehnige, gepolsterte Stühle aus edlem Holz standen.

Mark zählte sechs davon!

„Wenn ich nicht erfahren hätte, dass Sie mal für die Universität Hamburg gearbeitet haben und da immer noch ein Email-Postfach besitzen, wäre ich Ihnen wohl nie auf die Spur gekommen.“

Und so soll es ja auch sein, dachte Mark zufrieden.

Gelegentlich, eigentlich eher unregelmäßig, checkte er immer noch sein altes Postfach bei der Uni, jedoch über eine Verbindung, die nicht zurückzuverfolgen war (Knut Ukena sei Dank), denn niemand durfte wissen, wo er und vor allem Christine wirklich lebten.

„Sie haben sich ja schon dazu geäußert, wie sehr es Sie erstaunt, dass die von Klangsteins, Sie in Ihrem Testament erwähnen.“

Mark nickte, trat etwas dichter an den breiten Kamin heran, in dem ein Feuer prasselte und behagliche Wärme aussandte.

„Allerdings. Ich habe die beiden nicht gekannt und bis gestern auch noch nie von ihnen gehört.“

Lawrenz nickte lächelnd.

„Ja, ja ... waren wirklich ungewöhnliche Menschen mit sehr vielen Interessen.“

„Ach ja?“

„Ja, wirklich. Sie waren den eher grenzwissenschaftlichen Bereichen sehr zugetan.“

Mark rieb sich die Hände.

„Parapsychologie? Okkultismus?“, fragte er.

Lawrenz schien einen Moment nachzudenken, ob er auf diese Frage antworten sollte, und entschied sich dafür.

„Das erstgenannte Thema kann ich bestätigen, beim zweiten muss ich passen.“

Mark umrundete langsam den Tisch.

„Das erste schließt das zweite fast mit ein, Herr Lawrenz.“

Der Notar lächelte.

„Ah ja, Sie als Anthropologe kennen sich da besser aus als ich, der ich nicht einmal eine besonders ausgeprägte Phantasie besitze.“

Mark wechselte das Thema.

„Es kommen noch andere Personen zur Testamentseröffnung?“

Lawrenz nickte schnell.

„Oh ja, insgesamt werden wir zu sechst sein. Die anderen Herrschaften haben sich auf ihre Zimmer zurückgezogen.“

„Das ist eine gute Überleitung, Herr Lawrenz. Würde es sehr große Umstände machen, mir, zumindest für eine Stunde, auch ein Zimmer zur Verfügung zu stellen, damit ich mich frisch machen und umziehen kann?“

„Aber natürlich nicht! Wo denken Sie hin? Ich werde alles veranlassen. Entschuldigen Sie mich bitte kurz.“

Lawrenz trat an den Tisch, schloss den Aktenkoffer und verließ damit den Raum. Mark blickte dem Notar nachdenklich hinterher.

Das ungute Gefühl in ihm regte sich nach wie vor, war durch das kurze Gespräch mit Lawrenz nicht beseitigt worden und der Hüter befürchtete sogar, dass es sich noch verstärken würde.

Hier war eindeutig etwas im Gange!

Und Mark hoffte inständig, dass er dem gewachsen war.

 

***

 

Seit sie mit ihrer Freundin Cornelia Bender in die Höhlen des Kyffhäuser vorgedrungen* und in wahrhaftigen Horror hineingezerrt worden war, war Sabrina Funke mit allerlei Furcht einflößenden Dingen und Situationen konfrontiert worden

Allein die Erinnerung an jene Nacht, in der sie und Mark Larsen sich in der Gewalt des zum Vampir mutierten Connor Baigent befunden hatten*, schaffte es bisweilen noch, sie schweißbedeckt aus dem Schlaf empor schrecken zu lassen

In diesem Augenblick drohte ihr zwar keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben, aber dennoch fühlte sie sich sehr unbehaglich.

Der Grund dafür hatte einen Namen: Hinnerk Lührs!

Er stand direkt vor Sabrina, etwa drei Meter entfernt im Türrahmen des Wohnzimmers vom Glückshaus und funkelte sie zornig an.

Sie kannte Hinnerk genauso lang wie sie Mark und auch Knut Ukena kannte, und während dieser ganzen Zeit hatte sie den vollbärtigen, bauchlastigen Hünen nie wirklich richtig wütend erlebt.

Besorgt: ja. Etwas ärgerlich: ja. Ungeduldig: auch. Aber nicht wirklich wütend.

In diesem Augenblick jedoch, knapp zehn Minuten, nachdem er von seinem England-Trip zurückgekehrt war, war Hinnerk Lührs wütend.

Und zwar wegen Mark Larsen!

„Wat is dat blots för een Dösbaddel, neee, neee...“, schnaubte Hinnerk, betrat den Wohnraum und musterte die Anwesenden der Reihe nach.

Fast kam es Sabrina so vor, als würden kleine, bläulich schimmernde Entladungen in der Schwärze seiner Iris aufflammen.

 „Düsse Jung kann man ober ock nich een Moment alleen lodden. Verdammich ober ock!“

Der groß gewachsene Mann mit der ausgeprägten Stirnglatze und dem buschigen Vollbart, der die untere Hälfte seines Gesichts fast vollständig verschwinden ließ, knurrte leise, als er an Sabrina vorbeistapfte. Auch Knut Ukena, der selber gerade erst eine halbe Stunde hier im Haus weilte, sprang schnell zur Seite, weil er sonst Gefahr lief, von Hinnerk einfach über den Haufen gerannt zu werden.

„Nun mach dich doch nicht verrückt, Hinnerk. Vielleicht ist alles ganz harmlos.“

Der Hüne kreiselte herum und der kräftige Zeigefinger seiner rechten Hand stach Knuts Brustbein entgegen.

„Wat vertellst du denn för een Schietkrom?“

Hinnerk schien sich einen winzigen Augenblick zu besinnen und fuhr dann in hochdeutschem Idiom fort.

„Mark wird überraschend zu einer Testamentseröffnung eingeladen. Es geht um das Testament von Leuten, die er, laut eigenen Angaben, überhaupt nicht kannte. Das Ganze findet irgendwo im Spessart statt, also weit vom Schuss und er fährt – in Ermangelung meiner und Knuts Anwesenheit – allein dorthin.“

Er richtete sich auf und musterte Knut, der, obwohl er nur unwesentlich kleiner war, das Gefühl hatte, neben Hinnerk zusammenzuschrumpfen.

„Und jetzt erklären Sie mir bitte eins, Herr Ukena...“

Knut schluckte.

„... hört sich das tatsächlich für dich harmlos an, oder sollte ich der einzige sein, der dahinter eine Falle vermutet? Selbst so eine hohle Nummer wie ‚Johnny English’ hätte gemerkt, dass da was faul ist.“

Knuts Blick suchte Sabrina, aber sie zuckte nur kurz mit den Schultern.

„Ich schätze mal, du hast Recht. Riecht verdammt nach einer Falle ...“

„Aha“, machte Hinnerk nur.

Kaum hatte er das von sich gegeben, da wankte er – erschöpft und um Jahre oder gar Jahrzehnte gealtert wirkend – zu einem bereitstehenden Sessel und ließ sich einfach hineinfallen.

Nach allem, was in den letzten Wochen vorgefallen war, wunderte sie sich nicht darüber.

Allein sein Kampf gegen Thomas Hartmann hatte ihn viel Kraft gekostet*.

Die Auseinandersetzung in der Höhle bei Donegal Bay war wirklich hart gewesen.

Nein, man konnte es Hinnerk wirklich nicht verübeln, das er etwas angeschlagen wirkte.

„Nachdem, was Connor Baigent mit euch beiden angestellt hat, hätte ich wirklich gedacht, Mark würde in Zukunft etwas vorsichtiger sein. Aber nein...“

Er schüttelte den Kopf und versank in düsteres Grübeln.

Sabrina blickte zu James und Christine hinüber, die bislang schweigend den Geschehnissen beigewohnt hatten.

Christine sah besorgt aus, was sich im häufigen Blinzeln ihrer Augenlider und dem gelegentlichen Kauen auf der Unterlippe zeigte.

James wirkte unerschütterlich wie immer, doch auch bei ihm hatte Sabrina mittlerweile den Dreh raus, erkennen zu können, was ihn bewegte. Und der englische Butler und Getreue Christines war ebenfalls um Mark besorgt.

„Hätte ich ihn aufhalten sollen?“, fragte Sabrina plötzlich.

Hinnerk blickte auf, musterte sie einen Moment lang und setzte dann ein schmales Lächeln auf, was eigentlich nur zu erkennen war, weil sich sein Bart bewegte und kleine Fältchen um seine Augen herum entstanden.

„Nein, Sabrina. Ich fürchte, das hättest du gar nicht gekonnt.“

Versonnen blickte Hinnerk zum Fenster hinüber, hinter dem nichts als allgegenwärtige Schwärze zu existieren schien.

„Mark ist der Hüter. Der letzte Hüter sogar! Und er folgt seiner Bestimmung. Auch wenn er in mancherlei Hinsicht noch unbedarft und etwas... töffelig ist, so weiß er doch die Zeichen dieser Bestimmung zu deuten und ihnen nachzugehen. Und im Grunde genommen ...“

Hinnerk holte tief Luft und stieß sie, begleitet von einem leisen Seufzen, wieder aus.

„... ist das gut und richtig so. Es dürfte gar nicht anders sein. Nur ändert das nichts daran, dass ich mir Sorgen mache und gerade jetzt ein verdammt ungutes Gefühl in mir verspüre.“

Jetzt erschrak Sabrina doch ein wenig.

Wenn Hinnerk so etwas spürte, dann war tatsächlich etwas faul an der ganzen Geschichte.

„Vielleicht sollten wir Mark folgen“, schlug nun Knut vor, der sich von der lähmenden Wirkung des durchdringenden Blickes Hinnerks hatte erholen können.

„Knut! Mark befindet sich in Unterfranken. Wir haben zwar eine Kopie des Routenplans, den dieser Notar geschickt hat, aber wie sollten wir da schnell genug hinkommen? Das sind weit über 500 Kilometer. Noch bevor wir die Hälfte der Strecke zurückgelegt hätten, wäre Mark dreimal getötet worden“, erklärte Sabrina eindringlich und niedergeschlagen gleichzeitig.

Plötzlich ertönte ein Klatschen und vier Augenpaare richteten sich auf Hinnerk, der seine Hand auf den Oberschenkel hatte niederfahren lassen.

„Dat kunn klappen...“, tönte er, sprang behände aus dem Sessel und wetzte mit langen, wummernden Schritten an Sabrina und Knut vorbei, die Treppe in den ersten Stock hinauf und dort in sein Zimmer.

Die anderen blieben im Wohnzimmer und blickten stumm zur Decke empor, über der Hinnerk – in seinem Zimmer wohlgemerkt – wie wild zu wogen und zu wüten begann.

Es hörte sich an, als würden Tonnengewichte hin und her geschoben werden. Kurze krachende Laute ertönten und ließen das Glückshaus in den Grundfesten erzittern.

„Was er wohl vorhat?“, fragte Knut mit belegter Stimme, die in dem Tosen beinahe unterging.

Sabrina Funke wusste darauf keine Antwort.

Sie hoffte nur, dass was Hinnerk auch immer tun mochte, hilfreich für Mark Larsen sein war.

 

***

 

Stiebler schlich aus dem Schloss.

Er benutzte den Hinterausgang, sprich den Lieferantenausgang, und gelangte so in den Innenhof des altehrwürdigen Gemäuers.

Hier, nahe der ehemaligen Stallungen, die mittlerweile zu Lagerräumen und dergleichen umfunktioniert worden waren, schob er sich dicht an das feuchte Mauerwerk, so dass der Regen ihn nicht erreichen konnte.

Mit zittrigen Fingern klaubte Gernot Stiebler sich eine Lucky Strike aus der halbleeren Packung, entzündete vorsichtig das billige Wegwerffeuerzeug und setzte den Tabak in Brand, um schnell einen gierigen Zug in seine Lungen zu pumpen.

Ah... wie gut das tat, wie sehr er das in den zwei Stunden seit seiner Ankunft entbehrt hatte.

Aber seine Chefin – Miriam Burkhard, die Schwester der verstorbenen Baronin – hatte ihn zum einen nicht aus den Augen gelassen und zum anderen mit einer Vielzahl von unsinnigen Aufgaben bedacht.

Eigentlich war er nur der Fahrer dieser überheblichen und arroganten Zicke, aber sie missbrauchte ihn zu gerne als Botengänger, Kofferträger, Handwerker und Sandsack.

Der Job wurde zwar gut bezahlt, aber auf Dauer würde er diesen Scheiß nicht mitmachen.

Seine Kündigung war bereits in seinem PC abgespeichert und würde – höchstwahrscheinlich irgendwann im nächsten Jahr – ausgedruckt auf dem Schreibtisch der Burkhard landen.

Dann hatte er sich genug zusammengespart, um nach Australien auszuwandern, wo er sich einen eigenen Kurierdienst aufbauen wollte.

Stiebler fluchte leise, als er auf die Zigarette in seiner Hand blickte. Diese verdammte Sucht hatte ihn mindestens so fest im Griff, wie seine blöde Arbeitgeberin. Wie konnte ein intelligenter Mensch eigentlich mit dem Rauchen anfangen?

Bei ihm war der Faktor Stress eindeutig der Auslöser gewesen, und er hoffte, sobald er der alten Spinatwachtel den Job vor die Füße geworfen hatte, dass er einen schnellen und unproblematischen Weg fand, von den Glimmstängeln wieder loszukommen.

Im Moment aber hatte es keinen Zweck damit aufhören zu wollen und so nahm er noch zwei Züge, ehe er die Kippe auf den Boden fallen ließ und sie zertrat.

So! Jetzt ging es ihm besser! Das Zittern und die Unruhe waren – vorübergehend – besiegt und er konnte wieder seinen „Pflichten“ nachkommen.

Stiebler straffte seine Haltung, korrigierte geringfügig den Sitz seiner Krawatte und wollte zum Hauptgebäude zurückkehren, als ihn eine Bewegung aus den Augenwinkeln ablenkte.

Er drehte den Kopf und blickte in das Dunkel vor sich, in welchem lediglich die Regentropfen zu erkennen waren, die das Licht aus den Fenstern brachen.

Ein gespenstischer und gleichzeitig merkwürdig faszinierender Anblick, wie der Fahrer meinte. Einen Sekundenbruchteil später zuckte er zusammen, als sich zwischen den Lichtreflexen der Tropfen eine Gestalt heraus schälte.

Stiebler stutzte, denn er hätte nicht gedacht, dass sich außer ihm noch jemand nach draußen begeben würde.

Wer war das da vorne?

Stiebler beschloss, Nägel mit Köpfen zu machen, trat einen Schritt vor, so dass die schwachen Ausläufer des Lichts, welche ins Freie drangen, ihn sichtbar werden ließen und rief die fremde Person mit lauter Stimme an.

„Hallo!“

Ein ganz einfaches Wort, wie es an unzähligen Punkten der Welt in zahlreichen Sprachen ausgesprochen wurde, doch hier und jetzt hatte es eine verheerende Wirkung.

Etwas blitzte vor Stiebler auf.

Der Fahrer von Miriam Burkhard kam nicht einmal mehr dazu, sich zu fragen, was es war, denn schon im nächsten Moment wirbelte dieses Etwas in rasender Geschwindigkeit durch die Luft und traf gnadenlos und präzise seine Kehle.

Er wurde leicht zurückgestoßen, konnte nicht einmal Keuchen, denn das Etwas hatte Haut, Knorpel und Gurgel durchstoßen und zerteilt.

Blut schoss in Stieblers Mund und ein letztes Mal versuchte der Fahrer Luft zu holen, was aber nur ein nasses Gurgeln verursachte.

Im nächsten Moment brach er tot zusammen. Ein kunstvoll geformter Dolchgriff ragte aus dem Hals.

Die Gestalt trat nun gelassen näher und dabei hätte ein Betrachter der Szene miterleben können, wie diese vergnügt ein Liedchen vor sich hin pfiff.

Asnard schälte sich aus der Dunkelheit, blickte auf den toten Stiebler, bückte sich und zog mit einem Ruck den Dolch aus der Kehle.

Während er die Klinge an der Kleidung des Toten abwischte, lächelte er versonnen, blickte zum düsteren Himmel empor und sagte etwas eher banal Klingendes, in dem jedoch auch eine unterschwellige Drohung lag.

„Eine wundervolle Nacht, um Unheil zu stiften.“

Er erhob sich, ließ den Dolch unter seinem weiten Mantel verschwinden und holte einen etwa faustgroßen, rötlich leuchtenden Kristall hervor.

Das Leuchten des Kristalls wurde stärker, als Asnards Hand ihn umschloss. Ein wohliges Prickeln durchlief die Haut des Dämons, als er zum Schloss blickte.

„Es scheinen alle da zu sein. Das Spiel kann beginnen“, murmelte er und begann sich voll und ganz auf den Kristall in seiner Hand zu konzentrieren.

 

***

 

Mark Larsen stand etwas abseits, was ihn normalerweise gar nicht unbedingt störte, denn von einer solchen Position aus, konnte man hervorragend seine Umgebung im Auge behalten und seine nächsten Schritte in Ruhe planen.

Heute fühlte er jedoch unterschwellig etwas Verdruss, denn ganz offensichtlich wurde er gemieden.

Mit düsterer Miene blickte sich der Hüter in der Halle um, in der Peter Lawrenz ihn vorhin begrüßt hatte.

Außer ihm und dem Notar, der geschäftig in einigen Aktenordnern herumblätterte und einen großen Umschlag neben seinem Koffer auf den Tisch gelegt hatte, befanden sich noch drei andere Personen im Raum.

Und diese gaben Mark das Gefühl nicht erwünscht zu sein.

Es waren eine Frau und zwei Männer, die sich aber auch untereinander nicht so richtig zu verstehen schienen.

Ein Angestellter oder Bediensteter der Frau, die die siebzig bereits zielgenau ansteuerte, hatte sich fast unauffällig aus dem Raum gestohlen (etwas, das Mark jetzt auch gerne getan hätte). Seitdem hatte die in einem sündhaft teuren, aber auch zu eng wirkenden Kleid steckende Frau wütende Blicke in alle Richtungen verschossen.

Ihr mahaghoni gefärbtes Haar unterstrich die Wirkung dieser Blicke sogar noch.

Auf Mark schien sie besonders wütend zu sein, denn immer, wenn sie ihn ins Auge fasst, verzogen sich ihre Mundwinkel immer weiter nach unten.

„Sie scheinen ein Auge auf die Schwester der Verblichenen geworfen zu haben“, raunte im nächsten Moment eine Frauenstimme direkt neben ihm und der Hüter fuhr regelrecht zusammen.

Es war erschreckend für ihn, aber die schelmisch grinsende Frau von etwa Mitte Dreißig hatte sich unbemerkt an ihn heranschleichen können.

„Bitte entschuldigen Sie, aber es war einfach zu verlockend.“

Das Grinsen wurde breiter und richtig ansteckend und im nächsten Moment streckte sie ihm die Hand entgegen.

„Petra Kern“, stellte sie sich vor.

Mark lächelte etwas verunsichert, ergriff aber die Hand und tat es ihr gleich.

„Mark Larsen.“

„Oho, derjenige, der bis gestern noch gar nichts von seinem Glück, an dieser Testamentseröffnung teilnehmen zu dürfen, gewusst hat?“

Mark war etwas erstaunt darüber, dass Petra Kern über diese Umstände informiert war, und er hob seine Augenbrauen in fragender Weise.

Sein Gegenüber erkannte die darin verborgene Frage deutlich und spannte ihn nicht weiter auf die Folter.

„Ich bin freie Journalistin und habe, als ich meine Einladung erhielt, sofort begonnen etwas zu recherchieren. Eine von Lawrenz’ Angestellten ist eine gute Freundin der Schwester eines Bekannten von mir und so habe ich... Sie wissen schon.“

Petra Kern zwinkerte verschwörerisch und hob ihren rechten Zeigefinger zum Mund.

„Aber nichts verraten, ja? Sonst ist die Kleine ihren Job los.“

Mark nickte schnell.

„Kein Wort kommt über meine Lippen. Aber Sie scheinen sich hier auszukennen. Mit wem haben wir denn hier die Ehre?“

Die Journalistin, die ihr dunkelblondes Haar sehr kurz geschnitten trug und in deren taubenblauen Augen ein freches Glitzern lag, deutete unauffällig an Mark vorbei.

„Na, die Schwester der toten Baronin habe ich Ihnen ja schon vorgestellt. Sie heißt Miriam Burkhard und war der Verstorbenen gram, weil sie ihr in jungen Jahren den Baron vor der Nase weggeschnappt haben soll. Was daran wahr ist, weiß ich nicht, jedoch weiß ich genau, dass sich die beiden Schwestern wegen ihrer Erbteile gehörig in die Haare bekommen haben und dass das der Anfang eines Zwistes zwischen ihnen war, der fast vier Jahrzehnte andauerte.“

Petra beugte sich etwas näher an Mark heran und er konnte ihr angenehmes, sogar leicht betörendes Parfüm wahrnehmen.

„Seien Sie vorsichtig, drehen Sie dieser Frau niemals den Rücken zu und gehen Sie in Deckung, wenn die loslegt. Die kennt kein Pardon.“

„Aha“, machte Mark nur und deutete dann auf einen der beiden Männer.

Er war der jüngere der beiden, stand nahe am Kamin und blickte versonnen in die Flammen.

„Das ist Hans Krestner! Er ist – so munkelt man – der uneheliche Sohn des verblichenen Barons. Bernward von Klangstein war in jungen Jahren wohl ein ganz schöner Charmeur und der Umstand, verheiratet zu sein, hat ihn damals nicht gestört, sein Glück auch anderweitig zu suchen. Das – zugegebenermaßen – unerwünschte Ergebnis einer dieser Liebeleien war der junge Mann, den Sie da stehen sehen, und der viele, viele schlechte Angewohnheiten seines leiblichen Vaters angenommen haben soll. Ein Weiberheld, spielsüchtig und auch dem Alkohol nicht abgeneigt.“

„Und der Herr dort im Sessel ...“, Petra Kern deutete auf den letzten Anwesenden, den Mark nicht kannte, „... heißt Andreas Falk. Er hat vor einigen Jahren mit den Verstorbenen geschäftliche Beziehungen unterhalten. Es gibt da Gerüchte, wonach sich die Geschäftspartner aber trennten, weil Falk – mit Verlaub gesagt und höflich ausgedrückt – ein ziemlicher Erzgauner sein soll.“

Die Reporterin lächelte schmal bei ihren eigenen Worten, was Mark sehr anziehend fand und wodurch es ihm schwer fiel die nächsten Worte zu finden.

Er musste sich kurz räuspern, setzte selber ein leicht verlegenes Lächeln auf und sprach dann, mit bemüht ruhiger Stimme.

„Und der ist auch zur Testamentseröffnung eingeladen worden? Man sollte doch wohl annehmen, dass die von Klangsteins auf jemanden, der sie betrogen hat, verzichtet hätten, oder?“

Petra Kerns Lächeln wurde nun etwas herausfordernder.

„Sie hätten wohl auch auf jemanden verzichtet, den sie bis dahin überhaupt nicht kannten, Dr. Larsen?“

Mark blickte, einen Moment sprachlos, in die großen Augen der ausgesprochen hübschen Frau.

„Toùche, kann ich da nur sagen. Ihre Informantin in Lawrenz’ Büro hat gute Arbeit geleistet.“

„Ich werde es bei Gelegenheit ausrichten.“

Zu einem weiteren Wortwechsel kam es nicht mehr zwischen den beiden, denn Peter Lawrenz räusperte sich nun lautstark, zog so die Aufmerksamkeit auf sich und machte eine einladende Geste auf die Stühle am Tisch.

Nach und nach nahmen die Anwesenden Platz, während Lawrenz sich am Kopfende des Tisches postierte und der Butler Johann neben der Eingangstür der Halle zum Stehen kam und alles mit kühlem, professionellem Blick im Auge behielt.

„Zunächst einmal danke ich Ihnen, dass Sie alle – teilweise auch ziemlich unvorbereitet und kurzfristig – hier auf Schloss Klangstein erschienen sind. Die Verstorbenen – Baron und Baronin von Klangstein - haben in einem Schreiben, dass an mich gerichtet war, darum gebeten, dass Sie alle hier erscheinen mögen, damit die Testamentseröffnung vonstatten gehen kann.“

Lawrenz machte eine kurze Pause, blickte die Personen am Tisch der Reihe nach an, nickte dann und fuhr fort.

Mark fühlte ein unangenehmes Prickeln im Nacken, welches ihn schlagartig alarmierte.

Er konnte es sich nicht erklären, aber seit jener schicksalhaften Nacht auf dem Flughafen Agathenburg* verfügte er über eine Art von Sechstem Sinn, der sich immer einschaltete, wenn etwas Bedrohliches oder Gefährliches bevorstand.

Unbewusst tastete er mit seiner rechten Hand nach dem Griff seiner Makarov-Pistole, die er im Schulterhalfter unter dem Jackett trug.

Sie hatte ihm schon oft gute Dienste geleistet und er war beruhigt, als er das kühle Metall unter seinen Fingerkuppen spürte.

Lawrenz erging sich derweil in einigen langatmigen Ergüssen um das verstorbene Ehepaar und Mark nutzte die Gelegenheit, sich unauffällig umzublicken.

Von wo drohte Gefahr?

Sollte Johann der Quell des Unheils sein, welches über sie alle hereinbrechen würde?

Mark fand darauf keine zufrieden stellende Antwort, aber am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte alle im Raum befindlichen Personen hinausgescheucht. Es war ein regelrechter Drang, dem er nur unter Mühen widerstehen konnte.

Sein Blick kreuzte den von Petra Kern, die direkt neben ihm am Tisch saß und die verwundert und fragend ihre schmalen Augenbrauen in die Höhe zog.

Wie gerne hätte er etwas gesagt, doch gleichzeitig kam es ihm vor, als wäre es besser zu schweigen und sich zurückzuhalten.

„... und so kommen wir zur Eröffnung des Testaments, der beiden Menschen, die auf so tragische Weise einen Weg aus ihrem eigenen Leben suchten, welches für sie voller Überdrüssigkeiten war.“

Mark stutzte bei diesen Worten des Notars und blickte ihn ernst an, was der jedoch nicht wahrnahm, weil er sich darauf konzentrieren musste, seine Pflicht hier zu erfüllen.

Lawrenz griff nun nach dem prall gefüllten, großen Umschlag, neben dem Koffer, in welchem sich wohl das Testament befand.

Gespannte Aufmerksamkeit machte sich am Tisch breit.

Was hatte Lawrenz da eben gesagt? Das Ehepaar hatte Selbstmord begangen?

„Haben die beiden den Freitod gewählt?“, fragte Mark mit gedämpfter Stimme in Richtung Petra Kerns.

„Ja! Wussten Sie das nicht?“

Der Hüter schüttelte den Kopf und lehnte sich wieder auf seinem Stuhl zurück. Das Prickeln in seinem Nacken wurde stärker und unangenehmer.

„Und somit habe ich nun die Ehre, das Siegel dieses vor wenigen Tagen bei mir hinterlegten Testaments zu brechen und Ihnen seinen Inhalt zu eröffnen.“

Vor wenigen Tagen erst hinterlegt?

In Mark schrillten plötzlich die Alarmsirenen, obwohl er nicht einmal genau sagen konnte, weshalb.

Er wollte aufspringen, Lawrenz anrufen, den Umschlag nicht zu öffnen, er wollte etwas tun, doch... er handelte zu langsam.

Zwar kam er auf die Füße, doch noch ehe er etwas sagen konnte, hatte der Zeigefinger des Notars den Umschlag aufgeschlitzt und damit wurde eine Reihe von verhängnisvollen Ereignissen ausgelöst.

 

***

 

Urplötzlich erlosch das Licht!

Die schlagartig einsetzende Dunkelheit im Raum ließ Krestner leise fluchen und Miriam Burkhard einen heiseren Ruf ausstoßen.

„Was um alles in der Welt ...“, begann Andreas Falk, doch sogleich gingen seine Worte in einem durchdringenden Zischen unter, denn der Umschlag in Lawrenz’ Händen entflammte in einem Pulk aus rötlich-grellem Feuer, zerfraß binnen Sekundenbruchteilen das Papier und pflanzte sich dann in rasendem Tempo über den gesamten Leib des Notars fort.

Mark keuchte erschrocken, wich einen Schritt zurück und nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie die anderen Beteiligten sich erhoben und dasselbe taten.

Johann, der Butler stand unbewegt, aber mit sichtbarem Schrecken im aschfahlen Gesicht neben der Eingangstür und wusste nicht recht, was er tun sollte.

Inzwischen begannen die Flammen sich zu verändern, legten sich hauteng um den Körper Lawrenz’, zeichneten ihn zunächst nach, um ihn dann... zu verändern!

Der Hüter konnte es, wie alle anderen Anwesenden, nicht fassen, aber es war so, als lege sich eine dreidimensionale Projektion über den Leib des Notars.

Mark erkannte ein anderes Gesicht.

Hohe, schmale Wangen, eine kräftige, kurze Nase, grauweißes Haar, welches wie gegelt zurückgekämmt war und durchdringende Augen.

„Mein Gott ... Bernward“, flüsterte Miriam Burkhard irgendwo im Hintergrund.

„Ja! Ich bin es in der Tat, und ich freue mich tatsächlich, euch alle wieder zusehen, auch wenn ich eigentlich sehr wenig Grund habe, mich zu freuen. Jeder von euch hat mir und meiner geliebten Beatrice zu Lebzeiten nur Ärger und Kummer bereitet. Den Schlaf und einen Teil unseres Seelenfriedens habt ihr uns geraubt und jetzt ... ja jetzt ist die Stunde der Abrechnung gekommen.“

Die Erscheinung, durch deren Konturen der Körper Peter Lawrenz’ gelegentlich, wie eine ferne Erinnerung hindurchschimmerte, legte eine kurze Pause ein und präsentierte ein grausames Grinsen.

„Ihr werdet dieses Gebäude nicht mehr verlassen können, und jene Kräfte, die uns bei unserer Rache unterstützen, sorgen dafür, dass ihr den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erleben werdet.“

Das düstere Versprechen schwang noch durch den Raum, als ein rötliches Leuchten von der Erscheinung abgestrahlt wurde und sich wie ein sanfter Schimmer über die Türen und Wände legte.

Wie von Geisterhand bewegt rasselten nun die Rollos und Fensterläden herunter und Mark vermeinte sogar das Quietschen von Schlüsseln in Schlüssellöchern zu hören.

Es rann ihm eisigkalt den Rücken herunter.

Sie waren eingeschlossen!

Und somit waren sie den unheimlichen Kräften der geisterhaften Erscheinung des Barons hilflos ausgesetzt.

Als dieser begann, voller Zufriedenheit und Selbstgefälligkeit zu lachen, wusste Mark Larsen, dass ihnen allen eine wahre Schreckensnacht bevorstand...



The foul smell of evil hangs over the moores.

Where in a lonely hut witches dwell. Repelling creatures ageless feared and fitted.

With powers from the depths of hell.

Once a noble man a baron brother of the king himself.

Visited the witches on a dark dark night.

He asked assist to gain the throne.

He sold his soul to win a fight.


(Grave Digger Circle Of Witches)

 

2. Kapitel:

Die Furien der Schreckensnacht


 


Seit fast einer halben Stunde rumorte es im Zimmer von Hinnerk Lührs.

Sabrina Funke, Knut Ukena, Christine und der Butler James, blickten sich fragend und stumm an.

Sie hatten sich mittlerweile die Treppe hinaufgewagt und standen nun im Flur vor dem Zimmer, um zu lauschen.

„Sollte einer von uns klopfen?“, fragte Sabrina nach einer Weile. Knut schüttelte sogleich den Kopf und machte Gesten, die ausdrücken sollten, dass er sich nicht dafür bereit erklären wolle.

Und so ließen sie es vorerst und hofften, dass Hinnerk alsbald aus dem Zimmer kommen und ihnen eine Erklärung anbieten würde.

Doch zunächst blieb alles wie gehabt.

Hinnerk rumorte, schob und schmiss irgendwelche Gegenstände herum, ließ es krachen und rumsen und zwischendurch fluchte er leise oder schimpfte deutlich auf Mark Larsen.

Sabrina wurde es langsam unbehaglich, denn sie gab sich die Schuld an der Situation, in der sie sich befanden, auch wenn sie eigentlich nichts dafür konnte, wie ihr Hinnerk ja bereits erklärt hatte.

Aber so war es nun einmal bei manchen Menschen. Vielleicht sogar bei den meisten oder gar allen.

Auch wenn es keinen vernünftigen Grund gab, machte man sich Vorwürfe für etwas, was man getan hatte oder besser nicht getan hatte.

Mitten in diese Überlegung hinein, öffnete sich die Tür zu Hinnerks Zimmer, der herausgeeilt kam und überrascht stehen blieb, weil er wohl nicht damit gerechnet hatte, dass seine Freunde ihm in den ersten Stock des Glückshauses gefolgt waren.

 „Äh, hast du gefunden, wonach du gesucht hast?“, fragte Sabrina und wagte sich nicht vorzustellen, wie chaotisch es jetzt – nach all dem Treiben darin – in Hinnerks Zimmer aussehen musste.

Der bärtige Hüne blickte kurz auf seine rechte Hand, in der er eine Pergamentrolle hielt.

„Ja, kann man sagen“, murmelte Hinnerk und schritt zügig an den vier Personen im Gang vorbei, wetzte die Treppe ins Erdgeschoss hinab und griff nach seinem Mantel und seinem Elbsegler, den er sich schief auf den Schädel setzte.

„Hey ... Momentchen mal, ja? Wo willst du denn hin?“, rief Sabrina aufgebracht und eilte hinab in den Flur.

Mit flinken Fingern knöpfte Hinnerk den Mantel zu.

„Das Gefühl der Bedrohung in mir wird stärker. Ich habe den Eindruck, dass sich meine Befürchtung bewahrheitet. Mark ist in üblen Schwierigkeiten.“

„Und nun willst du einfach so zu ihm aufbrechen? Du hast doch selber gesagt, wir könnten ihn nicht rechtzeitig erreichen“, schaltete sich Knut ins Gespräch ein.

Hinnerk griff nach der Pergamentrolle, die er auf dem kleinen Beistelltischchen abgelegt hatte, und rollte sie kurz auseinander.

Knut stand noch auf der Treppe und somit etwas günstiger als Sabrina. Im Gegensatz zu ihr konnte er auf die Karte blicken, was ihn jedoch nicht wirklich weiterbrachte.

Alles was er von seinem Standpunkt erkennen konnte, waren fahrig gezeichnete Umrisse, die an die Verläufe von Küstenlinien und Flüssen auf Landkarten erinnerten.

Dazwischen waren merkwürdige stilisierte Symbole eingezeichnet, die Knut unwillkürlich an ... Bäume erinnerten.

Ehe Knut noch genauer nachschauen konnte, hatte Hinnerk das Pergament wieder zusammengerollt und es sich unter die Achsel geklemmt.

„Ich melde mich, sobald ich da bin und genaueres weiß“, sagte er nur und wollte sich ins Freie zwängen, doch mit einem energischen Gesichtsausdruck stellte sich ihm Sabrina in den Weg.

„Ich sagte Moment, mein Lieber. Wie denkst du, kannst du rechtzeitig dorthin gelangen? Und wenn dir das tatsächlich möglich ist, wieso willst du alleine los? Natürlich kommen wir mit.“

Sie bedachte Knut mit einem kurzen Blick aus den Augenwinkeln und dieser nickte.

„Dat is nett meent, mien Seuten, ober dat geiht nich so eenfach!“

Sabrina winkte ab. Sie wirkte ärgerlich!

„Wieso?“

Hinnerk holte tief Luft und seine Gesichtshaut verfärbte sich bereits wieder leicht rötlich, so dass anzunehmen war, dass er sich ärgerte, aber Sabrina war unerschütterlich. Es ging hier immerhin um Mark Larsen, und da verlangte sie einfach Klarheit.

„Wenn ick di dat nu erklärn mutt, löbt mi de Tied davun. Wi hebt keen Tied!“

„Aber du kannst doch nicht alleine los“, drängte sich Knut wieder ins Gespräch und trat ans Ende der Treppe.

Der bärtige Hüne überlegte einen Moment lang hin und her und nickte dann ganz leicht.

„Recht hast du! Alleine wäre es vielleicht wirklich zu gefährlich. Und eigentlich sollte ich einen mitnehmen können.“

„Knut! Nimm Knut mit!“, forderte da eine Stimme aus dem oberen Gang und alle blickten hinauf.

Christine stand dort im Licht der Deckenlampe, wirkte klein, zart und verloren, wie ansonsten auch immer, doch gleichzeitig umgeben von jener unbenennbaren Aura, die bisweilen bei ihr auftrat und von der alle wussten, dass sie etwas mit ihrer außergewöhnlichen Abstammung zu tun hatte.

Hinnerk blickte einen Augenblick beinahe erschrocken auf Christine und nickte dann.

„Du heest twee Minuten, um dien Krom tosomen to packen.“

Knut schluckte überrascht, ließ aber keine Sekunde dieser Frist ungenutzt und stand zwei Minuten später tatsächlich gestiefelt und gespornt (und versehen mit seiner eigenen Makarov-Pistole) neben Hinnerk, der, ohne ein weiteres Wort mit Sabrina oder Christine zu wechseln, ins Freie stapfte.

„Passt auf euch auf. Und versucht Mark aus seinen Schwierigkeiten zu helfen“, bat Sabrina Knut Ukena, der nur kurz zögerte und Hinnerk dann folgte.

 

***

 

Obwohl das Lachen der Erscheinung des Barons von Klangstein mittlerweile seit einigen Minuten verklungen war, fühlte Mark Larsen immer noch ein unangenehmes Gefühl in seinen Eingeweiden.

Das Abbild des – angeblich - verstorbenen Besitzers des Schlosses, das sich um den Notar Peter Lawrenz gelegt hatte, war mit einem durchdringenden Zischen erloschen und hatte den armen Mann wieder freigegeben. Daraufhin war der mit verdrehten Augen zu Boden gesunken.

Während sich Gemurmel breit machte und einige beunruhigte Blicke gewechselt wurden, hatte der Hüter begonnen die Situation zu untersuchen und festgestellt, dass sie durchaus noch in der Lage waren, die Halle, in der die Testamentseröffnung stattgefunden hatte (oder auch nicht, wie man es nun betrachten wollte), zu verlassen und sie sich – augenscheinlich – innerhalb des Schlosses frei bewegen konnten.

Danach hatte Mark die Wände der Halle genauer unter die Lupe genommen und festgestellt, dass sich in einigen von ihnen ein rötlicher Schimmer verwoben hatte.

Ein anderer Ausdruck wollte dem Hüter einfach nicht einfallen. Es sah wirklich so aus, als strahle das Rot durch das Mauerwerk hindurch.

Allerdings waren nicht alle Wände davon betroffen, sondern nur die Außenmauern.

Mark blickte sich um und sah, wie Petra Kern, die sympathische Journalistin, Peter Lawrenz soeben einen Cognac-Schwenker reichte.

Der Notar hockte auf einem der Stühle am Tisch und wirkte immer noch bleich und reichlich zittrig.

Petra bemerkte Marks Blick, hob den Kopf und lächelte ihm schmal zu, was er erwiderte.

Der Blick des Hüters wanderte weiter zu den Anwesenden in der Halle.

Andreas Falk – ein dubioser Geschäftsmann und ehemaliger Partner des verstorbenen Ehepaars -, Hans Krestner – der überheblich wirkende, uneheliche Sohn des Barons – und zuletzt Miriam Burkhard – die arrogant daherkommende und verbittert erscheinende Schwester der toten Baronin – hatten sich zusammengerottet und besprachen nun im Flüsterton die Situation.

Es war Mark im Moment ganz recht, nicht mit ihnen reden zu müssen. Stattdessen wollte er sich das Schimmern im Mauerwerk noch einmal genauer ansehen. Nur ansehen, auf gar keinen Fall berühren, denn er glaubte, dass die Drohung der Geistererscheinung des Barons nicht untertrieben war.

Auch wenn es keinen Beweis für die Gefährlichkeit des Schimmerns gab, hielt der Hüter es für nicht ratsam, ihm zu nahe zu kommen.

Hier waren Mächte am Werk, die mit normalen Maßstäben nicht zu erklären waren und die absolut keinen Spaß verstanden.

Mark trat etwas dichter an die Wand heran, wobei er peinlich genau darauf achtete, nicht zu dicht heranzutreten, und beäugte das Schimmern.

Fast kam es ihm so vor, als würde es leicht pulsieren, gerade so, als wäre es mit dem Herzschlag einer Person gekoppelt.

Obwohl Marks Gesicht noch mindestens zwanzig Zentimeter von der Mauer entfernt war, fühlte er ein leichtes, aber dennoch unangenehmes Kribbeln auf seiner Haut, das sich binnen weniger Sekunden zu einem Juckreiz ausweitete.

Was passiert wohl, wenn einer diese Wand berührt?, fragte er sich, hoffte aber inständig – bei aller Neugier – dass keiner der Anwesenden auf die Idee kam, eine Antwort darauf finden zu wollen.

Doch das Schicksal hatte die Karten anders vergeben.

Unbemerkt von Mark, weil er eben sehr konzentriert auf das Schimmern achtete, trat Hans Krestner von hinten an ihn heran.

Der Schnösel hatte den Hüter einige Minuten lang interessiert beobachtet und gelegentlich einen Schluck aus einem silbernen Flachmann genommen, den er unter seinem Jackett verborgen getragen hatte.

Als ihn das Gerede von Andreas Falk und Miriam Burkhard nicht mehr interessierte, stolzierte er – auf bemerkenswert leisen Sohlen – zu Mark, nahm noch einen Schluck und trat direkt hinter ihn, um wuchtig seine Hand auf dessen Schulter klatschen zu lassen.

Mark wurde davon vollkommen überrascht, kippte – da er sich in einer vornüber gebeugten Haltung befand – vorwärts und ruderte gleichzeitig mit seinen Armen.

Er drohte weiter zu kippen und mit dem Kopf gegen die Wand zu prallen, doch im letzten Moment konnte er das verhindern.

Mit wild pochendem Herzen und Schweiß auf der Stirn wirbelte er herum. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als er Krestner musterte. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er seinem Gegenüber am liebsten an die Gurgel gegangen wäre.

„Sagen Sie mal, was sind Sie eigentlich für eine merkwürdige Figur, he?“

Mark roch die Fahne Krestners, was seine Wut noch anstachelte, aber er riss sich zusammen, denn Streit anzufangen hatte jetzt auch keinen Zweck.

„Mein Name ist Mark Larsen. Ich ...“, begann der Hüter, doch ein ungeduldiges Kopfschütteln Krestners unterbrach ihn rüde.

„Ihren Namen haben wir gehört, Mann. Ich will wissen, wer Sie sind, was Sie hier tun und in welchem Zusammenhang Sie mit diesem Scheiß stehen.“

Es funkelte fordernd in den Augen Krestners, der ungefähr in Marks Alter war, etwa dessen Größe besaß, aber ansonsten einen eher verweichlichten Eindruck vermittelte.

„Ich bin Experte für gewisse Phänomene“, erklärte Mark und fand, dass er damit bereits übertrieben hatte, aber er sprach weiter.

„Die von Klangsteins haben mich aus mir unbekannten Gründen zu dieser Testamentseröffnung bestellt, und mittlerweile ist mir klar geworden, dass das ganz gut war, denn was hier abläuft, gehört in mein Spezialgebiet.“

„Ach, ist das so?“

Mark ignorierte Krestners provozierende Frage, trat einen halben Schritt zur Seite und sprach laut in die Halle hinein.

„Ich möchte Sie alle um Ihre Aufmerksamkeit bitten. Was gerade eben geschehen ist, ist nur der Anfang gewesen. Uns stehen bestimmt schlimmere Dinge bevor, und ich möchte Sie alle inständig warnen, die Wände, Fenster und Türen, die von diesem merkwürdigen, rötlichen Schimmer überzogen sind, auch nur zu berühren. Offensichtlich droht Lebensgefahr, wenn Sie es doch tun.“

Die Burkhard und Falk wechselten stumme Blicke, Petra Kern musterte abwechselnd Mark und dann eine der rötlich schimmernden Wände, während Lawrenz zu keiner erkennbaren Reaktion fähig war und Johann ihn genau im Auge behielt.

Einzig Krestner fiel aus dem Rahmen.

Er lachte!

„Was für eine Räuberpistole wollen Sie uns denn da unterjubeln?“, fragte er, als es ihn kurz durchgeschüttelt hatte.

Mark musterte ihn eisig. Allmählich neigte sich seine Geduld dem Ende zu.

„Ich habe gesagt, was ich zu sagen habe. Und nun muss ich mich um wichtigere Dinge kümmern.“

Mark wollte Krestner einfach stehen lassen, doch der reagierte bemerkenswert schnell, packte die rechte Schulter des Hüters und löste damit einen heftigen Schmerz aus.

Vor ein paar Tagen hatte in die Geisterfrau Maria dort ziemlich hart angepackt und sowohl Haut, als auch Muskeln fühlten sich noch ziemlich wund an.

Mark sog laut die Luft durch den Mund ein und hörte die Stimme Krestners, der seine Reaktion zwar erkannte, aber trotzdem nicht losließ.

„Momentchen Mal, ja? Sie bleiben hier und erklären sich etwas genauer.“

Mark presste die Zähne fest aufeinander und beschloss, dass es jetzt genug war und zumindest ein Teil seiner Zurückhaltung aufgegeben werden musste.

Seine Linke schoss in die Höhe und umklammerte Krestners Finger, mit denen er Marks wunde Schulter gepackt hatte.

Im nächsten Moment schlidderte der Flachmann über den Boden, ächzte Krestner schmerzhaft auf und beugte sich zeitgleich in unästhetischer und irgendwie lächerlicher Weise zur Seite, während Marks Hand seinen Arm immer mehr verdrehte.

„Zunächst einmal werden Sie mich nicht mehr anfassen, klar?“

Krestner konnte nicht anders. Wenn er nicht riskieren wollte, dass seine Unterarmknochen knackend unter der Krafteinwirkung des Hüters brachen, musste er nachgeben.

Ächzend nickte er.

„Okay... okay...“, stieß er nur hervor.

„Dann: Ich habe gesagt, was ich zu sagen habe. Halten Sie sich lieber daran. Das ist ein gut gemeinter Rat. Bleiben Sie den schimmernden Wänden und Türen fern.“

Mark verstärkte den Druck minimal, doch Krestner zeigte an, dass er verstanden hatte und nickte eifrig.

„Und als Letztes: Bleiben Sie mir aus dem Weg, denn ich habe Wichtigeres zu tun, als mich um Sie zu kümmern. Haben Sie das nun verstanden?“

Krestner nickte abermals und Mark ließ den Arm augenblicklich los.

„Und jetzt benehmen Sie sich, sonst werde ich wirklich sauer“, knurrte der Hüter noch und umrundete Krestner, der keuchend hochkam und seinen Arm ausschüttelte.

Er behielt ihn noch einen Augenblick im Auge, aber Krestner ließ es – zumindest im Moment – auf sich beruhen.

Es gab jetzt Wichtigeres zu tun, wie der Hüter meinte. Krestner sah dies anders und schaute sich nach seinem Flachmann um.

Der lag nun dicht bei der Wand, die Mark so eingehend begutachtet hatte, und über der nach wie vor das unheilvolle Glühen lag, das Krestner jetzt immer noch nicht ernst nahm.

Er beugte sich vor und streckte seine Hand nach dem Flachmann aus, als es geschah!

Krestner war angetrunken und deshalb nicht mehr ganz so sicher, wie er von sich selber vielleicht annahm. Beim Vorbeugen taumelte er leicht und so streifte seine Hand das Glühen.

Mark wirbelte auf der Stelle herum, als Krestners Schrei die Halle erfüllte, im selben Moment fuhr ein grelles Licht zwischen dem Mann und der Wand in die Höhe und blendete all diejenigen, die erschrocken hingesehen hatten.

Eine Zehntelsekunde später rollte ein dumpfer Knall durch das Innere des Raumes und schon flog Krestner – sich überschlagend – durch die Luft, um auf den breiten Tisch zu krachen.

„Verdammt noch mal“, fluchte Mark, stand mit einem Satz neben dem Tisch und begutachtete Krestner, von dessen rechter Hand graue Rauschschwaden aufstiegen, die Geruch von verbranntem Fleisch in seine Nase kriechen ließ.

Petra trat von hinten heran und auch Andreas Falk gesellte sich hinzu.

Schnell hatte Mark die Hand des Reglosen begutachtet und atmete einigermaßen erleichtert auf. Die Haut war zwar schwarz verbrannt und an einigen Stellen zeigten sich Risse, durch die das rohe Fleisch darunter schimmerte, aber es fehlten keine Finger.

Krestner stöhnte.

„Donnerwetter! Der Junge lebt noch! Er hatte Glück“, meinte Falk beeindruckt und handelte sich einen rügenden Blick von Petra Kern ein.

„Schwätzen Sie nicht! Holen Sie lieber etwas zum Verbinden. Machen Sie sich irgendwie nützlich oder gehen Sie zumindest aus dem Weg.“

Mark kümmerte sich nicht darum, denn ein anderer Umstand lenkte ihn vom weiteren Geschehen ab.

Sein Blick fiel auf die Eingangstür der Halle und dort erkannte er ... eine Frau!

Mark stutzte für einen Moment, denn außer ihm schien diese Frau niemand wahrzunehmen. Das lag aber vielleicht auch daran, dass er, sogar in solch chaotischen Situationen, auf Kleinigkeiten achtete.

Auf unerklärliche Weise entzog sich die Frau einer eingehenden Betrachtung und so wäre es dem Hüter auch nicht möglich gewesen, sie zu beschreiben, aber trotzdem sah er sie.

Jetzt erwiderte sie sogar seinen Blick, um im nächsten Moment ... WUSCH zu verschwinden.

Petra Kern bemerkte, dass mit Mark etwas nicht stimmte.

„Haben Sie etwas?“, fragte sie, als sie ein sauberes Tuch, das ihr von Johann gereicht worden war, auf die Verletzung Krestners presste, so dass diesem ein schmerzerfülltes Stöhnen entfuhr.

„Ja, ich glaube, ich habe jemanden in der Tür gesehen“, antwortete Mark, der schon längst beschlossen hatte, vor der Journalistin keine Geheimnisse zu haben.

Er vertraute ihr, auch wenn er sie noch nicht allzu lange kannte, und es war mit Sicherheit gut, hier einen Vertrauten zu haben.

„Es war eine Frau, aber ...“

Petra stockte in ihren Bewegungen.

„Aber?“

Mark presste die Lippen fest aufeinander.

„Ich könnte sie nicht beschreiben, obwohl ich sie genau gesehen habe.“

Der Hüter unterbrach sich einen Moment lang, musterte Johann, der nur wenige Schritte entfernt stand und stumme Blicke mit Andreas Falk und Miriam Burkhard wechselte.

„Ich werde mich mal umschauen. Kommen Sie hier klar?“

Petra lächelte zuversichtlich und nickte dann.

„Aber immer doch. Gehen Sie ruhig. Vielleicht finden Sie etwas heraus, dass uns weiterhilft.“

„Und Sie achten nach Möglichkeit darauf, dass nicht noch einmal jemand versucht, eine leuchtende Wand oder Tür zu berühren.“

„Okay! Aber interessieren würde es mich schon noch, was dahinter steckt. Was läuft hier ab? Sie werden mir doch nicht erklären wollen, dass hier magische Kräfte am Werk sind, oder?“

„Und wenn dem so wäre?“

Petra wirkte einen Augenblick verunsichert und schien nicht zu wissen, was sie darauf antworten sollte.

Mark griff nach ihrer linken Schulter und drückte sie ganz kurz und zart, dann drehte er sich um, trat neben Johann und sprach ein paar Worte mit dem Diener, ehe er die Halle verließ.

Vorsichtig schloss er die Tür hinter sich und stand im dunklen Korridor.

Er war nun allein! Allein und auf sich gestellt!

Ein eisiger Schauder rann seinen Rücken hinab, als er die ersten Schritte ins Dunkel wagte.

Ich hätte nicht ohne Hinnerk oder Knut aufbrechen sollen, dachte er ärgerlich, doch das alles war jetzt nicht mehr zu ändern.

Das hier musste er allein durchstehen!

 

***

 

Es gab viele Dinge die Knut Ukena an Hinnerk Lührs mochte und sogar bewunderte.

Hinnerks Gelassenheit, seinen Humor, seine Fähigkeit Verständnis aufzubringen, seinen Mut und natürlich auch seine besonderen Gaben, die er unverdrossen einsetzte, um dem Hüter in dessen Kampf gegen die Mächte der Finsternis zur Seite zu stehen.

Aber es gab da auch ein paar Kleinigkeiten, die ihn enorm störten.

Hinnerks bisweilen übertrieben poltrige Art, die manchmal unangebracht erschien, zum Beispiel wenn der Hüne seine riesige Hand auf Schultern und Rücken Anderer krachen ließ, den Gestank, der von seinen Selbstgedrehten ausging (und dabei war Knut selber Raucher) und vor allem – und dieser Punkt wog am schwersten – wenn Hinnerk hinter dem Steuer eines Wagens saß und fuhr.

So wie an diesem Abend.

Knut hatte ehrlich gestanden den Angstschweiß auf seiner Stirn gefühlt und war nach Antritt der Fahrt verzweifelt bemüht gewesen den stockenden Gurt anzulegen, ehe er sich wieder etwas beruhigt hatte.

Sie waren durch die Dunkelheit gejagt, wobei Hinnerk gekonnt ignoriert hatte, das es wie aus Kübeln schüttete, so dass die Lichtlanzen der Scheinwerfer kaum zehn Meter weit gereicht hatten. So etwas wie ausreichende Sicht hatte es nicht gegeben.

In Ermangelung des 7er BMW’s, mit dem Mark Larsen unterwegs war, hatte Hinnerk Knuts klapprigen Passat durch die anbrechende Nacht „fliegen“ lassen.

Obwohl sie eine knappe Stunde unterwegs gewesen waren, hatte sich Knuts Besorgnis nicht legen können, da Hinnerks rechte Hand sich immer wieder vom Lenkrad gelöst und er die Pergamentrolle aufgefummelt hatte, um kurze Blicke darauf die darauf zu werfen. Knut hatte mehr als einmal bezweifelt, dass Lührs genügend von dem mitbekam, was auf der Straße passierte.

Okay, auf der Straße war um diese Uhrzeit und aufgrund des Wetters nicht viel los. Aber trotzdem. Es gab links und rechts Gräben, in die der Passat hätte hineinrasen, oder Bäume, um die er sich hätte wickeln können. Ganz zu schweigen von den Kurven und Abzweigungen, denen man besser folgen sollte, wenn man unverletzt am Ziel anzukommen gedachte.

Hinnerk hatte während der Fahrt kein Wort gesprochen, sondern immer wieder auf die Karte geblickt (was jedes Mal schreckliche Befürchtungen bezüglich eines schweren Autounfalls in Knut aufsteigen ließ). Gelegentlich hatte er sich einen von seinen ekelhaften Lungentorpedos gedreht, der dann auch sofort in Brand gesetzt worden war oder er hatte leise vor sich hin geflucht.

Irgendwann während der Fahrt, war der Passat in eine Schaukelbewegung versetzt worden, weil der starke Wind an dem Fahrzeug rüttelte.

Sie waren über einen hohen Damm gefahren und Knut hatte gemeint, rechts von sich undeutlich Gischtlinien der Nordsee erkennen zu können.

 Der Informatiker und Freizeit-Dämonenjäger hatte sich trotz seiner anfänglichen Angst nach wenigen Minuten des Schaukelns in einen leichten Dämmerzustand versenkt gefühlt, und weil er nun auch schon seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen gewesen war, war er einfach weggeschlummert.

Jeglichen Zeitgefühls beraubt war Knut in eine Wolke aus weichen Daunen geglitten, hatte sich frei und leicht und erholt gefühlt, und ...

Knuts Kopf war jäh empor geruckt.

Er hatte überrascht geblinzelt und feststellt, dass der Passat stand, der Wind jedoch immer noch zornig an ihm herumzog und –zerrte und das Schaukeln stärker geworden war.

Hinnerk zog gerade den Schlüssel aus dem Zündschloss, blickte im Schein der schwachen Innenbeleuchtung auf seine Karte und nickte dabei.

„Wo... sind wir?“, fragte Knut und schmatzte sich den unangenehmen Geschmack von der Zunge.

Wieso musste der eigentlich immer da sein, wenn man wach wurde? Egal ob man nur ein kurzes Nickerchen machte oder eine Nacht lang durchschlief, immer hatte Knut den Eindruck eine vollgemachte Unterhose abgeleckt zu haben, wenn er wieder erwachte.

„Am Ziel, mien Jung“, ließ Hinnerk vernehmen und deutete gleichzeitig durch die Frontscheibe.

Wo sie waren, wusste Knut beim besten Willen nicht, weil er auch nicht wusste, wie lang er weggedöst war und fragen wollte er nicht, da Hinnerk nicht den Eindruck erweckte, er würde sich darüber jetzt Gedanken machen wollen.

Im Licht der beiden Scheinwerferstrahlen erkannte Knut eine unwirkliche Szenerie, denn sie befanden sich immer noch auf dem Damm, über den die Straße verlief. An dessen Rand eine hohe, aber irgendwie fehlplaziert wirkende Eiche in den Himmel. Sie bewegte sich unter den Attacken des scharfen Windes, als würde ein missgestalteter Naturgeist – nur bekleidet mit Borke und Rinde – seine überlangen Glieder und seinen gestreckten Leib im Takt einer unhörbaren Musik wiegen.

„Und was wollen wir hier?“

Hinnerk überhörte Knuts Frage, griff stattdessen auf den Rücksitz, von wo er ein Schächtelchen nahm und es seinem Begleiter in die Hand drückte.

„Hier! Verwende die, statt der üblichen. Ich regle inzwischen unsere weitere Reise.“

Knut blickte erstaunt auf die kleine Pappschachtel, in der es leise klickte, wenn er sie bewegte und entdeckte dann ein Firmenzeichen auf dem Deckel.

RS-Firearms & Anmunition-Company, Germany!

Der Hüne blickte inzwischen unverwandt auf den sich wiegenden Baum, der ununterbrochen sein leises knarrendes Lied vernehmen ließ.

„Dat is se“, murmelte er, „süht jümmers noch gut ut.“

Mit diesen Worten stieg er aus.

„Töv hier, bis ick di röp“, erklärte er noch und Knut nickte automatisch.

Was blieb ihm anderes übrig, als zu warten?

Ein wenig grummelnd betrachtete er Hinnerk, wie dieser sich in den Scheinwerferbereich kämpfte, gegen den Wind anstemmte und dem einsamen Baum näherte.

Knuts Aufmerksamkeit wandte sich dann dem Schächtelchen zu und neugierig öffnete er es.

Nachdem er vorhin die Aufschrift gelesen hatte, überraschte es ihn eigentlich nicht, dass sich darin Patronen befanden.

„Aber was soll ich denn damit?“, fragte er, doch keiner war da, der seine Frage beantworten konnte.

Knut atmete tief durch, nickte entschlossen und fummelte die Pistole aus dem Schulterhalfter.

Auch wenn er es nicht verstand, so würde er dennoch Hinnerks Anweisung nachkommen und seine Waffe mit dieser Munition laden.

Denn wie bereits anfangs erwähnt ... Knut mochte und bewunderte Hinnerk.

Und er vertraute ihm ...

 

***

 

Mark fluchte leise, wieder versperrte ihm eine Wand den Weg.

Auch das Kellerfenster, das sich darin befand, vermochte seine Laune nicht zu bessern, denn sowohl Wand, als auch Fenster waren von rötlich schimmernden Schlieren durchzogen.

„Scheiße...“, bellte der Hüter in der Weitläufigkeit des Kellers und schwenkte die Taschenlampe herum, so dass der Lichtstrahl über umfangreiche Mengen von Gerümpel dahingeisterte.

Johanns Information, die Mark sich kurz vor seinem Aufbruch aus der Halle eingeholt hatte, war richtig gewesen, und so hatte der Hüter eine unterarmlange Taschenlampe in einem kleinen Sideboard im Flur entdeckt, mit der er seinen Weg hatte ausleuchten können.

Die fremde Frau war ihm während seiner Suche im Erdgeschoss nicht mehr über den Weg gelaufen, also hatte Mark sich entschlossen in die Tiefe zu gehen und sich im Keller umzublicken.

Nach wenigen Minuten war er auf die Kellertür gestoßen und eine erbärmlich knarrende Holztreppe hinab gestiegen, wo er dann in einem weiten Areal gelandet war, in dem es nach Schimmel stank, die Luft feucht war und Ramsch und haufenweise Trödel wahre Berge bildeten, die sich links und rechts kleiner Gässchen erhoben.

Mark atmete tief durch!

Er war einigen dieser Gässchen gefolgt und immer wieder vor Mauern stehen geblieben – einige hatten geschimmert und einige nicht.

Er ließ die Schultern sinken, griff unwillkürlich mit der linken Hand nach seiner fast ausgeheilten Verletzung und massierte sie leicht.

Es war zum Aus-der-Haut-fahren, denn offensichtlich war die Absperrung des Barons lückenlos und erstreckte sich auch in die Tiefe, so dass Mark seine stille Hoffnung sich gewissermaßen unter der Absperrung durch zu robben aufgeben musste.

Und somit stellte sich dem Hüter die nächste, entscheidende Frage: Was nun?

Was konnte er unternehmen, um die im Schloss gefangenen Menschen – zu denen er ja auch selber gehörte – befreien und retten zu können?

Offensichtlich war der Plan des Barons gut ausgearbeitet oder aber Mark hatte einfach noch zu wenig Erfahrung in Sachen „Kampf gegen die Mächte der Finsternis“, als dass er einen Ausweg hätte finden können.

Der Hüter entschied sich, daran zu glauben, dass beides zutraf, und schüttelte diese frustrierenden Gedanken ab.

Er musste sich jetzt auf das Wesentliche konzentrieren, nämlich ...

Eine huschende, schattenhafte Bewegung zu seiner Linken lenkte ihn ab und reaktionsschnell kreiselte Mark herum, um den Lichtstrahl der Taschenlampe in genau diese Richtung zu schicken.

Doch da war nichts. Oder?

Der Strahl riss einige alte Gläser aus dem Dunkel. Sie waren mit aufgemalten Wappen versehen, von denen jedoch nicht viel zu erkennen war, weil eine dicke Staubschicht über ihnen lag.

Eines der Gläser wackelte leicht, gerade so, als wäre jemand übereilt daran vorbeigehuscht und habe es noch gestreift.

Der Hüter verzichtete darauf, lange darüber nachzudenken, sondern machte Nägel mit Köpfen und schlich nun dem Lichtstrahl hinterher in jene Richtung, in die das „Huschen“ verschwunden war.

Er war schon sehr gespannt, was ihn dort erwartete!

 

***

Knut Ukena staunte nicht schlecht!

Konnte es tatsächlich sein, dass der Baum sich wie ein menschliches Lebewesen zu bewegen begonnen hatte und mit seinen Ästen gestikulierte, gerade so, als wären es Arme?

Und erwiderte Hinnerk vor dem Baum stehend, diese Gesten, als wären sie Bestandteil einer uralten völlig fremden Sprache?

Doch die Geschehnisse waren noch merkwürdiger und bizarrer geworden, denn plötzlich hatte Hinnerks Gestalt bläulich zu leuchten begonnen und derselbe Glanz hatte sich um den vor ihm aufragenden Baum gelegt.

Gleichzeitig fuhren nun die beiden größten Äste der Eiche samt ihrer Ausleger hoch und runter, und es kam Knut vor, als ahme sie damit den Flügelschlag eines Vogels nach.

„Das gibt’s ja gar nicht“, flüsterte Knut und wagte kaum zu blinzeln, um ja nichts zu verpassen.

Das Dröhnen des Windes und das Prasseln des Regens wurden in den Hintergrund gedrängt und für den einsamen Mann im Passat gab es nur noch jenes eigenartige Ritual, an dem sowohl Hinnerk als auch der Baum beteiligt waren.

„Die quatschen wohl miteinander ...“, hauchte Knut, der sich das Gebaren seines Freundes nicht anders erklären konnte.

Mark hatte ihm berichtet, wie Hinnerk während eines Kampfes gegen einige Vampire einen Baum gebeten, hatte ihnen beizustehen, und wie dieser dann einen armdicken Ast geopfert hatte, damit der Hüter eine wirksame Waffe gegen die Blutsauger erhielt*.

Seit damals hatte Mark die leise Vermutung Hinnerk verfüge nicht nur über magische Kräfte, sondern vielmehr über magisch/naturverbundene Kräfte, mit denen er auch mit Pflanzen kommunizieren konnte.

Und hier und heute schien sich diese Vermutung zu bestätigen.

„K N U T! K O M M H E R!“, donnerte urplötzlich die mächtige Stimme Hinnerks durch das Innere des Autos und Knut zögerte keinen Augenblick lang.

Er stieg aus!

Sofort traf ihn der Regen frontal ins Gesicht, aber das machte ihm nichts aus, da ihn das Geschehen vor ihm immer mehr in den Bann schlug.

„Unglaublich...“, hauchte Knut, als er die Tür ins Schloss gedrückt hatte und sah, was die Eiche nun tat.

Ihre Äste fuhren – jetzt wirklich an Arme erinnernd – an ihrem Stamm entlang nach unten und verharrten etwa auf halber Höhe über dem Boden. Gleichzeitig bohrten sich die dünneren Ausleger – schlanken Fingern gleich – in den Stamm und zerrten daran.

Simultan dazu vollführte Hinnerk in seiner – sehr ausgeprägten – Leibesmitte eine ähnliche Bewegung und im nächsten Moment wurde es wirklich verrückt.

Die Regentropfen verwischten das Bild vor ihm, so das Knut nicht bis ins letzte Detail erkennen konnte, was da ablief, aber aus der Mitte des Baumstamms schoss ein gleißendes, bläulich-weißes Licht und die Konturen Hinnerks wurden von der Helligkeit vollkommen aufgezehrt.

Knut taumelte, versuchte seine Augen mit den Armen und Händen zu schützen, doch das Licht war allgegenwärtig und Hinnerks Stimme verkam zu einem dünnen Geflüster, das er nicht mehr verstehen konnte.

Knut Ukena ächzte, wankte vorwärts und wusste nicht mehr, wo er sich befand.

Doch dann packte eine starke Hand seinen Jackenkragen und zerrte ihn beinahe brutal mit sich.

Knut schrie voller Angst auf, denn er glitt in das Licht hinein, welches nun überall um ihn herum war, ihn ausfüllte, hinter ihm verschwand und vor ihm auftauchte.

Das Taumeln wandelte sich in ein haltloses Überschlagen und im nächsten Moment verlor sich die Seele Knuts im durchdringenden Blauweiß ...

 

***

 

Mark hätte den verwitterten Holzdeckel am Boden mit den verrosteten Beschlägen beinahe übersehen, denn ein weiteres, kurzes Huschen vor ihm hatte seine Aufmerksamkeit gefangen genommen.

Im letzten Augenblick jedoch entdeckte er ihn, blieb davor stehen und atmete zweimal tief durch.

Irgendetwas ging von davon aus. Der Hüter konnte es sich einfach nicht erklären, aber es schien fast so, als zöge der Deckel ihn magisch an.

Mark war versucht, dieser Anziehungskraft zu widerstehen, aber gleichzeitig regte sich in ihm das sichere Gefühl, dass er ihr nachgeben musste, wenn er erfahren wollte, was hier ablief. Und wenn er tatsächlich einen Ausweg finden wollte.

Die huschende Bewegung war vergessen, als Mark neben der verschlossenen Luke in die Knie ging und sie begutachtete.

Das Holz wirkte uralt, aber trotz all der Spuren, die die vorüber gezogenen Jahrhunderte auf ihm hinterlassen hatten, machte es immer noch einen soliden und massiven Eindruck.

Der Hüter entdeckte einen rostigen Metallring, an dem man den Deckel hochziehen konnte, und machte sich sofort daran, genau das zu tun.

Mark musste die Taschenlampe auf den Boden legen und wuchtete ächzend das Holz in die Höhe. Er war wirklich kein Schwächling und gut in Form, aber an diesem Gewicht scheiterte er beinahe.

Im allerletzten Moment überwand seine Kraft den Widerstand der verrosteten Scharniere und der Schwerkraft und polternd knallte das Holz auf die Seite und gab die darunter liegende Öffnung frei.

Keuchend und in Schweiß gebadet ergriff Mark die Lampe und ließ den Lichtstrahl in die Tiefe scheinen.

Undeutlich erkannte er einen etwa mannshohen Korridor, der nach links führte, und der noch erbärmlicher stank als der Keller, in dem er sich bereits befand.

„Ich glaube, das sind die Schattenseiten des Hüter-Daseins“, murmelte Mark verdrossen und dachte für einen Moment daran, einfach umzudrehen und die Sache aufzugeben.

Da unten war es mit Sicherheit wesentlich unangenehmer als hier. Da gab es bestimmt unzählige Spinnen, Ratten und anderes Gezücht, von dem der Hüter sich nicht einmal die Namen vorstellen mochte. Außerdem wirkte der Korridor unter dem Keller alles andere als stabil und man konnte wohl annehmen, dass Löcher und herab fallende Steine nicht zu unterschätzende Gefahren bildeten.

Einen weiteren Augenblick lang hockte Mark einfach nur da, starrte in die Tiefe und ein Beobachter der Szene hätte den Eindruck gewinnen können, er würde gleich aufstehen und davongehen.

Aber stattdessen seufzte der Hüter kurz, presste seine Lippen angewidert zusammen und ließ sich dann umständlich in die Tiefe hinab.

 

***

 

Knut vermeinte zu schreien, doch kein Laut drang aus seiner Kehle.

Knut glaubte zu schweben, doch erbarmungslose Schwere hielt ihn gefangen.

Knut hatte den Eindruck von Taubheit überschwemmt zu werden, während grausamste Schmerzen ihn peinigten.

Es gab kein Oben, kein Unten und das gesamte Universum schrumpfte auf die Größe eines Staubkorns zusammen, während er verzweifelt versuchte, sich daran zu erinnern, wo er seine Autoschlüssel gelassen hatte.

Angst kroch, nein, sie galoppierte über ihn hinweg, ließ jeden Winkel seiner Seele erzittern und drohte sie gleichzeitig für immer auszulöschen.

Doch da erklang von irgendwo und nirgends eine ruhige, verständnisvolle Stimme.

GANZ RUHIG, MEIN FREUND ... GANZ RUHIG ...

Knut fühlte wie der Schmerz und ein Teil seiner Orientierungslosigkeit von ihm abfielen.

Er spürte neue Sicherheit in sich aufsteigen, die die Pein verdrängte, und meinte sogar zu lächeln, während er weiterhin haltlos dahin trieb.

Umgeben von ewigem Licht! Umgeben von ewiger Stille!

 

***

 

Mark Larsen blieb wortwörtlich die Luft weg, als er, getaucht in sanftes, rötliches Licht, aus dem Korridor heraustrat und auf eine traumhafte Szenerie blickte.

Frauen! Frauen umgaben ihn! Frauen räkelten sich in dem, größtenteils mit rotem Samt ausgelegten, Gewölbe vor ihm und erweckten Gefühle und ... Gelüste in ihm, für die er sich hätte schämen müssen.

Es waren sechs Frauen, gehüllt in traumhafte, rötlich-schwarze Tücher, die, wie unter einer unerklärlich aufkommenden Brise, umherflatterten.

Es war ganz eindeutig, dass Mark oben in der Halle eines dieser elfenartigen Geschöpfe gesehen haben musste, denn die Bewegungen, mit denen sie durch das Gewölbe glitten, deuteten ganz offensichtlich darauf hin.

„Meine Güte“, meinte der Hüter nur und konnte nicht verhindern, dass sich ein verklärtes Lächeln in seine Mundwinkel stahl.

Er trat weiter vor und fühlte die Blicke dieser Schönheiten auf sich ruhen. Ihre Haare ergossen sich in üppigen Fluten aus seidigem Blond, kräftigem Braun, unergründlichem Schwarz und verlockendem Rot auf die zarten Schultern und er hörte ihre sanften, wispernden Stimmen.

Zwar konnte er keines ihrer Worte verstehen, aber der Klang ihrer Stimmen allein war schon die reinste Verheißung.

Mark schritt weiter vor, betrat das kuppelförmige Gewölbe.

Sein Lächeln wurde breiter und er bemerkte gar nicht, wie ihm die Taschenlampe aus der Hand glitt, als er sich dem Zentrum des Gewölbes näherte.

Hier ragte eine Art Thron empor, dessen Form etwas schief, aber dennoch ansprechend wirkte und der wie der Rest des Raumes mit tiefrotem Samt überzogen war.

Auf der Sitzfläche entdeckte Mark die schönste aller hier anwesenden Frauen, die ihn aus leuchtenden Augen musterte und ihm ungeheure Versprechungen sandte, die seine Haut prickeln ließen.

„Komm näher ...“, raunte sie ihm zu und strich sich durch die volle, pechschwarze Haarpracht, die sanft gewellt auf ihre nackten Schultern fiel.

Wie alle anderen Frauen, trug auch sie lediglich ein wallendes Tuch, das die Rundungen ihres Leibes nachzeichnete und ...

Mark stutzte plötzlich! Benommen schüttelte er den Kopf und hörte abermals ihre Stimme.

„Ich warte auf dich ...“

Doch ihre Stimme war nicht mehr rauchig und verführerisch, sondern krächzend und ... brüchig wie bei einer alten Frau.

Der Hüter fuhr sich mit der Hand über die Augen und schlagartig erlosch das wohlige Rot, das das Gewölbe eben noch ausgefüllt hatte.

Es wurde zu einem brennenden Rot, das seine Augen schier überreizte und ihn für einen Augenblick blendete. Mark wankte instinktiv einen Schritt zurück und musste erkennen, dass es kein Thorn war, auf dem die Frau saß, sondern ein Berg aus Knochen.

„Aaaaahhh“, entfuhr es dem Hüter, dessen Augen sich weit öffneten.

Er spürte, dass er bis zu den Knöcheln in einer trüben Flüssigkeit – bestenfalls verdrecktes Wasser – steckte, roch Schwefel, Urin und noch viel widerwärtigere Dinge, fühlte die klamme Kälte der unterirdischen Kammer, in der er sich verzweifelt herumwarf und sah dann, wer ihn wirklich hier unten erwartet hatte.

Es waren zweifelsfrei Frauen, wie die Formen ihrer Leiber verrieten, aber gleichzeitig waren diese Merkmale auch das einzig Weibliche an ihnen.

Sie waren allesamt groß und schlank gewachsen und schimmerten rotschwarz, wobei die Schwärze sich wie mehrere Streifen waagerecht um ihre Körper geschlungen hatte.

Er sah langes strähniges Haar, das wirr von den Köpfen der sieben Gestalten abstand.

Noch ehe Mark weitere Einzelheiten ausmachen konnte, trieb ihn ein gleißender Schmerz am Rücken vorwärts.

Etwas war schneidend zwischen seine Schulterblätter gefahren, hatte seine Kleidung zerfetzt wie Papier und eine blutige Spur hinterlassen.

Pechschwarze, unmenschlich erscheinende Pupillen stierten ihn von sieben Positionen aus an.

Ein Schemen jagte seitlich vor ihm dahin und schon quoll Blut aus einem langen Striemen auf seiner Brust und ein neuer Schmerz riss ihm einen Schrei von den Lippen.

„Du bist stark ... stark genug, um unsere kleine Illusion zu durchschauen“, höhnte das graurote Etwas, das ihm vorhin noch wie eine begehrenswerte Frau vorgekommen war und das offensichtlich die hier lauernden Geschöpfe anführte.

Mark stürzte gegen eine rutschige Wand, keuchte leise und fühlte, wie ihm die Sinne zu schwinden drohten.

Reiß dich zusammen, verdammt!, feuerte er sich an, doch gleichzeitig wusste er, dass es nicht leicht sein würde die Besinnung nicht zu verlieren.

„Asnard hat nicht untertrieben. Du bist wirklich etwas Besonderes.“

Die graue, aufgequollene Gestalt rutschte nun von dem Knochenhaufen herunter und ließ ein meckerndes Lachen erklingen.

„Er hat meinem geliebten Ehemann und mir berichtet, dass du der neue Hüter bist. Der Verfechter des Guten und der Bewahrer des Schatzes.“

Mark nahm die letzten Worte kaum wahr, denn wieder wischte eine der anderen Kreaturen blitzartig an ihm vorbei und schlitzte erneut einen Teil seiner Haut – diesmal über dem linken Oberarm – mit den langen und scharfen Fingernägeln auf.

Der Hüter fiel der Länge nach zu Boden, klatschte mit dem Kopf in die Dreckbrühe und hatte Mühe, genügend Kraft zu mobilisieren, ihn wieder anzuheben.

„Er sagte uns, wir bekämen unsere Rache, wenn wir auch dich beseitigen. Und so stattete er uns mit enormer Kraft aus, nachdem wir den Freitod wählten.“

Mark sah den Fuß nicht kommen, doch er spürte ihn deutlich, als er damit seitlich im Gesicht getroffen wurde.

Ächzend rollte der Hüter in einen anderen Knochenhaufen und schon ergossen sich die dreckigen, von Stofffetzen bedecken Gebeine über ihn und hagelten wie ein makabrer Niederschlag auf ihn herunter, bis er komplett davon bedeckt war.

Erneut ertönte das Gelächter der Anführerin, zu der sich nun ihre abartig anmutenden und mit verzerrten Fratzen versehenen Anhängerinnen gesellten.

Sieben Augenpaare starrten erbarmungslos auf den Knochenhaufen, aus dem nur noch die Hände des Hüters ragten und sein leises Wimmern zu hören war.

Und sieben Furien beschlossen, das Sterben eben dieses Mannes genussvoll in die Länge zu ziehen ...



                                                      So war es und so ist es

                                                      Die stetige Furcht vor dem was vor und hinter

                                                      diesem Minutenspiel existiert

                                                      Flucht - die Sucht nach Freiheit ?

                                                      oder nur die Angst

                                                      Angst vor ...

                                                      Vor wem ?

                                                      Vor was ?

                                                      Wohin ?

                                                      Wohin führt uns diese Flucht ?

(Goethes Erben - Die Zeit ist auf der Flucht)

 

3. Kapitel:

Flucht in die Schreckensnacht


 


Asnard kicherte wieder einmal sein mädchenhaftes Kichern.

Heute Nacht würde Mark Larsen, der derzeitig amtierende Hüter, sterben und Asnard würde sich selber nicht einmal die Hände dabei schmutzig machen müssen, denn seine getreuen Gefolgsleute – Beatrice und Bernward von Klangstein – würden für ihn erledigen, was immer zu tun war.

Der jeweilige Hüter – und Mark Larsen ganz besonders – war den Mächten der Finsternis schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Und die Chancen den Schatz zu finden und zu töten, würden sich bedeutend erhöhen, wenn es gelang Larsen aus dem Weg zu räumen.

Aber andererseits waren die Hüter durch die Bank gefährliche Männer und starke Kämpfer.

Das Schicksal erwählte sie nicht umsonst für diesen besonderen Posten und jeder von ihnen hatte die Fähigkeiten, im Kampf mit einem Schwarzblüter zu bestehen.

Asnard hatte diesen besonderen Plan ersonnen und sich die von Klangsteins herangezogen, weil er selber nicht zu sehr in Erscheinung treten mochte.

Sollten die von Klangsteins versagen, würde er sich einfach zurückziehen, einen neuen Plan ausbaldowern und auf seine Zeit warten.

Der Dämon mit den weißblond gefärbten Haaren und dem dünnen, dunklen Bärtchen musterte den faustgroßen, rot leuchtenden Kristall in seiner Hand.

Dies war seine stärkste Waffe und sein wichtigstes Werkzeug, denn er lieferte den beiden Klangsteins die notwendige Energie, um als Geistwesen aufzutreten, ihre Rache zu vollenden und gleichzeitig legte er jene magische Barriere um das Schloss, um zu verhindern, dass auch nur eines ihrer Opfer entkam.

Asnard kicherte abermals und nickte dabei zufrieden.

Er schloss seine Augen und verschwommene Bilder, die die Geschehnisse im Inneren des Schlosses zeigten, drangen in seinen Geist vor, vom Kristall direkt übermittelt, so dass er sich einen Überblick verschaffen konnte.

Und was er sah ... erfüllte ihn mit diebischer Zufriedenheit.

 

***

 

Mark Larsen hörte und sah gar nichts mehr!

Ein Gefühl von elender Mattheit, Übelkeit und Taubheit hatte sich seiner bemächtigt, als der Berg aus Gebeinen über ihm zusammengebrochen war und ihn unter sich begraben hatte.

Nur leise Laute drangen aus seinem Mund, wie er einfach so dalag, den modrigen Gestank der Knochen, die auf ihm lasteten, einatmete und merkte, dass sein Bewusstsein ganz allmählich weggespült wurde.

Nein, du darfst jetzt nicht bewusstlos werden, denn dann bist du wirklich rettungslos verloren ..., schrie es in seinem Inneren und es gelang ihm seine Augen zu öffnen.  

Auch wenn er das Gefühl hatte, die Lider würden Tonnen wiegen.

Auf die Beine, verfluchter Faulpelz, hoch ... hoch ..., schrie es in ihm. Doch er kam gar nicht dazu, auf diese militärisch klingende Aufforderung zu reagieren.    

Etwas umklammerte plötzlich seine Handgelenke, die nicht von Knochen bedeckt wurden, und zerrte ihn ohne jede Rücksicht in die Höhe.

Mark wurde zwischen den vermoderten Gebeinen hervor gerissen und spürte jähe Übelkeit in sich aufwallen, gegen die er einfach nicht ankämpfen konnte. Mit einem hohlen Stöhnen schoss sein gesamter Mageninhalt in die ekelige Brühe, die hier unten überall knöcheltief stand.

„Na, na ... ich hätte gedacht, du wärst ein ganz harter Kerl“, erklang plötzlich eine Stimme vor ihm und aus dem dämmerigen Schummer, den die bevorstehende Bewusstlosigkeit auf seine Augen gezeichnet hatte, trat eine gräulich-rote Erscheinung hervor.

Die Baronin Beatrice von Klangstein, die sich Mark Larsen in diesen Augenblicken in ihrer absoluten Abscheulichkeit präsentierte.

Eingerahmt von ihren schwarz-rot leuchtenden Furien, die allesamt wenig ansehnlich erschienen, trat sie vor.

Marks Kopf schwankte unsicher herum und so erkannte er, dass zwei dieser wilden Geschöpfe ihn mit ihren Pranken hochgezogen hatten. Blut rann an seinen zur Decke gerichteten Armen hinab, gerade so, als hätte allein die Berührung mit der Haut der Furien die seine aufplatzen lassen.

Der Hüter stöhnte, denn alle Schmerzen, die in diesem Moment erzeugt wurden, trafen ihn mit besonderer Härte.

Die Baronin verzog ihre wulstigen Lippen und ein gefährliches Glitzern trat in ihre Augen. Sie sah sie genauso durchscheinend aus, wie ihr Gemahl, der sich bereits oben in der Halle präsentiert hatte.

„Nun, vielleicht hat Asnard ja doch übertrieben, als er von dir erzählt hat“, höhnte die Baronin und ließ ein abfälliges Grinsen erkennen.

„Leider kenne ich niemanden, der so heißt... deswegen weiß ich auch nicht, was für einen Blödsinn dieser... Asnard so über mich verzapft...“, flüsterte Mark.

„Oh, ich bitte um Verzeihung. Wie konnte ich nur so vergesslich sein? Asnard ist der Verbündete, der meinem Mann und mir dabei hilft, an denen Rache zu üben, die es wirklich verdient haben.“

Im gleichen Augenblick traf ein harter Schlag die ungeschützten Rippen des Hüters und ein durchdringendes Knacken ertönte, das implizierte, dass wohl mindestens eine von ihnen gebrochen worden war.

Während Mark Larsen verzweifelt versuchte einzuatmen und damit den Schmerz unter Kontrolle zu bringen, sprach die Baronin ungerührt weiter, aber nebenbei nickte sie der Furie, die den Schlag durchgeführt hatte, wohlwollend zu.

„Mein Gemahl und ich haben in den letzten fast vierzig Jahren immer wieder versucht, mit den Mächten der Finsternis Kontakt aufzunehmen.“

Schön blöd ..., dachte Mark, hütete sich aber auch nur einen Ton zu sagen. Er wäre wohl eh nicht dazu in der Lage gewesen, denn nach wie vor schien sich Lava durch seine linke Rumpfhälfte hindurch zu schmelzen.

 „Wir waren dabei nicht sehr erfolgreich, wie ich leider gestehen muss, obwohl wir viele, sehr viele Opfer darreichten und uns sehr bemühten.“

Die Baronin breitete ihre unförmigen Arme aus und deutete auf die zahlreichen Knochen und vermoderten Überreste, die so ekelhaften Gestank absonderten, dass es ein wahres Wunder war, dass Mark sich nicht schon viel früher übergeben hatte.

„Einige der hier verfaulenden Kadaver zeugen von unseren Versuchen. Und aus einigen davon, habe ich mir meine Helferinnen ... gebasteltH“, erklärte sie fast beiläufig.

„Der Rest der Knochen stammt von den okkulten Versuchen, die einige der Vorfahren meines Mannes durchgeführt haben.“

Wieder ein Schlag!

Blitzartig ausgeführt und wuchtig drosch eine zur Faust geballte Klaue gegen den Schädel Larsens, der in den Nacken geschleudert wurde. Marks Mund füllte sich mit Blut und den abgebrochenen Überresten eines Backenzahns. Beides spie der Hüter kraftlos aus.

„Jenen Vorfahren meines Gemahls gelang es, Kontakt mit den höllischen Mächten aufzunehmen, doch uns schien es nicht beschieden zu sein. So sah es jedenfalls lange, lange Zeit aus. Aber dann ... dann kam er!“

Mark schüttelte benommen den Kopf, hatte Mühe die Kiefer zu bewegen, aber dennoch sprach er.

„Asnard! Er ist Ihnen erschienen!“

Die Baronin nickte triumphierend!

„Allerdings! Eines Tages erschien er. Auf etwas ungewöhnliche Weise. Also ich meine, so, wie man es von einem Dämon nicht unbedingt erwartet.“

Sie legte eine kleine Kunstpause ein.

„Er klingelte eines Abends und trat durch die Tür ein. Zunächst dachten Bernward und ich, dieser affektiert wirkende Kerl wolle uns verspotten, doch dann ... ja dann zeigte er uns seine Macht. Und er unterbreitete uns seinen Plan, in den wir einwilligten.“

Marks Sinne klärten sich allmählich wieder. Es war verrückt, aber irgendwie hatte der letzte Treffer ihn aus der schmerzerfüllten Lethargie gerissen.

„Alles was wir tun mussten, war ... sterben!

Die Baronin sprach weiter und Mark hörte zwar zu, doch gleichzeitig tastete sein Blick das Gewölbe auf der Suche nach einer brauchbaren Waffe ab.

Seine Makarov im Schulterhalfter würde nichts nutzen, dessen war er sich sicher ... aber die rostige Eisenkette, die da zwischen zwei besonders hohen Knochenhaufen lag, die konnte man zumindest einsetzen, um Gegner wie die Furien, von sich fernzuhalten.

Bei der Baronin – in ihrem geisterhaften Zustand – würde das nichts bewirken, aber Mark nahm sich vor, nach einer für sie geeigneten Gegenwehr zu suchen, sobald er aus diesem Gewölbe herauskam.

Wieder einmal bedauerte er, ohne Hinnerk aufgebrochen zu sein. Trotz der Misere in der er sich befand, dachte er daran, dass er wohl wirklich noch nicht der große Dämonenkiller war, für den ihn die alte Prophezeiung ausgab.

Er hatte noch sehr, sehr viel zu lernen!

Vorausgesetzt, er überlebte diese Schreckensnacht.

„Asnard hat uns einen Trank kredenzt, den er aus vielerlei Zutaten und etwas Magie seines Steins herstellte. Den mussten wir schlucken und ‚starben’ dann. Zur Sicherheit, nur für den Fall, dass man unsere leblosen Körper aufschneiden würde, tranken wir nachträglich noch einen Mix aus Schlaftabletten und anderen Mitteln, um einen Selbstmord vorzutäuschen. Man kann ja wirklich nicht gut genug vorbereitet sein, oder?“

Marks Bauchmuskeln spannten sich, als ein weiterer Schlag sich durch sie hindurchzuwühlen versuchte und neuerliche Übelkeit stieg auf.

Trotzdem blieb sein Denkapparat klar und der Plan, der soeben begonnen hatte ausgearbeitet zu werden, verdichtete sich mehr und mehr.

„Und heute, jetzt und hier, spielen wir zunächst ein wenig mit denen, die uns unser Leben schwer machten, uns betrogen und bestahlen. Heute ist der Tag der Abrechnung.“

Marks Atmung hatte sich wieder etwas beruhigt! Er fühlte sich nach wie vor nicht topfit (was in Anbetracht der Umstände auch nicht verwunderlich war), aber ein wenig Kraft war in seine Glieder zurückgekehrt.

Okay, er war noch kein Profi unter den Dämonenjägern, aber er war hart im Nehmen und konnte einstecken.

„Und was ist dann?“, fragte er, auch wenn es ihm schwer fiel, die schmerzenden Kieferhälften zu bewegen.

Die Baronin wirkte einen kurzen Moment lang irritiert.

„Wie? Was dann?“

„Na, wenn Sie Ihre Rache bekommen haben? Was ist dann? Denken Sie tatsächlich, dieser Asnard wird Sie auch weiterhin gewähren lassen?“

Die Baronin sagte nichts, und auch keine ihrer Furien tat etwas.

„Wachen Sie auf! Er ist ein Dämon! Der benutzt Sie doch nur, baut Sie und Ihren Mann kurzfristig auf, damit es letztlich mich erwischt und dann, wenn er hat, was er will ...“

Immer noch keine Reaktion der Baronin.

„... serviert er Sie ab. Wenn ich es richtig verstanden habe, verdanken Sie Ihre derzeitige Existenz und Macht lediglich einem magischen Stein, den Asnard besitzt und einsetzt. So wie ich dass sehe ... können Sie bestenfalls damit rechnen ...“

Jetzt war es Mark, der eine theatralische Pause machte.

Zum einen, um seine eigene Attacke vorzubreiten und zum anderen, um die Baronin, die mittlerweile konzentriert zuhörte, abzulenken.

„... ihm in Zukunft als Leibeigene dienen zu dürfen. Abhängig von seinen Launen und seiner Gnade!“

Nicht schlecht, zu welchen Gedankengängen du unter solchen Bedingungen fähig bist, lobte sich der Hüter selber, warf noch kurz einen Blick in die Runde und kam zu dem Entschluss, dass jetzt das alte Motto anzuwenden war.

Alles oder Nichts!

Also setzte Mark alles auf eine Karte und startete seinen Gegenschlag...

 

***

 

Asnard hob verwundert seine Augenbrauen, etwas, das er sich bei den Sterblichen abgeschaut hatte.

Durch den magischen Stein, der ihm vor sehr langer Zeit von Asmodi persönlich überreicht worden war – damals in den glorreichen Zeiten, noch vor der Geburt dieses verweichlichten Dummschwätzers aus Nazareth – konnte er vieles von dem, was im Inneren des Schlosses ablief, mit ansehen, doch die Eindrücke waren verschwommen und relativ spekulativ, da der Dämon einen Großteil seiner Macht und Konzentration darauf verwenden musste, das Baronenehepaar und den Schild, der sich rings um das mächtige Bauwerk gelegt hatte, mit genügend Energie zu versorgen.

Soeben hatte er ein klares Bild wahrnehmen können und beobachtet, wie Mark Larsen brutal unter einem Haufen von Skelettknochen hervor gerissen worden war.

Auch hatte Asnard noch mitbekommen, wie der Hüter mehrere schwere Treffer hatte hinnehmen müssen.

Doch dann war das Bild mit einem Mal erloschen und Asnard hatte gequält aufgekeucht.

Asnard taumelte einige Schritte zur Seite, gerade so, als habe ihm jemand einen Hieb verpasst.

Was war nur los? Was geschah hier?

Der Dämon fühlte, wie eine machtvolle Woge von unbekannter Magie seine Verbindung zum Stein in seiner Hand aufzulösen begann. Er spürte, wie ihm die Kontrolle über die Magie des Schildes und die Energie, mit der er seine beiden Lakaien speiste, entglitt.

Seine Beine knickten weg und grüngelber Speichel lief ihm aus dem Mund und tropfte zischend auf den Boden.

„Nein... nein... was geht hier nur... vor...?“, presste der Dämon keuchend hervor. Beinahe glitt ihm auch noch sein Kristall aus den Fingern.

Genauso schnell, wie die Qual über ihn hereingebrochen war, entließ sie ihn auch wieder.

Sein Blick klärte sich langsam.

Was war geschehen? Was hatte diese Schmerzen ausgelöst?

 

***

 

Knut Ukena taumelte mehr, als dass er lief, doch Hinnerk Lührs’ Griff war unerbittlich und zerrte ihn mit sich mit.

Wo sind wir bloß?, fragte Knut sich ununterbrochen, wobei er ein Hamsterrad aus unzusammenhängenden Gedankenfetzen, das noch immer in seinem Gehirn herumkreiste, durchbrach und etwas Ordnung in dieses geistige Chaos zu bringen versuchte.

Hinnerk, der seine Finger in Knuts Jackenärmel verkrallt hatte, schien diese Frage zu ahnen (oder konnte er womöglich Gedanken lesen?).

„Im Spessart, mien Jung. Wi sünd im Spessart. Nich wiet vun Mark entfernt, ober wi mütt uns ranholen, wenn wi noch rechtiedig dohin kommen wütt, wohin wi wulln.“

„Im... Spessart?“, stammelte Knut und begann die Beine allmählich im Takt zu bewegen, der ihnen von Hinnerk aufgezwungen wurde.

Alles, woran er sich erinnern konnte, war ein greller, heller Tunnel, der ihn eingesogen und in alle Richtungen gezerrt hatte, bis es ihn eigentlich gar nicht mehr gegeben hatte und ...

„Nu mock di man nich de Kopp to hitt. Wi sün nu hier, un so is dat god.“

Knut blinzelte durch die Dunkelheit, in der sich schattenhaft die Umrisse von hohen Tannen abzeichneten, während ihm ununterbrochen Regen ins Gesicht schlug.

„Hier ist das Wetter aber auch nicht wirklich besser, als bei uns ...“, murmelte Knut, der mit Freuden feststellte, dass ganz langsam Gefühl in seinen Leib zurückkehrte.

„Vollkommen richtig, mein Freund“, erklärte Hinnerk und erkannte wohl, dass Knut nun in der Lage sein würde, sich alleine fortzubewegen. Er entließ ihn aus seinem Griff.

„Haben wir es denn noch weit?“

Hinnerk antwortete zunächst nicht und Seite an Seite trabten sie durch das für Knut unbekannte Terrain.

„Es könnte zu weit sein, um unserem Freund rechtzeitig zu helfen“, lautete die Antwort, die Knut so gar nicht gefallen wollte.

 

***

 

„Dieser elende Wichser ... er ist Schuld daran. Er hätte ...“

Krestners brüchige Stimme wurde von Petra Kern zum Verstummen gebracht. Er hatte sich noch nicht vollständig von seinem Kontakt mit der „geladenen“ Wand erholt.

„Larsen hat Sie gewarnt, Krestner! Er hat uns alle davor gewarnt, die rot leuchtenden Wände zu berühren. Aber Sie haben seine Warnung ignoriert. Es ist allein Ihre Schuld, dass Sie beinahe Ihre Hand verloren haben.“

Sie deutete mit zornig funkelnden Augen auf den behelfsmäßigen Verband, den sie selber angelegt hatte.

Krestner musterte sie aus glasigen Augen. Den Schock hatte er noch längst nicht überwunden, aber um herumzugiften, reichte es bereits.

„Kommen Sie mir bloß nicht damit“, schimpfte er, machte ein schmatzendes Geräusch und fasste den Diener Johann ins Auge.

„Bringen Sie mir einen Cognac.“

Johann, der trotz der widrigen Umstände, seinen Dienst gewissenhaft weiter versah, nickte stumm und ging, um das Geforderte von der kleinen Bar zu holen.

Petra verzog ärgerlich ihre Mundwinkel und wollte sich abwenden, aber der eisige Blick von Miriam Burkhard hielt sie davon ab.

„Ist irgendwas?“, fauchte die Journalistin.

Die übergewichtige Schwester der Baronin setzte ein süffisantes und gleichzeitig anzüglich wirkendes Lächeln auf.

„Sie scheinen das Verschwinden Ihres Freundes ja nur schwer zu verdauen“, gab sie mit galliger Stimme von sich.

„Er ist nicht mein Freund! Und er ist da raus gegangen, um nach einem Ausweg für uns alle zu suchen. Das sollten Sie in Ihren Schädel bekommen, Frau Burkhard.“

Die Frau mit dem mahagonifarbenen Haar lächelte verächtlich, lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und schüttelte beiläufig den Kopf.

„Der will sich bloß wichtig machen. Wahrscheinlich steckt er sogar mit denen unter einer Decke. Das alles scheint ein schäbiger Trick zu sein, um uns zu beunruhigen.“

Die Journalistin biss sich kurz auf die Lippe, denn eigentlich glaubte sie selber auch nicht an übernatürliche Erscheinungen wie Geister und dergleichen, aber heute war es anders.

Hier ging eindeutig etwas ab, das den Rahmen des Normalen gesprengt hatte und gleichzeitig vertraute sie Mark Larsen, auch wenn sie ihn seit noch nicht einmal drei Stunden kannte.

„Nur weil Sie zu solch niederträchtigen Dingen fähig wären, sollten Sie nicht automatisch annehmen, dass jeder andere es auch ist.“

Miriam Burkhard funkelte die Journalistin wütend an, und ihr überschminkter Mund zitterte dabei auffällig.

„Was wollen Sie damit sagen?“, zischte sie, doch Petra Kern ließ sich nicht beeindrucken.

„Ich denke da an diese ganzen Berichte über ihre armen Ex-Männer, die sie geschäftlich, gesellschaftlich und seelisch fertig gemacht haben.“

Für diesen Satz hatte die Burkhard nur einen verächtlichen Schnaufer übrig, doch in ihren Augen glomm es weiterhin gefährlich.

„Außerdem, warum sollten hier keine finsteren Mächte aktiv sein? Sie wissen doch was über Ihre Schwester und Ihren sauberen Schwager berichtet wurde.“

Miriam Burkhard winkte ab.

„Dieses Gerede über Schwarze Messen und dergleichen, die hier abgehalten worden sein sollen ..., das ist doch alles unbewiesener Blödsinn. Alles haltlose Behauptungen!“

„Na, dann haben Sie einige meiner Berichte nicht gelesen“, erwiderte Petra Kern kämpferisch.

„Ich habe nur sehr wenig von Ihnen gelesen, weil mir bereits nach der Lektüre Ihres ersten – so genannten – Berichts klar geworden ist, dass Sie eine ganz impertinente Lügnerin sind.“

Jetzt war es genug und Petra machte sich bereit vorzustürmen, um dieser elenden Ziege an die Gurgel zu gehen, als eine Erscheinung sie stoppte.

Es war das durchsichtige, von einem leichten Rotschimmer umgebene Bild des Barons Bernward von Klangstein, welches durch die Wand der Halle ins Innere sickerte und lautlos dem Boden entgegenschwebte.

Ein breites, gemeines Grinsen verzerrte die Gesichtszüge des unheimlichen Ankömmlings, der sich von hinten dem Stuhl Miriam Burkhards näherte und von ihr nicht bemerkt wurde.

Petra sah sich im ersten Moment außerstande die Burkhard auch nur mit einem Ton zu warnen ...

„Wenn Sie mich fragen, sollten Sie noch heute für diesen Stuss, den Sie damals verzapft haben, bestraft werden“, giftete die alte Frau hinterher und wandte dann den Kopf von der Journalistin fort.

Erst jetzt bemerkte sie, dass sich hinter ihr etwas verändert hatte.

Hans Krestners Kopf ruckte in die Höhe, als er Miriam Burkhards krächzenden Schrei hörte, der sich aus ihrer Kehle löste, nachdem sie die schwebende Gestalt des Barons von Klangstein entdeckt hatte.

„Bernward ...“, entfuhr es ihr, als der Klang ihres Schreis verebbte und die Gestalt mit einem diabolischen Grinsen im rötlich durchscheinenden Gesicht niederfuhr und ... im Stuhl verschwand!

Keiner kam dazu etwas zu unternehmen.

Weder Petra Kern, die der Burkhard am nächsten stand, noch der Diener, noch Andreas Falk und erst recht nicht Hans Krestner oder Peter Lawrenz, konnten etwas tun, als der Stuhl sein gefährliches Eigenleben entfaltete.

Miriam Burkhard spürte das Zittern des Stuhls, in den der Geist ihres Schwagers gefahren war, und der die – an sich – reglose Materie mit Leben erfüllte.

Die lang gezogene Rückenlehne des Stuhls teilte sich genau in der Mitte, und jede der beiden Hälften schien sich in ein weiches, nachgiebiges Material verwandelt zu haben, welches nun um den fülligen Leib der Burkhard herum floss und sich wie eine Art breiter, unförmiger Gurt, vor ihrer Brust wieder vereinigte und sie damit gefangen nahm.

„Lasst uns etwas Spaß haben ...“, erklang die unangenehme Stimme des Barons im Inneren der Halle und vermengte sich mit dem zweiten, gellenden Schrei der gefangenen Frau, der es unmöglich war, sich zu erheben.

Sie schrie verzweifelt um Hilfe, während der Stuhl unter ihr immer heftiger und stärker erzitterte und sich regelrecht zu winden begann, gerade so, als säße sie auf einem bockenden Bullen beim Rodeo.

Der Stuhl flog hoch, und alle, denen er sich nun näherte, spritzten auseinander und wichen zurück.

„Was ... was geht hier nur vor?“, kreischte Krestner, der die verletzte Hand an den Leib presste, rückwärts stolperte und der Länge nach zu Boden fiel.

Peter Lawrenz wich bis zur nächsten Wand zurück – zum Glück zu einer, die nicht leuchtete – und rutschte kraftlos daran herab. Er war schlicht und ergreifend am Ende mit seinen Kräften.

Andreas Falk und Johann standen beieinander und gaben keinen Laut von sich.

Einzig Petra Kern fasste sich ein Herz, sprang vor und umklammerte die verformte Rückenlehne, die sich wie eine erstarrte Schlange um den Leib von Miriam Burkhard gewunden hatte.

Ihre Finger umklammerten das Holz, versuchten es zurück zu biegen, um der verzweifelt schreienden Miriam Burkhard eine Möglichkeit zu bieten, aufzustehen, doch das Material war unnachgiebig.

Petras Finger rutschten ab, als der Stuhl senkrecht mehrere Meter in die Höhe schoss und dabei eine Rolle vollführte.

„Einen solchen Salto sieht man nicht alle Tage, meine Herrschaften. Sie sollten das fotografieren ...“

Die von allen Seiten auf die Anwesenden einwirkende Stimme des Barons troff vor Hohn und Spott, als der Stuhl erneut Richtung Decke empor schoss und das Kreischen von Miriam Burkhard die Trommelfelle aller Beteiligten zu zerreißen drohte.

„Oh Gott ...“, entfuhr es Petra Kern hilflos, als sie miterleben musste, wie der Stuhl der Schwerkraft trotzend, zur Seite wegjagte, gegen eine der Wände prallte, dann wieder zur Decke startete und hart dagegen schlug.

Der massige Leib Miriam Burkhards wurde innerhalb der unheilvollen Umklammerung hin und her geschleudert und plötzlich fiel der Journalistin etwas auf.

Die dermaßen gemarterte Frau schrie nicht mehr.

Sie war totenstill, gab keinen Laut mehr von sich und dieser Umstand weckte in Petra ein grausiges Unbehagen.

Hilflos mussten die Zurückgebliebenen mit ansehen, wie der Stuhl samt seiner menschlichen Fracht, immer wieder in den irrwitzigsten Kehrtwendungen herumflog und gegen Hindernisse stieß, die zumeist scheppernd und krachend zu Boden gingen.

Das Ganze dauerte quälend lange und endlich schoss der Stuhl hinab, krachte auf die Steinplatten des Hallenbodens und zerbarst mit einem trockenen Laut.

Der Körper Miriam Burkhards wurde zur Seite geschleudert und knallte dann der Länge nach hin.

Petra überwand die Schrecksekunde als erste, eilte zu der reglosen Frau am Boden und ging schnell neben ihr in die Knie.

Mit wild pochendem Herzen fühlte sie nach der Halsschlagader Miriam Burkhards, doch allein der Blick in die verdrehten und glanzlosen, jedoch weit aufgerissenen Augen der Frau verrieten Petra die furchtbare Wahrheit.

„Sie ist tot“, murmelte die Journalistin erschüttert, als die Männer näher traten.

Es bestand kein Zweifel, dass Miriam Burkhards Herz die Belastung nicht ausgehalten und versagt hatte.

Reglos standen die Männer da, schauten auf die kniende Reporterin und die Tote am Boden.

Keiner sagte etwas ... außer dem Geist des Barons, der jäh aus dem Boden empor fuhr, ein gehässiges Lachen vernehmen ließ und eine düstere Versprechung machte.

„Jetzt seid ihr dran ...“

 

***

 

... oder besser, Mark wollte seinen Gegenschlag starten.

Gerade als er sich innerlich das Startsignal gab, spielte das Schicksal wieder einmal verrückt und unterstützte den Hüter bei seinem Vorhaben.

Die graurote, durchsichtige Erscheinung der Baronin begann mit einem Mal aufzustrahlen, was daran hätte liegen können, dass ihr jemand ein eingeschaltetes Autorücklicht in den Brustkasten hielt.

Aber Mark wurde klar, dass hier andere Ursachen verantwortlich waren, als er den infernalischen und markerschütternden Schrei der Baronin hörte, der ihn gnadenlos peinigte.

Gleichzeitig vernahm er das Kreischen und Jammern der Furien, die ihn ebenfalls umstanden und sah ... wie vier von ihnen sich restlos auflösten, nachdem ihre Gestalten wie fehlerhafte Projektionen aufgeflackert waren.

Der erbarmungslose Griff an seinem rechten Arm schwand und sofort setzte er seine neu gewonnene Freiheit ein.

Er schmetterte der – offensichtlich verwirrten – Furie, die immer noch seinen linken Arm umklammert hielt, seine rechte Faust mitten in die Visage, woraufhin es ihm möglich war, sich auch von ihr loszureißen.

Schwerer Fehler!, dachte Mark noch, doch es war schon zu spät, denn er fiel nach vorne und klatschte mit dem Gesicht in die trübe Brühe, die den gesamten Boden und somit alles darin umspülte.

Die Beine des Hüters waren nach der zurückliegenden Tortur einfach noch nicht in der Lage, sein eigenes Gewicht zu halten, und somit gab es für ihn nur eine Richtung.

Abwärts!

Doch Mark war nicht gewillt einfach so aufzugeben, hob den Kopf an, während ihm das dreckige Wasser schmutzige Bahnen über Haut und Haare zeichnete, kroch voran und griff nach der Kette zwischen den Knochenhaufen, die er schon vorhin als mögliche Waffe ins Auge gefasst hatte.

„Packt ihn ...“, kreischte die Baronin, die sich langsam wieder zu fangen schien, den beiden verbliebenen Furien zu.

Mark stemmte seine Beine unter den geschundenen Leib, kämpfte sich auf die Füße und schwang gleichzeitig die schwere, knirschende Kette.

In ihrem Überschwang, rannte die erste Furie direkt in den Hieb, den sie voll nehmen musste, und der sie gnadenlos zur Seite schmetterte.

Mark drehte sich keuchend auf der Stelle, die Kette stellte sich fast waagerecht und dann ließ er im richtigen Moment los.

Wie ein eisernes Geschoß fegten die verschlungenen Glieder der Kette durch die Luft und hämmerten gegen die andere, die sich nicht ganz so dicht an Mark Larsen herangewagt hatte.

Der Hüter sah sich verzweifelt um.

Während ihm weiterhin Dreckbrühe in die Augenwinkel tropfte und ihm vom fauligen Geschmack auf der Zunge fast übel wurde, versuchte er sich darüber klar zu werden, was für Möglichkeiten ihm blieben.

Zurück konnte er nicht, denn in dieser Richtung versperrten ihm die verbliebenen Furien den Weg.

Im Gewölbe durfte er auch nicht bleiben, denn hier würden sie und die Baronin, deren Abbild immer noch flackerte, seinem Leben bald ein Ende bereitet haben.

Also?

Seine Augen erfassten im Hintergrund des Gewölbes genau gegenüber dem Eingang eine schmale Öffnung.

Wohin würde diese ihn wohl führen?

Egal, alles ist besser als hierzubleiben und verhackstückt zu werden, schoss es Mark durch den Kopf, und, obwohl er eigentlich am Ende mit seinen Kräften war, warf er sich in jene Richtung, von der er sich einen Fluchtweg und somit eine Rettung erhoffte ...

 

***

 

Es war Knut Ukena schon wie schier unverschämtes Glück erschienen, als auf dieser nächtlichen, einsam erscheinenden Straße tatsächlich ein Wagen aufgetaucht war.

Dass der Fahrer des dunklen Range Rover dem wilden Gestikulieren Hinnerks gefolgt war und den Wagen zum Stillstand gebracht hatte, hatte er unter genau demselben Motto abgeheftet.

Doch dass der Fahrer sie nach einigen kurzen Worten, die er mit Hinnerk gewechselt hatte, tatsächlich mitnahm, war ihm schier unglaublich vorgekommen.

Knut setzte sich in den Fond des Range Rovers und schüttelte sich zunächst einmal kräftig, denn er hatte den Eindruck, nie wieder richtig trocken werden zu können. Er sagte erst einmal nichts. Selbst als Hinnerk neben dem Fahrer Platz genommen hatte und die Fahrt wieder aufgenommen worden war. Er hatte immer noch einiges von dem, was ihnen widerfahren war, zu verarbeiten.

„Frag ruhig ...“, forderte Hinnerk mit einem Mal und durchbrach die monotone Geräuschkulisse des Wageninneren, die bisher lediglich vom Surren der Scheibenwischer und dem Brummen des Motors gestaltet worden war.

Erst war Knut etwas verwirrt, doch dann wusste er, worauf Hinnerks Aufforderung zielte.

Knut warf jedoch einen warnenden Blick auf den Fahrer, den Lührs – irgendwie – mitbekam und einen Augenblick später bewegte ein schmales Lächeln seinen buschigen Vollbart.

„Unser freundlicher Fahrer wird sich an nichts erinnern, wenn wir den Wagen in knapp einer Viertelstunde verlassen. Dafür ist gesorgt“, erklärte Hinnerk seelenruhig und kramte jetzt sogar eine Selbstgedrehte unter seinem durchnässten Mantel hervor.

Knuts Blick wanderte zum Rückspiegel, in dem er die Augen des etwa 45jährigen Fahrers erkennen konnte.

Sie starrten glasig auf die Straße vor ihnen, die von den Scheinwerferstrahlen erhellt wurde und auf die nach wie vor heftiger Regen niederging. Offenbar sah der Fahrer alles und nahm alle erforderlichen Dinge wahr, die eine gefahrlose Fahrt nötig machten, aber trotzdem schien er geistig überhaupt nicht zugegen zu sein.

„Frag ruhig“, wiederholte Hinnerk seine Aufforderung.

In Ordnung, wenn er schon so großzügig ist, und mir Antworten anbietet, dachte Knut, während ihm die ersten übel riechenden Qualwolken des gerade entzündeten Tabaks entgegenwehten.

„Wie sind wir hierher gekommen, Hinnerk? Was ist da mit dieser Eiche am Damm abgelaufen?“

Hinnerk, dessen Gesicht nun wieder von Knut abgewandt war, produzierte noch einen auseinanderquellenden Berg von Rauch, ehe er antwortete.

„Nicht leicht zu erklären, Knut. Es ist so, dass es im Verborgenen Verbindungen zwischen so ziemlich jedem lebenden Wesen gibt. Also zwischen allen Tieren, allen Menschen und natürlich auch zwischen allen Pflanzen.“

So weit konnte Knut noch folgen, doch er fürchtete insgeheim, damit könne es nach den nächsten Worten des bärtigen Hünen vorbei sein.

„Wer immer diese Verbindungen kennt, und weiß, wann sie passierbar sind, kann sie passierbar machen und sie gewissermaßen als Abkürzung nutzen. Das klappt aber nur bei ganz besonderen Angehörigen der eben genannten Arten und zu ganz speziellen Zeiten.“

„Auf deiner Karte, die du mitgenommen hast, kannst du Bäume ausfindig machen, mit deren Hilfe du dich zu ... beamen vermagst?“, fragte Knut nun ungläubig und ermahnte sich gleichzeitig daran zu denken, dass er selber ja diese Reise mitgemacht und miterlebt hatte (wenn man von seinem Blackout und der anschließenden Desorientierung absah!).

„So in etwa! Das ist alles viel zu schwierig, um es im Detail zu erklären. Aber mit dem Endergebnis hast du Recht. Wir sind mit Hilfe der Eiche und ihrer Verbindungen zu anderen, speziellen Artgenossen hier gelandet, nur wenige Kilometer von Schloss Klangstein entfernt.“

„Ein bisschen zu viel Glück für meinen Geschmack“, versetzte Knut und erntete ein Schulterzucken Hinnerks.

„Na und, wenn schon? Wir sollten froh sein, dass heute Vollmond ist, die Eiche sich bereit erklärte, uns zu helfen, und wir jetzt die Gelegenheit haben, Mark vielleicht rechtzeitig zu erreichen und zu unterstützen.“

Knut schwieg, denn er sah ein, dass Hinnerks Einwand nicht unberechtigt war.

Sollte er sich jetzt tatsächlich darüber aufregen oder auch nur wundern, dass in diesem Fall so viele günstige Umstände dafür gesorgt hatten, dass Hinnerk und er in die Nähe ihres Freundes gelangen konnten?

Mark brauchte Hilfe! Das war sicher, auch wenn sie dafür keinen eindeutigen Beweis besaßen.

Die Sicherheit, mit der Hinnerk im Glückshaus diese Feststellung von sich gegeben hatte, hatte Knut „angesteckt“, und deshalb konnte es ihm doch im Grunde genommen egal sein, ob und wie sie hierher gelangt waren.

Hauptsache es hatte geklappt und das Glück war ihnen auch weiterhin hold.

Eine weitere Frage brannte ihm trotzdem noch auf der Zunge.

„Was ist mit den Patronen, die du mir vorhin gegeben hast?“

Hinnerk lachte wohlwollend.

„Gute Frage, mien Jung.“

Er nahm einen genussvollen Zug von seiner Zigarette und stieß neue „Luftverpester“ dem Wagenhimmel entgegen.

„Im Auftrag des Ordens hat Reinhold Strössner ... „

„Wer ist das noch mal?“, unterbrach Knut den Vortrag des Freundes und erntete so ein ärgerliches Stirnrunzeln.

„Strössner hat doch diese Fabrik für Munition, Waffen und anderes Krieggerät.“

Knut erinnerte sich jetzt.

„Ach ja, in der Nähe von Berlin, richtig?“

Hinnerk nickte.

„Also! Strössner hat eine neue Spezialmunition fabriziert. Die Patronen sind aus verschiedenen Materialien hergestellt worden und wurden dabei zahlreichen magischen Riten, Weihen und Segnungen unterzogen. Somit stellen sie eine neue Generation von Bewaffnung im Kampf gegen die Schwarzblüter dar.“

Knut schürzte beeindruckt die Lippen und betastete unauffällig seine Pistole im Schulterhalfter.

Er hatte das im Griff steckende Magazin der Makarov, sowie das Ersatzmagazin in seiner Jackentasche mit der neuen Munition geladen.

„Und kann ich damit jeden Dämon abballern, oder gibt es Grenzen für diese Wundermunition?“

Wieder lachte Hinnerk kurz. Anscheinend gefiel ihm die Formulierung der Frage gut.

„Allerdings gibt es Grenzen, Knut. Diese Munition funktioniert augenscheinlich nur bei rangniederen Dämonen so, dass es sie zerreißt. Dämonen der mittleren Stufe werden eventuell verletzt oder geschwächt, so genau ist dass noch nicht erwiesen.“

Ein blümeranter Gedanke schoss Knut durch den Kopf.

„Wenn es den Verräter noch gäbe, und Strössner wäre er, dann hätte er uns mit wirkungslosen Kugeln ausstatten können und wir würden im Kampf untergehen! Echt schräg, was?“

Hinnerk winkte ab.

„Zum einen, ist der Verräter ja erledigt*. Außerdem habe ich die Kugeln, die ich dir gab, von Sir Wallace T. Burke persönlich erhalten. Burke hat mir garantiert, dass diese Kugeln während eines Kampfes gegen Dämonen in Paris unglaublich gute Dienste geleistet haben**.

(*Siehe Der Hüter Nr. 8 „Tod dem Verräter“ und **TS Nr. 0 „Legende der Hölle“)

Hinnerk drehte nun wieder den Kopf in Richtung Knuts, lächelte milde.

Trotz des Hinweises auf die Entlarvung und den Tod des Verräters, hatte Knut irgendwie den Eindruck, Hinnerk wäre von seiner eigenen Aussage nicht überzeugt.

 

Aber es war Knut irgendwie peinlich, dass er diesen blöden Gedanken überhaupt gehabt hatte, und so beschloss er das Thema zu wechseln.

„Na, den armen Knaben hier, den hast du wohl hypnotisiert, was?“, meinte Knut nach einigen Minuten des Nachdenkens und deutete auf den Fahrer.

„Nein, natürlich nicht“, brummte Hinnerk erstaunt und im selben Augenblick hoben sich die Augenbrauen des Fahrers fragend.

„Wie kommen Sie denn darauf?“, fragte dieser nun und Knut spürte, wie es unter seinem Haaransatz zu prickeln begann, weil ihm bewusst wurde, dass er etwas total Falsches gesagt hatte.

„In meinem Zimmer habe ich Martin hier...“, Hinnerk deutete auf den Fahrer, “...mit meinem Handy angerufen. Wahrscheinlich hast du das nicht gehört, weil meine Suche etwas ... nun ja, „lautstark“ ablief.“

„Aha“, machte Knut nur.

„Martin arbeitet schon seit einigen Jahren als äußerst zuverlässiger Beobachter und Informant für uns. Er lebt in Aschaffenburg und ist schnellstens hierher gefahren, als ich ihn darum bat. Es war wohl reiner Zufall, dass wir alle zeitgleich hier ankamen.“

„Äh..., sicher“, entgegnete Knut nur und schalt sich selbst einen Dummkopf, dass er den glasigen Blick Martins als Ausdruck von Hinnerks ‚Hypnosekraft’ fehl interpretiert hatte.

„Sobald wir hier fertig sind, wird Martin nach Aschaffenburg zurückkehren und über alles schweigen, was wir besprochen haben. Das meinte ich vorhin, als ich sagte, er würde sich an nichts erinnern.“

Diesmal erwiderte Knut Ukena nichts mehr, denn er hatte beschlossen, erst wieder zu sprechen, wenn sie den Wagen verlassen hatten.

Man konnte ja nie wissen, was für einen Unsinn er sonst noch von sich gab.

 

***

 

Asnard hatte die Kontrolle zurück gewonnen.

Der Dämon hatte sich vor Wut schäumend erhoben, blickte auf den Stein in seiner rechten Hand und sah das intervallartige Leuchten das zurückgekehrt war.

Dieser Anblick beruhigte Asnard ein klein wenig, aber gleichzeitig beunruhigte ihn der Umstand, dass die ohnehin instabile Verbindung ins Innere des Schlosses nicht wieder hergestellt werden konnte.

Es war ihm einfach nicht mehr möglich zu beobachten, was sich da drinnen tat, und herauszufinden wie die Aktien so standen.

Der Dämon schürzte seine Lippen und überlegte.

Was war da gerade eben vorgefallen? Weshalb hatte er Schmerzen empfunden und sogar die Kontrolle über seine eigenen und die Kräfte des Steins verloren?

Asnard war lange genug auf der Erde und wusste, welch umwälzenden Veränderungen mit der Geburt des Nazareners vor über zwei Jahrtausenden eingetreten waren.

Die Verbindung ins Höllenreich war unterbrochen worden, und den hier zurückgebliebenen Schwarzblütern war es somit unmöglich in ihre Heimat zu gelangen.

Entgegengesetzt dazu, konnten die Heerscharen der Verdammnis nicht über die Erde herfallen, obwohl Luzifer kurz davor gestanden haben sollte, einen diesbezüglichen Plan in die Tat umzusetzen.

Aber es gab noch etwas, dass das Streben der finsteren Mächte im Diesseits stark einschränkte.

Viele, vielleicht sogar die meisten Dämonen auf Erden waren eines Großteils ihrer Macht beraubt worden, ebenso wie zahlreiche ihrer verdammten und finsteren Rituale, aus denen sie Kraft schöpften, und die sie stärken und unterstützen sollten.

Asnard war ein Dämon, den diese Veränderung damals nicht so schwer betroffen hatte, denn immerhin stützte sich seine Macht zu einem großen Teil auf jenen Kristall, den ihm Asmodi persönlich überreichte, weil er sich in der Vergangenheit sehr um die Hölle verdient gemacht hatte.

Aber trotz der ‚Unterstützung’ durch den Stein, hatte diese Woge, die da über das Land gerast war, ihn benommen werden und ächzend zu Boden gehen lassen.

Was war das gewesen? Wer oder was war in der Lage eine solche Kraft zu entfesseln?

Asnard hätte gerne eine Antwort auf diese Fragen erhalten, doch auch so war er clever genug, um Eins und Eins zusammenzuzählen.

Es konnte einfach kein Zufall sein, dass eine solche Macht ausbrach, hier im Spessart, in dieser speziellen Nacht – einer wahren Schreckensnacht.

Diese Kraft musste etwas mit seinem Plan zu tun haben, da war Asnard sich sicher, und er beschloss wachsam zu bleiben und sich innerlich darauf vorzubereiten, dass bald etwas geschehen würde.

Und als sich einige Minuten später zwischen den umliegenden Bäumen Scheinwerferstrahlen eines sich nähernden Autos zeigten, wusste der Dämon: Er hatte Recht behalten!

Ein böses Lächeln bildete sich auf seinen schmalen Lippen und er verließ seinen Platz nahe dem Schloss, um den Ankömmlingen entgegenzutreten.

Er griff unter sein Jackett und holte den Dolch hervor, mit dem er vor knapp zwei Stunden den Fahrer von Miriam Burkhard umgebracht hatte.

Was hatte dieser Idiot sich auch im Freien herumtreiben müssen, als er das Schloss zu versiegeln gedacht hatte?

Die Frustration des zurückliegenden Zwischenfalls verlangte nach einem oder auch mehreren Opfern.

Auch wenn in dieser Nacht noch viele Menschen sterben würden, und er Mitschuld an ihrem Ableben tragen würde, so verspürte er doch keine Zufriedenheit aus dieser Erkenntnis.

Nein, Asnard wollte selber handeln und etwas tun. Jemanden umbringen und ihm dabei in die Augen sehen.

Da kamen ihm die Personen (er nahm erst einmal an, dass mehrere Menschen in dem sich nähernden Fahrzeug saßen) gerade recht.

Der Dämon blickte auf die randvoll mit Magie geladene Klinge. Mit Hilfe des Kristalls hatte er das dunkle Metall geschärft.

Asnard zeigte ein diabolisches Grinsen.

Oh ja, er würde seinen Spaß haben.

Da war er sich sicher!

 

***

 

Mark Larsen kroch auf allen Vieren durch das ekelhafte Wasser, in welches gelegentlich sein Gesicht eintauchte, weil der Boden der Röhre ab und zu absackte.

„Packt ihn, packt diesen verfluchten Bastard...“, ertönte es hinter ihm und der Hüter konnte sich ausmalen, dass die beiden verbliebenen Furien von ihrer Herrin angestachelt wurden, sich ebenfalls in die Röhre zu zwängen, in der er sich befand.

Eigentlich war Mark am Ende, doch die Aussicht von den infernalischen Frauengestalten gestellt und zerfleischt zu werden, kitzelten Reserven aus seinem Innersten hervor, von denen er niemals gedacht hätte, sie zu besitzen.

Wohin würde ihn diese Röhre führen, durch die er mit pumpenden Lungenflügeln und brennenden Gelenken kroch?

Endete seine Flucht eventuell innerhalb der nächsten Minute vor einigen aufragenden Steinen, die die Röhre hier abschlossen?

Würde er gleich in die Tiefe stürzen?

Mark wusste es nicht!

Ebenso wenig, wie er wusste, was aus dem Rest der Erbengemeinschaft geworden war oder noch werden würde.

Tut mir Leid Petra..., dachte er verbittert, während er zum wiederholten Male etwas von der scheußlichen Flüssigkeit zwischen die Lippen bekam, die bei jeder seiner Bewegungen hoch schwappte.

Es war ihm im Moment nicht möglich, sich um das Wohl Anderer zu sorgen, da sein eigenes Leben auch nur an einem allenfalls Mükrometer breiten Faden hing.

Es blieb ihm nichts anderes übrig als weiter zu kriechen und zu hoffen und zu beten, dass der Weg nicht abrupt endete und sich ihm eine Möglichkeit erschloss den Furien zu entkommen.

Doch diese Hoffnung war schwach...

Sehr schwach sogar!


 


                                                                  Finally their time has come

                                                                  Face to face on the battlefield

                                                                  The King's here to judge the deceiver

                                                                  Open wounds, no riot shield

                                                                  he seed of hate is bearing fruit

                                                                  rapes of wrath of evil root

 

                                                                  lood against blood

                                                                  lack against white

                                                                  ark hanging clouds

                                                                  ime's running out

                                                                  lood against blood

                                                                  ingeling stream

                                                                  ate will decide

                                                                  ho has die

 

                                                                  ar was their life

                                                                  races of pain

                                                                  ll for the reign

                                                                  he final war

(Grave Digger – The Final War)

 

4. Kapitel:

Finale in der Schreckensnacht


 


„Wen schnappe ich mir denn als nächstes?“, fragte von Klangstein eher rhetorisch und fasste jedes Mitglied der Erbengemeinschaft eingehend ins Auge.

 „Die streitsüchtige Reporterin, die meine Frau und mich so arg unter Druck setzte und die Öffentlichkeit auf uns lenkte, so dass wir kaum noch im Abgeschiedenen unsere Kontakte zu den finsteren Mächten aufzubauen in der Lage waren?“

Der Blick des Barons wanderte zu Andreas Falk, dessen Gesichtszüge von Furcht verzerrt waren.

Dieser wich wimmernd zurück, stieß dabei mit der Hüfte gegen den breiten Tisch und wirkte, als ereile ihn jeden Augenblick ein tödlicher Herzschlag.

Als nächstes schaute Bernward von Klangstein auf Hans Krestner, der vor Angst nicht einmal zittern konnte.

Peter Lawrenz, der Notar, und Johann, der Diener, wurden vom Baron ignoriert, obwohl auch sie in tödlicher Gefahr schwebten. Bernward von Klangstein würde niemanden von ihnen am Leben lassen.

Ihr Blick fiel auf die tote Miriam Burkhard, die inmitten der Bruchstücke jenes Stuhls lag, der ihr zum Verhängnis geworden war.

„Ja, Petra, schauen Sie sich meine Schwägerin genau an. Sie ist die Glücklichste von euch allen ...“, erklärte der Geist und lächelte süffisant.

„..., denn sie hat es hinter sich!“

 

***

 

Wie viel Zeit vergangen war, seit Mark Larsen aus dem Gewölbe geflüchtet war, wusste er nicht.

Woher er überhaupt noch ein Quäntchen Kraft hernahm, entzog sich ihm ebenfalls, aber seine Arme und Beine bewegten ihn automatisch auf allen Vieren voran.

Die Schreie von Beatrice von Klangstein und das Fauchen der Furien hörte er deutlich hinter sich.

Das brackige Wasser drang immer wieder über seine Lippen in den Mund, er verschluckte sich, hustete und geriet deshalb aus dem Takt.

Weiter, weiter, weiter ... nicht aufgeben ..., hämmerte es in seinem Innersten.

Sehen konnte er so gut wie gar nichts, außer gelegentlich verschwommene Ecken und Kanten, die aus dem Dunkel auftauchten, wenn er seinen Kopf nicht rechtzeitig einzog und dagegen krachte oder an ihnen entlang schleifte.

Er drang tiefer und tiefer in die Finsternis ein.

 

***

 

Irgendwann hatten sie die A 26 verlassen und Martin hatte den Range Rover über schmale Nebenstrassen gelenkt. Links und rechts zogen die majestätischen Nadelbäume des Spessarts vorbei, die zu dieser Zeit und bei dieser Witterung undeutlich zu erkennen waren.

In Knut Ukena hatten sich Zweifel gemeldet, ob sie tatsächlich noch auf dem richtigen Weg waren. Er hatte aber nichts gesagt, weil Martin bestimmt wusste, wohin sie sollten.

Hinnerk hatte Martin den Routenplan überlassen, den der Notar Peter Lawrenz an Mark gesandt und von dem der Hüter eine Kopie im Glückshaus liegengelassen hatte.

Knut saß wie auf glühenden Kohlen, denn Hinnerk hatte ihn schon längst davon überzeugt, dass Mark in Gefahr war.

Ukena hielt es nun doch nicht mehr aus, öffnete seinen Mund und wollte etwas sagen, als er zwischen den Bäumen zahlreiche Lichter entdeckte.

Er rutschte im Fond herum, so dass er zwischen den beiden Vordersitzen hindurchblicken konnte, und deutete an Martin und Hinnerk vorbei.

„Da ist es!“

Hinnerk nickte stumm. Seit sie die Hauptstraße verlassen hatten, wirkte er konzentriert und in sich gekehrt.

„Ja, wir sind gleich da.“

Knut bemerkte, dass Hinnerk im Dunkeln ein wenig deutlicher zu sehen war. Ein bläuliches Schimmern hatte sich von innen her um ihn gelegt.

Knut hatte schon miterleben können, wie dieser ungewöhnliche Mann seine bemerkenswerten Kräfte einsetzte. In Form von blauen, grellen Blitzen hatte er sie dann gegen seine Gegner geschleudert.

 „Ich denke, du solltest uns hier rauslassen, Martin. Den Rest können Knut und ich...“

Weiter kam Hinnerk nicht, denn eine Bewegung zwischen den Bäumen lenkte ihn ab.

Knut bekam diese Bewegung nur am Rande mit, denn schon überschlugen sich die Ereignisse.

Ein Mann mit weißblondem Haar trat in den Erfassungsbereich der Scheinwerfer.

 „VORSICHT!“, brüllte Hinnerk noch und Martin reagierte, doch es war zu spät.

Der Fremde vor ihnen machte mit dem rechten Arm eine blitzschnelle Bewegung und etwas Pechschwarzes wirbelte auf den Wagen zu und durchschlug mit einem Knacken die Windschutzscheibe, auf der sich ein sinnverwirrendes Muster von gezackten Rissen in alle Richtungen ausbreitete.

Martin stieß einen Schrei aus, riss das Lenkrad herum und schon krachte der Range Rover, der sich noch mit mindestens 30 km/h bewegte, gegen einen Baumstamm, der wie aus dem Nichts gezaubert vor ihnen emporwuchs.

Hinnerk rief etwas und ein Kreischen und Knirschen ließ das Innere des Wagens wie unter dem Schlag eines Titanen erzittern.

Knut prallte gegen etwas Hartes. Ein heftiger Schmerz flammte hinter seiner Stirn auf.

Dann versank alles für ihn in absoluter Dunkelheit.

 

***

 

Baron Bernward von Klangstein gab sich siegessicherer, als er in Wirklichkeit war.

Kurz bevor er in die Halle zurückgekehrt war und Miriam Burkhard den Garaus gemacht hatte, war eine schreckliche Schwäche über ihn hergefallen wie ein ausgehungertes Raubtier und hatte ihn für eine Weile förmlich erstarren lassen.

Schmerzen, vergleichbar mit denen, die ihn gepeinigt hatten, als er Asnards Trank zu sich genommen hatte, waren durch ihn gefahren und seine Feinstofflichkeit war von ihm abgefallen, so dass es ihm unmöglich gewesen wäre, eine Mauer zu durchdringen.

Doch eben so schnell, wie diese Missempfindung aufgekommen war, war sie auch wieder verschwunden und hatte ihn angeschlagen zurückgelassen.

Fragen, was ihn da so überfallen hatte, stellte er sich nicht, denn es gab jetzt Wichtigeres zu tun. Die Vorstellung endgültig mit denen abrechnen zu können, die er hierher gelockt hatte, erregte ihn und ließ seine Kräfte zurückkehren.

Sein Blick wanderte an den schreckensbleichen Gestalten vor ihm vorbei und fing sich bei den Schwertern an den Wänden, den Lanzen in den speziellen Gestellen und den Rüstungen, die hier aufgestellt worden waren.

Es kostete ihn keine große Mühe, diese Gegenstände zu bewegen, ohne sie überhaupt zu berühren.

Schon im nächsten Moment lenkte er sie gegen seine Opfer...

 

***

 

Mark Larsens Herzschlag hallte wild in seinem Inneren wider.

Das Stechen in seiner Brust versuchte der Hüter ebenso zu ignorieren, wie die eisige Kälte des Wassers, durch das er kroch.

Die Röhre, durch die er sich zwängte, wurde immer enger und zu den Schmerzen, der Kälte und der versiegenden Kraft, gesellte sich ein erwachendes Gefühl von Klaustrophobie.

Allmählich gewann Mark den Eindruck, es wäre vielleicht besser gewesen, sich seinem Schicksal zu ergeben und sich von der Baronin und ihren Furien...

„N E I N!“, fauchte der Hüter mit einem Mal, als er bemerkte, wie über diese Gedanken seine Kriechbewegungen langsamer zu werden begannen.

Aufgeben kam nicht in Frage.

Und so schob sich Mark weiter voran.

Getrieben von einem kleinen, aber beharrlich glimmenden Funken Hoffnung...

 

***

 

Ein quietschendes Geräusch hinter ihr ließ Petra Kern herumfahren, obwohl sich der geisterhafte Bernward von Klangstein immer noch vor ihr präsentierte.

Die Journalistin blickte auf eine silbrige Ritterrüstung, die eben noch friedlich und unbeweglich in der Ecke gestanden hatte und nun mit ungelenken Bewegungen auf sie und die anderen Verzweifelten zuschritt.

Ein heiserer Schrei drang aus ihrer Kehle und lenkte die Blicke der anderen ebenfalls in diese Richtung.

„Das kann doch nicht...“, entfuhr es Krestner.

Erst jetzt bemerkte Petra, dass Krestners Augen nicht auf die Rüstung gerichtet waren, sondern auf das armlange Schwert, welches sich von der Wand gelöst hatte und der Rüstung nachfolgte.

Doch auch das war noch nicht das Ende des Schreckens.

Nicht allein diese beiden Objekte bewegten sich, nein... jetzt schob sich eine lange Lanze, die vor Jahrhunderten bei Turnieren benutzt worden war, aus ihrer Halterung, gleichzeitig stieg die zweite Rüstung von ihrem Sockel und stakste geräuschvoll auf sie zu.

Petra vernahm zusätzlich das Rasseln einer Morgensternkette von irgendwoher aus der Halle.

Bernward von Klangstein schwebte wieder etwas höher über dem Boden und lachte seine Opfer aus.

„Dann wollen wir endlich mit der Show beginnen!“

Ein surrendes Geräusch erklang und instinktiv wich Petra Kern zur Seite. Das rettete ihr das Leben, denn die Schwertschneide hackte genau dort in den steinernen Boden, wo sie eben noch gestanden hatte.

„AAAAAHHHHH!“

Krestners Schrei mündete in ein keuchendes Geräusch, als sich ihm seitlich eine der Rüstungen genähert und ihre eiserne Hand um seinen Hals gelegt hatte.

„Bei allen Heiligen...“, stöhnte Falk, doch die Anrufung jener Himmelsvertreter vermochte ihn nicht davor zu bewahren, vom schwebenden Morgenstern bedrängt zu werden.

Die schwere Metallkugel mit den harten Dornen, die bereits einige harte Schädel zertrümmert hatte, wuchtete sich ihm in einer raschen Kreisbewegung entgegen.

Falk riss beide Arme hoch, doch der Morgenstern traf sein Ziel. Er hämmerte in den Bauch des Mannes.

Falk stolperte über die Beine von Miriam Burkhard und knallte auf den Boden. Ein Gurgeln entrang sich seiner Kehle.

Sofort setzte der Morgenstern nach und drosch blitzartig senkrecht nach unten.

Petra Kern hörte ein Ekel erregendes Geräusch, als der Schädelknochen des Mannes von der brachialen Gewalt des Morgensterns gespalten wurde. Doch sie konnte sich nicht darum kümmern, da das Schwert ihr immer schneller nachsetzte.

Die Journalistin war sportlich, besaß gute Reflexe und war auch in Bezug auf Selbstverteidigung hervorragend geschult. Diese Aufgabe jedoch, überforderte sie beinahe.

Immer wieder jagte das Schwert entweder mit der Schneide oder der Spitze auf sie zu und versuchte, sie aufzuschlitzen oder zu durchbohren.

Da! Ein Ächzen, begleitet von einem leisen Scheppern.

Petra Kern konnte nicht anders: Sie blickte in die Richtung, aus der die Geräusche erklungen waren.

Hans Krestner hing immer noch im Griff der Rüstung, die mittlerweile kopflos geworden war.

Johann hatte sich ein Herz gefasst, einen Schürhaken ergriffen und den Helm von den Schultern des Eisenmannes gerammt.

Nun versuchte Johann Krestner aus dem Grif zu befreien.

Dessen Bewegungen erlahmten zusehends. Sein Gesicht war blau, beinahe schon purpur.

Doch Johann hatte keinen Erfolg.

Stattdessen war er durch seine Bemühungen so abgelenkt, dass er die Lanze nicht sah, die just in diesem Augenblick hinter ihm herum schwang, und deren spitz zulaufendes Ende sich auf seinen ungeschützten Rücken richtete.

„J O H A N N ...“, schrie Petra Kern entsetzt.

Zu spät!

Die Lanze wurde von hinten durch den Leib Johanns getrieben, trat an der Vorderseite wieder aus und drang dann auch noch in den Rumpf Hans Krestners.

In diesem Moment ließ ihn die Rüstung los.

Die beiden Männer blickten einander ungläubig an, während die unsichtbare Kraft, die die Lanze geführt hatte, nun dafür sorgte, dass sich die altertümliche Waffe in ihren Leibern herumdrehte.

Dieser Anblick war für Petra Kern zu viel. Verzweifelt schrie sie auf ... jedoch nur für eine Sekunde, denn im nächsten Augenblick verspürte sie einen scharfen Schmerz, als die Schwertklinge ihre linke Schulter traf und einen tiefen Schnitt hinterließ.

Die Journalistin fiel zu Boden und blickte entsetzt in die Augen Andreas Falks, die ihr aus der unförmigen Masse seines Schädels entgegenstarrten.

Petra schrie auf und von Klangstein sank tiefer.

Binnen weniger Augenblicke hatten die von ihm gelenkten Waffen drei Menschen auf grausame Weise das Leben gekostet.

„Sehr schön, sehr schön...“, freute sich die Geistergestalt und das rote Leuchten, das seine graue Gestalt umgab, wurde intensiver.

„So habe ich es mir vorgestellt.“

Er sah zu Krestner und Johann, die, verbunden durch die Lanze, zu Boden gestürzt waren und nun in einem breiter werdenden See aus Blut lagen.

Belustigt schaute er zu Andreas Falks Leichnam und rieb sich die Hände, gerade so, als habe er ein anstrengendes Tagwerk beendet.

Peter Lawrenz kauerte neben den Füßen des Barons am Boden und gab nur noch unartikulierte Laute von sich.

Von Klangstein verzog verächtlich seine Lippen und passierte den Notar, ohne ihn weiter zu beachten.

Vor der am Boden liegenden Journalistin verharrte er.

Noch immer schwebte das Schwert über ihr, wie eine überdeutliche Drohung.

„Ja, so hatte ich es mir vorgestellt. Du, die Schlimmste von allen, bist die Letzte. Und mit dir, nehme ich mir besonders viel Zeit.“

 

***

 

„Knut ...“

Schwärze dominierte und füllte sein gesamtes Ich aus.

Schwärze, nichts als Schwärze...

„KNUT ...“

Es gab mit Sicherheit einen Weg aus der Schwärze, doch er kannte ihn nicht. Er konnte ihn einfach nicht finden ...

„KNUT ... komm schon, mien Jung ...“

Inmitten der Schwärze entstand jedoch eine Empfindung, die einen Kontrast zu der Eintönigkeit dieses Ortes bildete... es war ein süßlicher Geschmack auf der Zunge ...

„KNUT ... nu’ stell dich nicht so an ... KNUT ... KNUT ... verdammt ... komm schon ...“

Oh ja, ein süßlicher Geschmack auf der Zunge und dann ... dieses widerliche Hämmern hinter der Stirn ... dieser durchdringende Schmerz, die aufsteigende Übelkeit ...

„K N U T!“

Knut Ukena riss seine Augen auf und fühlte dass die Lider immer noch schwer wie Blei waren.

Verwundert fuhr sich Knut über die Stirn und spürte klebrige Feuchtigkeit an den Fingerspitzen.

Na toll, er hatte sich den Kopf angeschlagen, daran konnte er sich noch allzu gut erinnern. Und selbstverständlich hatte er jetzt eine Wunde und blutete.

Großartig!

Knut hob den Kopf an und er erkannte, dass er sich immer noch im Fond des Range Rovers befand.

Ach ja, der Wagen war von der Strasse abgekommen und er hatte sich kurz vorher noch losgeschnallt ... und dann war da dieser Typ auf die Strasse getreten und hatte ihnen etwas entgegengeschleudert und dieses Etwas hatte Martin getroffen, und...

Ukena schrie leise auf, was ihm zusätzliche Schmerzen bescherte, als er in die leblosen Augen Martins blickte, die ihm verdreht entgegenstierten.

Aus der Stirn des Fahrers ragte der Griff eines pechschwarzen Dolchs und ließ keinen Zweifel daran, dass dies das Etwas gewesen war, das der Fremde ihnen entgegengeschleudert hatte.

„Knut ... du musst zum Schloss ...“

Knut stöhnte, denn diese Worte drangen, begleitet von neuerlichem Schmerz, in seinen Schädel ein.

Es war ohne Zweifel Hinnerks Stimme, die er da vernahm und...

Knut stutzte!

„Hinnerk?“, fragte er, doch er erhielt keine Antwort.

Jedenfalls nicht so, wie er erhofft hatte.

Wieder wühlten sich Worte in sein Innerstes und peinigten ihn.

„Keine Zeit mehr ... ich bin hier beschäftigt ...“

Wie zur Bestätigung dieser Worte flammte es irgendwo außerhalb des zerstörten Rovers bläulich-rot auf und ein bedrohliches Zischen erklang.

Sollte Hinnerk etwa da draußen ...?

„ ... geh zum Schloss ... hilf Mark ...“, unterbrachen ihn Hinnerks Worte im Geiste.

„Aber...“, stammelte Knut.

„Kein Aber. Los jetzt!“

Knut vermied es zu nicken, weil wohl sein Schädel endgültig zersprungen wäre, doch er begann sich aus dem demolierten Rover herausarbeiten.

Die Hintertüren waren verzogen, doch es gelang ihm, sie mit den Füßen aufzustemmen, um sich dann ...

„KNUT!“, schoss es ihm quälend durch den Schädel.

Knut sank beinahe wieder in Bewusstlosigkeit, doch er konnte den Schmerz zurückdrängen und lauschte den weiteren Worten Hinnerks, die dieser – Gott weiß wie – in seinen Schädel pflanzte.

„Nimm den Dolch mit... du wirst ihn brauchen...“

Irritiert blickte Knut auf den Dolchgriff und fühlte mächtigen Widerwillen in sich aufsteigen. Bei der Vorstellung die Waffe rausziehen zu müssen ...

„Tu es!“

Knut verzog von Ekel erfüllt seine Lippen, umfasste aber den geriffelten Griff der Waffe und zog ihn, begleitet von einem schmatzenden Geräusch aus Martins Schädel.

Dann verließ er den demolierten Wagen, um zum Schloss zu wanken, wie Hinnerk es ihm aufgetragen hatte.

Jedoch nicht ohne sich vorher noch in den Seitengraben zu übergeben.

 

***

 

Anstatt den rutschigen, harten Stein zu fühlen, über den er sich geschleppt hatte, war da mit einem Mal nichts mehr gewesen.

Mark stieß noch einen überraschten Schrei aus, kippte nach vorne und stürzte in die Tiefe. Er klatschte (wie konnte es auch anders sein?) in eisigkaltes, stinkendes Wasser.

Benommen und prustend tauchte der Hüter auf, sog gierig Luft in seine stechenden Lungen und versuchte sich zu orientieren, was ihm nun – oh Wunder über Wunder – auch tatsächlich gelang.

Das Wasser stand ihm bis zum Hals, wie er da in die Höhe starrte, wo er einen kleinen Teil des Himmels erkennen konnte.

Der Mond zeigte sich für einen winzigen Moment und verschwand wieder hinter dichten Wolken.

Ein Brunnen! Mein Gott, ich muss im schlosseigenen Brunnen gelandet sein, dachte Mark.

Der Hüter fühlte unter seinen Füßen keinen Grund. So schwamm er zur Brunnenwand.

Wirklich viel sehen konnte er nicht, aber immerhin doch mehr, als vorhin in diesem elenden Rohr.

Seine Hände tasteten über die Steine, aus denen der Brunnen gefertigt worden war.

Er spürte, dass an verschiedenen Stellen große Löcher existierten, in die er seine Finger schieben konnte, was ihm dabei helfen würde, sich festzuklammern.

Gleichzeitig waren diese Löcher groß genug, um auch seinen Füßen Platz zu bieten.

Mit etwas Glück, und wenn er noch genug Kraft aufzubringen in der Lage war, konnte er vielleicht hochklettern und oben nach einer Möglichkeit suchen, dem Treiben des Baronenehepaars ein Ende zu bereiten.

Sofort begannen die unterkühlten und überstrapazierten Muskeln des Hüters unter der erneuten Belastung energisch zu protestieren.

Mark spürte, dass seine Finger einfach nicht genügend Kraft hatten, um den Halt zu sichern.

Aber wieder schien in seinem Inneren ein Schalter umgelegt zu werden und mit einem Mal... schaffte er es doch!

Mark Larsen zog sich langsam, quälend langsam und begleitet von einem durchdringenden Keuchen, in die Höhe und stieß seinen rechten Fuß in eines der Löcher in der Wand, welches über der Wasseroberfläche lag.

„Los, alter Junge... nicht nachlassen...“, zwängten sich die Worte über seine Lippen.

Und Mark Larsen ließ nicht nach!

 

***

 

Was hier geschah war für Asnard überraschend!

Der bärtige Hüne, der da aus dem Wrack des Range Rovers geklettert war, nachdem Asnard den Dolch auf dessen Fahrer geschleudert hatte, war ohne langes Vorgeplänkel zum Angriff übergegangen und zur größten Überraschung des Dämons waren blauweiße Blitze aus seinen gestreckten Fingerspitzen geschossen.

Ein paar von ihnen waren über das Gesicht Asnards gefahren und hatten tatsächlich Schmerzen verursacht.

Der Dämon war zurückgewichen und hatte noch im selben Moment seine eigenen Unheil bringenden Kräfte aktiviert.

Ein glänzender Schutz hatte sich wie eine zweite Haut um ihn gelegt und sorgte nun dafür, dass einige der gegnerischen Blitze wirkungslos an ihm vorbei stoben.

Einige!

Bei einigen anderen der Blitze nutzte dieser Schutz nichts. Die prasselten hindurch und bereiteten Asnard erneut große Schmerzen.

Wer immer der Mann mit dem Vollbart und der ausgeprägten Stirnglatze war, er war gefährlich und verstand sein magisches Handwerk.

Asnard wich zurück, versuchte seine eigenen, dämonischen Kräfte neu zu formieren und seinen Schutz damit besser in den Griff zu bekommen, doch er war nicht erfolgreich.

War das da vor ihm überhaupt ein Mensch?

Asnard hätte diesen Mann gerne etwas näher unter die Lupe genommen und ihn mit seinen besonderen Sinnen und einigen unangenehmen, aber sehr effektiven Mitteln genauer untersucht.

Aber dazu blieb ihm keine Zeit.

Dem Dämon wurde klar, dass dieser Mann etwas mit der Schwäche zu tun haben musste, die vorhin über ihn hereingebrochen war.

Schritt um Schritt wurde Asnard zurückgetrieben, wich in den vermeintlichen Schutz der umstehenden Nadelbäume zurück, konnte dabei aber nicht verhindern, dass die Blitze unaufhörlich und weiterhin mit großem Nachdruck, auf ihn einwirkten.

Es wurde für den Dämon immer schwerer seinen Schutz aufrecht zu halten.

Er wankte bedenklich und spürte, wie ihn allmählich die Kräfte verließen.

Der Fremde bearbeitete ihn wirklich ununterbrochen.

Etwas musste geschehen!

Das Wrack des Wagens lag bereits in einem Bereich, den Asnard nicht mehr genau erkennen konnte, doch er bemerkte eine schattenhafte Bewegung dort hinten, als er sich entschloss, die Energien seines magischen Steins seinen eigenen Kräften hinzuzufügen.

Seine rechte Hand stieß unter die Jacke und berührte den rot schimmernden Stein, der nun einen wohligen Strom aus Energie in seinen Besitzer sandte und ihn stärkte.

Und genau in diesem Moment schlug Asnard mit der hinzugekommenen Kraft gnadenlos zurück.

 

***

Hinnerk kämpfte unverdrossen und er bekam seinen Gegner immer besser in den Griff.

Knut war auf telepathischem Wege übermittelt worden, was er zu tun hatte.

Eigentlich standen die Chancen nun wieder etwas besser,

doch genau das war der Moment, in dem der Dämon seine Kraft neu bündelte und sich das Kriegsglück Hinnerks wendete ...

 

***

 

Petra Kern traute ihren Augen nicht. Und genauso wenig ihren Ohren.

Der Baron, der eben noch so unangreifbar und so unerschütterlich erschienen war, stieß ein markerschütterndes Brüllen aus, knickte mit den Beinen weg und fiel auf die Knie, während seine Hände sich seitlich an seinen Kopf legten und er seine Augen gequält aufriss.

Das rötliche Schimmern wich von der Gestalt, deren Schrei nun in ein jaulendes Wimmern überging und die im nächsten Moment zusammengekrümmt dalag.

Die Journalistin hörte ein metallenes Klingen, als das mächtige Schwert, welches eben noch wie das Besitztum des legendären Damokles über ihr geschwebt war, auf den Boden schepperte.

Der Baron keuchte, er spie Speichel aus und kroch nun mit erlahmenden Bewegungen über die steinernen Bodenplatten.

Natürlich konnte die Journalistin nicht ahnen, dass der Dämon Asnard in diesen Augenblicken alle Energien, die er bislang dem Baron zur Verfügung gestellt hatte, abzog, um sein eigenes Leben zu schützen.

„Mein Gott ...“, brachte Petra nur schwerfällig hervor und sah dabei zu, wie von Klangstein immer grauer und grauer wurde.

Jedwede Farbe wurde aus der Gestalt abgezogen und die Journalistin sah den endgültigen Todeskampf des Barons.

Das Jaulen wurde immer leiser, gleichzeitig quoll eine teerartige, pechschwarze Flüssigkeit aus seinem weit aufgerissenen Mund hervor und ein Knirschen, gerade so, als schabe Stein über Stein, vermengte sich mit diesen unmenschlichen Lauten.

Petra blickte schockiert auf das, was letztlich vom Baron übrig blieb, und aus dem mit leisem Zischen faseriger Qualm stinkend emporstieg.

Angewidert wandte sie sich ab, um die letzten, verkrampften Bewegungen des Barons nicht mit ansehen zu müssen.

Sie blickte zur Tür der großen Halle, presste ihre Hände gegen die Ohren und betete innerlich, dass dieser Albtraum bald enden möge.

Petra hatte keine Ahnung, wie lange sie einfach nur so da hockte und zur Tür starrte, doch die letzten Rauchfetzen waren vom grauen Brösel, der einmal Bernward von Klangstein gewesen war, aufgestiegen und hatten sich mittlerweile im Raum verteilt.

Mitten in diesen Zustand der Lethargie, der vom Wimmern und unverständlichen Brabbeln des neben dem Tisch liegenden Peter Lawrenz untermalt wurde, krachte etwas gegen die Tür der Halle und ließ sie aufschwingen.

Ein Tritt hatte das schwere Holz angestoßen.

Drang da eine neue Gefahr für die Journalistin ein?

 

***

 

Es hatte ein schrecklicher Automatismus bei Mark eingesetzt, als sich seine Arme und Beine unaufhörlich bewegten und seine zerschrammten Fingerspitzen immer wieder in unebene Ritzen und Spalten im Mauerwerk des Brunnens pressten.

Der Hüter spuckte bittere Galle vor Erschöpfung, sein gesamter Leib erbebte unter rasch aufkommenden Krämpfen.

Doch er klammerte sich weiterhin fest und kämpfte sich Zoll um Zoll in die Höhe.

Zum Glück besaß der Brunnen keinen riesigen Durchmesser, so dass Mark sich gelegentlich mit dem Rücken gegen die Wand drücken konnte, um zumindest zwei oder drei Sekunden zu verschnaufen.

Doch dann hieß es weitermachen, weiterklettern ... weiter ... immer weiter.

Wie lange Mark nun an dieser Wand hing und sich gegen die Schwerkraft anstemmte, um dieser Todesfalle zu entkommen, konnte er längst nicht sagen.

Es war wohl endlos lange her, dass er sich aufgemacht hatte, um das Schloss nach einer Möglichkeit der Flucht zu durchsuchen.

Die Bilder aus der Halle, in welcher er Zeuge vom Auftauchen des geisterhaften Barons geworden war und in welcher er miterleben konnte, wie Hans Krestner durch die Luft gewirbelt wurde, als er eine rot leuchtende Wand berührt hatte, erschienen in diesen Augenblicken so verschwommen, wie Eindrücke aus einem anderen, Jahrhunderte zurückliegenden Leben.

Doch zwischen den aufwallenden Eindrücken aus der jüngeren und älteren Vergangenheit entstand das Antlitz eines Menschen, der Mark unglaublich viel bedeutete und der sein Leben in der kurzen Zeit, die er ihn kannte, so sehr bereichert hatte.

Da war das dunkle Haar, welches ein schmales, fein geschnittenes Gesicht umrahmte, dessen Mittelpunkt die beiden schönsten Augen waren, die er jemals gesehen hatte.

Er flüsterte den Namen dieses besonderen Menschen, dessen Nähe er jetzt so sehr herbeisehnte.

„Sabrina...“

Fast war ihm, als würde das Antlitz vor seinem geistigen Auge zu lächeln beginnen, fast kam es ihm vor, als höre er ihre Stimme, die Worte des Trosts spendete, fast spürte er...

Ein Kreischen fuhr unter ihm empor.

Undeutlich im Dämmerlicht unter sich erkannte er eine Bewegung im Wasser, hörte das bestialische Kreischen noch einmal und eisiger Schrecken erfasste seinen unterkühlten, ausgelaugten Körper.

Larsen stöhnte, als er einen Schatten bemerkte, der sich aus dem Wasser in seine Richtung schob und ihm wurde klar, dass zumindest eine der Furien hier im Brunnen gelandet war und nun hinter ihm herkletterte.

 

***

 

Wie Knut eigentlich zum Schloss gelangt war, konnte er hinterher nicht genau sagen.

Er wusste instinktiv, wohin er zu laufen hatte, orientierte sich nach dem eigenartigen rötlichen Leuchten, welches immer stärker wurde.

Und irgendwann befand er sich vor der Zufahrt in den Innenhof des Gebäudekomplexes.

Knut blieb stehen, schüttelte benommen den Kopf und machte seine Augen schmal.

Der rötliche Schein war überdeutlich und lag, einer Glocke ähnlich über dem Schloss und vermittelte einen unangenehmen Eindruck.

Er musste da rein und zu seinem Freund, um ihm beizustehen.

Knut spürte, dass es nicht ratsam war, dieses rötliche Leuchten zu berühren.

Hinnerks Anweisung schoss ihm durch seinen schmerzenden Schädel und er dachte daran, dass der Freund darauf hingewiesen hatte, dass er den Dolch mitnehmen müsse.

Knut blickte auf die dunkle, warm in seiner Handfläche liegende Waffe und handelte kurz entschlossen.

Er rammte die Klinge der Waffe vorwärts, mitten hinein in das vor ihm aufragende Leuchten, welches das Schloss so lückenlos umschloss.

Die Reaktion war bemerkenswert, aber gleichzeitig auch weniger drastisch, als man vielleicht hätte erwarten können.

Es flogen einige knisternde Funken nach allen Seiten weg und im nächsten Moment klaffte eine Öffnung in dem wabernden Schleier aus glühender Energie.

Wiederum handelte Knut unbewusst, ohne lange zu überlegen und trat zwei Schritte nach vorne.

Er gelangte unbeschadet ins Innere der Energiekuppel, lächelte schmal und ließ dann ein leises „Danke Hinnerk“ vernehmen.

Einen Moment lang verweilten seine besorgten Gedanken bei dem bärtigen Hünen, der womöglich irgendwo nahe dem Autowrack um sein Leben kämpfte.

Doch dann drängte sich die Sorge um Mark Larsen in den Vordergrund.

Knut Ukena umfasste den Dolchgriff energisch und eilte zum Hauptportal, um endlich ins Innere des Schlosses zu gelangen.

 

***

 

Mark Larsen hatte als Kind und Jugendlicher und auch noch während seiner Zeit als Student an verschiedenen Wettkämpfen teilgenommen.

Er war ein guter Schwimmer und hervorragender Leichtathlet gewesen und hatte häufig – nicht ohne Stolz zu empfinden – Siegerurkunden und auch einige Pokale nach Hause mitnehmen können.

Doch keine der Anstrengungen von damals, so schwer sie ihm auch vorgekommen waren, hätte ihn jemals auf das vorbereiten können, was er in diesen schrecklichen Momenten durchmachte.

Und dabei handelte es sich ebenfalls um ein Wettrennen.

Er kämpfte sich, Zug um Zug, in die Höhe, während unter ihm das Geifern und Kreischen der Furie erklang, die nur als verschwommenes Gebilde im Trüben zu erkennen war.

Es war ein Wettrennen, ja, ohne jeden Zweifel.

Und es gab auch einen Preis.

Sieg bedeutete Leben!

Niederlage bedeutete den Tod!

Und wieder klammerte Larsen sich fest, zog seinen Körper hinauf, dem Rand des Brunnens entgegen.

Doch viel zu langsam, denn die Furie näherte sich.

 

***

 

Petra Kern hatte kaum die Kraft, um zur Tür zu blicken, nachdem diese polternd aufgeflogen war, aber sie tat es trotzdem und erwartete nun ein glibberiges Monster mit gewaltigen Hauern, Klauen und einem Stachelrücken, das sich mit rot, grün oder gelb leuchtenden Augen auf sie warf und sie zerfetzte und unter endlosen Qualen ausbluten ließ.

Doch sie wurde überrascht!

Und nicht einmal unangenehm!

Ein hoch gewachsener, blondhaariger Mann von schlaksiger Gestalt betrat die Halle.

Er war vollkommen durchnässt, sein Gesicht war von Blut gerötet.

Der Fremde hielt eine Pistole in der rechten Hand und aus der linken Faust ragte eine dunkle Dolchklinge, um die ein leichter Rotschimmer zu erkennen war.

Petra blickte den Fremden an, der sich ihr näherte und sie besorgt anblickte. Dabei schien es ihr, als würde er sich durch die Verzerrungen eines Traumbildes auf sie zu bewegen.

Er kniete sich neben die Journalistin und berührte sie behutsam am rechten Arm.

„... in Ordnung?“, hörte Petra nur abgehackt und starrte den Mann fragend an.

„Sind Sie in Ordnung?“, wiederholte der Fremde und erst jetzt löste sich das Unverständnis über die gesprochenen Worte von der Reporterin.

„Ja ... ja ... ich ... meine Schulter ... aber ansonsten ... bin ich okay ...“, antwortete sie und setzte sich mühsam auf.

Der Fremde half ihr und blickte sich noch einmal im Raum um.

„Mein Gott...“, flüsterte er heiser beim Anblick der Leichen.

Petra nickte nur, sagte aber nichts, sondern presste stattdessen ihr Gesicht gegen die Schulter des Mannes.

„Es war entsetzlich... er wollte uns alle töten... uns alle...“

Knut Ukena verstand nicht, was hier abgelaufen war, aber aus dem, was er sah, konnte er zumindest genügend Rückschlüsse ziehen.

Er legte seine Hand in den Nacken der zitternden Frau, die ihr Gesicht gegen seine Schulter drückte und hemmungslos zu schluchzen begann.

Eigentlich hatte er keine Zeit zu verlieren, denn Mark Larsen befand sich, weder tot noch lebendig, in diesem Raum, soweit er es erkennen konnte.

Aber überdeutlich erkannte er, dass er der total verängstigten und erschöpften Frau ein paar Sekunden gönnen musste, in denen sie die aufgestauten Emotionen entladen konnte.

Knut strich sanft über ihr kurzes, blondes Haar, wiegte sie sogar ein wenig hin und her und spürte, wie sie sich unter Weinen ein paar Mal verkrampfte.

Aber genauso fühlte er nach einer oder zwei Minuten, wie sie sich wieder entspannte und dann von selbst von ihm löste.

„Danke...“, hauchte Petra Kern nur.

„Kein Problem. Aber ich brauche jetzt Ihre Hilfe.“

Die Journalistin blickte Knut Ukena erstaunt an.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich suche nach Mark Larsen. Ich habe draußen im Hof seinen Wagen stehen sehen. Er muss also hier sein. Ich bin ein Freund von ihm.“

Petra runzelte die Stirn.

„Er ist nicht hier. Er wollte nach einem Ausweg aus dieser Todesfalle suchen und hat sich in den Keller begeben.“

Die Journalistin schluchzte, atmete tief durch und wischte sich dann mit dem Handrücken die verbliebenen Tränen aus den Augen.

„Wo ist dieser Keller?“

„Es gibt wohl einen Zugang vom Flur aus, aber so genau weiß ich das nicht. Ich kenne dieses Schloss nicht.“

„Ich werde den Zugang schon finden. Kann ich Sie allein lassen?“

Petra war nicht wohl bei dem Gedanken mit den Überresten des vermaledeiten Barons hier zurückbleiben zu müssen, umgeben von den ganzen Toten, aber sie nickte trotzdem.

Knut hob die Makarov.

„Können Sie mit so etwas umgehen?“

Die Journalistin nickte.

„Die Waffe enthält eine Spezialmunition, mit der müssten Sie sich weitere magische Gegner vom Hals halten können. Sie ist entsichert, also brauchen Sie nur noch abzudrücken. Okay?“

Knut schenkte ihr noch ein schmales Lächeln.

„Aber bitte nicht auf mich schießen, ja?“

Nun konnte die Journalistin nicht anders und erwiderte sein Lächeln.

Er strich noch einmal über ihre linke Wange und erhob sich dann, um die Halle mit schnellen Schritten zu verlassen.

Die Pistole hatte er Petra Kern zwar überlassen, aber ihm selber stand ja noch dieser wundersame Dolch zur Verfügung.

Doch wo befand sich Mark? Wo war der Zugang zu diesem Keller? War der Hüter überhaupt noch dort drinnen?

Knut wusste es nicht, blieb einen Moment in der riesigen Empfangshalle stehen und suchte nach einem Hinweis, der ihn zur richtigen Tür führen mochte, als er durch das geöffnete Eingangsportal ein markerschütterndes Kreischen vernahm.

Er änderte seinen eben gefassten Plan und stürzte ins Freie.

 

***

 

Unglaublich ... unglaublich ..., hämmerte es immer wieder unter der Schädeldecke Mark Larsens, als er sich ächzend über den gemauerten Brunnenrand rollte.

Alles drehte sich um ihn herum und mit einem Mal drängten sich die Schmerzen empor, die sich eben noch unter einer trügerischen Decke aus Unterkühlungstaubheit verborgen gehalten hatten.

Aber er durfte nicht liegen bleiben, er musste auf die Beine und seine Flucht fortsetzen, denn dass er jetzt hier oben angekommen war, hieß noch lange nicht, dass er auch in Sicherheit war.

Die Furie... die Furie ist immer noch hinter mir her... sie wird viel schneller an der Brunnenwand hochklettern können, als ich... sie wird gleich…

Vielleicht verlor Mark für ein paar Sekunden die Besinnung, doch das nächste was er registrierte, war das schreckliche Kreischen, das ihn auf seiner Flucht so oft verfolgt und gepeinigt hatte.

Dann spürte er den Griff am Kragen seines durchweichten Hemdes und eine enorme Kraft zerrte ihn in die Höhe.

Er schwebte in der Luft, ohne Fußbodenkontakt!

Und dann wurde er geschleudert!

Er flog durch den Vorhang aus Regentropfen, die Welt drehte sich nun tatsächlich um ihn herum, als das Furiengeschöpf ihn wie ein belangloses Kleidungsstück durch die Luft warf.

Der Aufprall!

Eigentlich nicht einmal schlimm! Jedenfalls spürte Mark Larsen keinen neu hinzukommenden Schmerz, als er in einer riesigen Pfütze inmitten des Schlosshofs aufschlug und eine Wasserfontäne in die Höhe spritzen ließ.

Aus... nun ist doch alle Mühe vergebens..., dachte Mark benommen.

 

***

 

Umfangen von seinen eigenen blauweißen Blitzen und der rötlichen Gegenkraft, verlor Hinnerk immer mehr an Boden.

Seine Defensive wurde löchrig und immer häufiger flammten Schmerzen über seinen Leib.

Lührs ächzte, kreuzte seine Arme und mobilisierte seine Kraftreserven.

Wild aufbäumende Schlangenleiber aus roten Flammen jagten ihm entgegen und trieben ihn weiter und weiter zurück, bis er hart gegen einen Baumstamm prallte und seine Abwehrkraft in sich zusammenzubrechen begann.

Wenn die letzte Kraft versiegte, würde das Feuer des Feindes ihn problemlos vernichten können.

Mit schweißnassem Gesicht starrte Hinnerk den fauchenden Flammen entgegen.

 

***

 

Etwas Wundersames geschah!

Mark Larsen hing fast leblos im Griff der Furie, die zu ihm gestapft war und wiederum seinen Hemdkragen geschnappt hatte, als er zusammenzuckte.

Es war kein Krampf, keine Schmerzattacke oder dergleichen.

Nein, es war etwas anderes, etwas sehr Machtvolles, das aus einer jenseitigen Sphäre herausgriff, Mark umfasste und ihn wie eine Marionette zu lenken begann.

Der Hüter öffnete seine Augen und erblickte das dämonische Geschöpf vor sich in einer Klarheit, die erschreckend und faszinierend zugleich war.

Mark hatte den Eindruck, das Wesen durchleuchten zu können und entdeckte im Mittelpunkt seines Leibes ein pochendes, pechschwarzes Gebilde, das nur entfernt an ein Herz erinnerte.

Jetzt war es der Hüter, der einen lauten Schrei ausstieß und gleichzeitig seine Arme hochschnellen ließ.

Nie gekannte Kraft durchtoste ihn wie glühende Lava.

Sie versengte ihn und belebte ihn gleichermaßen und blitzartig rammte Mark seine beiden Arme zu den Seiten.

Der Griff der Furie brach und Mark landete auf seinen Beinen.

Er stand felsenfest, wankte nicht, spürte keinen Schmerz und keine Pein mehr, dafür jedoch pure Kraft.

Er schrie wieder, packte rasend einen der Arme der Furie und ... riss ihn aus deren Schultergelenk.

Begleitet von einem schmatzenden Knacken durchstieß im nächsten Sekundenbruchteil die rechte Faust des Hüters den Brustkorb des dämonischen Geschöpfs.

Mark versenkte seine Hand in jenes pechschwarze Zentrum der Furie und konnte dabei zusehen, wie es unter dieser Berührung erlosch.

Wie vom Blitz getroffen brach die Furie zusammen. Mit mahlenden Kiefern ließ der Hüter das, was er da dunkel und feucht zwischen seinen Fingern hielt, auf den Boden fallen.

Der Gegner war besiegt!

Plötzlich kehrte Marks Fähigkeit rational zu denken zurück.

„Wie ...? Wie ist das möglich?“, hauchte er verwundert und blickte auf die Überreste von schwarzem Dämonenblut (oder was da an seinem Unterarm klebte).

„MARK! VORSICHT!“, erklang es plötzlich vor ihm.

Der Hüter erblickte eine Gestalt, die auf ihn zu rannte und wild mit den Armen fuchtelte.

„Knut?“

„HINTER DIR! ACHTUNG!“, schrie der herbeieilende Freund.

Und wieder einmal in dieser Nacht überschlugen sich die Ereignisse...

 

***

 

Hinnerk Lührs verschwand vor den Augen seines Gegners hinter einer wogenden Wand aus roten Flammen, die sich auf ihn stürzten, als wären sie ausgehungerte Raubtiere, die ihre Beute gejagt und umkreist hatten.

Die Macht des Steins, die Asnard dem Baron entzogen hatte, hatte ihn in dieser Auseinandersetzung gestärkt und ihm den Sieg beschert.

Gut, der Baron hatte das wohl kaum überlebt, aber das war dem Dämon egal.

Die Baronin konnte sich weiterhin um den Hüter kümmern und ihn aus dem Weg räumen.

Das hieß, die wesentlichen Dinge die es zu erledigen gegeben hatte, würden erledigt werden.

Asnard konnte zufrieden mit sich sein.

 

***

 

Alles lief wahnsinnig schnell ab, doch Mark hatte auch gleichzeitig den Eindruck, als würden die Geschehnisse in einer ultraverlangsamten Zeitlupe an ihm vorbei schleichen.

Da war Knut, der immer noch auf ihn zu lief und schrie und winkte... hielt er nicht einen Dolch oder so in der Hand?

Gleichzeitig nahm Mark aus den Augenwinkeln ein rötliches Leuchten hinter sich wahr und kreiselte herum.

Der Kopf der Baronin schob sich soeben durch den Boden vor dem Brunnen und der Hüter sah das böse Grinsen auf ihren Lippen.

„Hab ich dich“, fauchte sie wütend und stieg weiter empor.

Die Baronin war mächtig.

Ihr konnte er nicht einfach so seine Faust in den Leib rammen, ihr einen Arm ausreißen und sie somit ausschalten.

Jetzt wurden ihre Schultern sichtbar, während sich das rötliche Leuchten um sie herum noch mehr verstärkte.

Mark wich zurück und seine Gedanken überschlugen sich.

Wie konnte man ihr beikommen? Wie nur? Wie?

„ZUR SEITE MARK! ZUR SEITE!“

Larsen reagierte auf den Ruf seines Freundes und warf sich seitlich zu Boden.

Etwas Dunkles wirbelte blitzartig an ihm vorbei, überschlug sich mehrfach und fuhr mitten in die Geistererscheinung der Baronin, die zur Hälfte ihrer Körperlänge aus dem Boden gedrungen war.

Ein blendender Blitz folgte, dann ein Gemisch aus Schreien, Kreischen und Bersten.

Mark riss sein Arme empor, kniff seine Augen zusammen und versank dann in einem bodenlosen Abgrund, während Erdreich und Mauersteine durch die Luft rasten und sich nach allen Seiten hin verteilten.

 

***

 

„Mark ... Mark ...“

Die drängende Stimme Knut Ukenas zerriss die Dunkelheit, die sich wie eine Decke um den Geist Mark Larsens gelegt hatte.

Der Hüter schlug die Augen auf und erblickte das bleiche Gesicht seines Freundes.

„Wehe du fängst jetzt mit Ohrfeigen an, dann haue ich zurück.“

Knut verdrehte erleichtert die Augen und grinste.

Mark setzte sich stöhnend auf und blickte dorthin, wo sich eben noch der Schlossbrunnen befunden hatte.

Jetzt waren nur noch ein Trümmerfeld aus zerstörten Steinen, sowie ein tiefes Loch zu erkennen.

„Wow ... was immer du da geworfen hast, es hat seine Wirkung nicht verfehlt“, meinte Mark.

„Es war ein Dolch“, erklärte Knut.

„Dann habe ich mich ja vorhin doch nicht geirrt.“

Mark schüttelte den Kopf und wunderte sich dabei, wie wenige Beschwerden er hatte.

Er fühlte sich gut. Besser, als er es hätte erwarten dürfen.

Wieder dachte er an diesen „Anfall“, in dessen Verlauf er die Furie gnadenlos vernichtet hatte.

Mit bloßen Händen!

„War ein mächtiges Feuerwerk, als dieser Geist auseinander flog. Der Dolch war magisch geladen und hat sie zerfetzt. Und den Brunnen hat es dann auch gleich mit gerissen.“

Und die zweite Furie, die der Baronin noch zur Verfügung stand, hat es hoffentlich auch zerblasen, dachte Mark bei sich.

„Wo hattest du das Wunderteil eigentlich her?“, wollte Mark nun wissen.

„Ach, damit hat so ein mieser Typ uns angegriffen. Hinnerk kämpft gerade mit ihm und...“

Knut zuckte zusammen und erbleichte abermals.

„HINNERK!“

Mark fühlte einen eisigen Schauer über den Rücken rinnen.

Hinnerk war auch hier und er war offensichtlich in Schwierigkeiten gewesen, als Knut und er sich getrennt hatten.

„Komm!“, meinte Mark nur und sprang auf die Beine.

Knut ließ sich nicht lange bitten und eilte voraus.

Die beiden Männer rannten am Hauptgebäude des Schlosses vorbei.

Dorthin wo Hinnerk mit Schwierigkeiten fertig zu werden hatte, und wo er vielleicht sogar schon unterlegen war.

Mark mochte gar nicht daran denken und wetzte hinter seinem Freund her ...

... nur um im nächsten Moment gegen ihn zu prallen, als der urplötzlich stehen blieb.

Der Hüter wollte schon losschimpfen, als er sah, was Knut gestoppt hatte.

Ein großer, wuchtiger Mann mit enormen Bauchumfang, einer Halbglatze und einem buschigen Vollbart trat in das Licht der Hofbeleuchtung.

An verschiedenen Stellen stieg Rauch von seiner rußgeschwärzten Kleidung auf. Brandblasen bedeckten seine Hände und sein Gesicht und er schwankte etwas.

Aber gleichzeitig wirkte er zufrieden und grinste die beiden Männer frech an.

 „Wat is? Jem kiekt mi an, als wär ick een Einhorn, oder so.“

„Aber... aber dein Gegner…?“, stammelte Knut.

Das Grinsen wurde breiter.

„Do mutt schon ´n echte Kerl kommen, un keen so’n Schießbudenfigur“, sagte Hinnerk und streckte seine rechte Hand vor.

In der Handfläche lag ein verkohlter Stein oder etwas in der Art.

Wortlos ballte Hinnerk seine Hand zur Faust und zerbröselte das Objekt nun vollständig.

 

***

 

Man hatte sich ausgetauscht, nachdem die Männer in die Halle gegangen waren und Petra Kern darin allein wartend vorgefunden hatten.

Mark war erschüttert ob der vielen Toten und half Knut dabei, die Leichen mit Tüchern abzudecken.

Den Fahrer von Miriam Burkhard und Martin, hatten sie dort gelassen, wo sie zu Tode gekommen waren.

Peter Lawrenz hockte stumm auf einem Stuhl, während er mit glasigem Blick in die Ferne starrte.

Hinnerk hatte sich um den Notar gekümmert und ihn beruhigend an den Schläfen berührt.

Auf die Frage, ob es Lawrenz irgendwann wieder richtig gut gehen würde, hatte Lührs jedoch nur stumm mit den Schultern gezuckt und die Halle dann verlassen.

Irgendwann erhob Mark sich und nahm neben Petra Kern Platz, deren Schulterverletzung mittlerweile versorgt war.

Hinnerk hatte gemeint, es sei das Beste, die ganze Sache nicht an die große Glocke zu hängen.

Mark verstand, was er damit meinte.

Hinnerk würde seine Kontakte zum Orden spielen lassen und so würde erreicht werden, dass dieser mysteriöse Fall keine weiten Kreise zog und die diesbezüglichen Akten schnell geschlossen wurden.

Das bedeutete auch, dass Mark, Knut und Hinnerk unbehelligt nach Hüll zurückkehren konnten, wo Christine, Sabrina und James bestimmt schon warteten. Und zwar noch vor Ablauf der nächsten Stunde.

„Ihr wartet nicht auf die Polizei?“, fragte Petra Kern.

 „Nein, das ist nicht nötig. Wir verfügen über Verbindungen, die uns ... na ja, einen besonderen Status verschaffen.“

 „Ihr seid wirklich etwas Besonderes. Mit solchen Sachen habt ihr schon öfters zu tun gehabt, oder?“

Mark lächelte. Er fühlte sich immer noch verhältnismäßig gut, fürchtete gleichzeitig aber auch vor den nächsten Tagen, wenn Muskelkater und andere Begleiterscheinungen der zurückliegenden Entbehrungen einsetzen würden.

„Könnte man sagen. Ich kann und will jetzt nicht zu viel darüber reden. Versteh das bitte“, antwortete nun Knut Ukena, der den Raum wieder betreten hatte.

Er blieb am Tisch stehen und wechselte sowohl mit Mark, als auch mit Petra einige kurze Blicke.

Es war, als würde ein Damm geöffnet, denn plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen und ihre Lippen begannen zu beben.

Im nächsten Moment schon lag sie in Knuts Armen und der hielt sie ganz, ganz fest.

Was sie hatte durchmachen und miterleben müssen, war furchtbar gewesen. Wieder einmal wurde der Hüter in seinem Tun und Streben bestärkt, solche Schrecken in Zukunft nach Möglichkeit verhindern zu können.

Der Dämon Asnard, den Hinnerk mit einer konzentrierten Gegenattacke hatte vernichten können, und das Ehepaar von Klangstein hatten hier einen mörderischen Plan entwickelt und eine wahre Schreckensnacht entfesselt.

Doch nun gehörten sie der Vergangenheit an.

„Geht’s wieder?“, fragte Knut, als sie eine kleine Weile vergangen war.

„Ja“, schniefte Petra und wischte sich mit dem Jackenärmel über Augen und Nase.

„Ich hasse es herumzuheulen.“

„Ist aber verständlich“, sagte nun Mark.

Es wurde still und jeder von den dreien hing einen Augenblick lang seinen eigenen Gedanken nach.

„Wo ich helfen kann, will ich helfen.“

„Wie bitte?“

Mark und Knut hatten den Satz zwar verstanden, aber seinen Inhalt nicht so ganz begriffen.

„Ich bin Reporterin und komme viel herum. Es ist doch so, dass ich eventuell mal auf die Spur solcher Kräfte komme, und dann will ich dir und deinen Freunden helfen sie auszuschalten.“

Sie klang sehr entschlossen und die beiden Freunde konnten sich vorstellen, dass sie in dieser Hinsicht genauso dickköpfig war, wie Sabrina Funke.

Knut seufzte leise, griff nach seiner Brieftasche und fischte eine durchgeweichte, aber immer noch lesbare Visitenkarte mit seiner Handynummer und Email-Adresse heraus.

„Wenn du Wind von etwas bekommst, was nach Schwarzer Magie oder Dämonen riecht, dann ruf an. Ich werde dann Mark und Hinnerk.“

Der Moment des Abschieds war gekommen!

„Danke!“, sagte Petra noch einmal.

Knut und Mark lächelten und drehten sich dann um, um die Halle zu verlassen.

An der offenen Tür entdeckte sie Hinnerk, der sie angrinste.

Der bärtige Hüne versprühte schon wieder seine gewohnte Lebenskraft und verabschiedete sich freundlich von Petra.

Er sagte der Journalistin, dass die Polizei bald kommen und nicht allzu viele Fragen stellen würde.

Sie solle sich nicht wundern, sondern einfach den Anweisungen der Beamten folgen und versuchen die Sache schnellstmöglich zu vergessen.

Für Knut nahm Petra sich etwas mehr Zeit bei der Verabschiedung. Er bekam einen Kuss von ihr, und der fiel ziemlich intensiv aus.

Mark und Hinnerk schauten schmunzelnd zur Seite!

Danach verließen sie gemeinsam das Schloss und bestiegen den BMW.

Hinnerk verzichtete darauf zu fahren und überließ Knut das Steuer, da er derjenige war, der die zurückliegende Nacht wohl noch am besten überstanden hatte.

Während der schwarze Wagen an den Überresten des Range Rovers vorbeifuhr, dachte Mark im Fond sitzend noch einmal an das zurückliegende Geschehen.

Der perfide Mordplan, die Toten, der Kampf ... das alles wirbelte durch den Kopf des Hüters und er wusste, dass es ihn noch lange beschäftigen würde.

Er lehnte sich zurück, spürte die weiche Stütze am Hinterkopf und gleichzeitig wogte Müdigkeit durch seine Glieder.

Mark schloss die Augen...

Das was ich da mit der Furie angestellt habe, war merkwürdig und gleichzeitig erschreckend... ich muss herausfinden was das zu bedeuten hat..., dachte er noch.

Doch das sollte er an diesem Tag nicht mehr schaffen.

Als der BMW auf die Hauptstrasse abbog und Kurs in Richtung Autobahn nahm, schlief der Hüter bereits tief und fest und träumte von Daheim.

Von Hüll!

Wird fortgesetzt

Der Gästezugang für Kommentare wird vorerst wieder geschlossen. Bis zu 500 Spam-Kommentare waren zuviel.

Bitte registriert Euch.

Leit(d)artikelKolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Wir verwenden Cookies, um Inhalte zu personalisieren und die Zugriffe auf unsere Webseite zu analysieren. Indem Sie "Akzeptieren" anklicken ohne Ihre Einstellungen zu verändern, geben Sie uns Ihre Einwilligung, Cookies zu verwenden.