Bd. 14 - Ihre dunkelste Stunde
"There’ll be better times than these."
Nach einem Song von
‚The seventh Cavalry Regiment’
Ihre dunkelste Stunde
von
Michel Wuethrich
Ma Kirby sah, wie der T-Rex immer näher kam und dabei nicht nur die Saurier beiseite schlug, um an seine Beute zu kommen, sondern auch das Geäst und Gestrüpp, das ihm im Wege stand. Durch diese stürmische Vorwärtsbewegung begann er an diversen Stellen zu bluten, so versessen war er darauf, sich den Weg zu erkämpfen und den Magen vollzuschlagen. Er geriet übergangslos in einen Blutrausch!
Sie besaß nicht das nötige Vorstellungsvermögen, dass ein Tier sich so mit unbändiger Wut – oder war es Gier? – unter die kleineren Saurier warf und ein Blutbad veranstaltete, wie sie es gerade zu Gesicht bekam. Der Krach, der dabei veranstaltet wurde, war unglaublich! Sie fühlte sich in ein Kino versetzt, in dem die Soundanlage durchdrehte und sich die Spezialeffekte verselbstständigten und immer näher kamen!
Das Nächste, was seine Speisekarte zieren würde, das wäre sie! Er würde sie vom Ausguck pflücken wie eine Delikatesse auf dem Servierbrett, hinunterschlingen und niemals erfahren, was er sich da gerade einverleibt hatte, da er sterben würde, bevor der Mensch als Spezies überhaupt auf dem göttlichen Plan auftrat.
Sie musste schauen, dass sie so schnell wie möglich vom Ausguck verschwand. Weiter unten würde dem Riesentier auch immer wieder Grünzeug die Sicht versperren. Es war eine Überlegung von wenigen Augenblicken, und bevor sie sich versah, sprang sie bereits dem Boden zu. Da gab es keine Gedanken, dass der Aufprall ihr wahrscheinlich alle Knochen brechen konnte.
Ein Aufschrei von rechts ließ sie noch im Flug in diese Richtung blicken und sie verlor ihren Landeplatz aus den Augen. Sie sah Dieter Feldmann abseits stehen, Kane über die Schulter gelegt. Der Meister des Ordens schien Kraftreserven zu mobilisieren, von denen er bislang keine Ahnung gehabt hatte. Mit Entsetzen blickte er ihr entgegen und streckte einen Arm aus, als wolle er sie auf die Anhöhe zurückschubsen. Zuerst konnte sie seine Worte nicht ausmachen, da diese im Geschrei der Tiere untergingen, die hinter ihm zu erkennen waren und sich auf der Flucht befanden. Doch auf einmal war alles klar! Sie verstand, aber es war bereits zu spät. Sie konnte ihren Sprung nicht wieder rückgängig zu machen.
Sie hatte Mark Larsen vergessen! Der bewusstlose Hüter befand sich immer noch oben auf dem Ausguck!
Dann schlug sie mit Rückenlage auf und die Luft wurde ihr unbarmherzig aus den Lungen gepresst.
***
Gegenwart
Es dauerte einige Sekunden, bis sich Fabio Cassani erhob und den heranstürmenden Helfern Platz machte, die sofort begannen, sich um Aldega Derron zu kümmern. Sie legten ihn in einer Seitenlage auf die Trage, aber bevor sie ihn wegschleppten, vergewisserte sich derjenige, der ein Stethoskop um den Hals hängen hatte und der wichtigste Mann zu sein schien, dass der Sicherheitschef noch lebte. Als ihn Cassani darauf aufmerksam machte, dass die Lache am Boden auch noch von ihm stammte, nahm sich der Arzt noch kurz die Zeit, die Atmung des Sicherheitschefs zu überprüfen. Er riss ihm den Mund auf und vergewisserte sich, dass nichts die Luftröhre verstopfte und sich etwas am Zustand Derrons ändern würde. Anschließend ließ er die Trage rausbringen und widmete sich dem nächsten Soldaten, der leblos neben einer weiteren Lache am Boden lag. Trotz der Hektik und des emsigen Hin und Her machte der Arzt mit konzentrierter Miene seinen Job. Jeder Handgriff saß.
Fabio Cassani hatte Derron geschüttelt und versucht, ihn wach zu halten, aber da war nichts mehr gewesen, das ihm hätte Antwort geben können. Derron war ohnmächtig geworden! Abgedriftet ins Reich der Bewusstlosigkeit.
Der Großmeister des Ordens strich sich gerade über Anzug und Hemd, das Spuren von Derrons Mageninhalt zeigte, als sich ein Mann zu ihm gesellte. Er blickte kurz hoch, ohne großes Interesse an dem Ankömmling zu zeigen, und fuhr sich stattdessen mit den Händen über die Hose, wie um sie zu säubern. Dabei zeigte sein Gesicht keinen Ekel. Es war Matt Harper, wie er erkannte, der Leiter des ALPHA-Teams. Eine Spezialeinheit, die sich in der Treasure Security gebildet hatte, um sich besonderer Fälle anzunehmen.
Im Näherkommen riss sich Harper eine Stoffkapuze vom Gesicht, die nur für Augen und Ohren eine Öffnung besaß. Darunter kam das verkniffene Gesicht eines Soldaten zum Vorschein, der sich gerade fragte, was sein Hiersein eigentlich rechtfertigte. Cassani konnte ihm dies nicht einmal verdenken.
„Sir?“
„Hmmhh?“, meinte der Großmeister nicht ohne einen gewissen Unwillen in der Stimme. Er hatte sich erneut hingekauert und schob mit dem Schuh etwas Dreck herum, der sich von der Decke gelöst hatte. Er blickte fasziniert darauf, als würde sich etwas Gleichwertiges wie das Teilen des Meeres vollziehen. Aber es tat sich nichts. Nur Schmutz und Dreck und Unrat. Wo er auch hinschaute. – Da war ganz schön was los gewesen! Wenn er doch nur wüsste, was passiert war ...
„Wir haben die Halle abgesichert.“
„Und?“
Matt Harper schüttelte den Kopf, bevor er antwortete:
„Nichts, Sir.“
Der Großmeister musterte ihn für einen Sekundenbruchteil, bevor er zu einer Frage ansetzte. Die Augen waren hinter der runden Brille zusammengekniffen, als wolle er ihm eine Falle stellen.
„Was haben Sie erwartet?“
„Nichts!“, kam es wie aus der Pistole geschossen. Dass Matt Harper sich nicht noch in Achtungsstellung warf, erstaunte den hageren, klein geratenen Mann überhaupt nicht. Dazu war Harper zu lange weg von der Marine. Und ihm als Großmeister machte es wenig aus, da er zu sehr ein Zivilist war. Auch wenn er technisch gesehen den Ranghöheren darstellte. Aber es gab wichtigere Dinge ...
Er winkte ab, wie um seine Gedanken beiseite zu wischen, und erhob sich dann.
„Warum dann so enttäuscht?“, wollte Fabio Cassani wissen.
„Wenn ich Nichts sage, Sir, dann heißt das, dass ich auf alles gefasst bin und mit allem rechnen muss, wenn wir einen Raum stürmen.“
Der Großmeister winkte ab. Er hatte es nicht so gemeint, aber es war ihm zu müßig, den Leiter des Teams ALPHA darüber aufzuklären, der sich sichtlich zusammennehmen musste, damit er keine schärfere Antwort gab.
„Das, was den Raum eingeschlossen hatte“, dabei machte er eine Bewegung, die die ganze Halle in ihrer vollen Emsigkeit aufnahm, „gestattete uns, diesen Saal zu betreten.“ Fabio Cassani schüttelte den Kopf. „Keine Rede von Stürmen!“
Bevor Matt Harper etwas erwidern konnte, mussten sie zwei Tragen ausweichen, auf denen Leute der TS lagen. Auch diese machten den Eindruck, als hätten sie dieselben Symptome, wie Aldega Derron, was die auch immer ausgelöst haben mochte.
Kaum war die Karawane vorbei, traten sie wieder aufeinander zu. Bevor aber Harper auf die Anschuldigung zuvor etwas erwidern konnte, wechselte der Großmeister bereits wieder das Thema.
„Wie geht es Ihrer Gefährtin?“
„Meiner Gefährtin, Sir?“
„Inga Carlsson“, setzte er nach.
„Inga ist nicht meine Gefährtin ...“
Cassani machte eine Handbewegung, als wolle er damit Harpers Einwand wegwischen. Das Thema dauerte schon viel zu lange. Er schien keine Geduld zu haben. Oder wollte keine haben!
„Sie wird sich wieder erholen, Sir.“
„Dann tun Sie etwas dafür, dass das schneller geht.“
Harper schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, als wisse er nicht, wie er diese Bemerkung aufnehmen sollte.
„Stehen Sie nicht rum!“ Er wedelte ihm die Hände vor dem Gesicht. „Schicken Sie ihr Blumen oder etwas Süßes.“
Und als er sich gegen den Ausgang zuwandte, rief er ihm noch über die Schultern zu: „Frauen lieben so was.“
Zurück blieb ein Mensch, der dem Großmeister mit unbewegtem Gesichtsausdruck nachschaute.
***
In einer weit entfernten Vergangenheit (Was bisher geschah – Teil 2)
Nur wenige Augenblicke lag Ma Kirby auf dem Boden, bis sie sich unter Schmerzen und Zähneknirschen erhob. Atmen konnte sie nicht, aber wenigstens hatten sich die pulsierenden Kreise vor den Augen aufgelöst. Sie wusste, dass sie sich von diesem Platz fortbewegen musste, oder diese Stelle würde zu ihrem Grab werden.
Atmen war etwas für Memmen!
Sie wollte sich nach rechts wenden, aber der T-Rex hielt genau darauf zu. Sie würde ihn auf sich aufmerksam machen, wenn sie diese Richtung einschlug.
Angstvoll blickte sie sich um. Von Dieter Feldmann war plötzlich nichts mehr zu sehen und die Erkenntnis, allein zu sein, kam dem Gefühl des Fallens gleich. Ein Krächzen löste sich aus ihrer Kehle, und sie konnte mühsam nach Luft schnappen. Aber nur kleine Atemzüge. Es musste vorläufig reichen! – Sie musste sich zusammennehmen! Für einen Nervenzusammenbruch war später immer noch genug Zeit. Falls es ein Später gab!
Sie wandte sich nach links, übersprang Bodenerhebungen und kleinere Saurier, die am Boden lagen und die der T-Rex bei seinem ersten Angriff erwischt und niedergestreckt hatte. Dann erblickte sie einen Durchgang in der Urwaldwand, in den sie hineinhechtete. Ganz egal, was dahinter auf sie warten würde, es wäre dagegen ein Spaziergang.
Sie schlug hart auf dem Boden auf und rollte augenblicklich herum, um zu sehen, was ihre Flucht draußen ausgelöst hatte.
Wie ein Besessener preschte der König der Saurier durch das Unterholz. Er hatte sich abgewandt und entfernte sich wieder von der Stelle, an der Ma Kirby zur Flucht gestartet war. Von hinten konnte sie nur wenig ausmachen, aber wenn er seitwärts nach etwas schnappte und die kläglichen Schreie nach Sekunden erstarben, die die flüchtenden Raptoren ausstießen, erkannte sie, dass die Lefzen triefend nass und von Blut getränkt waren.
Dann mischte sich auf einmal ein Geräusch unter die schreckliche Kulisse, das sie zuerst nicht einordnen konnte. Es wollte nicht in diese Zeit passen! Dann erkannte sie es als das, was es war: ein Motorengeräusch. Als würde ein Rennwagen um die Ecke preschen, um sogleich voll auf die Bremsen zu gehen. Es gab ein Höllenspektakel, das für einen winzigen Augenblick sogar die Natur zum Verstummen brachte. Ein Lichtfetzen fuhr gegen den Himmel und ließ die Welt mit einem Donnergeräusch erzittern.
Dann war sie wieder da, die Zeitmaschine!
***
Ma Kirby war auf den Beinen, bevor sie genau wusste, was sie eigentlich tat. Ihr Ziel war die Zeitmaschine. So eine Gelegenheit bekam sie vielleicht nie wieder! Als ihr Verstand mitbekam, was sie zu tun bereit war, war es schon zu spät. Er konnte die Beine nicht mehr zu einem Halt bewegen. Ihr Instinkt hatte die Herrschaft übernommen.
Sie hörte Rufe, die sie als die ihrer Kollegen erkannte, aber als sie kurz über die Schulter blickte, konnte sie nichts im langweiligen Grün des Dschungels erkennen. Dann hatte sie nur noch Augen für die Kutsche, die da im Dreck steckte und den Eindruck machte, als wäre sie nie von dieser Stelle verschwunden. Schräg lag sie in der feuchten Erde.
Luftschwaden stiegen auf und erweckten den Eindruck, als hätte sie Feuer gefangen. Dem war aber zum Glück nicht so!
Ma Kirby kam der Zeitmaschine immer näher und ein Gefühl von Erleichterung begann sich in ihr zu regen. Es konnte funktionieren ...
Dann kam hinter der Postkutsche der Kopf des T-Rex hoch und alle Hoffnung schwand!
***
Gegenwart
Matt Harper sah Fabio Cassani nach, dann schüttelte er den Kopf und begann seiner Aufgabe nachzukommen: herausfinden, was passiert war. Es würde schneller gehen, wenn einer der Männer das Bewusstsein wiedererlangte, doch bis dahin waren er und seine Leute darauf angewiesen, was ihnen die Umgebung preisgab. Und was ihr Instinkt und Gespür als logischste Erklärung dann auch nachvollziehen konnten.
Das Dumme war nur, dass er hier und jetzt nicht auf seine Leute zählen konnte. Er hasste es, wenn ein einmal eingespieltes Team auseinandergerissen wurde.
Angefangen mit Ricarda Volonte, der man die Aufgabe übergeben hatte, die Wohnung des Verräters aufzusuchen, der die ganze Sache ausgelöst hatte. Sein Name war gefallen, als sie das Center erreicht hatten. Und nachdem die Mosaiksteinchen zusammengefügt waren, ergab sich ein schemenhaftes Bild, das diesen Vincent Toneatti in ein ganz schlechtes Licht rückte.
Ausschlaggebend dafür, dass der Großmeister Ricarda Volonte für diesen Einsatz ausgesucht hatte, war sicher auch gewesen, dass sie sich in der Gegend auskannte und vor allem die Sprache beherrschte. Jemand anders wäre sicher auch dafür geeignet gewesen. Harper knurrte vor sich hin. Was sind wir doch für ein dummes Volk! Die Welt spricht nicht überall nur Englisch!
Ladunow, der ehemalige Magier und jetziger Doktor seines ALPHA-Teams, befand sich im Krankenhaus des Centers und versuchte zu helfen, wo gerade Not am Mann war. So, wie die Wachmannschaft hier auf Tragen rausgebracht wurde, hatte die Ärzteschaft einiges zu tun. An Ort und Stelle wäre Ladunow zwar auch gut zu gebrauchen gewesen, doch eines nach dem anderen, musste sich Harper immer wieder sagen. Zuerst mussten die Verletzten versorgt werden! Schließlich arbeiteten sie für dasselbe Team.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Oscar Friedmann, ein anderes Mitglied seiner Truppe, eine Apparatur auf den Boden stellte, die entfernt an eine Satellitenschüssel erinnerte.
Er wird hier unten doch nicht ...? Nah, das konnte nicht sein, ging es Harper blitzschnell durch den Kopf. Der Deutsche benahm sich zwar zwischendurch wie ein Trottel, aber so dumm konnte selbst er nicht sein, dass er in einer solchen Situation fernsehen wollte. – Und wenn er es richtig betrachtete, traute er es ihm auch nicht wirklich zu.
Im Vorbeigehen klopfte er ihm motivierend auf die Schulter. „Weitermachen, Frydman.“
Dieser ließ fast das Laptop fallen, welches mit verschiedenfarbigen Kabeln an die Suppenschüssel angeschlossen war. Falls er eine Erwiderung von sich gab, verlor sich die in seinem verkniffenen Gesichtsausdruck.
***
In einer weit entfernten Vergangenheit (Was bisher geschah – Teil 3)
Ma Kirby schlitterte noch ein paar Meter, bevor sie nach hinten fiel und bewegungslos im Matsch liegen blieb. Kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Sie wollte nach Luft schnappen, doch der Schreck ließ dies nicht zu. Vor lauter Angst vergaß ihre Lunge zu arbeiten.
Ma Kirby schaute den Saurier an und sie wusste, dass er auch in ihre Richtung blickte. Aber sah er sie auch?
Gefühle waren dem echsenartigen Kopf unmöglich anzusehen, und doch vermeinte sie, so etwas wie Verwunderung zu erkennen. Der riesige Saurier war auf einmal erstarrt und das Stück Fleisch, das er halb im Rachen und zur Hälfte draußen hatte, entglitt ihm und schlug auf dem Boden auf. Es gab ein plumpsendes Geräusch, das sie vor wenigen Sekunden unmöglich hätte hören können!
Dann sah er sie! Dann sah er sie wirklich! Sofort kam wieder Bewegung in den tempelgroßen Körper. Der Saurier richtete sich zu seiner vollen Größe auf und schrie der ganzen Welt sein triumphierendes Gebrüll entgegen. Dann macht er den ersten Schritt auf sie zu.
***
Sie hatte keine Chance! Sie wusste, sie konnte das Unabänderliche nicht noch weiter hinausschieben. Zuviel war bereits geschehen, als dass sie dem Sensemann noch einmal ausweichen konnte. Bis jetzt hatte sie einigermaßen Glück gehabt und war immer mit dem Leben davon gekommen. Doch das würde sich nun ändern.
Sie beschloss, einfach liegen zu bleiben und den Tod trotzig willkommen zu heißen, der da unweigerlich auf sie zukommen musste.
Der Saurier wollte nach vorne stürmen, als er durch das Verhalten der Zeitmaschine verunsichert wurde. Sie begann zu vibrieren, das Geräusch des Rennwagens erscholl wieder, um gleich wieder zu verstummen. Es war, als würde jemand an einem Konzert mit dem Lautstärkeregler spielen. Dazu kam noch, dass die Postkutsche wieder zu verblassen begann.
Das konnte nicht sein, schrie es in Ma Kirby auf. Meine Rettung verschwindet wieder!
Sie wollte schreien, brachte jedoch keinen Ton über die Lippen. Dafür begannen Tränen, ihr über die Wangen zu laufen.
Ma Kirby wusste, dass dieses Verhalten der Zeitmaschine völlig normal war. Es war aufreibend, da das Gefühl von Unsicherheit den Timeonauten ständig umgab. Aber dieses Mal ging es um Leben oder Tod! Es brach ihr beinahe Herz, wie die verheißene Rettung langsam an Kontur verlor und immer durchscheinender wurde, während sie ihr doch so nahe stand!
Die Kutsche schimmerte so durchsichtig, dass Ma Kirby durch die Materie, die zuvor noch fest gewesen war, Wald und Saurier erkennen konnte.
Es war gerade dieses Verhalten der Zeitmaschine, das Ma Kirby vor dem sicheren Tod bewahrte. Der T-Rex wurde in seinem Vorwärtsstürmen aufgehalten, da er nicht wusste, wie er auf die neuen Umstände zu reagieren hatte. Es half nichts, dass er seiner Unsicherheit mit Gebrüll Ausdruck verlieh.
Die Zeitmaschine verschwand schließlich ganz. Dann waren zwischen Ma Kirby und dem T-Rex plötzlich nur noch ein paar Meter leerer Urwaldboden.
***
Gegenwart
Matt Harper trat vor die Halle. Der süße Geruch nach verbranntem Fleisch ließ ihn für einen Augenblick inne halten. Er kannte den Gestank. Zu gut! Und die verkohlten Leichen der Männer, die vor den Toren Wache gestanden hatten, waren lichterloh in Feuer gehüllt gewesen, als sie hier vor zwei Tagen angekommen waren. Selbst noch nach einem Tag! Man hatte das Feuer nicht löschen können, bis schlussendlich das Kraftfeld vor wenigen Minuten zusammengebrochen war, das die Misere ausgelöst hatte.
***
Matt Harper erinnerte sich – Teil 1
Wie Moses an den brennenden Busch waren sie an das flimmernde Kraftfeld getreten, das ihnen den Zugang zur Halle verwehrte, in der das Experiment vonstatten ging. Oder eben den Bach runter, wenn man auf das Gemurmel in den eigenen Reihen der Truppen hören mochte. Wie auch immer, keiner wusste wirklich Genaueres! Durch die Flammen hindurch ließen sich die Wachmänner erkennen, die im Kraftfeld gefangen waren und wie zu Säulen erstarrt links und rechts des Eingangs standen.
Dann war dieser Raum noch so weit unter der Erde! Nicht unbedingt ein bevorzugter Aspekt seiner Tätigkeit, wie Matt Harper bewusst wurde. Es war eines, sich auf der Oberfläche vor einer Gefahr zu schützen. Aber hier unten? Wo konnte man da hingehen? Wo er auch hinschaute, waren Wände, die zwar mehrheitlich aus einem natürlichen Gestein bestanden, aber eben immer noch ein Hindernis darstellten, wenn es galt zu kämpfen. Dann Türen und immer wieder tief hängende Decken in diesem Teil des Centers. Auch nicht wirklich genug Raum, um zu atmen.
„Wir sind so weit unten ... Könnten genauso gut auf einem anderen Planeten sein“, sagte jemand aus seiner Truppe.
Er konnte nur nicken. Jemand anders hatte die passende Antwort darauf: „Amen, Bruder.“
Das Feld, das die ganze Halle dahinter umhüllte, Wände, Böden und Decken durchdrang, und sich einen Dreck darum kümmerte, was ihm in den Weg kam, pulsierte leicht. Es hatte alles zerfetzt, das aus lebender Materie bestand und sich zum Zeitpunkt des Aufbaus genau in seinem Randgebiet aufgehalten hatte.
Und schließlich entzündet!
Tote Materie schien dagegen unter dem Kontakt des Feldes nicht zu leiden. Zum Glück, sonst wäre hier unten ein zweites Hiroshima entstanden!
Umso größer war der Schreck gewesen, als sich Inga Carlsson, selbst auf ausdrücklichen Befehl hin, in das Feld am Eingang werfen wollte. – Was heißt wollte?
Sie hatten darüber eine ausführliche Diskussion geführt und er, Matt, war keineswegs zurückhaltend dabei gewesen, als er ausdrückte, was er von diesem Vorschlag hielt.
„Es ist falsch, wenn wir nicht alles ausgetestet haben, Matt“, hatte sie ihn daraufhin beschworen. „Lass mich endlich springen, verdammt noch mal.“ Dabei hatte sie ihn durchdringend mit ihren hellblauen Augen fixiert.
Die hochgewachsene, durchtrainierte und auch noch schöne Frau besaß eine weitere Gabe, die sie zu einem sehr speziellen Mitarbeiter für das Team ALPHA machte. Diese Gabe ermöglichte es ihr nämlich, den eigenen Astralkörper zu manifestieren und diesen bewusst zu steuern, während sie selber in einer Art Trance zurückblieb. Auf einer höheren Energieebene war sie natürlich immer noch mit diesem verbunden. Das Wissen um diesen Umstand war es auch, das Matt davon abhielt, sie auf Erkundungstour zu schicken. Das Risiko war zu groß, dass sie verletzt, wenn nicht sogar getötet wurde.
„Es ist zu riskant, Inga. Zu gefährlich!“, wischte er ihren Einwand beiseite.
„Zu gefährlich?“
Ihre Augen funkelten auf, als würden sie bei seiner nächsten Erwiderung Blitze verschießen, die ihn in ein Aschehäufchen verwandeln würden. Das wäre das einzige Gefährliche, um das er sich im Moment kümmern sollte!
„Mein Gott, wir sind das Team ALPHA! Bedeutet das nicht etwas?“
„Das hat in so einer Situation überhaupt nichts zu sagen, Inga. Du weißt nicht, was das für ein Feld ist, und selbst Frydman kratzt sich da hinten den Kopf und fragt sich, was das alles für einen Sinn haben mag.“
Oscar Friedmann war zu den zwei Streitenden hinzugetreten und wollte sie mit seiner nasalen Stimme auf etwas aufmerksam machen, aber beide fuhren ihn mit den selben Worten an: „Halt die Klappe, Frydman!“
Augenblicklich machte er sich wieder aus dem Staub. Zwei gegen einen war zuviel für ihn.
„Mensch, Inga“, versuchte Harper sie mit beschwörender Stimme von seiner Argumentation zu überzeugen, „gegen die Schwarze Familie sind wir doch nur so etwas wie Novizen. Wir lernen zwar ständig und wissen auch schon mehr, als viele andere aus dem Orden, aber eben noch nicht genug! Da weiß sogar Harry Potter mehr, als im Moment wir.“
Sie verzog nicht einmal den Mund. Das bedeutete etwas, wenn selbst seine Witze keine Reaktion mehr auslösten. Nicht einmal ein klägliches Verziehen der Lippen.
Stattdessen lief sie ihm einfach davon.
„Inga ...“
Ihre Geste deutete an, dass sie nichts mehr von ihm hören wollte. So ließ er sie ziehen, da er das Thema für abgeschlossen hielt. - Als Kind hatte er sich immer gewünscht, dass er die Gedanken anderer Leute lesen konnte. Dies hier war mit Bestimmtheit kein solcher Moment!
Und dann ging sie einfach hin zum Feld. Die Wachmänner, die halb darin gefangen waren und lichterloh brannten, gaben einen seltsamen Rahmen ab. Einen schrecklichen Kontrast. Während Ingas realer, fleischlicher Teil davor zu Boden fiel, blieb der Astralkörper einfach stehen. Es sah wie eine Szene aus einem Science-Fiction-Film aus, der sich da ihren Augen darbot. Jedenfalls denen, die es sahen.
„Inga! Nein!“, hatte er noch schreien können, als sie nach einem entschuldigenden Blick über die Schultern einen Schritt auf die Abgrenzung zu tat. Und dann wurde sie mit einer enormen Blitzentladung nach hinten durch den Gang geschleudert, in dem sich ein großer Teil der TS-Leute bis zum Aufgang hin bereithielt. Einige hatten schon beim Streitgespräch nervös den Kopf erhoben und waren aufgestanden, da es in so engen Räumen leicht zu Problemen kommen konnte. Man versuchte nicht hinzuhören, aber der Ort, an dem es stattfand, machte es zu einem Ding der Unmöglichkeit.
Als dann der helle Blitz vor den Toren einschlug und ein Mensch durch den Gang geschleudert wurde, fuhren auch die Soldaten von ihren kauernden Positionen hoch, die sich noch ausgeruht hatten. Es gab einen Aufruhr, und man konnte nur von Glück sagen, dass niemand im Eifer des Gefechts einen lockeren Zeigefinger besaß.
Matt Harper war augenblicklich bei Inga und drängte Personen beiseite, die ihr helfen wollten. Als er sich über sie beugte, stellte er erleichtert fest, dass sie einigermaßen unversehrt aussah. Ihr Anzug war versengt und gab leichte Rauchzeichen ab. Außerdem war der vordere Teil ihres hellblonden, kurz geschnittenen Haares verbrannt. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Die Verfärbung ihrer Haut ließ darauf schließen, dass auch sie eine gehörige Portion Hitze abbekommen hatte. Aus den Augen liefen Tränen, und als sie ihn durch den Schleier erkannte, flüsterte sie:
„Es tut mir leid, Matt ...“
„Es ist gut, Inga. Alles wird gut.“
Er nahm sie in die Arme und hielt sie ganz fest an sich gedrückt. Er spürte ihr Zittern. Es ließ ihn Angst fühlen.
Hinter ihm wurden vereinzelt Leute zurückgedrängt, die sich nähern wollten. Es gab etwas zu sehen, also hin! - Matt hasste diese Einstellung. Schade, dass dies auch bei so gut ausgebildeten Leuten noch geschah.
„Du wirst mich auch nicht anschreien?“, fragte sie kleinlaut. Ihr ganzer Körper zitterte.
Matt blickte erstaunt in ihre Augen, die ihn anschauten, als wäre er ein Geist und sie sähe ihn zum ersten Mal.
„Nicht dieses Mal, mein Kleines.“
„Dann muss ich aber in wirklich schlechter Verfassung sein ...“
Es kostete ihn einige Mühe, ihr verständlich zu machen, dass alles gut werden würde. Wie es jedoch um innere Verletzungen bestellt war, da konnte er nur hoffen, dass diese gering ausgefallen waren.
Es dauerte zu lange, bis die Ärzte endlich eintrafen.
***
In einer weit entfernten Vergangenheit (Was bisher geschah – Teil 4)
Wenn es einen Zeitpunkt gab, an dem Ma Kirby um ein Wunder bat, dann war es dieser! Sie wusste, dass es eintreffen sollte, aber die unberechenbare Zeitmaschine konnte ihr da glattweg einen Strich durch die Rechnung machen. Sie wagte kaum zu hoffen, dass ihr mit diesem Wunder auch gleich das Leben gerettet wurde.
Sie sah den T-Rex mit Riesenschritten auf sich zukommen. Die große Schnauze fuhr zu ihr runter, wie die Schaufel eines Baggers, der sich in der nächsten Sekunde in den Boden bohren wollte.
Hoffentlich ging es wenigstens schnell vorbei ...
Da sich das Riesenvieh seiner Beute sicher war, kam es langsam und siegessicher auf sie zu. Ein Schritt nur, dann der nächste. Die Distanz begann sich unaufhörlich zu verringern.
Ma Kirby nahm das Schnaufen des Sauriers wahr, das ständig lauter wurde. Es klang in ihren Ohren wie der Dampfausstoß einer Lokomotive, jedoch keineswegs so harmlos.
Die Zeit verging zu rasch! Und doch wiederum zu langsam, da das Wunder noch ausstand. Himmel noch mal, fluchte sie, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt für das Wunder!
Sie war zu keiner Bewegung fähig, obwohl hinter der Stirn die Gedanken rasten. Ihre Augen waren weit aufgerissen und verfolgten jedes Verschieben und Spannen der Muskeln unter dem dunkelbraunen, schmutzigen, blutverkrusteten Panzer. Der Anblick war einnehmend, wie auch verstörend. Irgendwie erwartete sie eine gut geölte Maschine zu hören. Der T-Rex konnte doch unmöglich echt sein!
Ein dummes Spiel kam ihr in den Sinn – fast hätte sie aufgelacht! Sie sah die Grashalme, die von den riesigen Füßen zermalmt wurden. Sie nahm einen ins Visier und sagte sich: Wenn er diesen überschreitet, dann wird das Wunder eintreffen ...
Als das nicht geschah und der Saurier erneut näher kam, fixierte sie einen weiteren Grashalm, der noch näher bei ihr war. Wenn er diesen überschreitet, dann würde das Wunder eintreffen. Es musste einfach!
... und in der nächsten Sekunde geschahen einige Dinge beinahe gleichzeitig. Der riesige Kopf des Sauriers senkte sich auf Bodenhöhe, um sie besser beäugen zu können. Die Lefzen schoben sich zurück, ohne die schauerlichen Zähne zu offenbaren. Darauf konnte sie wirklich verzichten! Es sah aus, als würde der Saurier grinsen. Die dunklen, emotionslosen Augen fixierten sie einnehmend.
So sah also der Tod aus!
Dann kam die Zeitmaschine zurück!
Direkt neben dem Kopf des T-Rex begann sie sich zu materialisieren. Die Bestie fuhr hoch und machte einen Satz rückwärts, den sie ihm im Leben nie zugetraut hätte. Bis jetzt hatte sie nur Katzen so springen gesehen, die überrascht wurden. In einer anderen Umgebung hätte sie laut aufgelacht, aber sie wusste, dass dies jetzt ihre Chance war. Das Wunder war eingetroffen. Wie hieß es doch: Gott half nur denen, die sich selber helfen. Jetzt lag es an ihr, dass sie etwas aus diesem Wunder machte.
Ma Kirby löste sich aus der Starre, fuhr hoch, machte auf dem Absatz kehrt und rannte in die andere Richtung. In jene, wo sie zuvor laute Rufe vernommen zu haben meinte. Und sie gab alles, was ihr Körper zu geben bereit war.
***
Sie sprintete drauflos!
Bücken, ausweichen und Hindernissen aus dem Weg springen. Gleitende und biegsame Bewegungen, die ihr Körper einfach ausführte. Sie musste ihn nicht einmal dazu überreden. Er tat es einfach.
Und irgendwo, in einer entfernten Galaxie weit, weit weg, hörte sie den wütenden Ausbruch des T-Rex. Er konnte ihr nichts mehr anhaben. Sie hatte es geschafft!
Dann sah sie aus dem Augenwinkel einen Schatten auf sich zurasen ...
***
Gegenwart (Matt Harper erinnert sich – Teil 2)
Jemand tippte ihm schon die ganze Zeit auf die Schulter. Er hatte den Sanitätern nachgeschaut, die hinter der Lifttür verschwanden, und Inga auf einer Trage hinausbrachten. Als Matt giftig den Kopf herumriss und schon eine dementsprechende Bemerkung auf den Lippen hatte, sah er Friedmann, der jedoch gar nicht ihn anschaute, sondern etwas, das sich am Feld abspielte und auch in diese Richtung deutete.
„Was ist?“, herrschte er ihn an.
„Inga“, sagte er nur.
Matt reckte den Kopf und blickte in die angegebene Richtung. Er stutzte. Bis vor kurzem waren die schwarz bekleideten Leute der TS überall rum gestanden. Nun hatte sich die Situation wieder etwas entspannt und die Leute setzten sich mehrheitlich wieder der Wand entlang hin. Aber nicht alle. Ganz am Ende, nahe des brennenden Feldes, stand eine kleine Gruppe im Halbkreis, zu deren Füßen ein Körper lag. Der von Inga Carlsson, wie er feststellen musste! Genau da, wo sie zuvor ihre reale Hülle zurückgelassen hatte.
Wie war das möglich? Hatte sie geswitcht? Wann denn überhaupt?
Als er näher kam, wich die Gruppe von fünf Leuten zurück. Das Kraftfeld war nur ein paar Schritte von ihnen entfernt. Der Geruch von verbranntem Fleisch war hier stärker, als weiter den Gang runter. Da funktionierten die Lüftungsschächte wieder.
Als Matt den wie hingeworfenen Körper - den zweiten! – von Inga Carlsson berührte, fühlte der sich normal an. Nicht kalt, wie das sonst üblich war, wenn sie sich mit ihrem Astralkörper auf Reisen begab. Bevor er sich jedoch eine Lösung dieses Rätsels zusammenschustern konnte, wurden gleichzeitig ein paar Ereignisse ausgelöst.
Das Summen des Schirms hörte plötzlich einfach auf. Noch bevor jemand herausgefunden hatte, wo das Geräusch verblieben war, das bis zu diesem Zeitpunkt ständig die Halle ausgefüllt hatte, fielen die zwei Wachmänner um, die seit fast drei Tagen wie Mahnmale dagestanden und jedem Löschversuch widerstanden hatten. Ein großer Teil der Leute, die in unmittelbarer Nähe standen, zuckte zusammen. Oscar Friedmann ließ einen spitzen Schrei los und fuhr erschrocken herum.
„Oh, mein ...“, war sein Kommentar, der ihm halb im Hals steckenblieb.
Das Kraftfeld war verschwunden!
Matt Harper wollte gerade hoch schauen, als er sah, wie Ingas Körper an Substanz verlor, durchsichtig wurde und sich vor seinen Augen aufzulösen begann. Die Hand, die er die ganze Zeit auf ihrem Oberschenkel gehabt hatte, drang durch und wurde erst wieder durch den Boden des Ganges aufgehalten.
Inga hatte sich aufgelöst!
***
Dann ging plötzlich alles drunter und drüber ...
Matt schrie: „Setzt die Helme auf“, und ergriff seine Utensilien.
... und anschließend stürmten sie die Halle, in der – nach den Worten von Fabio Cassani zu urteilen – ein Geheimnis des Ordens stand, von dem nicht unbedingt jedes Schwein wissen musste, um was es sich genau handelte. Es gab Gerüchte, aber schließlich musste man nicht jedem auf die Nase binden, was da unten stand. Cassani faselte was von einer Kutsche, aber selbst Matt Harper entzog sich die Wichtigkeit eines solchen Gegenstandes und er unterließ es zu fragen, was der Zweck davon war. Er fand es auch zu doof, dem Großmeister jedes Quäntchen Information aus der Nase ziehen zu müssen.
Sie waren nur kurz informiert und vorbereitet worden. Was sie schließlich zu sehen bekamen, überraschte alle! Nicht jeder konnte von sich sagen, dass er schon viel von der Welt gesehen hatte, wie etwa der Großmeister des Ordens, von dem man annahm, dass er häufig von Stadt zu Stadt reiste und wichtige Leute traf.
Oder auch Matt Harper, der rein durch seine Marinetätigkeit bereits einige Flecken der Erde bereist und dadurch Dinge zu Gesicht bekommen hatte, die einem zu denken gaben. Dieser Anblick jedoch, der war wirklich ... speziell und noch nie da gewesen! Selbst für den Großmeister und Matt Harper, die sich weit vorne aufhielten und sich so einen Überblick verschaffen konnten. Für alle anderen Anwesenden, die an Harper und Cassani vorbei in die Halle sehen konnten, war es ein unerwarteter Anblick, den sie da geboten bekamen.
Überall lagen Trümmer, die sich von der Decke oder den Wänden gelöst hatten. Aus aufgebrochenen oder auch angebrochenen Rohren entleerte sich deren Inhalt in den Raum. Es stank erbärmlich! Elektrische Leitungen zischten und züngelten an anderer Stelle in den Raum hinein, als wären Schlangen losgelassen worden, die nun um ihre Freiheit kämpften.
Dann waren da noch die Zurückgebliebenen, die über die ganze Halle verstreut lagen. Zwischen den Tischen, Stühlen und den Steinen, und dem aufgerissen Boden. Und sie kotzten sich die Seelen aus dem Leib, als gäbe es einen Preis zu gewinnen. Zudem drang ein Wehklagen an ihre Ohren, das, gepaart mit dem Bild, das sich den TS-Leuten zeigte, im einen oder andern ein komisches Gefühl in der Magengegend hervorrief.
Falls es den Anblick für Götter gab, dann war dieser definitiv keiner für sie.
Matt Harper riss sich vom Anblick weg und schrie nach hinten: „MEDIC!“
***
In einer weit entfernten Vergangenheit (Was bisher geschah – Teil 5)
Es blieb Ma Kirby noch Zeit zu einem Schrei der Überraschung, obwohl sie fiel und sich dabei überschlug. Anschließend stand die Welt wieder still, eingebettet in die dumpfe Lautlosigkeit von Watte. Ein Schatten neigte sich über sie, verdrängte das Tageslicht und etwas kam auf sie zu. Sie sprang in Panik auf und begann augenblicklich um sich zu schlagen. Sie würde ihre Haut so teuer wie möglich verkaufen. Koste es, was es wolle!
Dann erkannte sie, wie sich menschliche Züge aus dem Schatten lösten, der sich über sie beugte. Es war Peronino und er hielt ihr eine Hand hin. Er sagte etwas, das sie nicht verstand, doch sein Blick, den er in eine bestimmte Richtung warf – sie nahm an, dass es die war, aus der sie gekommen war – sprach Bände. Als sie zu lange zögerte, packte er sie am Arm und riss sie auf die Beine. Anschließend zog er sie hinter sich her. Ma Kirby ließ es geschehen.
Sie schlichen über Urwaldboden, der aussah, als sei er gepflügt worden. Nach etlichen Metern kamen sie an einen Erdhang, der über und über mit gewaltigen Wurzeln bewachsen war, die den großen Bäumen, die über ihnen thronten, Halt gaben. An anderer Stelle gab es diese auch, aber nur hier öffnete sich darunter ein Loch, in das Peronino sie hineinschubste. Hände griffen nach ihr, die im ersten Moment einen Panikanflug in ihr auslösten, der sich aber gleich wieder legte. Sie war nun nicht mehr allein!
Es war zu dunkel um etwas erkennen zu können. Zuerst stieß sich Ma Kirby den Kopf, was sie lehrte, sich künftig auf den Knie fortzubewegen. Sie wurde mehr nach hinten gereicht, als dass sie selber kroch. Erst nach Sekunden, die ihr wie Stunden vorkamen, ließ man sie da sitzen, wo sie sich gerade befand. Zum ersten Mal seit langer Zeit atmete sie bewusst aus. Dann schlossen die Nerven zum Geschehen auf, das ihr Körper durchgemacht hatte. Der Adrenalinspiegel senkte sich und Ma Kirby stellte fest, dass sie weinen musste, obwohl sie gar nicht wollte. Sie konnte es nicht unterdrücken. Es geschah einfach. Als sie zu zittern begann, krallten sich ihre Finger in den Boden, wie um Halt zu suchen. Aber erst als sich ein paar Arme um sie schlossen, bekam sie das Gefühl von Sicherheit zurück, das sie den größten Teil ihres Lebens gekannt hatte.
***
Gegenwart
Als Billie Holiday vor ihrer Unterkunft stand und mit dem Schlüssel an der Tür rumfummelte, schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit. Sie vermochte nicht zu sagen, ob es wirklich Morgen oder bereits wieder Abend gewesen war, als sie ihre Schicht angetreten hatte. In den weit verzweigten Gängen des Centers gab es keine Sonneneinstrahlung. Wenigstens bei denen nicht, die unter Tage lagen. Und das waren die meisten. Eine Zeitlang hatte sie noch versucht sich zu merken, wie das Leben auf der Oberfläche seinen Lauf nahm, aber irgendwann war ihr das auch egal geworden und sie hatte es sein lassen.
Früher war das anders gewesen! Da hatte sie ein Auge für die Zeit gehabt und wie sie verstrich. Vor allem auch, weil sie und Samuel zu unterschiedlichen Zeiten Dienst hatten. Mal hatte er Spät- und sie Frühschicht. Dann war es wieder umgekehrt oder sonst noch irgendwie vertauscht.
Es gab genau drei Schichten im Center, die immer wieder abwechselnd belegt wurden. Da glich es schon beinahe einem Wunder, dass sie sich hin und wieder sehen konnten. Aber vielleicht hatte ja auch Amor Mitleid mit ihnen und passte die Dienstpläne so an, dass sie doch ab und zu Zeit miteinander verbringen konnten.
Und jetzt sollte das alles vorbei sein? Wenn sie sich besser gefühlt hätte, dann hätte sie geheult. Nur war heute einer jener Tage, wo sie kalt war wie eine Hundeschnauze. Da waren Gefühle nur im Weg!
Billie Holiday trat über die Schwelle und spürte auf einmal, dass sich im Raum etwas verändert hatte. Augenblicklich nahm sie die Hand vom Lichtschalter. Die Tür hatte das Schloss noch nicht erreicht, als sie herumfuhr und diese vor dem Zuschnappen bewahrte. Dann griff sie nach dem Holster und zog ihre Waffe. Laden und Entsichern geschahen in einer einzigen fließenden Bewegung, die sie so leise wie möglich vollzog, während sie ihren Blick in den Raum gleiten ließ. Ein zerwühltes Bett, ein Schrank, der offen stand und seinen wirren Inhalt präsentierte. Auf dem Boden lagen allerlei Socken, Unterwäsche und BHs rum. Ein umgeworfener Stuhl lag zwischen Schlafzimmer und Bad.
Jemand anders wäre über den Zustand des Zimmers erschrocken gewesen, doch in letzter Zeit sah es in Billies Quartier immer so aus. Billie wusste, dass dies eine Reflexion ihres Gemütszustandes war. Seit Samuels Ableben herrschte in ihr kein eitel Sonnenschein mehr! Da konnten alle noch so sehr auf sie einreden, dass Samuel noch lebte, aber das war Blödsinn! Sie wusste nicht, wer oder was dieses debil vor sich hinlächelnde Stück Fleisch da unten in den Zellen war, auf jeden Fall war es nicht mehr der Samuel, den sie kennen und lieben gelernt hatte!
Ein großer Spiegel reflektierte den Eingang des kleinen Bades, der jedoch jetzt im Dunkeln lag, da die Tür geschlossen war.
Durch den Spalt darunter schimmerte schwaches Licht. Dann sah sie, wie sich etwas darin bewegte. Sie zuckte zusammen, obwohl sie ja gespürt hatte, dass sich etwas verändert hatte. Aber spüren und wissen waren immer noch zwei unterschiedliche Paar Schuhe!
Als sie nach vorne sprang, blieb ihr Fuß am Stuhl hängen, der davor lag. Sie hätte sich für ihre Ungeschicklichkeit rechts und links eine verpassen können, aber dafür war es nun zu spät. Sie fiel so in die Tür, dass sie diese aufstieß und am Griff hängend am Boden aufkam. Der bot ihr jedoch auch keinen Halt. Billie Holiday versuchte sich abzurollen, hatte aber dafür nur ungenügend Platz. So stürzte sie ungelenk auf die Fliesen und konnte von Glück reden, dass die Pistole nicht losging und ihr den Kopf wegknallte. Das wäre dann ein echter Abgang für Helden gewesen!
Mit großen Augen sah sie, wie die Badezimmertür nach innen aufschwang.
Das erste, was sie wahrnahm, war das Rauschen der Dusche, das hinter dem orangen Vorhang hervorkam. Das zweite war das Licht, das ihr in die Augen stach, kaum dass sie mit der Tür ins Bad fiel. Es war ein grelles, schmerzhaftes Licht, das nur für einen Sekundenbruchteil weh tat. Dann verblasste das Stechen bereits wieder. Es war wie Wetterleuchten an einem trockenen Sommertag gewesen.
Der Schrei, der hinter dem Vorhang erklang und ihr durch den Dampf entgegenschlug, ließ sie zusammenzucken! Die Nackenhaare stellten sich auf.
Da war definitiv etwas am Laufen!
Als Billie jedoch den nassen Vorhang auf die Seite schlug, die Pistole im Anschlag und bereit auf alles zu schießen, was größer war als eine Mikrobe, stellte sie ernüchtert fest, dass außer ihr selbst niemand im Bad war.
Das gibt’s doch gar nicht, schoss es ihr durch den Kopf.
Ihr Blick irrte umher, doch da war nichts, wo sich ein Eindringling hätte verstecken können. Das Bad war leer!
Aber sie hatte doch durch den Türspalt gesehen, wie sich hier etwas bewegt hatte! Etwas oder jemand!
Ohne sich dessen bewusst zu werden, drehte sie das Wasser ab. Das Rauschen verstummte.
Billie sank auf die Kloschüssel, die Hand mit der Pistole hing zwischen ihren Beinen.
Sie war allein!
Allein mit dem vereinzelten Platschen der Wassertropfen auf den Fliesen und ihren Gedanken.
Was war hier nur los?
Dann sah sie die Kleider! Obwohl sie gebraucht aussahen und vor Dreck nur so stanken, waren sie fein säuberlich unter dem Waschbecken abgelegt worden. Als hätte derjenige, der sie da hingelegt hatte, damit gerechnet, dass er sie wieder anziehen würde.
Billie stand auf und nahm mit Ekel ein Kleidungsstück hoch. Als sie es zwischen Zeigefinger und Daumen hielt, durchfuhr sie so etwas wie ein kalter Schauer, der sich wie ein kurzer elektrischer Schlag anfühlte. Und die Luft roch plötzlich nach Ozon.
Sie wollte sich gerade abwenden und das Bad verlassen, als sie aus dem Augenwinkel den Spiegel wahrnahm. Dampf hatte sich darauf niedergeschlagen, aber jemand hatte deutlich etwas darauf geschrieben. Sie stockte, als wäre sie gegen eine Mauer gelaufen. Dann schnappte sie nach Luft.
Deutlich war zu lesen: Ich weiß es, Billie!
***
Vergangenheit
Aufmerksam hatte der Hüter den Ausführungen Dieter Feldmanns und Ma Kirbys gelauscht. Obwohl er nach der langen Bewusstlosigkeit immer noch müde war, hatten ihn die Schmerzen wach gehalten, die von der Wunde ausgingen.
„Wie bin ich dann hierher gekommen?“
„Glück!“, sagten beide fast gleichzeitig. Feldmann und Ma Kirby schauten sich an, grinsten und sagten noch einmal: “Glück.“
„Hundsgewöhnliches Glück, etwas Schwein und eine ganze Menge Dusel“, erläuterte der Ordensbruder weiter. „Es wurde nach einiger Zeit etwas ruhiger da draußen“, ging Feldmann ausführlicher darauf ein, „jedenfalls relativ zu dem Chaos, das zuvor herrschte ...“
„... und als wir raus gingen ...“
„Ich ging raus“, unterbrach Peronino Ma Kirby ohne jegliches Pathos. Er blickte aus dem Unterholz und schenkte ihnen nach seinem Einwurf keine weitere Beachtung mehr.
„Er ging also raus und sah, dass du wach geworden bist.“
„Den Part kenne ich. Mich schüttelt es jetzt noch bei der Erinnerung an diesen Augenblick.“
Wie um seine Worte zu bestätigen, begann er zu zittern. Als wäre etwas Großes an seinem Grab vorbeigelaufen.
„Als du vom Ausguck fielst, lenkte eine kleineren Herde Saurier den T-Rex ab. Die standen einfach plötzlich da und stierten ihn mit riesigen Augen an.“
„Von hier aus sah es eher wie ein Kaffeekränzchen-Ausflug der hiesigen Saurierfraktion aus.“
„Ja, aber die kamen ganz schön ins Trudeln, als ihnen der T-Rex seine volle Aufmerksamkeit widmete.“
„Was geschah dann mit mir?“, versuchte Mark Larsen zurück auf den Punkt zu kommen.
Feldmann machte eine Bewegung mit dem Kopf zu Peronino hin. Fast wäre sie dem Hüter entgangen, aber er schaute gerade in die Richtung. Der breitschultrige Mann sah ihn an. War sein Blick durchdringend? Er konnte es in der Dämmerung des Unterstandes nicht genau erkennen.
„Ich habe dich da runtergeholt“, ging Peronino auf die unausgesprochene Frage ein. „Du hast dich in Schlingen und Geäst verheddert. So blieb dir ein Genickbruch erspart. – Wobei die Sache mit dem Schädel sicher auch so seine Unannehmlichkeiten hatte, denke ich mal.“
Bevor der Hüter darauf einging, griff er sich vorsichtig an den Kopf. Hier war der Schmerz am größten. Andere Stellen am Körper gaben auch ausführliche Rückmeldungen, doch im Großen und Ganzen war er froh, noch zu leben.
„Und der T-Rex? Was war mit ihm?“
„Der hat wohl gemerkt, dass er hier zu ganz gutem Essen kommen kann. Er braucht sich nicht einmal groß Mühe zu geben.“
„Darum kommt er auch immer wieder zurück.“
„Und die Zeitmaschine?“
Mark sah, wie sie untereinander einige Blicke wechselten, bevor sich Ma Kirby zu einer Antwort durchrang:
„Bis jetzt ist sie noch zwei weitere Male erschienen. Wir sind guter Hoffnung, dass sie das nächste Mal bleiben wird.“
„Guter Hoffnung?“, fragte Mark Larsen erstaunt.
„Na ja, damit wir wieder zurück in die Gegenwart können.“
Der Hüter setzte sich auf. Jede Bewegung tat ihm weh. Die Schmerzen begannen, sich nun langsam zu regen.
„Moment mal“, ächzte er, „gehe ich recht in der Annahme, dass ihr noch gar nicht wisst, was vorgefallen ist?“
„Wie auch?“, zuckte Feldmann mit den Schultern. „Wir waren alle ausgeschaltet. Die Spritzen. Du erinnerst dich?“
„Oh, klar. Habe ich vergessen.“
„Obwohl wir uns doch schon einiges zusammengereimt haben, als wir so ohne Erklärung und Geräte erwachten. – Vor allem so weit zurück in der Vergangenheit.“
„Die Maschine wurde entführt. Und ich mit ihr.“
Niemand veranstaltete um diese Äußerung großes Aufsehen.
„Wie das?“, wollte Peronino schließlich wissen.
„Da waren zwei Mann, die hatten – soweit ich das vorher mitbekam – an der Zeitmaschine rumhantiert. So Typen in weißen Kitteln.“
„Der Chef des Wissenschaftler-Teams vielleicht?“
Der Hüter schüttelte den Kopf. Erst als ihm in den Sinn kam, dass es zu dunkel war, um das zu sehen, ließ er noch ein „Nein“ vernehmen.
„Dwight machte sich an den Überwachungscomputern zu schaffen“, kam Ma Kirby zu Hilfe.
„Dann also seine Assistenten“, brachte es Feldmann auf den Punkt. „Was war mit den Männern?“
„Da hat der eine dem anderen das Gehirn rausgeblasen.“
„Einfach so?“
„Es machte jedenfalls diesen Eindruck.“
„Einer dieser Freaks?“ Ma Kirby musste lachen. „Die zwei sahen doch immer so harmlos aus.“
„Meine Fresse, wenn das harmlos ist, dann bin ich der Weihnachtsmann!“, konterte der Hüter. „Seht euch doch mal die Wunde an, die mir dieser Typ verabreicht hat. Nennt ihr das harmlos?“
„Vielleicht war es nur Anfängerglück, dass er dich so getroffen hat“, versuchte Feldmann zu beruhigen.
„Seinen Kollegen hat er mit einem glänzenden Kopfschuss außer Gefecht gesetzt. – Gut, er stand auch direkt hinter ihm.“
Als keine Reaktion erfolgte: „Und dann hat er immerzu was von ‚Tod der Menschheit’ geschrien.“
Immer noch keine Reaktion.
„Scheint euch ja nicht groß aus den Socken zu hauen, Leute?“, sagte Mark Larsen sarkastisch.
„Ich würde sagen, dass es bloß ein weiterer Schicksalsschlag war, den wir hier erfahren durften.“
„Wenn Murphys Gesetze noch nicht geschrieben wären, dann hätten wir alle einen Grund, es jetzt zu tun.“
„Was sollen wir auch hier ausrichten können?“, fragte Ma Kirby den Hüter. „Wir befinden uns am Arsch der Welt – oder eher der Zeit – und alles, was uns helfen könnte, wäre die Rückkehr der Zeitmaschine. Und solange die nicht zurückkommt, sind uns die Hände gebunden. Was bringt es also, sich künstlich darüber aufzuregen?“
„Vielleicht müsst ihr etwas vorbereiten. Etwas, was ihr dann auch mitnehmen müsst.“
„Glaube mir, Mark, wir sind bereit zu gehen. Und so gemütlich haben wir es uns in der Zeit auch nicht gemacht, in der wir hier waren. Es fehlte uns schlichtweg die Zeit dazu.“
Der Hüter musste einen Lacher unterdrücken. Es wäre unangebracht gewesen, nach allem was passiert war.
Von draußen erklangen hastige Schritte. Schließlich verdeckte ein dunkler Schatten den Eingang zum Loch. Alfredo’s Stimme erklang:
„Es scheint sich etwas zu ereignen.“
„Kommt die Zeitmaschine zurück?“, wollte der Hüter wissen, obwohl seine Frage unnötig gewesen wäre, da sich Geräusche vernehmen ließen, die unmissverständlich auf ihre Ankunft hindeuteten.
„Ja“, meinte Alfredo deshalb kurz angebunden. Ein Nicken wäre in der Dämmerung der Höhle kaum aufgefallen.
Seine Antwort brachte Bewegung in die Leute.
***
Als sie aus dem Loch herauskamen, stand Jane Esposito bei der Kutsche und sicherte in alle Richtungen. Sie trug eines der größeren Geschütze, den Riemen über die Schulter gelegt. Die Waffe im Anschlag. Es war etwas unhandlich für sie, aber es musste gehen. In dieser Situation war die Geschützstärke ausschlaggebend. Etwas Anderes hatte gegen einen Saurier keine reelle Chance. Der Ordensmeister, Ma Kirby und auch der Hüter nahmen es mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis, dass sie nun wieder etwas hatten, das sie auf der Futterkette etwas weiter nach oben brachte. Keiner sagte etwas dazu, aber ihre Gedanken bewegten sich auf den selben Bahnen.
Die Pistolen hatten alle eingesteckt. Deren Wirkung war mittlerweile jedem klar.
Alfredo half dabei, Kane zur Kutsche zu schleppen. Der war zwar wach, war aber nicht ansprechbar und wirkte völlig apathisch. Der Blutverlust hatte ihm schwer zugesetzt. Man hatte versucht so schnell wie nur möglich unter der Achsel eine Blutpresse anzubringen. Dann war noch sein Gürtel dazu verwendet worden, die Blutung direkt am Handgelenk zu stillen. Dummerweise gab es nichts, mit dem diese wirklich zu stoppen war. Es blutete am Schluss nur noch tröpfchenweise, aber eben immer noch. Auch die Ringe unter den Augen gaben ein deutliches Bild über seinen Gesundheitszustand ab. Ma Kirby hatte noch versucht, mit ihrem Aura Soma etwas auszurichten, aber da die Wunde offen war, würde Kane nur noch Chirurgie helfen. Wäre diese dann getan, konnten ihre Wundermittel helfen, die Regenerierung anzukurbeln. Nur mussten sie dazu erst einmal in ihre Zeit zurück.
Alfredo hatte Kane ein paar Meter geschleift, als Feldmanns Leibwächter mit schleppenden Worten etwas anzubringen versuchte. Es klang, als wäre er betrunken. Nach einigen Schritten zischte Alfredo ihm ungehalten zu, er solle endlich die Klappe halten.
Die Augen des Italieners zuckten ängstlich hin und her. Schweißperlen lösten sich aus dem Kopftuch, die ihm langsam über die Stirn in die Augen liefen. Da er keine Hand mehr frei hatte, wischte er diese mit einer heftigen Geste und einem unterdrückten Fluch an Kanes Schultern ab. Dadurch bekam der Kombi des TS-Mannes einen noch schmutzigeren Eindruck.
Hinter ihnen kamen gerade Ma Kirby und Dieter Feldmann aus dem Versteck gekrochen. Sie waren über und über mit Dreck verschmiert. Von den ehemals schwarzen Kombis war nicht mehr viel zu sehen. In ihrer Mitte trugen sie den Hüter. Er war so angeschlagen, dass ihm jeder Knochen weh tat. Mit Sicherheit kam er wieder auf die Beine, aber das würde noch Stunden in Anspruch nehmen. Zeit, die sie nicht hatten.
Aus dem Dschungel drang plötzlich Getöse auf. Gebrüll von Sauriern, vermischt mit Lärm von umfallenden Bäumen. Sie konnten von Glück sagen, dass sie nicht alle diese Tiere zu Gesicht bekamen, die sich da im Urwald rumtrieben.
Alfredo zuckte zusammen und blieb stehen. Er schaute in einem Anflug von Panik um sich, konnte jedoch nichts erkennen, während er den hin- und herschwankenden Kane festhielt. Sofort machte er wieder ein paar Schritte auf die Zeitmaschine zu. Den Verletzten zog er wie einen unartigen Hund mit sich. Er bekam mit, wie seine Vorgesetzte einen deftigen Fluch ausstieß.
„Shit!“
„Was ist?“, wollte er sofort wissen. Kane drückte er an die Außenwand der Kutsche, an die sich dieser mit all seiner Größe lehnte. Aus seinem Mund drangen Schmerzenslaute. Und er atmete röchelnd. Alfredo musste ihn aufrecht halten, sonst wäre er noch umgefallen.
Anstelle einer Antwort deutete Jane Esposito in den Innenraum. Alfredo folgte ihrer Geste, konnte jedoch nichts erkennen, das ihren Fluch gerechtfertigt hätte. Er war aber auch nicht in die Steuerung involviert gewesen, kannte sich da zu wenig aus.
Eine große Gestalt stellte sich neben ihn und ließ ebenfalls einen Fluch los.
„Was ist?“, wollte Alfredo erneut wissen, da sie ihm keine richtige Antwort geben wollte. Dieses Mal wandte er sich an Peronino. Dessen Gesicht glänzte vor Schweiß und sah geschwärzt aus, als wolle er sich auf den Kriegspfad begeben.
„Die Datumsanzeige ist zertrümmert worden.“
„Na und? Ich denke nicht, dass es unbedingt nötig ist, das genaue Datum zu wissen!“, herrschte Alfredo ihn an. „Es spielt ja wohl keine Rolle, ob wir an einem Montag oder an einem Donnerstag ankommen.“
„Das sicher nicht. Aber es erschwert die Sache.“
„Erschwert? Wovon redest du, Mann?“
Mittlerweile waren die restlichen drei dazugestoßen. Feldmann und Ma Kirby waren außer Atem, drückten sich an ihnen vorbei und legten den Hüter in den Eingang hinein. Ein Stöhnen entrang sich ihm, als sie ihn nach hinten auf den Boden legten. Sein Atem ging schneller als gewöhnlich.
„He, die eingebauten Bretter sind weg“, ließ sich Alfredo auf einmal vernehmen.
Sie schauten zuerst ihn etwas ratlos an, dann blickten sie in den Innenraum der Kutsche. Tatsächlich!
„Shit.“
„Wir hätten übereinander besser Platz gehabt“, knirschte Peronino zwischen den Zähnen hervor. Es sah aus, als habe er den Fluch runtergeschluckt, der seiner Feststellung gefolgt wäre.
„Jetzt wird es eng.“
„Irgendwie muss es gehen. Es muss einfach!“
Jeder wusste, dass stimmte. Es musste einfach irgendwie gehen ...
***
Gegenwart
Es war mitten am Nachmittag, als ein Team von TS-Leuten das Stockwerk an der Strada del Silencio in Palermo stürmte. Es handelte sich dabei um jenes Gebäude, das die Wohnung des Verräters Vincent Toneatti beherbergte.
Das Tageslicht war der beste Schutz, der sich ihnen bot, da das Gezücht der Schwarzen Familie sich am liebsten in der Nacht bewegte und seinen schauerlichen Dingen nachkam.
Sechs Militärjeeps kamen kurz vor dem Eingang des Wohngebäudes mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Ein Wagen kam leicht ins Schleudern, da er in ein Loch fuhr und wieder rauskatapultiert wurde. Es schrammte einmal kurz und heftig, als zwei der Jeeps aufeinander schlugen. Männer und Frauen stürzten aus den Wagen ins Haus, gehüllt in schwarze Uniformen. Sie ließen sich durch den Vorfall nicht vom Ziel abhalten.
Sie hielten ihre Waffen im Anschlag, bereit zu feuern. Sie waren auf alle Eventualitäten vorbereitet!
Es gab keine Befehle und auch sonst wurden keine Rufe laut. Jedes Vorwärtskommen gab man mittels Handzeichen weiter. Es war beängstigend, nur das Rascheln und Klappern von Kleidern und Stiefeln zu hören. Als hätte man den Soldaten die Stimmbänder entfernt!
Bewohner, die nicht schnell genug reagierten und sich in ihre Wohnungen verkrochen, wussten nicht, wie ihnen geschah, da man sie mit etwas nass spritzte, das Wasser sein musste. Jedenfalls roch es nach nichts. Aber bis dies geschah, behandelte man sie wie Terroristen oder noch Schlimmeres. Nur wusste niemand zu sagen, was das war, dieses Schlimmere. Anschließend waren sie für die Militäreinheit nicht mehr von Bedeutung und man ließ sie mit viel weniger Beachtung aus dem Haus führen.
Zwei Teams stürmten voran, wobei immer wieder ein Soldat zurückblieb, wenn eine Wohnungstür passiert wurde, und diese mit der selben wässerigen Flüssigkeit einspritzten, die zuvor bereits die Anwohner zu spüren bekommen hatten.
Dann gab es ein Krachen, als eine der Wohnungstüren um zweiten Stock aufgebrochen wurde. In der selben relativen Lautlosigkeit stürmten sie anschließend die Wohnung. Nach Minuten der Stille, kamen die Teams wieder zurück. Jeder der zurückgelassenen Soldaten verließ anschließend seine Stellung wieder, wenn das Team an ihm vorbei war. Danach folgte er der Gruppe.
Aus der dunkelgekleideten Truppe hatten fünf Personen ihre Waffen auf den Rücken geschoben und hielten nun andere Dinge in den Händen: Computer, Disketten und vor allem mehrere Kisten mit Papier.
Der ganze Spuk war so schnell vorbei, wie er begonnen hatte. Schnell, schmerzlos und vor allem in beängstigender Präzision. Dann waren nur noch die quietschenden Reifen auf dem Asphalt zu vernehmen, und die sechs Jeeps verloren sich im Verkehr von Palermo.
Zurück blieben verwunderte Passanten und Anwohner, die sich nicht ganz erklären konnten, was das gerade gewesen war.
Die Gerüchteküche wurde sogleich geöffnet.
***
Vergangenheit
Das tiefe, grollende Geräusch kam näher! Kehrte der T-Rex zurück? Machte er wieder seine Runde, weil die letzte Mahlzeit so einfach zu beschaffen gewesen war? Hatte er denn schon wieder Hunger?
„Warum ist die Zeitmaschine zurückgekommen?“, wollte der Hüter wissen. Sie hatten ihn hineingepfercht und er hatte, so gut er eben konnte, mitgeholfen. Dann war Kane an die Reihe gekommen. Er hatte fast den Anschein erweckt, als würde er sich gegen die Berührungen wehren. Zu einer wirklichen Gegenwehr war er viel zu schwach gewesen, und diese hätten sie auch nicht wirklich akzeptieren können.
Ma Kirby fiel beim Reinbugsieren auf, dass Kanes Haut glühte. Und der Armstumpf begann seltsam zu riechen. Als würde etwas verfaulen. Sie beschloss trotzdem etwas von ihren Mittelchen auf und um die Wunde zu tröpfeln.
Der Hüter hatte auch beim Leibwächter Hand angelegt. Seine Schusswunde machte ihm aber bald schon einen Strich durch die Rechnung und er gab das Unterfangen auf. Alfredo war an Kane vorbeigestiegen und hatte ihn unter wütendem Schnaufen an die richtige Stelle bugsiert.
Erst drei Leute waren drin, und das Scheißding war schon fast voll.
„Das macht sie immer“, kam Ma Kirby endlich auf Marks Frage zu sprechen. Sie war zurückgetreten und wischte sich Schweiß von der Stirn. „Wenn sie keinen bestimmten Befehl bekommt, geht sie an den Ausgangspunkt zurück.“
„Ich dachte, das wäre die Gegenwart?“, warf Dieter Feldmann ein.
Sie schüttelte den Kopf. „Das wäre dann vielleicht das nächste Ziel, wenn wir nicht an ihr rumschrauben und sie einfach stehen ließen.“
Erneut brachte ein schauerliches Geräusch den Urwald zum Erzittern. Alle Köpfe ruckten herum, als hätten sie es vorher einstudiert. Vor allem machte es ihnen klar, wo und wann sie sich befanden!
„Ich denke nicht, dass wir Zeit haben diese Theorie auszutesten!“
Aus dem Inneren der Postkutsche schrie Alfredo: „Mir wäre wohler, wenn ihr das Kaffeekränzchen auf später verschieben würdet. Mensch, ich will so schnell wie möglich von hier verschwinden!“
„Was ist mit dem Verräter?“, hielt ihm Mark Larsen vor.
„Der ist mir im Augenblick scheißegal“, spie er dem Hüter entgegen.
„Alfredo!“, tadelte Feldmann den Italiener. Seine Stimme klang scharf und brachte nach einem Sekundenbruchteil auch den bezweckten Effekt.
„Ist doch wahr, Dieter“, warf Alfredo schon etwas weniger aufgebracht ein. „Was geht uns der Typ an?“
„Vielleicht gar nichts, aber unter Umständen sogar sehr viel.“
Der Italiener wollte zu einer neuen Frage ansetzen, doch Dieter Feldmann unterbrach ihn mit einer Geste. Er wandte sich Ma Kirby zu, die gerade in die Kutsche steigen wollte. Feldmann tippte ihr an die Schulter.
„Wie groß ist die Chance, dass der Verräter in der Vergangenheit etwas ausrichten kann, und wir diesen Effekt dann spüren? Hätten wir denn nicht schon längst die Auswirkungen sehen müssen?“
Sie blieb kurz im Eingang stehen, um sich sogleich ins gedrängte Innere zu begeben. Dieter Feldmann folgte ächzend nach. Die Zeitmaschine wurde noch weiter in den Dreck gedrückt. Es gab ein matschiges Geräusch.
„Nicht unbedingt. Es kann gut sein, dass die Effekte, die er ausgelöst hat, nur noch nicht bis zu uns aufgeschlossen haben.“
„Wie können wir das verstehen?“, fragte Jane Esposito von draußen. Sie hatte die Frage gestellt, ohne wirklich in die Richtung von Ma Kirby zu blicken. Ihre Augen fixierten einen Punkt im Dschungel. Da war nichts zu erkennen. Noch nicht! Es war jedoch die Stelle, aus der das Gebrüll kam.
„Es ist, wie wenn man einen Stein ins Wasser wirft. Es dauert einen Augenblick, bis sich die Oberfläche des Gewässers überall zu kräuseln beginnt.“
„Woher willst du das wissen?“, fuhr Alfredo sie an.
„Ruhig, Mann“, winkte Ma Kirby ab.
„Er hat aber recht!“, setzte Feldmann ein. „Was du da von dir gibst, ist bestenfalls eine Theorie.“
Ma Kirby nickte.
„Das stimmt. Aber Dwight Leach meinte ...“
„Der ist aber nicht hier!“
„Aber es ist das Einzige, was irgendwie Sinn macht“, hielt sie ihnen allen entgegen.
Sie blickten sie überrascht an. Für einige Sekunden herrschte Stille. Es war, als würde der Urwald den Atem anhalten.
„Und mit solchen Theorien schickt ihr uns in die Vergangenheit? Ohne Fakten zu haben? Ohne alles ausgetestet zu haben?“
„Leute, Leute! Quatscht von mir aus, soviel ihr wollt, aber verdammt noch mal später!“, warf Alfredo ungehalten ein. Er beobachtete mit zusammengekniffenen Augen die Szene.
„Haben wir eine Chance, das zu verhindern, wenn Dwight’s Assistent schon was eingeleitet hat? – Mal davon ausgegangen, dass die Theorie zutrifft.“
Ma Kirby zuckte die Schultern.
„Wenn er in die Vergangenheit reiste – und davon können wir ausgehen – hat er bereits alle Hebel in Bewegung gesetzt.“
„Und warum sind wir dann noch da?“ Als niemand antwortete: „Ich meine: ‚Tod der Menschheit’ ist doch sehr unmissverständlich, oder?“
„Wenn wir es nicht ausprobieren, werden wir es nie erfahren. Und vielleicht ist es ja gerade diese Mühe, die wir uns machen, die die Tat des Verräters verhindert. Aber wir werden es erst erfahren, wenn wir es getan haben.“
„Warum gehen wir nicht einfach zurück in die Gegenwart und organisieren uns da neu“, warf Alfredo ein. Seine Stimme klang alles andere als bestimmt. Als er mitbekam, wie man ihn anstarrte, fragte er: „Was ist? Ich sage nur, was einige von euch denken.“
„Alfredo hat da einen guten Punkt angesprochen“, bekam er vom Hüter unvermittelt Hilfe. „Und wie es aussieht, käme Kane diese Reise in die Gegenwart sicherlich gelegener, als wenn wir unsere Rückkehr verzögerten. In seinem Zustand ist wirkliche und echte Hilfe gefordert.“
„Danke, Mann.“
Erleichterung war in Alfredos Stimme zu hören. Erleichterung, die sogleich in einem Ausruf von Jane Esposito unterging und wie eine Seifenblase zerplatzte.
„Shit. Er kommt zurück!“
„Wer kommt zurück?“, schrie Alfredo, obwohl er wusste, wer mit diesen Worten gemeint war. Nicht jetzt, brüllte es in seinem Inneren. Nicht jetzt!
Esposito drückte sich in den Raum hinein und wurde anschließend noch von einer weiteren, breiteren Figur gestoßen, als Peronino hineindrängt und die Tür hinter sich zu riss. Die großkalibrige Waffe ließ er einfach fallen. Sie fiel in der Kutsche zu Boden, aber erst, nachdem sie an mehreren Körperteilen anschlug.
„Aua.“
„Shit.“
„Uff“, sagte jemand in den Raum, der unsanft gestoßen wurde. Die ganze Kutsche begann zu schwanken.
„Kann jemand das Vieh sehen?“, wollte Jane Esposito wissen, während sie an den Füßen vorbei nach der Knarre tastete.
„Mir wäre wohler gewesen, wenn ich den Saurier nie mehr zu Gesicht bekommen hätte. Nie mehr ist noch früh genug“, flüsterte Ma Kirby vor sich hin, die mit geschlossenen Augen von allen Seiten bedrängt wurde.
„Du bist keine Hilfe, Ma“, konnte sich Esposito nicht verkneifen zu sagen. „Kann jemand das Vieh sehen?“, fragte sie energischer in die Runde.
„Direkt vor mir“, kam der Hüter der Aufforderung nach. Schmerz und Müdigkeit waren aus seiner Stimme verschwunden. Es ging ums Überleben.
„Was tut er?“
Sie versuchte, sich in seine Richtung zu lehnen und einen Blick zu ergattern, aber es war zu eng, um sich zu bewegen. Zudem stand die Antwort des Hüters immer noch aus.
„Was er tut, zum Teufel noch mal?“
„Er hat sich hingestellt und macht Tai Chi!“
Sie hieb dem Hüter die Faust auf die Beine, dass er aufschrie.
„Aua! Was soll das?“
„Hör zu, du Hüter. Noch so eine dumme Antwort, und du fliegst raus. Vielleicht braucht er noch einen Partner, der ihm dabei hilft. Was hältst du davon? – Was tut er?“
Sie fixierte ihm mit einem Ausdruck in den Augen, der den Hüter augenblicklich zur Antwort drängte.
„Er ist stehen geblieben und scheint auf etwas zu warten.“
Jane Esposito wollte erneut zu einem Schlag ausholen, als er nachwarf:
„Es stimmt. Schau doch selbst!“
Mark hatte sich mühsam erhoben und wies demonstrativ auf seinen Platz, während er sich an der Deck abstützte.
Es war einfach zu eng, als dass sie die Plätze hätten tauschen können. Der Hüter setzte sich wieder hin, als Jane Esposito den Kopf schüttelte.
„Machst du schon wieder Witze, Mark?“
„Nein, Dieter. Der T-Rex hält seinen Kopf über dem Boden ...“ Und nach einer Sekunde des Überlegens: „Haben Saurier einen ausgeprägten Geruchssinn?“
„Woher soll ich das wissen?“
„Irgendjemand?“, hakte der Hüter nach, aber alle schüttelten den Kopf oder zuckten mit den Schultern.
Auf dem Boden erschwerte Peronino die Sache mit dem Platz noch, da er vor den Schaltern und Hebeln kniete und eine Einstellung nach der anderen vornahm. Etwas rastete ein und die Maschine begann zu summen.
„Was hast du getan?“, fauchte Alfredo und schlug ihm auf den Rücken, damit er auch mitbekam, von wem die Frage stammte.
„Willst du etwa bleiben?“, drang Peroninos Stimme aus dem Fußbodenbereich. Sie klang gereizt.
„Oh, shit!“
Köpfe ruckten in die Richtung vom Hüter, der aus dem Fenster blickte und unter der Kruste von Dreck erbleichte.
„Warum sagt mir etwas in meinem Bauch, dass ich dieses ‚Oh, shit’ nicht mag?“, fragte Dieter Feldmann in die folgende Stille hinein. Ein Grollen aus der Magengegend unterstrich seine Worte noch.
„Er kommt. Er hat uns entdeckt.“
„Schnell?“, wollte Feldmann wissen.
„Schneller!“
Und es war nicht genau klar, ob es eine Antwort auf die Frage war, die ihm gestellt worden war, oder ob der Hüter damit Peronino anspornen wollte.
Nun war es am Ordensmeister, ein „Shit!“ auszustoßen.
Ein Geruch begann, sich im engen Raum zu verteilen, der keineswegs der Duft nach Rosen war.
„Oh, nein!“
„Pah.“
„Hat da jetzt einer einen fahren lassen?“, rief Alfredo aus.
„Klar, oder denkst du etwa, ich rieche ständig so?“, Feldmann gab dies gereizt von sich. Und an den TS-Mann am Boden gerichtet:
„Jederzeit ist eine gute Zeit, Flavio.“
„Ich hab’s gleich.“
„Nun mach schon!“
Der Boden begann zu zittern und wurde mit dem triumphierenden Gebrüll des Sauriers zu einer schauerlichen Kulisse.
Ma Kirby vergrub den Kopf in ihren Händen. Die Erinnerung war zu frisch! Sie begann am ganzen Körper zu zittern.
„Ich brauche einen Kanone. Eine Kanone“, verlangte auf einmal der Hüter.
„Die nützen nichts“, wurde ihm zur Antwort gegeben.
„Ist mir scheißegal. Ich will eine Kanone.“
Larsen schaute zur Kutsche hinaus. Seine Augen wurden immer größer. Jemand drückte ihm eine Pistole in die Hand, die er sofort nach außen richtete und drauflos feuerte. Fünf Schuss lösten sich krachend und wimmerten davon. Es klang wie in einem alten Western.
Schließlich fuhr der Abzug auf Metall.
Dann erfolgte ein Ruck! Sie schrien alle auf. Wenn der Saurier die Zeitmaschine zerfetzte, war alle Hoffnung verloren! Dann brauchten sie sich auch keine Gedanken mehr über die Heimreise zu machen. Der T-Rex würde keinen von ihnen entkommen lassen. Er würde dafür sorgen, dass sie alle gemeinsam und sehr schnell starben. Hoffentlich ...
Als sich schließlich Peronino triumphierend mit einem „Ab die Post!“ erhob, war allen klar, dass sie unterwegs waren. Erleichterung machte sich breit.
„Mann, das war knapp“, übertönte Jane Espositos Stimme die der anderen. „Gut gemacht, Soldat.“
Sie nickte ihm aufmunternd und, wie es schien, sehr erleichtert zu.
„Ich hoffe, es funktioniert“, gab er bescheiden zurück.
„Was soll das heißen: Ich hoffe, es funktioniert?“
Das Gesicht seiner Vorgesetzten war wieder eine Nuance bleicher geworden.
„Genau das, was ich gesagt habe. Es ist nicht wirklich eine Wissenschaft, die wir genau kennen. Oder?“
Sie schüttelte den Kopf, machte aber gleichzeitig eine Geste der Erleichterung. „Ich dachte schon ...“
„Wir gehen zurück“, unterbrach Alfredo. „Mann, ich könnte dich küssen.“
„Sachte, sachte. Wir gehen zurück. Das stimmt“, warf Peronino ein, „aber in die Vergangenheit.“
„WAS?“
„Weshalb denn?“
„Verdammt“, sagte Mark Larsen. „Das wird ein verdammt langer Weg nach Hause.“
„Es ist so, wie es Ma Kirby vorhin schon mal erwähnte: Die Maschine wäre selbständig in die Gegenwart zurückgesprungen. Nur hatten wir nicht die nötige Zeit, das abzuwarten.“
„Und wo gehen wir jetzt hin?“, wollte seine Vorgesetzte wissen.
„Ja, hoffentlich springen wir nicht einfach irgendwohin und finden nie mehr nach Hause zurück“, maulte Alfredo.
„Lasst ihn doch mal aussprechen, Leute.“
„Da die Datumsanzeige zerstört wurde, konnte ich mich nur anhand vom letzten Sprung orientieren. Wir werden diesen genau zurückverfolgen und an der selben Stelle herauskommen, wie der Verräter es getan hat.“
„Und wie lange wird die Reise dauern?“, wollte Ma Kirby wissen.
Alles blickte den knienden Treasure-Security-Mann an, der einmal mit den Schultern zuckte.
„Ich habe absolut keine Ahnung. Die verbrauchte Energiemenge lässt sich für mich nicht in Worte fassen, geschweige denn in eine verständliche Zeitangabe pressen. Es geht so lange, wie die Kutsche eben braucht. Weshalb?“
„Es wäre deshalb besser, wenn wir uns darüber schnell Gedanken machen. Denn je weiter wir in Jahren reisen, desto gefährlicher wird es.“
In der Aufregung war das total vergessen worden!
„Wer will eine Spritze?“, rief Jane Esposito gespielt überschwänglich.
Sofort fuhren alle Hände in die Höhe.
„Dann sucht gefälligst danach!“
Augenblicklich kam Bewegung in die Anwesenden. Jedenfalls in die, die sich bewegen konnten.
***
Gegenwart
Als sich Fabio Cassani und Matt Harper ins Zimmer schleichen wollten, in dem Aldega Derron lag, trat gerade eine Krankenschwester heraus. Sie schob einen Karren mit Essen vor sich her, der jedoch unangetastet war. Damit stoppte sie Harper, der sie passieren lassen und sich still an ihr vorbeidrücken wollte. Er trug noch immer die schwarze Kleidung der TS, und so war sein Auftritt gleich zu Beginn zum Scheitern verurteilt, da er an diesem Ort ungefähr so heraus stach, wie ein Clown auf einer Beerdigung. Alles war weiß und roch antiseptisch und so porentief rein.
„Wo wollen denn Sie hin, meine Herren?“, fragte die Schwester herablassend und stellte sich im Türrahmen auf, als wolle sie da übernachten. Sie war keine Schönheit, aber nicht jede Krankenschwester konnte dies sein. Sie machte ihren Job sicher gut, und falls sie dessen mal überdrüssig wurde, konnte sie immer noch als Bodyguard oder Rausschmeißer ihre Brötchen verdienen. Die Statur dazu besaß sie jedenfalls.
„Nur schnell zum Sicherheitschef.“
Damit deutete Harper auf das einzige Bett, das besetzt war.
Sie machte ein finsteres Gesicht, das jeden normalen Menschen in Angst und Schrecken versetzt hätte, der noch nie einem Monster gegenüberstanden war. Was in diesem Fall jedoch nicht zutraf und deshalb auch keine Wirkung auf die beiden Besucher machte. Verschränken der Arme und Schürzen der ungeschminkten Lippen folgten auf dem Fuß, riefen aber bei diesen Herren auch nicht den gewünschten Effekt hervor.
„Die Besuchszeiten sind vorbei und der Arzt hat ihm Ruhe verschrieben“, gab sie sich schließlich einen Ruck und formulierte ihre Abneigung in Worte.
Dabei machte sie ein Gesicht, als würde sie damit die Gebote Gottes von sich geben und niemand – jedenfalls kein Mensch bei rechtem Verstand – würde diese auch nur für eine Sekunde in Frage stellen.
Fabio Cassani tat es jedoch, das heißt, er versuchte es zumindest, kam aber nicht weit. Bereits beim ersten Wort verfinsterte sich das Gesicht der Schwester noch mehr. Matt Harper nahm es mit Erstaunen zur Kenntnis.
„Es wird nicht lange ...“
„Papperlapap!“, schnitt sie ihm das Wort ab. „Das sagen sie alle ...“
„Aber wir meinen es wirklich ernst!“
Und damit drückte Matt Harper die Schwester mit einem freundlichen Grinsen aus dem Eingang raus. Mit einem Klaps auf den verlängerten Rücken – der Gott weiß was bedeuten mochte – schubste er sie soweit mit ihrem Wagen vorwärts, dass Cassani die Tür hinter ihr schließen konnte. Sie war so überrascht, dass sie erst nach einer Schrecksekunde zu einer Reaktion fähig war. Anschließend folgte ein heftiges Sträuben, in dem beide Männer beinahe die Tür nicht zubrachten.
„Ts, ts, sie scheint vollkommen die Ruhe vergessen zu haben, die der Doktor verordnet hat.“
Matt Harper verzog den Mund ganz dramatisch, als er sich mit dem Rücken gegen die Tür drückte.
„Mein Gott! Mit der Schwarzen Familie weiß man wenigstens immer, woran man ist“, klagte er mit einem Zwinkern in den Augen.
Cassani nickte nur.
„Menschen muss man immer wieder neu einschätzen“, fuhr Harper fort. „Und abknallen darf man sie nur im Extremfall.“
Den erstaunten Blick Cassanis bekam er schon nicht mehr mit. Wie er das wohl gemeint hatte ...
Aldega Derron schaute Cassani mit einem müden und verkniffenen Auge an, als er sich vorsichtig auf das Bett setzte, während Matt Harper in diskreter Entfernung etwas Abstand hielt, mit dem Rücken zum Bett. Das andere Auge vermochte Derron gar nicht erst zu öffnen. Mit einer Hand tastete er nach der Steuerung und hob den Kopfbereich des Bettes etwas an. Ein leises Sirren begleitete das Aufrichten.
Die Jalousien waren heruntergezogen worden und tauchten den Raum in ein trübes Dämmerlicht. Nur in der Nähe des zerwühlten Bettes herrschte eine Helligkeit, die genauere Details erkennen ließ.
„Drückeberger“, begrüßte Fabio den Sicherheitschef des Centers herausfordernd, wobei seine Stimme verriet, dass er froh war, ihn überhaupt noch lebend anzutreffen. „Du hast uns ganz schön auf Trab gehalten.“
Derron winkte mit einer Geste ab, die seine Ausgezehrtheit erahnen ließ. Die Infusion am Arm gab ihm für diese Bewegung genügend Spielraum. Zudem hatte er schon vor dem Ereignis nicht ausgesehen wie ein Ausbund an Gesundheit, erinnerte sich Cassani.
„Wie geht es meinen Leuten?“
„Den Umständen entsprechend.“
„Was heißt das?“
So begann Fabio Cassani in für ihn typischen knappen Worten zu schildern, was vorgefallen war, seit ein Kraftfeld die Halle eingehüllt hatte. Das heißt, eigentlich diente er in erster Linie als Stichwortgeber für Matt Harper, der hinzugetreten war und anschließend ausführlicher auf das Vorgefallene einging. Soweit es ihnen natürlich bekannt war.
Er ließ auch das Detail nicht aus, dass einige von Derrons Leuten ihr Leben verloren hatten.
Der Sicherheitschef hörte aufmerksam zu und nickte gelegentlich, um anzuzeigen, dass er noch wach war, da er dies mit geschlossen Augen tat. Erst als Cassani Matt Harper mit einer Bemerkung unterbrach, dass es für dieses ausgedehntere Experiment wohl zu früh gewesen sei, blickte er dem Großmeister in die Augen und meinte:
„Das war nicht unsere Kutsche, die das angerichtet hat.“
Für einen Augenblick saß Fabio Cassani bewegungslos da. Es war ihm anzusehen, dass es hinter seiner Stirn fieberhaft arbeitete. Derron konnte sehen, wie sein salopp hingeworfener Satz verarbeitet wurde. Möglichst mit allen Eventualitäten.
„Was heißt, nicht unsere Kutsche?“
„Was hat es eigentlich mit dieser Kutsche auf sich“, warf Harper ein. Wie konnte man wegen so einem Ding überhaupt ein solches Aufsehen machen?
Der Großmeister winkte jedoch mit einer Hand in seine Richtung und brummte: „Später.“
„Wie ich es gesagt habe: Nicht unsere!“, beteuerte Derron.
„Wie viele gibt es denn?“, erboste sich Cassani.
„Keine Ahnung. Unsere wurde jedenfalls entführt.“
„Was?“
Er war ein einziges, leises Wort, das der Großmeister flüsterte. Doch so emotionslos ausgesprochen, dass Derron beinahe fror.
Er konnte nur nicken.
„Was wurde entführt?“ erdreistete sich Harper zu fragen.
„Die Zeitmaschine“, knurrte Cassani und stand vom Bett auf. Er setzte die randlose Brille ab, hielt sie in der linken Hand und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger der rechten die Nasenwurzel.
„Zeitmaschine?“ Matt Harper hatte sich langsam dem Großmeister zugewandt, als das Zauberwort gefallen war. Auf seinem Gesicht spiegelte sich Unglauben. Zusätzlich zuckten die Lippen, als stünde er kurz vor einem Lachanfall. Wenn er diese Ereignisse von jemand anderem gehört hätte, dann würde er sich spätestens jetzt vor Lachen am Boden kugeln. „Zeitmaschine?“, wiederholte er stattdessen vorsichtig, aber damit machte er nicht mehr auf sich aufmerksam, als zuvor auch schon.
Die Finger noch immer an der Nasenwurzel, sagte der Großmeister: „Wie konnte das geschehen?“
„Ist sie denn mittlerweile nicht zurückgekehrt?“, wollte Derron wissen.
Cassani schüttelte den Kopf.
„Nein!“
Der Großmeister setzte sich die Brille wieder auf und musterte beide Männer abwechselnd mit eiskalten Blicken. Hinter seiner Stirn arbeitete es ununterbrochen. So schnell als möglich versuchte er die Information abzulegen und darauf seine Fragen auszurichten.
„Warum eine zweite Zeitmaschine?“
Derron suchte nach den passenden Worten.
„Warum nicht? Es schien mir die logischste Folgerung.“
„Sah sie anders aus?“
Der TS-Chef schüttelte den Kopf.
„Genau gleich?“
„Jetzt, wo du mich darauf ansprichst, kann es sich durchaus um die selbe gehandelt haben. Ich nahm es einfach an, weil ja unsere zu dem Zeitpunkt bereits unterwegs war.“
Der Chef von Team ALPHA wollte erneut etwas zum Thema erfragen, aber Cassani winkte wieder ab.
„Nicht jetzt.“
„Aber, Sir ...“
Cassani warf Harper einen strengen Blick zu, der ihn augenblicklich verstummen ließ.
Und an Aldega Derron gewandt: „Was ist passiert, Derron?“
Als sich der Großmeister wieder auf das Krankenbett setzte, war das das Startsignal für den Sicherheitschef, endlich auch seinen Teil darzulegen, der vorgefallen war. Er machte dies, indem er sich gerade aufsetzte und nach einem tiefen Atemzug zu reden begann. Je mehr er sprach, desto mehr fiel die Erschöpfung von ihm.
***
Vergangenheit
Die Welt, die Mark Larsen zuallererst zu Gesicht bekam, als er sich die letzten Schlaffetzen aus den Augen rieb und sich aufrecht hinsetzte, war eine junge Welt. Es war anders, als da, wo er herkam. Da hätte es eines feinen Gehörs bedurft, um das Geschrei der Erde zu vernehmen. Zu hören, wie sich die Welt fühlte, weil der Mensch sie bis auf den letzten Tropfen auspresste. Und sich dabei auf dem Welttheater so benahm, als hätte er noch eine zusätzliche Erde voller atemberaubender Schönheit zur Reserve in der Hosentasche!
Hier schrie sie ihm ohne Einschränkung ihre Pein entgegen. Es war eine Welt, die sich in der Entstehung befand. Eine Welt, die ihre Gebärschmerzen mit aller Kraft hinausschrie.
Ein Sturm peitschte ihm kübelweise Regen ins Gesicht. Es war ein Gefühl, als befände er sich unter Wasser. Er musste sich die Hände vor den Mund halten, damit der Eindruck zu ertrinken nicht aufkam. Es war mühsam, da der Schmerz in der Schulter sich wieder verstärkt hatte. – Von der Müdigkeit gar nicht zu sprechen, die ihn gefangen hielt. Natürlich hatte er gerade Millionen von Jahren verschlafen, aber der Körper verlangte nach wirklicher Ruhe.
Am Himmel zuckten unablässig Blitze auf. Sie strichen sowohl über das Firmament, als dass sie auch mit donnerndem Getöse ins Wasser fuhren. Riesige Fontänen waren das Ergebnis und spritzten in der tobenden See auf, die auch sonst in riesigen Aufruhr war.
Mark Larsen ging jedes Mal in die Knie, wenn ein Lichtspeer das Land zum Zittern brachte, auf dem er halb stand und halb kauerte. Die Einschläge kamen wie Explosionen an ihn heran.
Der Himmel über ihm trug die dunkelste Farbe von Trauer, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Der Wind, der diese Wolken vor sich hertrieb, als müsse er noch irgendwo hin, rüttelte und zerrte an seiner Person, obwohl er sich knapp über dem Boden hielt, um keine Angriffsfläche zu bieten.
Die Luft war mit Schwefel und Ozon angefüllt. Nur kurz fragte er sich, wie es hier wohl um das Atmen bestellt wäre, wenn die Regengüsse nicht ständig die Luft reinigen würden. Wahrscheinlich furchtbar. Er musste husten, weil er sich am Wasser verschluckte.
Wenn er zurückblickte, konnte er die Postkutsche kaum erkennen, auch wenn ihn nur fünf Schritte von ihr trennten.
Als der Regen ein paar Sekunden nachließ, sah er die Zeitmaschine nur noch mit Kane besetzt. Der Hüter wollte sich gerade abwenden und nach den anderen suchen, als Jane Espositos Kopf neben dem Leibwächter hochkam. Ihr Gesicht zeigte Bestürzung, stellte er ohne Überraschung fest. Kane musste es erneut schlechter gehen.
Er schrie ihr etwas zu, das sie trotz der kurzen Distanz nicht verstehen konnten. Dann setzte der Regen wieder ein, aber etwas gemäßigter als zuvor.
Jemand packte ihn an der Schulter. Obwohl es die gesunde war, zuckte er mit einem Schrei auf den Lippen zusammen. Wenn er einen Herzschrittmacher hätte, dann wäre ihm dieser gerade um die Ohren geflogen.
Es war nur Ma Kirby. Sie bedeutete ihm, dass er sich beruhigen solle. Eine Unterhaltung war unter diesen Umständen sinnlos. Auch sie war klatschnass, als wäre sie mit den Kleidern im Meer schwimmen gegangen. Die Haare hingen ihr in Strähnen ins Gesicht.
„Das musst du sehen“, schrie sie ihm zu, als sie bis auf wenige Millimeter zu ihm herankam.
„Was?“, wollte er wissen, aber sie hatte sich schon abgewandt. Er griff nach ihr, hielt sie zurück und wiederholte seine Frage noch einmal. Statt einer Antwort winkte sie ihm zu, er solle ihr folgen. Was er dann auch tat.
***
Gegenwart
Plötzlich drang Poltern und zweimaliges Niesen aus dem kleinen Zimmer zu ihr und Billie zuckte zusammen, als wäre sie bei etwas erwischt worden, das verboten war oder doch wenigstens ungern gesehen wurde. Bevor sie sich jedoch Gedanken darüber machen konnte – und vor allem über das Schamgefühl, das sie dabei überkam – wirbelte sie mit der Pistole in der Hand zur Badezimmertür heraus. Ein Schrei der Entrüstung entrang sich ihr dabei. Bevor sie jedoch etwas sehen konnte, blendete sie ein helles Licht, das mit einem saugenden Geräusch blitzschnell wieder verschwand. Dann herrschte wieder Dunkelheit. Abgesehen von den farbigen Punkten auf ihrer Netzhaut.
Billie ließ sich gegen die Wand fallen und strich sich mit der freien Hand über die Stirn. Wurde sie verrückt? War es das, was Samuels Verschwinden und die Trauer in ihr ausgelöst hatten?
Wie viele Menschen mussten sich mit dem Verlust einer geliebten Person abfinden? Wie viele Menschen davon wurden besser damit fertig als sie? Nur mussten sie auch nicht Tag für Tag den Anblick des Menschen ertragen, der diese Ereignisse ausgelöst hatte: Dwight Leach. Der Gedanke an ihn brachte die Gefühle in ihr wieder zum Kochen. Wie gut das doch getan hatte, ihm mit der Waffe eine zu verpassen, ohne dass Derron etwas dagegen hatte tun können.
Hoffentlich war der Wicht bald wieder wach, damit sie ihn sich vorknöpfen konnte. Sie würde ihn schon dazu bringen, nach ihrer Pfeife zu tanzen und endlich zu reden. Sobald sie mit ihm fertig war, würde sie genug Material haben, um seine Biografie schreiben zu können! Und es würde ein sehr trauriges Buch werden!
Das Geräusch, das aus dem Bad drang, war kaum zu vernehmen. Und trotzdem registrierte sie es irgendwie. Aber erst, als sie das Gewicht einer Hand auf ihrer Schulter spürte, kombinierte sie diese zwei Sachen. Und gleichzeitig durchfuhr sie der heftigste Schreck, den sie jemals zuvor gefühlt hatte. Sie wirbelte herum, riss die Pistole hoch und bekam große Augen. Der Anblick, der sich ihr bot, war zu überraschend! Noch im Fallen und Drehen begriffen, begann ein hart antrainierter Automatismus die Kontrolle über ihren Körper zu übernehmen: Die Waffe spuckte Kugeln, und wie sie das mitbekam, schrie sie ein Wort, das aus ihrem tiefsten Innern zu kommen schien: „NEIN!“
Dann schlug sie auf dem Boden auf ...
***
Vergangenheit
„Was tut er da?“, fragte der Hüter Minuten später Ma Kirby.
Sie hatte ihn an eine Klippe gebracht, die ungefähr zwanzig Meter weiter unten ins Meer mündete. Eine unruhige See zeigte sich hier, die immer wieder wuchtige Brecher an Land warf. Als wolle das Wasser Land zurückdrängen. Weil es das nicht fertig brachte, boten die Wellen immer mehr Wucht auf, um es vielleicht doch noch zu schaffen. Steter Tropfen höhlt den Stein, oder so in der Art ...
An dieser Stelle wartete bereits Dieter Feldmann auf sie. Ungeduldig hüpfte er von einem Bein aufs andere. Es sah komisch aus. Als wäre es höchste Zeit, pinkeln zu gehen.
Der Hüter bekam mit, wie Ma Kirby mit Gesten etwas erfragte, da auch hier die Umgebung toste und jeden Wortfetzen einer Unterhaltung vom Mund riss. Man musste sich schon gegenüberstehen, um etwas aus der Lippenbewegung ablesen zu können. Feldmann deutete nach unten. Mark Larsen wandte sich der angegebenen Richtung zu. Da waren einige Meter Strand, bevor das Land in Fels überging und an Höhe zulegte. Dort konnte er eine Figur ausmachen. Auch wenn sie weit weg war und zum Teil vom Wasser bis unter die Knie umspült wurde, sah er doch, dass sie keine TS-Uniform trug.
Augenblicklich beschleunigte sich sein Pulsschlag. Er rief etwas, tippte Feldmann und Ma Kirby aufgeregt an. Sobald sie zu ihm schauten, rief er: „Der Assistent. Das ist er!“
Beide nickten mitleidig. Das hatten sie schon längst selber herausgefunden, kam dem Hüter in den Sinn.
Feldmann lenkte seine Aufmerksamkeit weiter nach rechts, gegen den Felsen zu. Da sah er nach einiger Zeit, dass sich auch dort etwas bewegte. Der Regenfall erschwerte das Erkennen ungemein, aber es mussten Alfredo und Peronino sein, die sich dort einen Weg nach unten suchten. Bei diesen Verhältnissen musste es ein gefährlicher Weg sein, den sie sich da ausgesucht hatten. Die Felsen mussten glitschig und unberechenbar sein.
Sobald er sich wieder dem Verräter zuwandte und zu beobachten begann, fiel ihm auf, dass dieser den Strand hoch und runter lief. Aber nicht einfach so. Er gebärdete sich dabei, als würde er zu einer Musik tanzen, die nur er hören konnte. Es war jedoch kein ruhiger, sonder ein wilder und ausgelassener Tanz. Beinahe wie Pogo: Leicht den Oberkörper gebeugt, die Knie fast bis zu den Ohren hochgerissen, und mit den Händen hin- und herfuchtelnd.
So was hatte er bis jetzt nur in Konzertsälen gesehen. Obwohl es unangenehm war, wenn man sich inmitten einer solchen Meute wiederfand, die das Pogen als ausgelassenes Tanzen bezeichneten, passte es dort doch eher hin als hierher.
„Was zum Geier tut der da?“
Als niemand darauf einging, tippte er die anderen zwei an. Anschließend drängte er sie näher zu kommen. So nahe, dass sie alle mitbekamen, was er sagte.
„Was macht er da?“, schrie er.
„Ein Freudentanz?“, gab Ma Kirby mit einem fragenden Lächeln von sich.
Dieter Feldmann schüttelte den Kopf.
„Könnt ihr euch an den Ausspruch erinnern, als er die Zeitmaschine entführte?“
Beide nickten.
„’Tod der Menschheit’“, wiederholte er, um ihnen die Worte ins Gedächtnis zu rufen. „Was glaubt ihr, was sich da gerade aus dem Meer begibt?“
Sie lösten sich voneinander um genauer hinzuschauen. Auch nach Minuten konnten sie nicht wirklich etwas ausmachen. Von dieser Warte aus war der Strand unberührt. Zudem spülte das Meer immer wieder Wasser an Land, dass unter den wechselnden Lichtverhältnissen das Sehen zusätzlich noch erschwert wurde.
Sie kamen wieder zueinander.
„Keine Ahnung“, gab der Hüter von sich.
„Ich denke mir, dass unser Verräter ein Darwinist ist“, begann Dieter Feldmann seine Ausführung.
„Ein was?“, vergewisserte sich der Hüter. Er hatte sich bei dem Wetter wohl verhört.
„Darwinist!“, wiederholte Feldmann.
„Evolutionstheorie und so?“, suchte auch Ma Kirby eine Bestätigung, dass sie auf dem richtigen Weg war.
„Genau. Und sein Ausspruch lässt darauf schließen, dass er der Menschheit Übles will. Wo also besser anpacken, als zu dem Zeitpunkt, wo alles Leben an Land begann ...“
Beide schauten ihn mit offenem Mund an, bevor sich Mark Larsen zu einem „Du machst Witze!“ durchringen konnte.
Dieter Feldmann schüttelte den Kopf.
„Du meinst, als die ersten Fische – oder fischähnliche Kreaturen – sich an Land begaben und schließlich – weil sie Luft atmen konnten – dazu entschlossen, hier zu bleiben? – Mein Gott, das ist ja ...“
„... verdammt lang her“, beendete Feldmann den Satz.
„Weißt du denn, wie lange das schon zurückliegt?“
Obwohl er die Frage Dieter Feldmann gestellt hatte, blickte er auch Ma Kirby an, aber die schüttelte den Kopf.
„Ich hab’s mal gewusst“, meinte sie entschuldigend. „Das wurde sicher in der Schule durchgenommen, aber mittlerweile habe ich das vergessen.“
„Das sind noch ein paar Millionen Jahre mehr, als da, wo wir uns zuvor aufgehalten haben.“
Und nach Sekunden des Zögerns, wo jeder seinen eigenen Gedanken nachhing und versuchte, sich von der unwahrscheinlich großen Zahl eine Vorstellung zu machen:
„Können wir da überhaupt noch in Millionen rechnen?“
Sie blickten sich gegenseitig an, jeder ratloser als der andere. Mark Larsen betrachtete den tanzenden Derwisch ein weiteres Mal.
„Ich weiß nicht, wie es euch ergeht, aber irgendwie sieht das Ganze lustig aus“, schrie er ihnen zu.
Als er ihre verständnislosen Blicke sah, fügte er hinzu: „Ich weiß, dass die Situation, in der wir stecken, nicht wirklich zum Lachen anregt, aber wenn ich mir so überlege, welche Mühe sich die Schwarze Familie gemacht hat, um dieses Ziel anzustreben und die Menschheit auszurotten ...“
„Falls die dahinter steckt“, warf Ma Kirby ein.
„Falls – ja, falls diese das eingeleitet hat. Aber wer sollte sich sonst einen so verrückten Plan ausdenken?“
„Eine unbekannte Partei?“
„Jetzt hör aber auf, Dieter“, sagte Ma Kirby vorwurfsvoll. „Auch das noch ...“
„Genug!“, schrie der Hüter und machte eine entsprechende Handbewegung. „Wir wissen es erst, wenn wir den Verräter geschnappt und ausgefragt haben.“
Anschließend vergingen wieder einige Sekunden, in denen sie dem Treiben des Verräters zuschauten.
„Du hast recht, Mark“, sagte wenig später auch Ma Kirby, „wenn man vergisst, wo wir sind und unter welchen Umständen wir hierher verschlagen wurden, dann könnte das Ganze durchaus als amüsant angesehen werden.“
„Aber was ist, wenn der Typ da unten das richtige Kriechtier erwischt? Müssten wir da nicht plötzlich verschwinden und uns auflösen?“, warf der Hüter ein.
„Kannst du dir vorstellen, wie gering diese Chance ist, dass genau dieser Fall eintrifft? Stell dir doch nur die Wassermassen vor, die die Erde umgeben, und die an Land münden. Dass ausgerechnet hier und jetzt dasjenige Wesen aus dem Wasser kommt, aus dem alle späteren Generationen hervorgehen ...“
Er schüttelte den Kopf.
„Sehr gering!“
„Das scheint ihn aber nicht groß an seinem Vorhaben zu stören. Schaut euch doch nur an, mit welcher Hingabe er da herumhüpft. Und wie lange wohl schon?“
„Ob er unter Umständen einen versteckten Hinweis bekommen hat, den wir nicht kennen?“, hob der Hüter weitere Bedenken an.
„Du meinst so etwas wie mit der ‚Halle der Geheimnisse’?“, wollte Ma Kirby wissen.
„Warum nicht. Uns sind dort auch einige Dinge offenbart worden, von denen wir uns zuvor keine Vorstellung gemacht haben.“
Wie um seine Aussage zu unterstreichen, deutete er mit einem Nicken in die Richtung, in der die Zeitmaschine stand.
Sie verstanden beide die Andeutung nur zu gut.
„Mal angenommen, dass wirklich alles Leben – sogar der Mensch – von diesen Kriechtieren oder auch Fischen abstammt ...“, warf plötzlich Feldmann ein.
„Willst du das etwa bestreiten?“
„Na ja, diese These wurde im neunzehnten Jahrhundert von Leuten entwickelt, die so von ihren Arbeiten überzeugt waren und sich gegenseitig auf den Rücken klopften, dass sie auf Biegen und Brechen ihre Thesen zu so etwas wie dem heiligen Gral erklärten.“
„Und weiter?“, wollte Mark Larsen wissen.
„Mal davon abgesehen, dass in den vergangenen zwei Jahrhunderten die Ausgrabungsarbeiten ausgefeilter und besser wurden, fehlt immer noch der bestärkende Hinweis in der Archäologie, dass der Darwinismus funktioniert.“
„Hä?“
„Sie basiert auf natürlicher Auslese. Nur der Stärkere überlebt. Es soll einen gemeinsamen Ursprung geben, aus dem sich schließlich auch der Mensch entwickelte. Sozusagen vom Affen weiterentwickelte.“
„So ohne Gott und so?“
„Genau.“
„Nicht mal ein kleiner, göttlicher Impuls?“, hakte Ma Kirby nach.
„Nicht mal der. Pure Evolution. Sie lässt Gott gar nicht erst zu.“
Der Hüter schüttelte den Kopf.
„Das Dumme ist nur, dass wichtige Verbindungen, die diese Behauptung bestätigt hätten, bis jetzt nie gefunden wurden“, gab Feldmann zu bedenken.
„Du willst mit anderen Worten sagen, dass sich der Verräter da unten umsonst abrackert!“, kam Ma Kirby auf den Punkt zu sprechen.
„So ungefähr“, gab Dieter Feldmann zu.
„Hast du soviel Mut, deine differenzierte Theorie bis zum bitteren Ende auszutesten?“
Dieter Feldmann schaute beide an, die Stirn in überlegende Falten gelegt. Dann schüttelte er langsam den Kopf.
„Nicht wirklich“, gab er dann zu. „Das ist mir dann doch zu heiß.“
„Was ist mit deinem Glauben, Dieter?“, wollte der Hüter lachend wissen.
„Ich trage den immer bei mir, aber warum ein Risiko eingehen?“
„Dann gehen wir uns den Assistenten mal schnappen und versuchen dem Ganzen auf den Grund zu gehen. Oder was haltet ihr davon?“
Dem gab es nicht wirklich etwas hinzuzufügen!
Bevor sie jedoch losgingen, warf Larsen noch einmal einen Blick zu der tanzenden Figur am Strand unten. Die hatte ihr Tun unverdrossen fortgesetzt. Der Hüter blieb stehen. Und als er nicht weiterging, näherten sich ihm die zwei anderen wieder.
Als er mit einem Arm nach unten deutete, wandten sie sich ihm zu.
„Was ist?“, schrie Ma Kirby über die Naturgewalten zu, während der Ordensmeister mit einem fragenden Gesicht hinter ihr stand.
„Kann es sein, dass sich gerade um diesen Typen da unten der größte Auflauf befindet?“
„Auflauf wovon?“
„Den Fischen oder was da an Land kriecht.“
Sie reckten ihre Hälse, aber es war schwierig in diesen Wetterverhältnissen etwas wirklich Relevantes sehen zu können.
„Kann sein. Kann aber auch nicht sein. Worauf willst du hinaus?“
Feldmann wischte sich Wasser vom Gesicht und aus den Augen, doch vielmehr bekam er dadurch auch nicht zu sehen.
„Mir ist gerade ein Gedanke gekommen: Was ist, wenn diese Kreaturen gar nie das Wasser verlassen hätten, wenn nicht dieser Typ da unten – und vor allem auch die Sache mit der Zeitmaschine – passiert wäre.“
Sie blickten ihn neugierig an.
„Wie ich schon sagte“, begann Dieter Feldmann erneut, „worauf willst du hinaus?“
„Vielleicht ist es gerade unser Erscheinen, dass diese fischähnlichen Kreaturen an Land lockte. Oder der Verräter am Strand unten gibt eine Art von Magie ab, die die Tiere an Land bringt?“
„Du meinst also, dass die gar nicht überall auf der Erde in diesem Augenblick an Land gehen, sondern hier?“
Der Hüter nickte nur.
„Ausgerechnet hier?“
„Warum nicht?“, fügte er an, da sie ihn ungläubig anschaute.
„Das ist genauso eine wirre Theorie, wie die Sache mit dem Darwinismus von zuvor.“
Sie sahen, wie der Hüter mit den Schultern zuckten. Eine Bewegung, die sein Gesicht kurz verzerrte.
„So oder so würde ich meinen, dass wir uns den Typen da unten mal genauer vornehmen.“
Dieses Mal wollten sie wirklich ihren Aussichtspunkt verlassen, als Schüsse sie aufhorchen ließen.
***
Gegenwart
„... und dann sprach ich die Worte nach, die er schon die ganze Zeit über formte: Naxos Schadrach. Und von da an ...“
Derron bekam selbst in seinem erschöpften Zustand mit, wie beim Großmeister die Augenbrauen hochfuhren. Es sah so aus, als würden zwei haarige Raupen die Stirn hochkriechen, und das in einem enormen Tempo.
„Was ist?“, fragte Derron gedehnt.
„Naxos Schadrach?“, vergewisserte sich Cassani und hob dabei den Kopf an. Er machte den Eindruck, als habe er sich verhört und wollte sich nur vergewissern, dass dem nicht so war.
Aldega Derron nickte. Cassani hustete einmal, und der Sicherheitschef bekam mit, wie sich auf dessen Stirn eine feine Schicht Schweiß zu bilden begann.
„Was ist damit?“, fragte Derron vorsichtig nach.
Anstatt zu antworten stand der Großmeister auf, machte ein paar Schritte in Richtung Tür, um abrupt stehen zu bleiben. Ohne die Brille wegzustecken, rieb er sich erneut die Nasenwurzel.
Unmittelbar darauf drehte sich Cassani ganz um und verschwand durch die Tür. Vorbei an der korpulenten Schwester, die mit einem Arzt im Schlepptau den Versuch wagte, dem Großmeister den Weg zu versperren, doch Cassani schritt einfach um sie rum und beachtete beide nicht. Das verschlug ihr die Sprache mehr, als es eine Konfrontation getan hätte. Sie lief hinter dem Großmeister her, nur beachtete er sie auch weiterhin nicht.
Der Arzt war Ladunow, wie Matt Harper von seinem Standort, unmittelbar neben dem Bett, feststellen konnte. Mittelgroß und fast schon zu dünn für seine Größe. Sein kurz geschnittenes, dunkelbraunes Haar lugte unter einem Haarnetz hervor und klebte ihm seitwärts an den Schläfen. Der Mann musste viel zu tun haben. Die Ringe unter den Augen deuteten jedenfalls darauf hin.
Aldega Derron schlug Matt Harper die Hand an die Beine, die dieser liegend gerade noch erreichen konnte. Harper riss erschrocken den Kopf herum.
„Au, was soll das?“
„Na los!“, forderte er ihn auf.
„Was ‚Na los’?“
„Gehen Sie ihm nach!“
„Wozu, um Gottes Willen?“
„Moralische Unterstützung oder sonst was.“
„Wozu? Für mich macht Cassani einen ganz passablen Eindruck.“
„Sie sind ja wohl nicht ganz bei Trost, Mann! Haben Sie Tomaten auf den Augen?“
Mit diesen Worten schlug er die Decke zurück und richtete sich im Bett auf. Den Tropf riss er sich aus dem Unterarm und als er anschließend stand, griff er zu den Krücken, die neben dem Bett bereitlagen. So stand er wie eine Eiche im tosenden Wind, auch wenn sie angeschlagen wirkte. Niedergeschlagenheit und Kraftlosigkeit waren von ihm gewichen. Doch für wie lange?
Ladunow, der mittlerweile den Raum betreten hatte, wollte protestieren, doch Derron schnitt ihm das Wort ab.
„Ich kenne Sie ja nicht einmal! Was erlauben Sie sich also, mir zu sagen, was ich zu tun habe.“
„Ich bin Arzt und befehle Ihnen sich wieder hinzulegen.“
„Arzt? Pah.“
Dieses eine Wort war alles, was Derron dazu zu sagen hatte.
„Ich nehme Ihnen die Krücken weg!“
So klang eine leere Drohung.
„Versuchen Sie es nur, Doc. Versuchen Sie es.“
So klang eine Aufforderung, die sehr viele Schmerzen versprach.
„Vielleicht sollten Sie sich wirklich wieder hinlegen, Sir“, versuchte Matt Harper zu schlichten, als ihn ein auffordernder Blick von Ladunow traf, sich auch endlich zu äußern.
„Wo sind meine Kleider?“, sagte Derron zu niemand Bestimmtem, riss aber jeden Spind auf, den er finden konnte. Das verletzte Bein lag dabei über eine Krücke, damit die Hände frei waren.
Mittlerweile hatte sich Ladunow neben Derron gestellt, die Arme in die Seite gestützt. Nur hatte dies nicht den von ihm erwünschten Effekt.
„Meine Kleider!“
Die Spindtür flog mit Nachdruck zurück ins Schloss. Beim nächsten Schrank wurde er endlich fündig. Die Umstände hatten nicht gereicht die Uniform zu reinigen, aber Derron war das im Augenblick egal. Auch, dass Unterwäsche fehlte. Unter der Krankenhauskleidung war er ja auch nackt. Er machte sich nichts daraus, dass jemand im Raum war, als er sich die Spitalkluft über den Kopf zog.
„Warum gebe ich mir eigentlich Mühe?“, wollte Ladunow wissen, der sich zu Matt Harper gestellt hatte. „Er hört ja sowieso nicht auf mich.“
„Das habe ich aber gehört“, sagte Aldega, als er bei der schwarzen Uniform den Reisverschluss hochzog.
„Na klar. Jetzt hört er mir zu!“
„Ich habe Ihnen auch vorhin zugehört, junger Mann. Es hat mich nur nicht interessiert.“
Mit diesen Worten wandte er sich den Stiefeln zu, schlüpfte hinein und riss an den Schnürsenkeln rum, bis alles perfekt gebunden war. Dann humpelte er zur Tür hinaus. Das verletzte Bein versuchte er so gut es ging, mit den Krücken zu entlasten.
Matt Harper sah ihm nach, bis er wie aus einem Traum erwachte und sich Ladunow zuwandte:
„Müsste er nicht noch im Bett liegen und sich erholen?“
Ladunow sah ihn etwas entgeistert an.
„Wo warst du die letzte Minute, Mann? Natürlich müsste er noch im Bett liegen. Nur scheint Vernunft nicht unbedingt eine seiner Stärken zu sein.“
„Aber gut hören“, drang es aus dem Gang heraus.
„Los, Matt. Geh ihm nach. Lass den Dickschädel nicht aus den Augen. Wenn dem was passiert, kommen wir beide vor ein Erschießungsgericht. Auch wenn der Fehler bei ihm liegt.“
„So schlimm wird es wohl nicht werden.“
„Ach ja?“, herrschte Ladunow ihn an. „Auf Latrinendienst habe ich dann auch keinen Bock, wenn dir das vielleicht genehmer ist.“
Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Flugs war er auf dem Gang und folgte Aldega Derron. Dafür, dass er dem Teufel gerade noch vom Dreizack gesprungen war, legte dieser aber ein beachtliches Tempo an den Tag. Krücken hin oder her.
***
Vergangenheit
Ein Lichtstrahl drang durch die aufgewühlte Masse der Wolken und verschwand gleich wieder. Es war wie ein Lichtblick, dass diese Welt auch anders konnte, wenn sie nur wollte. Der Regen verringerte sich ein weiteres Mal, doch die Wassermassen, die nun wie Fäden vom Himmel fielen, waren erstaunlich. Der Wind schlug sie ihnen regelrecht um den Kopf. Und sie fühlten sich zum Teil auch wie Schläge an.
Eine lautes Geräusch ließ sie herumfahren. Ein Geräusch, das selbst über das stürmische Wetter noch zu vernehmen war: Eine Garbe aus einer Maschinenpistole! Es fiel sofort auf, weil es nicht in diese Welt passen wollte. Sie sahen gerade noch, wie die Einschläge durch Wasser und Sand in Richtung des Verräters gingen. Sie näherten sich ihm unaufhaltsam. Dieser hielt erschrocken in seinem Tun inne und blickte auf. Anschließend warf er sich zur Seite. Die Garbe streifte ihn nur.
Er war schnell. Das musste man ihm lassen. Mit einem Satz war der Verräter aus der Gefahrenzone und lief den Strand hinauf, um hinter Felsen Schutz zu suchen.
Ma Kirby war auf den Füßen, bevor die Männer selber reagieren konnten. Sie hielt der Klippe entlang auf eine Richtung zu, an der sich der Weg befinden musste, der zum Strand führte. Schließlich waren Alfredo und Peronino diesen schon gegangen. Mit einem Blick zurück stellte sie fest, dass Dieter Feldmann und der Hüter ihr folgten.
Das Vorwärtskommen war sehr mühsam, da der Wind sich recht ins Zeug legte, um ihr Gehen zu behindern. Weit weg hörte sie die Männer hinter sich schreien. Als sie einen Blick über die Schulter warf, stellte sie fest, dass sie mit Gesten auf sich aufmerksam machen wollten. Am Strand nahm jedoch niemand von ihnen Notiz. Im Gegenteil. Die zwei TS-Soldaten näherten sich mittlerweile dem Ort, an dem sich der Verräter befand, wie Ma Kirby sehen konnte. Dieser lag hinter einem Felsen in Deckung. Von hier aus sah sie, wie er in einer gebückten Stellung kauerte und sich die rechte Seite hielt. Eine dunkle Flüssigkeit quoll zwischen seinen Fingern hervor.
Dann hatte die Garbe ihn also doch erwischt, ging ihr durch den Kopf, als sie den Weg weiterhastete. Es war gefährlich, was sie da tat. Sie kam voran, aber es war schon schwierig genug, wenn sie ihr volle Aufmerksamkeit dem Pfad widmete, aber so, wo sie immer wieder auf das Geschehen am Strand blickte, war es ein ausgesprochen dummer Akt, was sie da tat.
***
Gegenwart
Samuel beugte sich über sie! Die spärliche Helligkeit, die aus dem Badezimmer drang und ihn wie ein goldenes Halo umhüllte, ließ ihn in einem unwirklichen Licht erscheinen. Er wirkte wie ein Engel, der gekommen war, ihr etwas zu verkünden.
Deshalb hatten ihre Kugeln ihm auch nichts anhaben können! – Oder war er gekommen, um sich von ihr zu verabschieden?
„Samuel?“
Sie fühlte seine Hand an ihren Armen, als er sie in eine sitzende Stellung zog. Spürte den Druck, den die Kleider auf die Haut ausübten. Aber erst, als sie ihn mit den Fingerspitzen selber berühren konnte, wusste sie, dass es kein Traum war.
„Billie ...“
Mit dem Licht im Rücken konnte sie sein Gesicht nicht genau sehen, aber als sie es berührte, fühlte sie, wie der große Mann zusammenzuckte, nach ihrer Hand griff und diese zu küssen begann. Nass waren die Wangen, die ihre Finger erspürten.
„Oh, mein Gott. Es ist schon so lange her“, konnte sie unter seinen Schluchzern ausmachen. Er nahm sie in die Arme und drückte sie ganz fest. So fest, dass er ihr fast den Atem raubte. Aber es war eine Umarmung, die sie freudig erwiderte. Und die eigentlich länger hätte andauern sollen, als sie es tat, hatte sie sich gewünscht ihn noch einmal in den Armen zu halten und zu wissen, dass er sie erkannte. Aber sie konnte dem Geruch nicht länger standhalten, der von Samuel ausging. Es war schon Samuel, den sie roch, aber doch irgendwie anders. Zusätzlich vermischt mit diesem Ozonduft, dem sie in letzter Zeit überall begegnete.
„Was riechst du komisch, Sam?“
Sie wollte ihn von sich schieben, aber es gelang ihr erst, als sie mehr Kraft dazu aufwandte. Es schien, als wollte er nicht mehr loslassen. Zögernd gab er nach.
„Ich bin schon sehr lange unterwegs, Billie ...“, hob er an, wobei sie ihn sogleich unterbrach.
„Was redest du da? Seit dem Unfall sind gerade mal ein paar Tage vergangen.“
Es kostete sie immer noch große Mühe, das Wort „Unfall“ überhaupt auszusprechen, auch wenn er hier und jetzt vor ihr saß. Ihr Samuel!
Statt einer Antwort stand er auf und riss mit dem Schwung auch gleich sie mit auf die Beine.
„Schau mich an“, forderte er sie auf, als sie einander gegenüberstanden.
„Du erschreckst mich ...“
Er schüttelte den Kopf und wiederholte seine Bitte ein weiteres Mal. Leiser. Eindringlicher.
Sie wollte ihm gerade sagen, dass sie ihn schon so fest studiert habe, dass sie jede Hautunebenheit von ihm kannte. Sie hatte ihn immer wieder lange angeschaut, wenn er neben ihr eingeschlafen war, nachdem sie sich heftig geliebt hatten. Jedes Härchen war ihr bekannt, das aus einem Muttermal herauswuchs. Sie wusste genau, wo seine grauen Haare waren. Jeden Muskel, jede Sehne kannte sie. Jedes eingewachsene Haar, das sie ihm dann unter Schmerzen hervorklaubte und ausriss. Sie wollte ihm dies voller Freude und Liebe mitteilen, aber der Unterton in seiner Stimme ließ sie innehalten. Sie schaute ihn an.
Aber erst, als er den Kopf wandte und sein Profil im Licht des Badezimmers ersichtlich wurde, sah sie genauer hin. Und sie sah. Und sie erschrak.
Der Mann, der da vor ihr stand, war ganz eindeutig Samuel, keine Frage. Aber er war zirka zwanzig Jahre älter, als sie ihn in Erinnerung hatte! Wie konnte das sein?
Die Hand flog an ihren offenen Mund.
Dann fiel ihr Blick auf die Kleidung, die er trug – jedenfalls das, was sie im Licht erkennen konnte.
Es war genau die gleiche Kleidung, wie die, die sich schon im Bad befand! Und jetzt wusste sie auch, warum ihr der Geruch so vertraut vorgekommen war.
„Mein Gott, Sam ...“, hauchte sie, „warst du das unter der Dusche?“
„Dusche?“
Er folgte ihrem Blick, und als seine Augen die Kleidung erfassten, schlich Verständnis in sein Gesicht. Ein trauriges Lächeln machte dem Sekunden später wieder Platz.
„Noch nicht“, meinte er leise.
Sie sah ihn an, denn er sprach in Rätseln.
„Was meinst du mit ‚Noch nicht’?“
„Ich habe nicht viel Zeit, Billie. Hör mir gut zu.“
Samuels Stimme klang beschwörend. Ein Außenstehender hätte sie sogar als ängstlich bezeichnet. Billie konnte nur nicht nachvollziehen, wovor er sich fürchten konnte. Schließlich war er ein ausgewachsener Mann, der sogar von den Toten auferstanden war. Was gab es da noch zu fürchten?
„Was soll das heißen? Wo willst du hin?“, wollte sie wissen. Ihre Stimme zitterte. „Du machst mir Angst, Baby.“
Billie wollte Samuel an sich ziehen, um ihn zu küssen, aber er wand sich aus ihrem Griff und schaute ihr beschwörend in die Augen.
„Dwight ist ein wichtiger Teil für mich. Tue ihm also bitte nichts.“
Sie kam sich vor, als hätte man sie geschlagen.
„Dwight?“, wollte sie wissen. „Was hat der denn damit zu tun?“
Billie sah Samuel nicken. Es war nur eine leichte Kopfbewegung, die sie glattwegs hätte übersehen können, wenn sie ihn nicht angestarrt hätte. Plötzlich verzog sich sein Gesicht schmerzerfüllt und jede Nuance war auf einmal weggewischt wie das Make-up eines Clowns, der sein Lachen hinter einem Lappen kalten Wassers verschwinden ließ.
„Nein. Nicht jetzt!“, schrie Sam in den Raum hinein. Von irgendwoher hallte seine Stimme wider. Billies Kopf versuchte dem Echo zu folgen, aber es kam von überall und nirgends.
„Was ist mit dir?“
Sie wollte sich an ihn klammern, wollte ihn halten, ihm Trost spenden. Einfach da sein. Aber Samuel riss sich von ihr los, stieß sie so fest von sich, dass sie mit dem Kopf gegen die Wand schlug und dann seitwärts daran zu Boden glitt.
Mit Erstaunen stellte sie fest, dass dabei nichts als grenzenlose Trauer aus seinen Augen sprach, obwohl er sich vor Schmerzen krümmte.
Sie wollte auf ihn zu kriechen, aber er gebot ihr fernzubleiben:
„Halt. Stopp! Es ist zu gefährlich, Billie.“
„Was ist zu gefährlich?“, schrie sie ihm zu. Angst umklammerte ihr Herz mit knotigen Fingern. Sie wusste nicht, was los war. Dann sah sie mit Schrecken, wie sich ein Riss hinter ihm zu bilden begann. Als ob man eine Fotografie von der Rückseite her mit einer Flamme erhitzte. Zuerst war da nur ein kleines Loch, das aber schnell größer wurde. Sie wollte zu ihm hingehen und ihn von dieser Stelle wegziehen, aber seine bittenden Augen ließen sie am Boden verharren.
Aber sie wollte ihn doch nicht wieder verlieren!
„Bleib wo du bist!“ Samuels Stimme klang schneidend. „Lass Dwight leben. Ich brauche ihn!“
Und dann sah sie, wie der Riss ihn einfach verschluckte. Es gab ein saugendes Geräusch und Samuel war von einem Sekundenbruchteil auf den anderen verschwunden. Nicht ohne den Schrei, den sie an diesem Tag schon einmal gehört hatte. Ein Klagelaut, der sich mit ihrem vermischte.
***
Vergangenheit
Alfredo stürmte auf den Verräter zu, während sich Peronino zurückhielt. Er hielt jedoch die Waffe im Anschlag. Er zögerte mit Schießen, auch als er freie Bahn hatte. Fühlte er sowas wie Zurückhaltung, einen Menschen einfach so über den Haufen zu knallen? Vor allem einen Unbewaffneten? Oder war es etwas anderes, das ihn von dieser Tat abhielt?
Mittlerweile hatte Alfredo zum Assistenten aufgeschlossen. Er packte ihn am Kragen und schlug ihm mit aller Kraft die Faust ins Gesicht. Der Verräter ging in einer drehenden Bewegung zu Boden. Sein Erstaunen, das sein Gesicht wie eine Maske zierte, verflüchtigte sich wieder, als er sich der Anwesenheit von anderen Menschen bewusst wurde.
Ein triumphierendes Grinsen machte sich in seinen Zügen breit, als er sich erhob. Es war ein Dolch, den er aus der Kleidung zog. Die Kanone in Peroninos Armbeuge schien ihn auf keine Art und Weise zu beeindrucken.
Einem Kick konnte der Assistent gerade noch ausweichen. Als sich Alfredo ihm wieder zuwandte, wurde ihm nasser Sand entgegengeschleudert, der ihn wie ein Peitschenhieb traf. Ein Umstand, der im schmächtigen Italiener die Wut noch steigerte. Obwohl der Dolch gefährlich war, machte Alfredo mit einem wilden Ausdruck im Gesicht einen Sprung auf den Verräter zu, und krallte sich an ihm fest. Der Rücken des Assistenten schlug hart auf Felsen und rutschte mit dem zusätzlichen Gewicht sofort daran herunter. Anschließend wälzten sie sich im Sand. Der Verräter versuchte immer wieder vergeblich mit dem Dolch zuzustoßen, aber sein Gegner konnte den bedrohlichen Arm jedes Mal wieder wegdrücken. Dann war es auf einmal vorbei ...
Als Ma Kirby den Strand erreichte, sah sie, wie Alfredo sich erhob, wankend zwar, aber immerhin, während der Assistent liegen blieb. Aus dessen Brust ragte der Griff des Dolchs.
Aber er lebte zum Glück noch!
Beide atmeten heftig. Zumindest soviel konnte sie durch die Regenschauer sehen.
An Alfredos Händen klebte eine dunkle Substanz, die in dem fahlen Licht wie schwarzes Blut wirkte. Schlurfend entfernte er sich von der liegenden Gestalt und ging auf das Meer zu. Als die Fluten seine Schuhe umspülten, ließ er sich auf die Knie fallen und hielt Arme und Hände dem Wasser entgegen. Ma Kirby konnte sehen, wie seine Schultern zu zucken begannen.
Bevor sie auf die drei Gestalten zulief, warf sie wieder einen Blick den steinigen und waghalsigen Weg hinauf, den sie gerade gekommen war. Mark Larsen und Dieter Feldmann waren mittlerweile deutlich zurückgefallen. Die Verletzung des Hüters erlaubte es ihm nicht, sich mit beiden Händen abzustützen. Eine Bewegung, die Ma Kirby automatisch tat, wenn sie wegen der Nässe des Weges beinahe das Gleichgewicht verlor.
Der Ordensmeister deswegen, weil es keine Möglichkeit gab, auf dem Weg nach unten zu überholen. Er war deutlich älter als der Hüter, machte aber einen durchtrainierten Eindruck, auch wenn er in der feuchten und schwülen Luft des Dschungels anfänglich Schwierigkeiten gehabt hatte.
Sie wandte sich wieder dem Geschehen am Strand zu und spurtete dann auf die Gestalten zu. Sie schrie, aber man beachtete sie nicht.
Peronino näherte sich dem Verräter. Er kickte ihn leicht mit seinen dick besohlten Schuhen an, um zu sehen, ob er überhaupt mitbekam, was um ihn herum vorging. Die Brust des Verräters hob und senkte sich mühsam. Aus dem Mund quoll Blut, das auf allen Seiten über den Hals lief. Eine Woge aus der See kroch den Strand hoch und umspülte den zitternden Leib. Als er die Augen aufschlug, sah Ma Kirby beim Näherkommen, wie er husten musste. Blutstropfen flogen umher.
Als Peronino die Maschinenpistole auf das Gesicht des Assistenten richtete, schrie sie auf. Der Soldat musste sie gehört haben, da er erstaunt die Waffe wegnahm.
Nach Luft ringend, kam sie ein paar Meter vor der Szene zum Stehen.
„Was ist?“, hörte sie den breitschultrigen Mann fragen. Sie konnte nichts sagen. Noch nicht. Die Luft war nicht für diese Art von Anstrengung gedacht. Ihr tat der ganze Brustkasten weh. Ohne hochzublicken winkte sie ab.
Gib mir eine Minute, wollte sie sagen, dann vernahm sie, wie Peronino das Wort an den Assistenten richtete:
„Bist du eine religiöse Person?“
Sie blickte hoch, während sie unter Schmerzen ein- und ausatmete. Sie machte drei Schritte und blieb wieder stehen, da sich farbige Ringe vor ihr Gesichtsfeld schoben. Mit einem Seufzer auf den Lippen fiel sie erschöpft in den Sand. Es gab ein matschiges Geräusch. Sie konnte die Antwort des verwundeten Mannes hören.
Sie war so nahe.
Schwer röchelnd bekam er einige Wortfetzen über die Lippen. Wahrscheinlich füllten sich in diesem Augenblick die Lungen mit Blut, was ihm sowohl das Atmen, wie auch das Sprechen erschwerte, ging ihr durch den Kopf. Da konnte Aura-Soma nichts mehr ausrichten! Die Verletzungen waren zu weit fortgeschritten.
„Ja“, kam eine ängstlich Antwort. „Von ganzem Herzen ...“
Bevor Ma Kirby wusste, was geschah, hatte der TS-Mann die Waffe erneut im Anschlag.
„Dann fahr zur Hölle!“, spie er ihm entgegen.
Die Maschinenpistole knatterte los.
Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken!
***
Gegenwart
„Da.“
Mit diesem Wort brachte Fabio Cassani ein Dokument auf dem Bildschirm zutage. Sofort drängten sich Derron und Harper darum. Niemand konnte Genaues lesen, da sie sich gegenseitig im Weg standen. Außer der Überschrift. Und da stand in fetten Lettern: Naxos Shadrach!
„Wie ist das möglich?“, wollte Aldega Derron wissen. „Ich habe den Namen noch nie zuvor gehört.“
„Kannst du nicht.“
„Wie denn das?“
„Das da“, und Cassani zeigte erneut auf den leicht flackernden Bildschirm, „war im Kyffhäuser.“
„In der geheimnisvollen Halle?“
„Halle der Geheimnisse“, verbesserte der Großmeister. Es klang so, als würde er einen Schüler rügen, der die Hauptstadt von Italien als Romulus bezeichnet hatte. Es war nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz falsch.
„Mit anderen Geheimnissen“, setzte er nach.
„Was denn noch?“
„Wir werden es herausfinden.“
Die Worte klangen alles andere als prophetisch. Es war eine Tatsache, die Cassani da in den Raum stellte.
„Das beantwortet aber meine Frage nicht“, stellte Derron auf störrisch.
„Einiges ist bekannt. Einiges nicht.“
Mehr schien der Großmeister zum Thema nicht zu sagen zu haben.
„Warum ist dieses Dokument dann bereits im Computer?“
„Wären dir alte, zerfressene Pergamentseiten lieber?“
Derron wand sich ein wenig, während er mit den Krücken sein Gleichgewicht zu halten versuchte.
„Wäre für mich irgendwie besser nachvollziehbar, wenn sie aus einem alten Buch kämen, diese Sachen.“
„So sahen sie auch aus.“
Der Chef der TS nickte überlegend.
„Daten sind besser“, fuhr der Großmeister kühl weiter.
„Ja, das kann ich nachvollziehen“, gab Derron ihm recht. „So können überall auf der Welt die Daten genauer analysiert werden. Von jedem Ordensmitglied.“
Cassani nickte.
„Wird gemacht. Wurde getan.“
„Was sind denn das für Sachen, die da in dieser Halle gefunden wurden? Nebst dem da“, hakte Matt Harper nach.
„Das Elixier von Dr. Jekyll. Das Parfüm Casanovas. Eine Karte zum Mittelpunkt der Erde. Chiffrierte Unterlagen von H. G. Wells. Doktor Frankensteins Unterlagen. Eine Anleitung zur Herstellung des Golem. Und noch mehr.“
„Sie machen wohl Witze.“
„Sehe ich aus, als hätte ich Humor?“, fragte Cassani und blickte Harper an.
Wenn jemand anders als der Großmeister diese Dinge aufgezählt hätte, dann hätte ihm Harper gleich von Anbeginn keinen Glauben geschenkt und ihm mitten in die Fresse gelacht, aber so ... Das gab ihm zu denken. Er war mittlerweile an die fantastischen Geschöpfe der Nacht gewohnt. Ein Umstand, der einen normalen Menschen bereits nah an den Wahnsinn gebracht hätte. Nur waren die angesprochenen Dinge der Literatur der vergangenen Jahrhunderte entnommen! Was hatten Autoren in ihren Werken versteckt, wozu die Welt noch nicht bereit gewesen war, es zu akzeptieren? Und würde er Antworten auf seine Fragen bekommen? Wollte diese der Großmeister überhaupt weitergeben?
„Einen Moment. Das haben wir gleich“, riss ihn Cassani aus den Überlegungen.
Mit ein paar Mausbewegungen brachte er dann den Drucker zum Summen. Es dauerte einige Sekunden, bis alles ausgedruckt war. Er griff sofort danach.
„Lies.“
Mit diesem Wort wurden Derron die beschriebenen Blätter unter die Nase gehalten. Der TS-Chef setzte sich auf den Stuhl vor dem Computer und legte die Krücken beiseite.
„Halt, lassen Sie mich ...“, wollte Harper aushelfen.
Derron winkte ab.
„Es geht schon.“
Dann begann er zu lesen ...
***
Vergangenheit
„Du hirnloser Idiot!“, schrie der Hüter dem breitschultrigen TS-Mann entgegen, als er und Dieter Feldmann endlich den Schauplatz erreicht hatten. Hier war gerade eine Hinrichtung vollzogen worden.
„Wer bist du eigentlich, dass du dich als Ankläger, Jury und Scharfrichter in einem aufspielst?“
Peronino wollte sich wortlos von ihm abwenden, als er ihn am Shirt zurückhielt, das schon bessere Tag gesehen hatte.
„Antworte mir gefälligst!“
Wut ließ ihn alle Schmerzen von zuvor vergessen und gab ihm für diese Konfrontation die nötige Kraft.
Statt einer Antwort schaute er in der nächsten Sekunde in die Mündung der Waffe, die zuvor endgültigen Tod gespien hatte. Das ging so schnell, dass der Hüter die Bewegung kaum mitbekam. Er war mit seiner Kraft und Ausdauer so am Ende, dass ihn dieser zusätzliche Adrenalinausstoß kalt ließ. Er fühlte sich keineswegs als unverwundbar. Es war ihm vielmehr egal, wenn Peronino den Abzug betätigte.
„Was ist? Ist das deine Antwort auf meine Frage?“
Wütende Augen musterten Mark Larsen. Es war nicht abzusehen, was hinter der verdreckten Stirn des TS-Soldaten vor sich ging.
„Schieß schon!“, spie ihm der Hüter entgegen. „Wenn das deine Antwort auf alle Fragen ist, dann drück gefälligst ab.“
Die Hand Feldmanns drückte auf Peroninos Waffenarm. Erst nach einigem Widerstand gab dieser nach. Sein Blick blieb jedoch finster und er ließ den Hüter nicht aus den Augen.
„Kein Mumm?“
„Halt die Klappe, Mark“, zischte der Ordensmeister.
„So werden wir nie erfahren, was der Typ gewusst hat!“
„Reg dich ab, Mark. Es ist nun mal geschehen. Wir können es nicht mehr rückgängig machen.“
„Aber vermeiden hätten wir es können. Wenn nur dieser große Affe sein Gehirn gebraucht hätte, anstatt die Waffe.“
Peronino, der sich bereits ein paar Schritte entfernt hatte, wandte sich bei den beleidigenden Worten wieder um, und kam wie ein wütender Stier auf ihn zu. Sofort ging Dieter Feldmann dazwischen. Ma Kirby versuchte ebenfalls ihr Bestes, damit sich die beiden Streithähne nicht an die Kehle gehen konnten.
Etwas abseits hielt sich Alfredo, der sein Bandana vom Kopf genommen hatte. Die Regenschauer hatte sogar seiner Haarpracht zugesetzt. Das Ganze schien ihn nicht wirklich etwas anzugehen.
„Er war einer von ihnen!“, schrie Peronino dem Hüter über Feldmanns Schulter entgegen. Mit den Händen versuchte er nach ihm zu greifen, aber es waren zu viele, die sich gegen ihn drückten.
„Ach, Pustekuchen!“, hielt Mark Larsen entgegen. „Der war genauso Mensch wie du und ich ...“
„Und warum hat er dann die Zeitmaschine entführt? Wer hat ihm geholfen?“
Peronino funkelte den Hüter mit rechthaberischen Blicken an. Wie um zu sagen: Widerleg mir erst Mal diese Argumente.
Mark Larsen musste zuerst einen tiefen Atemzug nehmen, bevor er zu einer Antwort fähig war:
„Das, mein Herr“, fing er ruhig an, aber dann konnte er sich doch nicht mehr zurückhalten und den Rest schrie er wieder, „wollte ich ihn fragen und herausfinden!“
„Ich habe nur versucht, die Situation zu bereinigen ...“
„Einen Scheißdreck hast du!“
„ ... um uns vor größerem Schaden zu bewahren.“
„Vielleicht bis du ja einer von ihnen!“
Die Unterstellung des Hüters ließ Peronino ungläubig nach Luft schnappen.
Dass ihm das jemand so an den Kopf werfen konnte, war zuviel für ihn.
Der Hüter sah es am Gesicht, das zuerst Erstaunen, dann Beleidigung zeigte. Aber nur kurz, dann wechselte es sofort in Wut über.
„So was Idiotisches habe ich ja noch nie gehört!“
Er begann, verstärkt an Feldmann und Ma Kirby vorbei zu schlagen. Ein Hieb traf den Hüter an der verletzten Schulter. Der Schmerzenslaut gab Peronino eine wohltuende Befriedigung.
„Ich hau dir gleich eine in die Fresse ...“
„Vielleicht wollte er uns etwas mitteilen, das zu deinem eigenen Schaden geführt hätte ...“
In der Nähe explodierte etwas! Alle zuckten zusammen. Augenblicklich ließen die Streithähne voneinander ab, als wäre die Explosion zwischen ihnen losgegangen.
Als sie in die Richtung blickten, aus der der Krach gekommen war, sahen sie oben auf der Klippe eine Person am Rand stehen und auf sie hinunterblicken. Es war Jane Esposito. Sie winkte ihnen zu. Es war eine Bewegung, die sich im dämmrigen Licht des Tages kaum ausmachen ließ.
„Was zur Hölle war das?“, wollte Feldmann wissen. Er winkte zurück.
„Wohl eine unserer Granaten“, kam Ma Kirby zu Hilfe.
Peronino und der Hüter sahen einander böse an, hielten sich aber zurück. Auch ihre Blicke waren zur Klippe hochgegangen. Sie sahen jemanden gestikulieren. Ob sie hochkommen sollten?
„Lassen wir ihn hier?“
Jeder wusste, was damit gemeint war. Jeder blickte in die Richtung des Leichnams, der am Strand lag und einen weiten Weg gegangen war, um hier sein Treffen mit dem Schicksal einzuhalten.
„Ich werde ihn auf jeden Fall nicht raufschleppen.“
Die Aussage, die Peronino da machte, war allen klar. Wenn er ihn nicht hochtrug, dann war jeder andere Versuch zum Scheitern verurteilt.
„Blöder Hund“, konnte sich der Hüter nicht verkneifen zu sagen.
„Hey!“, ging Feldmann dazwischen, bevor sich die Aggression wieder entfachen konnte. „Ihr haltet jetzt beide die Klappe und geht den Weg da hoch. Und ich will kein Wort mehr von euch beiden hören. Ist das klar?“
Keiner der Angesprochenen sagte etwas darauf, aber wie sie sich umwandten und davongingen, sagte genug aus. Der Ordensmeister schaute ihnen kurz kopfschüttelnd nach, bevor er zu Alfredo ging. Seine Schultern zuckten noch immer, als Feldmann zu ihm trat.
„Es tut mir leid, Dieter ...“, waren die ersten Worte, als er sich seiner Anwesenheit bewusst wurde.
Wortlos ergriff ihn der Banker an der Schulter. Nach ein paar Sekunden zog er ihn auf die Beine.
„Wir sollten“, raunte er Alfredo zu. Mit diesen Worten drückte er ihn in Richtung Strand. Er brauchte keine große Überredungskraft anzuwenden.
Ma Kirby machte das Schlusslicht. Nicht, ohne noch einmal auf den Leichnam zu starren. Sie musste sich willentlich einen Ruck geben, um sich von dem Anblick lösen zu können.
Sie blickte den Strand hinauf, der in einer öligen Pracht dalag. Überall konnte sie die zerquetschten Leiber von Tieren sehen, die der Verräter getötet hatte, indem er auf ihnen rumtanzte. Sie musste an die Worte von Mark Larsen denken. Konnte es sein, dass er recht hatte? War dies ein Anzeichen dafür, dass gerade durch die Anwesenheit des Verräters diese Tiere an Land gekrochen waren? Was war der Auslöser gewesen? Hatte er sie angezogen wie das Licht die Motte?
Sie musste an die Frage denken, die sich Wissenschaftler bereits seit Jahren stellten, in Millionen von Jahren stellen würden oder wie auch immer: Was war zuerst da gewesen? Das Ei oder das Huhn?
Welches Ereignis hatte welches ausgelöst? Was war zuerst als Idee da gewesen, bevor es in die Tat umgesetzt wurde?
Sie stand an der Wiege der Menschheit. Darüber war sie sich im klaren. Doch wer waren Vater und Mutter gewesen, wenn es diese Überlegung im herkömmlichen Fall gab?
Auf jeden Fall war dieser Verräter ein Mensch gewesen. Wie sie alle auch. Es wäre gut zu wissen, was sein Tun ausgelöst hatte. Damit hätten sie sich gegen weitere Vorfälle schützen können.
War es möglich, dass das Vorgefallene nur ein dummer Einzelfall gewesen war? Sie hoffte es, konnte es aber nicht mit Sicherheit sagen.
Bei dieser Unsicherheit würde es jetzt auch bleiben!
***
Sie hatten beinahe die Anhöhe erreicht, als Alfredo stehen blieb und einen Blick zurückwarf. Am Strand unten lag die Leiche des Verräters. Um ihn verstreut die Leiber der Tiere aus dem Meer, die zerquetscht und erschlagen wurden. Einige bewegten sich noch, was aber auch am Wasser liegen konnte, das unaufhörlich aus dem Meer herangespült wurde und den Körpern den Anschein von Leben vermittelte.
Als Alfredo zu zittern begann, drückte ihn Dieter Feldmann an den Schultern und zwängte sich mit den Worten „Geht es?“ an ihm vorbei.
Alfredo nickte nur und der Meister des Ordens ging weiter. Wenn er nämlich etwas gesagt hätte, dann hätte er das Lachen nicht länger zurückhalten können, das seit Sekunden in der Kehle saß und heraus wollte!
Das war vielleicht knapp gewesen!
Die Augen, die all die brutale Schönheiten dieser Welt in sich aufnahmen, waren in zwei unterschiedlichen Farben gehalten. Und irgendwo im Innern seines eigenen Körpers gefangen, schrie der wirkliche Alfredo seine Angst hinaus. Doch konnte dies niemand hören ...
***
Gegenwart
„Niemand weiß genau zu berichten, ob diese Person wirklich lebte. Viele Sagen umranken diesen Namen und es ist unklar, ob die Handlungen, die selbst heute ins Reich der Fabeln verwiesen werden, von einer einzigen Person bewerkstelligt wurden.“
„Das Ganze ist in Englisch?“, fragte Harper erstaunt.
„Natürlich nicht! Das ist eine Übersetzung“, antwortete Cassani.
„Zum Glück für mich, sonst hätte ich jetzt aber ganz alt ausgesehen“, versuchte Derron ein Späßchen zu machen. Niemand ging darauf ein.
Der Großmeister holte tief Luft, als würde er zu einer ausführlicheren Rede ansetzen:
„Die Übersetzer mussten sich anstrengen. Es war schwierig. Sprache und Wortlaut sind fremd. Ähnlich dem Ägyptischen, das die Menschheit vor der großen Flut sprach.“
„Die Sintflut? Die, von der in der Bibel gesprochen wird?“
„Nein, der ersten.“
„Es gab mehrere davon?“
Harper schnappte ungläubig nach Luft.
„Darf ich vielleicht jetzt weiterlesen?“, mischte sich Derron ein.
Matt Harper nickte abwesend, während er versuchte das Wenige zu verarbeiten, das ihm da an den Kopf geworfen wurde. Was kein leichtes Unterfangen war, bei diesen Informationen.
„Es soll Menschen geben, die hinter vorgehaltener Hand erzählten, dass Naxos Shadrach schon immer existiert haben soll. Beim Weitergeben dieser Geschichten kam zum Vorschein, welche Ehrfurcht in den Stimmen lag, die die Geschehnisse um diese Person umgaben. Es war, als wäre Shadrach mehr gewesen, als bloß ein Mensch. War er überhaupt dem Schoß eines Weibes entsprungen?
Viele Stämme überliefern, dass Naxos Shadrach dem Schöpfungsprozess beiwohnte, und, als die Götter den Staub der Wüste bewanderten und diese hinter ihren Füßen zu blühen begann, er mit ihnen gereist sei, ihre Nahrung geteilt und sogar seine derben Späße mit ihnen getrieben habe.
Als sich die Götter in den Himmel und sehr viel später noch weiter zurückzogen – in vielen Überlieferungen spricht man von Vertreibung! – war es Shadrach, der mit den Söhnen und Töchtern der Schöpfer zurückblieb, die sie gemeinsam erschaffen hatten.
Es steht jedoch auch geschrieben, dass er der Gesellschaft der Riesen rasch überdrüssig wurde, und sich aufmachte, sein Wissen zu vergrößern.“
„Riesen? Götter? Was kommt als nächstes? Rumpelstilzchen? – Wo ist eigentlich Erich von Däniken, wenn man ihn mal braucht?“, sprach Harper zweifelnd. Es sah aus, als habe er bloß laut gedacht, denn, als sie ihn verwundert ansahen, entschuldigte er sich.
„Der ist mit Buttlar und van Helsing auf UFO-Suche. Und jetzt halten Sie die Klappe und lassen mich gefälligst vorwärts kommen“, fuhr Derron ihn an.
„An dieser Stelle teilen sich die Überlieferungen des großen und einen Volkes“, fuhr der TS-Chef fort. „Im Norden wird erzählt, Shadrach sei in die Welt hinabgestiegen, und dort selber zu einem Gott geworden.
Im Süden spricht man von Naxos in großer Ehrfurcht, da er ein ganzes Volk ausgelöscht habe, das seiner Seelenverwandten den ewigen Tod gebracht habe. Nie hatte man je wieder etwas von diesem Volke gehört! Und noch heute soll sein Fluch einen riesigen Teil dieses Landes heimsuchen.
Im Westen, über dem großen Wasser, bringt man ihn eher mit einem Wundervollbringer in Zusammenhang. An sich und anderen habe er gezeigt, dass der Tod nicht endgültig sei. Das Leben sei eine Brücke und man solle es sich darauf nicht zu bequem machen.
Vom Osten her wird verkündet, dass Shadrach als alter Mann im Lande des Bären eine Ruhestätte fand. – Erstaunlicherweise wird aber auch erzählt, dass man ihn genau da wieder zu Gesicht bekam, auch wenn sein Wesen wieder in vollem Ebenholz erstrahlte, wie in seinen besten Jahren.“
„Ebenholz? Dann war dieser Naxos Shadrach ein Schwarzer?“
„Keine Ahnung, aber warum auch nicht?“
Mit einem leisen Rascheln wechselte Aldega Derron die Blätter, die er in den Händen hielt.
„In einem sind sich sowohl die schriftlichen Überlieferungen, wie auch die mündlichen einig: Es soll immer wieder große Zeitspannen gegeben haben, in denen niemand wusste, wo sich Naxos aufhielt. Gab er sich zu diesen Zeiten als ein Mensch aus, um ein normales Leben zu führen? Oder besuchte er seine Mitgötter, die hinter den Sternenstraßen ihr glorreiches Leben führten? Es wird jedoch berichtet, dass er immer wieder unverhofft aufgetaucht sei, eine Zeitlang bei den Menschen verweilte, um dann plötzlich und meist ohne Abschied, wieder seinen unnachahmlichen Pfaden nachzugehen.
Die große Verehrung und auch Ehrfurcht, die diesem Wesen oder auch Gott entgegengebracht wurde, brachte es mit sich, dass es immer wieder geschah, dass sich Menschen mit seinem Namen schmücken wollten, indem sie sich als Nachfahren oder gleich selber als der „Große Shadrach“ ausgaben.
Die Prüfungen überlebte jedoch keiner!
Mittlerweile wagt es niemand mehr, sich für ihn auszugeben.
In der Geschichte der Prüfungen gab es nur einen Fall, der heraus stach, da nur ein einziges Mal jemand siegreich daraus hervortrat. Es handelte sich dabei um eine Frau. Sie musste Shadrach in veränderter Form sein, oder doch soweit von seinem göttlichen Geist bewohnt und geleitet, dass sie die unmenschlichen Prüfungen eine nach der anderen lösen konnte. So, wie es eines übermächtigen Wesen gebührte.
Die Sage spricht davon, dass Naxos Shadrach in Zeiten großer Not und Entbehrungen zurückkehren wird, egal in welcher Gestalt. Und die, die davon erzählten, hatten Recht behalten. Immer wieder. Auch zu Zeiten, als der Göttliche sehr krank war. – Wenn er sich nicht selber heilen konnte, wer außer ihm wäre schon dazu fähig?“
Aldega Derron legte die beschriebenen Seiten bedächtig nieder und blickte gespannt in die Runde.
„Ist das alles?“, wollte Matt Harper wissen. Seine Stimme klang belegt.
„Wie meinen Sie das?“
„Nicht noch mehr Mambojambo? Vielleicht ein kleiner Zauberlehrling oder so?“
Er machte dabei mit den Armen schwenkende Bewegungen, die er mit ein paar Geräuschen unterstrich.
„Ich habe nur gelesen was da auf dem Papier stand“, verteidigte sich Derron.
„Sie vergessen etwas“, mischte sich Cassani ein.
„Und was soll das sein?“
„Diese Unterlagen sind alt. Älter als die Bibel“, wies der Großmeister ihn zurecht.
„Na und? Für mich klingt es eher nach einem schlecht geschriebenen Filmmanuskript. – Und Sie glauben das Zeugs, das da erzählt wird?“
Sein Gesicht war fragend, als sich der Ex-Marine erneut an den Großmeister wandte. Ob an seinem Weltbild etwas gerüttelt wurde? Vor allem auf eine Art, die er sich nicht hatte vorstellen können? Auf eine Art und Weise, die er vielleicht nicht ertrug.
„Harper, diese Schriften waren alt, als die Pyramiden gebaut wurden. Nun machen Sie sich eine Vorstellung, was wir davon halten.“
„Na was denn nun?“
„Sagen und Legenden lesen sich nicht wie eine Zeitung.“
Er wies auf die Blätter in Derrons Hand.
„Das ist das, was wir wissen. Der Stand von heute. Erstaunlich, das mit der Namensübereinstimmung.“
Sie mussten dies alle unumwunden zugeben.
„Ist es dann nicht erstaunlich, dass gerade im Zusammenhang mit der Zeitmaschine dieser Name wieder auftaucht?“, warf Derron ein.
Cassani gab ihm recht.
„Nach Tausenden von Jahren. Und niemand soll diese Person gekannt haben.“
„Vielleicht wurde er ja auch erfolgreich unterschlagen“, gab Harper zu bedenken. Gespannt erwartete er eine Antwort.
Der Großmeister blickte ihn sinnend an, bevor er nachdenklich nickte.
„Kann sein.“
„Was haben denn die Wissenschaftler herausgefunden?“, wollte Derron wissen.
„Nicht mehr.“
„Willst du damit sagen, dass es ihnen gerade gelang, die Skriptrollen zu enträtseln?“
„Ja.“
„Gerade erst?“
„Ja.“
„Weiter sind wir in der Erforschung noch nicht vorangeschritten?“
„Haargenau.“
„Heißt das, dass wir uns erst am Fuße des Berges befinden, den es zu erklimmen gilt?“
„In etwa. Ein, zwei Schritte. Aber welche Richtung?“
Sie sahen sich für Sekunden schweigend an.
„Und das, was da mit uns passiert ist, hat uns auch nicht gerade weitergebracht. Das Zeitexperiment fühlt sich irgendwie an, als würden wir auf der Stelle treten“, sagte Derron.
„Wegen dieses Zeitexperiments“, warf Harper ein.
„Was ist damit?“
„Das will ich Sie schon die ganze Zeit fragen!“, antwortete er aufgebracht. „Nur komme ich nie zu Wort.“
Derron wechselte einen Blick mit dem Großmeister, der soviel wie ‚Darf ich?’ bedeutete.
„Von mir aus.“
„Also, das ist so“, fing er an. Als er tief Luft holte um fortzufahren, wurde er durch das Ankurbeln der internen Sirenen unterbrochen.
„Was ist los?“, schrie Fabio Cassani nach hinten einem Funker zu, der gespannt einer Stimme lauschte und den Großmeister mit der Hand um Geduld bat. Nach einigen Sekunden riss er die Kopfhörer runter und vermeldete laut: „Sir, ich soll Ihnen ausrichten lassen, dass die Maschine zurückgekehrt ist. Sie wüssten mit dieser Nachricht schon was anzufangen.“
„Eine Maschine oder die Maschine?“
Der Funker hob die Schultern.
„Das entzieht sich meiner Kenntnis, Sir.“
„Okay!“ Sowie an Derron und Harper gewandt: „In die Halle!“
Mit diesen Worten lief er auf den nächsten Lift zu, und kümmerte sich nicht im geringsten darum, ob ihm jemand folgte. Aber das taten beide! Mit derselben Neugierde, aber mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten.
***
Vergangenheit – Wenig später
Sie saßen wieder alle zusammengepfercht in der Zeitmaschine, als Alfredo das aussprach, was jeder schon mal gedacht hatte:
„Was jetzt? Mission erfüllt oder was?“
„Wie meinst du das?“, ging Dieter Feldmann nach Sekunden der Stille darauf ein, als niemand antwortetet.
„Wir haben keine Ahnung, wann wir uns genau aufhalten. Wie sollen wir da in die Gegenwart zurückfinden? - Ich meine damit den genauen Ausgangspunkt unserer Reise.“
„Glück?“, schlug Ma Kirby etwas zaghaft vor.
„Das dürften wir wohl bis zum Anschlag ausgeschöpft haben“, gab der Hüter zu bedenken.
Wenn es nicht so tragisch gewesen wäre, dann hätten sie gelacht. Es blieb aber stumm in der Postkutsche. Nur draußen rüttelte das Wetter beständig an der Außenfläche der Zeitmaschine. Hier würde es wohl nie wirklich ruhig werden.
„Gibt es eine Möglichkeit den verbrauchten Energiefluss zu messen?“, wollte der Hüter wissen.
Flavio Peronino schüttelte den Kopf, während er sich am Kinn kratzte, als ginge ihn die Sache nicht wirklich etwas an.
„Und warum nicht?“, hakte er nach.
„Es gibt keinen Schreiber, der die Sprünge aufzeichnet. Die Skala ist zum Teufel. Muss absichtlich zerschlagen worden sein.“
Peroninos Stimme klang, als müsse er einem Kind das Ein-Mal-Eins beibringen.
„Wir sind ja auch hierher gelangt“, hielt er ihm entgegen.
„Das war etwas anderes.“
„Inwiefern?“, mischte sich nun auch Jane Esposito ein.
„Ich habe einfach den letzten Sprung zurückverfolgt ...“
„Aha.“
„... und diesen rückgängig gemacht, bzw. kopiert, aber in umgekehrter Reihenfolge. Und schließlich habe ich das schon mal erklärt.“
Stille.
„Mir geht da etwas nicht aus dem Kopf, Ma, was du zuvor mal gesagt hast“, unterbrach nach einiger Zeit Dieter Feldmann die erdrückende Stille im Fond.
„Was denn?“
„Du hast erzählt, dass die Zeitmaschine nicht in die Zukunft reisen könne.“
„Genau.“
„Wenn wir aber jetzt hier aufbrechen, dann tun wir doch genau dies, oder nicht?“
Sie nickte bestätigend und forderte ihn gleichzeitig auf, doch weiterzureden.
„Alles, wo wir in erster Linie herkommen, ist doch jetzt Zukunft.“
„Das stimmt schon, aber Dwight Leachs Truppe hat herausgefunden, dass die Gegenwart sowas wie ein Anker ist, und die Zeitmaschine immer wieder ...“
Sie bemerkte, worauf er hinauswollte.
„... an diesen Zeitpunkt zurückkehrt“, vollendete Feldmann den Satz.
„Denkst du, dass es klappen kann?“, wollte Alfredo mit neuem Feuer in den Augen wissen, das vom Licht außerhalb der Kutsche reflektiert wurde.
Auch auf die restlichen Besatzungsmitglieder ging ein Funke von Begeisterung über. Alles schaute zu Ma Kirby, die wiederum zu Peronino blickte und diesen fragend musterte.
„Ich habe absolut keine Ahnung!“, sagte dieser nach Sekunden des Überlegens, in denen er die Chancen abwägte.
„Na ja, wenigstens bist du ehrlich. Das ist doch auch schon was wert“, meldete sich noch der Hüter zu Wort.
Der böse Blick, den seine Worte auslösten, nahm er gar nicht zur Kenntnis.
„Was können wir tun?“, wollte Jane Esposito wissen.
„Es einfach mal ausprobieren“, sagte Peronino so nüchtern, wie er nur konnte.
„Ja, bravo! Noch so eine geistreiche Idee?“, hielt ihm Larsen entgegen.
„Gibt es eine andere Möglichkeit?“, fragte Jane.
„Hier bleiben und Däumchen drehen“, warf Peronino ein.
„Ich meine eine andere Möglichkeit? Eine wesentlich positivere!“, fragte sie erneut nach. „Kommt schon, Leute. Gebt euch etwas Mühe.“
Der Hüter hob eine der Waffen hoch, die sich in der Zeitmaschine befanden, und fragte so harmlos wie er nur konnte: „Diese vielleicht?“
„Dann schon lieber das Wagnis eingehen, einfach springen und schauen, wo die Zeitmaschine uns hinbringt.“
„Wo du recht hast, da hast du recht, Jane.“
Es gab so etwas wie eine Abstimmung. Was hatten sie schon groß zu verlieren? Ihr Leben? Das war hier nicht wirklich viel wert.
Abgesehen davon, würden sie sowieso alle bewusstlos sein, da sie die Spritzen gebrauchen würden, die sie außer Gefecht setzten.
Falls etwas Unvorhergesehenes passieren sollte, das ihre wunderschöne Idee zerstören konnte, dann würde keiner etwas davon mitbekommen. Was gab es Schöneres, als einzuschlafen und zu sterben?
In diesem Fall nur: Einschlafen und wieder erwachen!
Als Alfredo die Spritzen verteilte und eine davon Kane verabreichen wollte, hielt ihn Jane Esposito zurück.
„Er hat bereits vor einiger Zeit aufgehört zu atmen.“
„Oh“, machte er nur, aber sein Gesicht verfinsterte sich unmerklich. Auch der Ordensmeister nahm die schlechte Nachricht mit einem Kopfschütteln auf.
„Wollen wir ihn dann nicht am besten hier lassen?“, wollte Feldmann wissen.
Jane Esposito schüttelte den Kopf.
„Ich denke, dass er ein Anrecht darauf hat mit uns zu kommen“, wandte Ma Kirby ein. „Wenn wir zuhause ankommen, kriegt Kane ein anständiges Begräbnis.“
„Okay“, bekräftigte Alfredo ohne große Überzeugung. Sie hätten auch über das Leben eines Käfers diskutieren können, so egal war ihm das.
„Und wenn wir nicht ankommen, dann spielt es auch keine Rolle mehr.“
Sie wussten alle, was der Ordensmeister damit ausdrücken wollte. Sie waren zusammen aufgebrochen. Was spielte es für eine Rolle, wenn sie nicht auch noch gemeinsam sterben würden?
Jeder verabreichte sich eine Dosis der Spritzen.
„Ich fühle mich beinahe schon als ein Junkie der Zeit.“
Kopfschütteln und leichtes Grinsen war die einzige Reaktion darauf. Sie warteten ein paar Minuten, dann sprach Peronino aus, was sie alle wussten: „Es ist Zeit.“
Er führte eine Hand zum Auslöser und die andere hielt er in den Raum hinein. Erst nach Sekunden merkten die anderen, was er im Sinn hatte. Nach und nach legten sie ihre Hände auf seine.
„Wir sehen uns auf der anderen Seite der Hölle!“
Stummes Nicken.
Dann löste Peronino die Energie aus. Kurz darauf verließ die Zeitmaschine diese unwirtliche Welt, die sich eines Tages als die Wiege des Menschen herausstellen würde. – Das würde jedoch noch sehr lange dauern!
„Get back,
get back,
get back to where you once belonged.“
The Beatles
***
Gegenwart
Als man Billy Holiday Stunden später fand, lag sie auf ihrem Bett und schlief tief und fest. Sie hatte dazu die Embryostellung eingenommen und nuckelte immer wieder an ihrem Daumen rum. Obwohl ihre Wangen aufgequollen und von eingetrockneten Tränen gezeichnet waren, machte sie einen entspannten Eindruck. Fast schon einen glücklichen. Um nicht zu weit zu gehen, wäre erleichtert wohl angebrachter, der ihren Zustand beschrieb.
Das ganze Zimmer wies ein Durcheinander auf, als hätte ein Sturm darin getobt. Neben Billie befand sich eine Kleidergarnitur, die zwar einen unheimlich strengen Geruch von sich gab, sie aber in ihrem Bedürfnis nach Schlaf keineswegs eingeschränkt zu haben schien.
Das ganze Zimmer stank nach Ozon!
***
Einige Tage später
Die Neonlampen im Gang zum Konferenzraum des Centers gingen nur widerstrebend an. Als hätten auch sie unter den eigenartigen Auswirkungen der Zeitmaschine gelitten. Als nach einigen Sekunden des Surrens schließlich alle Lampen brannten, war der Lichtschein irgendwie blass und ungesund, und vermochte die Schatten nur zum Teil zurückzudrängen. Gerade so, dass sie nicht mehr offensichtlich zu erkennen waren, aber sie waren trotzdem noch da!
Im Konferenzraum selber wurden noch einmal der Overhead-Projektor und der Beamer gecheckt. Stühle und Tische wurden vom Staub der Tage seit der letzten Konferenz befreit.
Dann bekam der Versammlungstisch auch gleich seine schillernde Farbe zurück, als er gebohnert und poliert wurde, und nicht viel später stellten die Gehilfen zu jedem Stuhl eine Flasche Mineralwasser hin, samt Gläsern.
Als ihre Arbeit verrichtet war, verschwand die Putzkolonne wieder.
Der Konferenzraum war nun bereit. Die Meister des Ordens konnten nun kommen.
Und sie kamen auch ...
***
„Wie geht es dir, Mark?“
„Wie einem Stück Abfall.“
„Bitte was?“
„Hab schon bessere Zeiten gehabt.“
Der Hüter schlenderte neben Dieter Feldmann durch die Gänge des Centers. Die anderen waren schon vorausgegangen und hatten vielleicht sogar schon ihre Plätze eingenommen. Der Schweizer Banker blickte dem Hüter tief in die Augen, als er ihn zurückhielt und die Gelegenheit nutzte, diese Frage zu stellen.
Sogleich erkannte er den vertrauten Schmerz, den er selber, seit diesem unfreiwilligen Ausflug in die tiefste Vergangenheit der Erdgeschichte, auch gelegentlich zu spüren bekam. Manchmal weckte ihn dieses Gefühl aus tiefem Schlaf, da eine Angst sein Herz umklammerte, dass es beinahe zu schlagen aufhörte!
Es war schwierig diesen Zustand in Worte auszudrücken. Wer sich noch nie verloren gefühlt hatte, der konnte hier nicht mitreden. Es gab die Aussage, dass man nie heimkehren konnte! Nicht wirklich. Jeder Ort würde sich bei der Rückkehr verändert haben. Erst recht, wenn es ein schöner Ort mit wunderbaren Erinnerungen gewesen war.
Doch so weit weg, wie sie vom Ort eines gemeinsamen Zuhauses entfernt gewesen waren, war wohl noch nie ein Mensch gewesen.
Darum war es auch ein Ding der Unmöglichkeit, diese Gefühle in Worte zu fassen, die Psychologen aus ihnen herauszukitzeln versuchten, als sie vor Tagen endlich aus tiefem Schlaf erwachten, der sie vor den Auswirkungen der Zeitreise beschützt hatte.
Angst und Wut hielt sie alle in den Klauen, und diese hatten sie ungeniert an jedem Arzt ausgelassen, der sich mit ihnen beschäftigen wollte. Es hatte viele Stunden gedauert, bis sich Ruhe ausgebreitet hatte. Damit war dann die Erkenntnis aufgetaucht, dass sie wirklich wieder zuhause angekommen waren. Dann waren die Tränen gekommen. Tränen der Freude und der Erleichterung.
Zwei Tage später war Alfredo verschwunden. Er hatte bereits während des Experiments Anzeichen gezeigt, die darauf schließen ließen, dass der Druck zuviel für ihn war. Seither war er nicht wieder aufgetaucht. Dieter Feldmann hoffte bloß, dass es ihm gut ging. Nicht mal seine Familie wusste, wo er steckte.
Der Ordensmeister erkannte, wie der Hüter um Worte der Erklärung rang, wie es ihm wirklich ging. Er schüttelte deshalb den Kopf und schlug ihm freundschaftlich auf die Schultern.
„Es wird schon wieder.“
Und er konnte nicht wirklich sagen, ob er damit sich selber auch Hoffnung geben wollte.
„Komm, gehen wir zur Versammlung.“
Nachdem sie einige Zeit schweigsam nebeneinander gegangen und ihren Schatten gefolgt waren, sagte Mark Larsen plötzlich:
„Ich habe ein komisches Gefühl, Dieter.“
Sie blieben erneut stehen. Feldmann wandte sich ihm zu und hob fragend die Augenbrauen.
„Sag bloß nicht, die Schwarze Familie wird wieder die Versammlung angreifen! Das letzte Mal im Kyffhäuser hat mir da gereicht!“
Der Hüter schüttelte abwesend den Kopf, und so entging ihm das erleichterte Aufatmen seines Gegenübers.
„Sie werden heute die Zeitmaschine absetzen.“
„Wie kommst du darauf?“
„Kann ich dir nicht sagen. Einfach ein Gefühl.“
„Und warum bist du dann trotzdem gekommen, wenn du den Ausgang der Abstimmung bereits kennst?“
„Du weißt ja, wie das so ist“, begann er, doch Feldmann schüttelte den Kopf. Nach einem Räuspern sprach der Hüter weiter: „Nur so als ein Beispiel: Als der Film TITANIC in die Kinos kam, ging ich trotzdem hin, obwohl ich wusste, dass der Kahn am Schluss untergeht.“
„Und?“
Auf Mark Larsens Gesicht tauchte für einen Sekundenbruchteil ein Grinsen auf, das aber gleich wieder wegduckte, bevor er weiter sprach.
„Manchmal muss man einfach dabei sein. Nur schon der Neugierde willen.“ Und nach einem tiefen Atemzug: „Aber mir ist bewusst, dass sie trotzdem gefährlich ist. Die Zeitmaschine, meine ich.“
Mark Larsen sagte dies in einem Ton, als erzählte er ihm da etwas Neues. Deshalb erwiderte der Ordensmeister nur: „Ich weiß.“
„Und vor allem ist sie unberechenbar.“
Zuerst wollte Feldmann nicken, aber er entschied sich nach kurzem Überlegen dagegen. Stattdessen nahm er Mark an den Schultern und drängte ihn zum Konferenzraum hin.
„Mark, lass doch den Orden entscheiden, was getan werden soll und das Beste für uns alle ist.“
Mit diesen Worten betraten sie den Saal, der den anderen bereits Aufenthaltsort geworden war. Die elf anderen Ordensmeister und die drei geladenen Gäste waren stellenweise in rege Diskussionen vertieft, die durch ihr Erscheinen unterbrochen wurden.
Obwohl Mark Larsen schon seit gut einem Jahr der Hüter des Schatzes war, fühlte er sich immer noch als der Neue in dieser Gruppe. Der eine oder andere Ordensmeister ließ ihn das auch spüren.
Zum Beispiel Ruben Hernandez, der mit Ma Kirby in ein Gespräch vertieft war, brachte es fertig, ihm gegenüber offene Ablehnung an den Tag zu legen. Sein Art machte ihn dem Hüter gegenüber so sympathisch wie eine Streitaxt! Wenn es alleine um seine Person gegangen wäre, dann hätte er ihn schon längst darauf angesprochen, aber im Zusammenhang mit der ganzen Prophezeiung war er etwas zurückhaltender. Etwas in ihm sagte, dass das Thema noch warten müsse.
„Nun denn“, unterbrach der Großmeister mit einem Blick auf seine Armbanduhr die Gespräche, die wieder aufbranden wollten. „Wir sind komplett.“
Damit wurde die Sitzung eingeleitet, die über das weitere Schicksal der Zeitmaschine entscheiden sollte.
***
Fabio Cassani setzte sich erst, als schon jeder seinen Platz eingenommen hatte. Er zog zuvor noch das dunkelblaue Sakko aus und legte es über die Lehne des Stuhls. Es war warm genug für Hemd und Krawatte.
Nachdem er das Treiben beobachtete, verharrte sein Blick für kurze Momente auf den Aufnahmen, die an den Wänden hingen, die in seinem direkten Blickfeld standen. Sie zeigten Geschehnisse, die mit Allen Whitey Snyders Handy gemacht worden waren, und was die Experten von den Bildern noch hatten retten können. Die Qualität war nicht gerade überwältigend. Schon von der Auflösung der Kamera sprach alles dagegen, aus den Bildern Poster zu machen. Aber es war doch erkennbar, was erkennbar sein musste, auch wenn es etwas unscharf wirkte.
„Bevor wir beginnen, hat George Sandford noch etwas zu sagen.“
Dieser erhob sich bei seiner Namensnennung auch gleich. Mit seiner Kleidung – ein paar gut geschnittenen dunklen Jeans und einem Langarmshirt – sah er aus wie Bill Gates, der sich nach seinen ersten Millionen endlich annehmbare Kleider hatte kaufen können.
Er deutete mit einer Handbewegung auf die trotz der Wärme kühle Ausstattung des Konferenzraums.
„Sollen wir unsere Versammlungen künftig tatsächlich in so unwirtlicher Atmosphäre abhalten? Der Ratssaal im Kyffhäuser war mir da wesentlich lieber. Da der Verräter inzwischen tot ist, beantrage ich, den Kyffhäuser für Versammlungen wieder zu öffnen.“
Auf diese Sätze folgte zurückhaltende Zustimmung.
„Ich halte es jedoch für angemessen, nicht den Eingang von der Kyffhäuserseite zu nehmen“, fuhr er fort. „Wie ihr ja selbst mitbekommen habt, ist in Ehernau einiges passiert, bevor wir uns Anfang März dort zusammengefunden haben. Da gab es einen Amoklauf im Kino und die Sache mit der Eishockey-Mannschaft. Der Anteil an Tragödien ist für diese Stadt mehr als ausreichend gedeckt.“
Niemand sagte etwas, aber die Erinnerung an die Geschehnisse war da.
„Als Auswärtigem würde es einem nach all diesen Ereignissen sehr schwerfallen, unauffällig und unbefangen durch die Stadt zu gehen.“
„Genau“, warf Jason Bright ein. Seine Lachfältchen um die Augen herum waren auf einmal verschwunden. „Man müsste befürchten, dass einem Fremden offenes Misstrauen entgegengebracht wird.“ Nach diesem Einwurf lehnte er sich wieder in die Lehne zurück. Mit seinem Karo-Sakko und dem rostroten Polo-Pulli darunter, wirkte er wie der bekannte, schottische Gruselautor, der er auch war. Nur kleidete er sich normalerweise nicht wie das Klischee, das er früher auf den Buchrücken abbilden ließ. „Bis zu diesen Ereignissen war es für uns als Ordensmitglieder keine Schwierigkeit in der Masse unterzugehen, um uns dann zu den Höhlen durchzuschlagen.“
Peter Lord, einer der Meister, murmelte seine Zustimmung. Er trug einen dunklen Anzug, der aussah, als habe er darin geschlafen. Nachdem er seinen Beitrag geleistet hatte, nahm er einen herzhaften Schluck Kaffee.
„Wie es aussieht, sind wir alle einer Meinung“, stellte Sandford fest.
„Worauf willst du hinaus, George?“, fragte der Großmeister. Er brachte das Wesentliche zum Vorschein.
„Es gibt nur eine Möglichkeit, die Kyffhäuser-Höhlen wieder zu benutzen.“
„Es ist doch aber nicht das erste Mal, dass wir uns woanders treffen!“
„Ja, schon“, meldete sich Reinhold Stössner, der Berliner Waffenfabrikant in Reihen der Meister, zu Wort. „Aber der Kyffhäuser hat Stil. Hat Tradition.“
Mit einem indignierten Blick strich er sich auf Brusthöhe über den grauen Anzug, als habe man ihn verbal besudelt.
Fabio Cassani wandte sich erneut an Sandford, dem der Kragen seines Shirts zu eng zu werden drohte. Er zupfte nervös daran herum.
„Welche Möglichkeit?“, fragte er.
Alles blickte gespannt zum Eigentümer des Software-Giganten Comware. Wegen seiner Arbeit war er es gewohnt, Lösungen zu Problemen zu finden, an die noch keiner gedacht hatte. Hatte er auch hier bereits weiter gedacht?
„Es ginge nur noch, wenn uns der Hüter endlich seinen Eingang zu den Höhlen zur Verfügung stellt.“
Alle Blicke flogen zu Mark Larsen hin, der mit Spannung dem Wortwechsel gefolgt war. Nun machte sich doch Überraschung in seinen Zügen breit, als er so unverhofft in den Mittelpunkt gezogen wurde. Damit hatte er nicht gerechnet.
„Durch das ...“ Verdammt! Beinahe hätte er das Wort Glückshaus fallen lassen und den Meistern dadurch mehr verraten, als er bereit dazu war. Er setzte sich aufrechter hin. „Durch den Eingang auf unserer Seite?“
Sanford nickte bestimmt.
Beim Hüter bewirkte diese Geste, dass er sogleich den Kopf zu schütteln begann.
„Das kommt überhaupt nicht in Frage!“
„Moment mal ...“
„Das gibt’s doch nicht.“
Richtiggehende Empörung klang auf.
„Was nehmen Sie sich da eigentlich raus?“, hielt ihm Ruben Hernandez vor. „Wir haben ein Recht zu wissen, wo dieser Eingang ist!“
„Allemal!“, wurde er von anderer Seite unterstützt.
Mark blieb unnachgiebig. „Das kommt absolut nicht in die Tüte!“
Der Hüter war aufgestanden und stellte sich dem Schwall an Vorwürfen, die ihm da gemacht wurden. Nur gab es keine Chance, etwas dazu zu sagen. Es herrschte ein zu großes Gewirr von Stimmen und jeder versuchte, den anderen zu übertönen.
Als sich die Stimmen nicht legen wollten, hieb er mit der Hand auf den Tisch. Das zeigte auch gleich seine Wirkung. Widerstrebend und murrend setzten sich die Anwesenden wieder hin und drückten sich erwartungsvoll in die Stuhllehnen.
Waren sie nun bereit, ihn anzuhören oder taten sie nur so?
„Wenn zu viele Leute von diesem Eingang wissen, ist die Sicherheit des Schatzes nicht mehr gewährleistet. Und da ich der Hüter bin, nehme ich mir die Freiheit heraus, diese Entscheidung alleine zu fällen, was gut für den einzigen Nachfahren der Linie Christi ist.“
„Wir sind Meister des Ordens“, versuchte ihm Lucio Carrabba entgegenzuhalten. Der Kardinal im gesegneten Alter sprach das auf eine Art aus, als erwarte er dafür Respekt. Doch darauf konnte er bei Mark Larsen vergeblich warten. Mit einem „Na und?“ überging er diese Bemerkung.
Bevor sich dann ein neuer Tumult bilden konnte, rief er dazwischen: „Henry Fullbright war auch ein Meister des Ordens. Und was hat uns das gebracht?“
Er blickte mit funkelnden Augen in die Runde.
„Einen Verräter. Als vergesst es! Und wenn ihr das Gefühl habt, dass ich für euch arbeite, dann schminkt euch das ab. Ihr habt mich nicht als Hüter gewählt. Ich wurde erwählt! Durch die Prophezeiung selbst.“
Mit diesen Worten setzte er sich wieder hin. An seiner Stelle erhob sich Hinnerk. Er machte einen brummigen und unzufriedenen Eindruck, als habe ihm jemand seinen Tabak gestohlen.
„Es stimmt“, sagte er ruhig, doch seine tiefe Stimme vermochte die der anderen zurückzudrängen, auch wenn zum Teil Worte wie ‚Größenwahn’ und ‚Blasphemie’ dazugehörten.
„Der Schatz ist unser größtes Gut. Nicht nur von uns, den Trägern des Lichtes, sondern von der ganzen Menschheit! Wenn wir das leichtfertig aufs Spiel setzen, dann haben wir gar nichts aus der Vergangenheit gelernt!“
Damit setzte er sich wieder hin.
Seine Worte zeigten soweit Wirkung, dass sich die einzelnen Meister anschauten, mit den Schultern zuckten, aber auch etwas verlegen umher schauten. Es lag Wahrheit in dem, was Hinnerk gesagt hatte.
„Ich mag die Entscheidung nicht, die gerade gefällt wurde“, brachte Fabio Cassani die Gefühle zu Wort, die ein paar der Meister auch auf den Gesichtern abzulesen waren.
„Und ich erst“, unterstützte Peter Lord den Großmeister. Er hielt eine Hand in die Höhe, für alle, die nicht wussten, woher der Einwand kam. Doch Cassani blickte ihn unwillig an, ungehalten über die Unterbrechung.
„Ich mag sie nicht, akzeptiere sie aber.“
Aufkeimendes Gemurmel erstickte er mit einer unwirschen Handbewegung. Er beendete die Diskussion mit einem unmissverständlichen: „Kommen wir nun zum wesentlichen Grund unserer Versammlung.“
Anschließend gab Cassani Dieter Feldmann ein Zeichen. Dieser erhob sich auch gleich.
„Es hat irgendwie nicht funktioniert mit dem Zeitexperiment“, begann er zurückhaltend. Wahrscheinlich war er mit den Gedanken noch beim vorherigen Thema. „Und mit ‚irgendwie’ meine ich, dass es überhaupt nicht so funktionierte, wie wir es uns vorstellten.“
Feldmann fixierte den Kopf des Wissenschaftler-Teams, aber dieser hielt sich zurück. Etwas trotzig kniff Dwight Leach den Mund zusammen und biss auf den Lippen rum. Er saß auf einer Sitzgarnitur unter den Fotografien an der Wand.
Wer ihn heute zum ersten Mal zu Gesicht bekam, musste ihn für einen Banker halten, da er sich in Schale geworfen hatte, ging Feldmann durch den Kopf. Neben ihm saß Aldega Derron, der Sicherheitschef des Centers. Der machte den Eindruck eines Menschen, der sich unwohl fühlte, da er sich in Kleider gezwängt hatte, die nicht seiner Art entsprachen. Daneben saß Ma Kirby. Mittlerweile hatte er sie schon in mehreren Outfits gesehen, und musste ihr zugestehen, dass sie in jedem eine gute Figur machte. Selbst in dem knöcheltiefen Patch-Rock, wie er bei seiner Ankunft von weitem festgestellt hatte. Darüber trug sie einen dunkelbraunen Pullover, der etwas Dekolleté zeigte.
„Über die Anwendungsmöglichkeiten im Kampf gegen die Schwarze Familie waren wir uns ohnehin noch im Unklaren. Aber vielleicht hätte sie zu einem großen Trumpf, zu einer mächtigen Waffe werden können“, sprach der Ordensmeister weiter, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen. Es war keine einfache Sache, aber es ging irgendwie.
Aus den Reihen wurden seine Worte mit Nicken begleitet. Der Berliner Waffenproduzent Reinhold Stössner, der ein großer Befürworter dieser These gewesen war, nickte am heftigsten. Seine langen Finger begleiteten diese Bewegung mit einem Tippen auf der Tischplatte, als wären sie miteinander verbunden. Das gescheitelte Haar, dass ihm diagonal in die Stirn fiel, wippte dabei auf und ab. Lediglich die kleinen Haarbüschel, die über den Ohren abstanden, bewegten sich nicht.
Strössner hatte im März sogar vorgeschlagen, die Kreaturen der Schwarzen Familie in der Vergangenheit mit Waffen auszurotten, die in seiner Firma hergestellt wurden. Aber als ihm der Autor Jason Bright in einer langen Ausführung vorhielt, dass diese Tat bereits geschehen sein musste, wenn sie denn auch umgesetzt worden war, und somit in den Geschichtsbüchern nachzulesen sei, wurde es etwas ruhiger um den großen, ungelenk wirkenden Mann.
„Wir hatten die Möglichkeit! Und damit meine ich nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch.“
Dieter Feldmann zupfte sich am Bärtchen und blickte in Ma Kirbys Richtung. Sie schaute ihn auffordernd an, damit er fortfuhr, doch sie lächelte nicht.
„Wir sind zu einer Reise gezwungen worden, die wir unter eigenem Antrieb wohl nie angetreten hätten. Einesteils, weil sie als Ziel einfach hirnrissig war, und zum anderen Teil zu gefährlich für die Teilnehmer.
Andere Experimente haben gezeigt, dass die Zeitmaschine etwas von einem bockigen Gaul an sich hat, der meistens unberechenbar in seinen Entscheidungen ist und daher auch kaum verlässlich, wenn es gefordert wird.“
„Was willst du damit sagen?“, warf der Großmeister ein.
„Das Umherspringen der Kutsche kann sich lebensgefährlich auswirken.“ Mit einer Geste zur einzigen Frau in ihrer Mitte fuhr er fort: „Sie hat dies aus eigener Erfahrung erlebt. Und es war kein Spaziergang.“
Feldmann sah, wie sich Ma Kirby einen Arm um die Brust schlang, während sie sich eine Hand vor den Mund drückte.
Mit einem Blick zu Mark Larsen hin, sagte er: „Ich bin für eine weitere Abstimmung. Die Zeitmaschine gehört meines Erachtens nicht in den Kampf zwischen Gut und Böse.“
Der Saal explodierte mit Stimmen, die alle gleichzeitig etwas sagen wollten.
***
Als endlich wieder Ruhe eingekehrt war und alle ihre Sitzplätze erneut eingenommen hatten, wandte sich Cassani an Feldmann, der stehend der Welle des Protestes getrotzt hatte und immer noch stand:
„Du wolltest noch etwas sagen, bevor es ein Ding der Unmöglichkeit wurde.“
Der Banker nickte.
Mit der Hand machte der Großmeister eine Geste, als wolle er ihm das Wort übergeben.
„Die Zeitmaschine ist viel zu gefährlich.“
Erneut brandeten Stimmen auf, was jedoch zu der Situation von zuvor eher mickrig ausfiel.
„Was soll daran schon gefährlich sein?“, wollte Dwight Leach mit lauter Stimme wissen.
„Bist du vielleicht noch bei Trost? Du hast wohl die Berichte nicht gelesen?“, platzte es aus Ma Kirby heraus. Ihre grünlichen Augen machten den Eindruck, als tobte dahinter eine wütende See, die nur darauf wartete, jemanden zu verschlingen.
„Natürlich habe ich die gelesen ...“
Sie stand auf und hieb Dwight Leach über Aldega Derron eins an die Schultern.
„Hast du die Opfer vergessen, die die Zeitmaschine bereits bei den Experimenten kostete?“
Er schüttelte den Kopf und wollte etwas sagen, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. Die anderen beobachteten gespannt die Auseinandersetzung.
„Was wir durchgemacht haben? Was mit Snyder und Kane geschehen ist? Und die Angst, nie mehr nach Hause zurückzukehren?“
Sie verdrehte wütend die Augen. „Och, Dwight! Es wäre besser, es gäbe eine Kartoffelsorte mehr, als so ein kaltes und unmenschliches Geschöpf wie dich.“
Aldega Derron gelang es schließlich sie auf den Stuhl zurückzudrängen. Sie ließ es nur widerstrebend zu. Als sie bemerkte, wie sie alle anstarrten – einige belustigt, wie Dieter Feldmann auch, aber doch kritisch – wurde sie verlegen.
„Sir“, wandte sie sich an den Großmeister, „ich bitte um Entschuldigung.“
Cassani winkte ab. „Wir wissen Ehrlichkeit zu schätzen.“
„Dazu will ich aber auch mal was sagen!“ Dwight Leach hatte sich erhoben und blickte kampfeslustig in die Runde. Wer ihn nicht kannte, hielt es für echt.
„Ich weiß, dass Fehler gemacht wurden und Missgeschicke passiert sind. Auch von mir. Aber das war alles im Sinn des Experiments. Wir mussten schließlich herausfinden, was es herauszufinden galt.“
„Auf Kosten von Menschen?“, hielt ihm Jason Bright entgegen.
„Haben wir das zuvor gewusst?“
„Ich denke nicht. Oder?“
„Natürlich nicht! Sonst hätten wir es doch nicht getan. Meine Abteilung ist bekannt für ihre fehlerlose Arbeit.“
„Fehlerlos?“, unterbrach nun Aldega Derron den Wissenschaftler. Sein Zahnstocher flog nach hinten weg, als er langsam aufstand. Mit einer Hand musste er sich am Tisch festhalten, da er immer noch Probleme mit seiner Beinwunde hatte. „Fehlerlos? Mann, dann bin ich wohl immer auf die falschen Meetings gegangen.“
„Was soll das heißen?“, wurde der Sicherheitschef von Dwight Leach angezischt.
„Du markierst hier den großen Wissenschaftler, der nur das Wohl der Menschheit im Sinn hatte. Dabei habe ich mich lange genug gefragt, was es genau ist, dass dich dazu drängt über Leichen zu gehen.“
„Ich geh doch nicht über Leichen“, empörte sich der Wissenschaftler.
„Und was war, als du die Zeitkomponente löschen ließt, als die Ergebnisse bereits mehr als aussagekräftig waren? Das hat auch wieder Menschen das Leben gekostet.“
„Ja und? Für das Allgemeinwohl war es nur ein kleines Schicksal, das geopfert werden musste.“
„Ja und? Bist du vielleicht nicht ganz dicht ...“
„Meine Herren“, warf der Großmeister ein, doch Derron hatte sich den Wissenschaftler bereits zur Brust genommen und schüttelte ihn hin und her. Wut ließ es zu, dass er von seiner Verletzung nichts mehr mitbekam.
„Du hättest auch Tiere für diesen Versuch gebrauchen können. Affen. Dich!“
Die Ordensmeister, die gerade in der Nähe der beiden Streithähne waren, erhoben sich und versuchten die beiden zu trennen.
Peter Lord sah mit seiner teigigen Masse ein bisschen wie ein Sumo-Ringer aus. Was ihm jedoch fehlte waren Kraft und Ausdauer. Und die hätte es gebraucht. Wie konnte er die auch haben, wenn sein Motto ‚Sport ist Mord’ lautete? Die bekam er aber auch nicht, wenn er jede Minute hinter dem Computer verbrachte, auch wenn es dem Orden sehr zuträglich war.
Dass einer davon noch zusätzlich der Kardinal Lucio Carrabba war, war vielleicht mit ein Grund, dass es von seiner Seite her auch nicht funktionierte, da der alte Mann kaum die Kraft aufbieten konnte, die dazu erforderlich war, um die beiden Streithähne zu trennen. Der alte Mann musste aufpassen, dass er nicht selber unter die Räder kam.
Erst als der Australier Stephen Falk zu Hilfe kam, wurde es wieder etwas gesetzter und die aufgebrachten Gemüter konnten gewaltsam getrennt werden. Mit seiner imposanten Gestalt, die eher in einen Abenteuerfilm gehörte als in diese Gegend, gelang es endlich zu schlichten. Er setzte sich dann auch gleich so hin, dass er zwischen die zwei Kontrahenten zu sitzen kam.
Als sich alle wieder einigermaßen beruhigt hatten, verordnete Cassani eine Pause.
***
Dieter Feldman bekam noch mit, wie sich Derron mit den Worten von Dwight Leach entfernte: „Mit dir rede ich nicht mehr.“
Daraufhin verließ der Wissenschaftler den Konferenzraum eingeschnappt in ein Nebenzimmer.
Als der Banker zu Derron aufschloss, machte sich der Sicherheitschef Luft.
„Ich kann es nicht glauben, was der Idiot für eine Einstellung hat. Bei dem ist doch jedes Gramm dumm! Der glaubt doch allen Ernstes, dass ich mir das einfach anhöre, wenn er erzählt, dass ich all die Leute aus dem letzten Versuch als Opfer für die gute Sache hätte annehmen sollen, wenn ihr alle drauf gegangen wärt.“
Aufgebracht schüttelte er den Kopf und fuhr sich mit einer Hand über die Stirn, bis zum Knoten, der das Haar im Nacken zusammenhielt.
„Sind wir zum Glück nicht.“
„Zum Glück nicht“, bestätigte Derron. „Ich hätte ihn umgebracht, wenn euch was passiert wäre.“
„Da hättest du dich aber beeilen müssen. Ob dir Billie Holiday den Vortritt gegeben hätte, wage ich nämlich zu bezweifeln.“
Derron winkte ab. Er war nicht in Stimmung sich auch noch über dieses Thema zu unterhalten. Mit der linken Hand fummelte er am Mund rum, als suche er da was, aber da war kein Zahnstocher, den er zwischen den Fingern hätte hin und herschieben können, damit seine Hände etwas zu tun bekamen.
„Warum so aufgebracht?“, wollte Feldmann nach einigen Sekunden der Stille wissen, in denen sie aneinander vorbeischauten und so taten, als suchten sie krampfhaft nach einem Thema, über das sie reden konnten, das aber gleichzeitig neutral genug war. „Ich wusste gar nicht, dass dir an mir soviel liegt.“
Es sollte eher ein Witz sein, der Derron wieder etwas beruhigen sollte, aber es sah nicht danach aus, als käme Feldmann damit gut an.
„Wir waren mal zusammen“, meinte Derron achselzuckend.
„Wer ‚wir’?“
Offenen Blickes schaute er dem Schweizer ins Gesicht, als er antwortete: „Ma Kirby und ich.“
Und als er dessen starren Blick sah, fügte er hinzu: „Hat sie dir nichts erzählt?“
„Warum sollte sie das tun?“, kam es Dieter Feldmann automatisch über die Lippen.
Ja, warum sollte sie das, fragte er sich in Gedanken, als er nicht gleich eine Antwort bekam. Es war ja nicht so, dass zwischen ihnen etwas passiert war, und doch konnte er es nicht einfach so ungeschehen machen, was er gerade gefühlt hatte, das sich wie ein kleiner Stich anfühlte.
„Es war schon lange aus zwischen uns. Als wir nach Palermo versetzt wurden, kamen wir uns wieder näher“, nahm ihn Derron noch weiter ins Vertrauen. Am liebsten hätte er ihm gesagt, dass er die Klappe halten sollte, doch der Sicherheitschef fuhr ungehindert weiter. Es war, als müsse er sich etwas von der Seele reden.
„Nach einiger Zeit haben wir dann gemerkt, dass wir uns gegenseitig kaputt machten. – Das ist aber auch schon eine Zeitlang her. Wir kommen uns nur noch gelegentlich in die Haare.“
Es erklärte auf jeden Fall die Szene in der Cafeteria, als er im Center ankam, dachte der Ordensmeister.
„Und was ist jetzt?“, wollte er wissen.
„Was meinst du?“
„Was hat das mit Dwight Leach zu tun?“
„Wir mögen vielleicht nicht mehr zusammen sein und im selben Bett schlafen, aber dass ich sie immer noch gern habe – vielleicht sogar noch liebe – sollte dir doch klar sein, oder?“
Dieter Feldmann nickte seinem Gegenüber zu, der ihn mit einem bösen Blick anstarrte. Obwohl sie ihre Differenzen hatten, war sich der Ordensmeister im Klaren, dass Derron nicht auf ihn wütend war.
„Und da sagt der Arsch doch, dass ich sie als ein Opfer für die Sache anschauen soll!“
Feldmann nickte verstehend.
***
„So“, begann Feldmann, als er endlich fündig wurde und sich zu Ma Kirby gesellte. Ruben Hernandez ließ sie nach Minuten endlich mal alleine! Dessen Charme kam wohl nicht so gut an – hoffte Feldmann wenigstens. Er trat in eine Parfümwolke, die ihn beinahe zum Husten brachte. Mann, war das ein widerlicher, süßer Geruch, den er Spanier da verteilt hatte!
Sie sah ihm erwartungsvoll entgegen. In ihrem Gesicht kam Freude auf, die selbst ihre Augen zum Leuchten brachte.
„So?“
„Du und Derron also?“, meinte er mit einem Lächeln im Gesicht, auch wenn ihm nicht wirklich danach zumute war.
„Was ist damit?“, fragte sie vorsichtig, als trage die Frage einen Wettlauf über ein Minenfeld nach sich.
„Du hast nichts gesagt ...“
„Du hast nicht gefragt“, schnitt sie ihn ab.
„Hätte ich denn fragen sollen?“
„Hättest du?“, fragte sie zurück.
Aufmerksam sah er sie an. Da war keine Lüge in ihrem Gesicht zu sehen, kein Hinterhalt und kein Betrug. Er sah nur das, was er schon beim ersten Mal angetroffen hatte: Eine Frau, die ihn faszinierte. Und vor allem eine Person, die er näher kennen lernen wollte, auch wenn er fühlte, als würde er sie bereits kennen.
Er schüttelte den Kopf.
„Ich bin kein Mann für eine Nacht.“
Mein Gott, wo kam das denn her?, fragte er sich, als die Worte schon über die Lippen waren.
Sie lachte auf und betrachtete ihn mit einem Grinsen auf dem Gesicht.
„Wäre das nicht mein Satz gewesen?“
„Ich will alle Nächte!“
Angriff ist schließlich die beste Verteidigung, sagte er sich.
„Und was ist mit den Tagen?“, fragte sie keck nach.
Sie zog in zu sich heran und gab ihm einen Kuss auf den Mund.
„Du großer, böser Wolf, du.“
***
„Zeitreisen sind geil“, ließ sich Jason Bright vernehmen. „Das muss man unumwunden zugeben. Aber nur solange sie hypothetischer Natur sind. Werden sie nämlich Fakt, dann ergeben sich nicht nur riesige Möglichkeiten – nein – sondern auch riesige Gefahren. Was geschieht bei einem solchen Experiment? Was tun wir damit der Menschheit an?“
Er schaute gespannt in die Runde, aber niemand fühlte sich dazu berufen, den Autor zu unterbrechen.
„Gebt einem Wilden eine Maschinenpistole. Am besten gleich eine entsicherte! Welche Folgen hat das für das Dorf, aus dem diese Person stammt? Oder für seinen Nachbarstamm?
In unserem Fall müssen wir etwas globaler denken. Wenn wir mit der Zeitmaschine Scheiße bauen, kann das die Menschheit, unter Umständen das ganze Raumzeitgefüge, erschüttern. Mit ein paar Sprüngen kann das Universum vielleicht umgehen, doch wie finden wir die Grenze, bevor alles kollabiert?“
„Indem wir es austesten“, hielt ihm Dwight Leach entgegen.
„Ach ja? Wo nehmen Sie dann die Luft her, um sagen zu können ‚Shit, die anderen hatten doch recht!’, wenn Ihnen alles um die Ohren fliegt?“
Gelächter brandete auf.
„Gib einem Wilden ein Flugzeug oder auch nur ein Auto. Ich bin überzeugt, dass er es mit der Zeit zu gebrauchen lernt“, sagte Leach.
„Klar doch, wenn ihm jemand zur Seite steht und ihn dabei unterrichtet“, hielt man dem Wissenschaftler entgegen. „Sonst schmückt er es mit Blumen und verehrt es als Gottheit.“
Wieder wurde gelacht.
„Nein, auch sonst!“
„Ach ja? Dann sind wir mit der Zeitmaschine aber ein leuchtendes Beispiel“, meinte Derron schnippisch.
„Wir haben viel herausgefunden ...“
„Auf Kosten von wie vielen Menschenleben?“, fuhr ihm Ma Kirby dazwischen. Nur mit Mühe konnte sie die Hochnäsigkeit des Wissenschaftlers weiterhin ertragen.
„Ihr reitet immer auf den selben Fehlern rum!“
„Es sind wichtige Punkte, die hier zur Sprache kommen, meine Dame und meine Herren“, versuchte Jason Bright die Gemüter etwas zu beruhigen. „Ich gebe nur zu Bedenken, dass die Unfälle, die mit einem Flugzeug oder einem Auto geschehen können, nur räumliche Folgen haben. Bei Ihren Beispielen“, und damit fixierte er den Wissenschaftler, „spielt die Vergangenheit bis zu diesem Zeitpunkt keine Rolle, an dem dieser Unfall geschieht. Nur können wir uns dies mit der Zeitmaschine nicht leisten, dass uns die vierte Dimension um die Ohren fliegt.“
„Oder etwa eine andere“, gab Peter Lord zu bedenken. Mit aufmerksamen Augen folgte er den Argumentationen beider Lager.
„Genau“, pflichtete ihm Jason Bright bei. „Wir wissen ja nicht einmal in welcher Dimension Leonardos Maschine funktioniert. Dann haben Sie ja noch herausgefunden, dass Magie im Spiel ist.“
Dwight Leach nickte zurückhaltend. Er machte den Eindruck, dass hiermit endgültig sein Spezialgebiet verlassen wurde.
„Oder etwa nicht?“, fragte der schottische Autor nach.
„Etwas ist da – muss da sein! Anders lässt sich die Energie nicht erklären.“
„Was meinten unsere Magier vom Orden dazu?“, warf der Großmeister ein.
Als niemand gleich antwortete, meldete sich Aldega Derron zu Wort. Bei seinen Ausführungen blieb er dieses Mal sitzen. Sein Bein machte nicht mehr mit.
„Sie kennen die alte Sprache, wissen aber zum Teil nicht, warum die Bannsprüche wirken, da der Sinn der Sprache verloren ging. Die Magie, die in der Maschine steckt, muss aber älter sein. Vielleicht sogar atlantischer oder lemurischer Natur – wenn überhaupt.“
„Wenn überhaupt?“
„Ich habe unsere Magier schon Vermutungen anstellen hören, dass diese Art von Magie nicht von dieser Welt sei.“
„Ist dies offiziell?“
Derron musste lachen und winkte ab.
„Natürlich nicht! Das wurde mir hinter vorgehaltener Hand und im Vertrauen mitgeteilt.“
„Und dann wohl noch im Dunkeln, was?“
Damit brachte Jason Bright die Anwesenden erneut zum Schmunzeln. Jedenfalls die meisten. Fabio Cassani musterte Derron angespannt, bevor er sagte: „Mit anderen Worten: keine Ahnung!“
„Genau. Es sind alles bloß Vermutungen. Und diese äußerten sie nur, damit sie das Kind beim Namen nennen konnten.“
„Wie kann man das verstehen“, hakte Nicolas Gainsbourg nach. Er stützte sich auf einem Arm ab, während er den anderen zum Gestikulieren verwendete.
„Der Mensch versucht naturgemäß, allem einen Namen zu geben, es einzuordnen und in eine passende Schublade zu legen. Ist das dann geschehen, verliert das Ding - nun mit Namen - seine Wirkung. Mit anderen Worten: Es ist nicht mehr so gefährlich.“
„Wenn du meinst“, machte der Franzose. Er war nicht der einzige, der etwas skeptisch zu Aldega Derron blickte.
„Was ist eigentlich mit diesem Naxos Shadrach?“, wechselte Stanley Henley das Thema. Auf diese Frage folgte zuerst betretenes Schweigen.
„Wir haben uns überlegt, ob das womöglich der Magiername von Leonardo daVinci war.“ Peter Lord blickte in die Runde und erwartete eine Reaktion, die aber unmittelbar ausblieb. „Nur war der nicht schwarz!“
„Wie sieht es mit Samuel Brunner aus?“, hielt schließlich Cassani entgegen. „Besteht ein Zusammenhang?“
„Wer weiß das schon so genau.“ Die mit Akzent gesprochenen Worte des Spaniers enthielten sehr viel Wahrheit, auch wenn sie die Anwesenden und ihre Forschungsgruppen alle in einem schlechten Licht zeigte.
„Das bringt uns zum eigentlichen Thema zurück“, versuchte Dieter Feldmann zusammenzufassen: „Wir wissen nicht wirklich etwas. Und das ist doch sehr beängstigend.“
„Kommen wir zur Abstimmung“, sagte Fabio Cassani. Er war kein Mann von großen Reden. Die überließ er liebend gern anderen Leuten. Er war ein Mann der Tat. Er sah gerne Ergebnisse. Und die blieben aus, wenn nur palavert, aber keine Entscheidungen gefällt wurden.
„Was meinst du, Jason?“
Der Autor hatte sich gerade ein Kaubonbon in den Mund gestoßen. Als er so unvermittelt zu einer Stellungsnahme aufgefordert wurde, klaubte er schnell ein Taschentuch hervor, und spuckte es in den Stoff.
„Sorry“, meinte er. „Ich habe mich bereits bei unserer letzte Abstimmung gegen die Erforschung der Zeitmaschine ausgesprochen, auch wenn es mich als Autor von phantastischen Geschichten wurmt, dies zugeben zu müssen. Aber für mich steht fest, dass wir die Realität von der Fantasie trennen müssen.“
Auffordernd blickte er in die Runde, aber man hörte ihm gespannt zu. Von einigen bekam er ein aufmunterndes Nicken zu sehen. Noch wusste er nicht, ob damit seine Ansicht geteilt wurde, oder ob man einfach mehr davon hören wollte.
„Das war damals. Wie stimmst du heute ab?“
„Immer noch dagegen. Und was wir an Berichten gelesen und mitbekommen haben, lässt mich erst recht an meiner Entscheidung festhalten.“
„Danke, Jason.“
Anschließend wandte sich der Großmeister ans nächste Mitglied: „Was sagst du, Lucio Carrabba?“
Der alte Ordensmeister entfaltete seinen knorrigen Hände und schob sich die Brille die Nase runter. Cassani wusste, dass er die nur zum Lesen brauchte. Der Kardinal besaß selbst im hohen Alter noch die Augen eines Adlers. Dumm war nur, dass er damit nicht nur das Offensichtliche sah.
„Ich glaube, dass die ... Zeitmaschine nur dazu da ist, um uns zu testen und in Versuchung zu führen. Wir werden auch ohne sie zurechtkommen.“
Fabio Cassani nickte. Diese Antwort hatte er erwartet. Wenn Lucio bereits mit einem Handy Probleme bekam, dann musste die Zeitmaschine ein Konzept sein, das sein Gehirn sträubte aufzunehmen. Vielleicht glaubte er sogar, dass sie ein Werk des Teufels war? Wer konnte schon das Gegenteil beweisen?
„Meine Einstellung kennt ihr ja“, gab er anschließend bestimmt von sich.
Von einigen Leuten am Ratstisch bekam er einen erstaunten Blick zugeworfen, aber erst Aldega Derron brachte die Sache auf den Punkt.
„Keine Ahnung wie die aussieht. Wir Unwissenden“, und damit deutete er auf Ma Kirby und sich, und mit einem gewissen Widerwillen im Gesicht auch auf Dwight Leach, „wären doch froh, wenn du uns mit deiner Meinung erleuchten würdest.“
„Dagegen.“
„Das war ja mal eine ausführliche Antwort“, machte Hinnerk mit einer spöttischen Bemerkung auf sich aufmerksam. Bis jetzt hatte er es verstanden, im Hintergrund zu bleiben. Der großbäuchige Hüne hatte sich nach der Pause wieder neben Mark Larsen hingesetzt und seither den Mund gehalten.
„Ihr wisst nicht, was ihr euch da entgehen lasst“, stieß er hervor.
„Die Abstimmung läuft noch, Hinnerk.“
Aus der ruhigen Stimme des Großmeisters war Tadel zu hören.
„Ich weiß. Aber seht doch nur eure Gesichter. Da kann ich schon jetzt sagen, wozu ihr euch alle entschieden habt. Ihr tut gerade so, als wärt ihr alle in die Vergangenheit gereist und hättet erlebt, was die Leute vom Pathfinder-Team erlebt haben.“
Er deutete dabei auf die Fotografien an den Wänden.
„Wi möt wat wogen. De Bösen moken uns sünst kaputt.“ Und als niemand etwas darauf erwiderte (weil wohl kaum jemand ihn verstanden hatte), sagte er: „Wenn wir Menschen als Kinder gleich beim ersten Mal aufgegeben hätten, dann würden wir immer noch auf den Knien rumkriechen.“
***
Hinnerks Ausbruch hatte zu einer weiteren Unterbrechung der Sitzung geführt, da sie Unruhen nach sich zog, die sich nicht so ohne weiteres hatten beruhigen lassen.
Als sie sich nach Minuten wieder zusammenfanden, eröffnete Cassani einen weiteren Abschnitt der Sitzung:
„In welche Richtung Hinnerks Entschluss ging, dürfte mittlerweile bekannt. Wozu hast du dich entschlossen, Stephen?“
Der gebräunte Australier erhob sich kurz. Mit seinem braunen Safarianzug war er etwas fehl am Platze, aber das spielte hier nicht wirklich eine Rolle.
„Dagegen.“
Er gab sich Mühe, doch selbst dieses eine Wort kam daher, als wären ein paar lose Kieselsteine in seinem Mund, die ihm das Sprechen erschwerten.
Als nächster kam Dieter Feldmann an die Reihe. Er sprach aus, was dem einen oder anderen auch schon durch den Kopf gegangen war:
„Wir sind noch nicht reif dafür.“
Und als er Mark Larsens enttäuschten Blick auf sich ruhen sah, fuhr er mit seiner Ausführung fort. Dabei hielt er auch weiterhin zum Hüter Augenkontakt.
„Wir haben etwas erlebt, das vor uns wohl noch nie jemand erleben durfte. Und ich hoffe, dass das auch nie jemand nach uns erleben muss! Nicht einmal meinem ärgsten Feind wünsche ich diese Erlebnisse an den Hals. Mir ist bewusst, dass es fantastisch war, was wir durchgemacht haben, aber ich kann das auch nur mit ehrlicher Überzeugung sagen, weil ich hier und heute vor euch stehe. Mehr oder weniger unverletzt.
Ich kann nicht für etwas sein, das einen Preis kostet, den wir nicht abschätzen können. Doch genauso wenig wissen wir, was uns diese Maschine tatsächlich bringt. Die Gefahr ist zu groß!“
Mit diesen Worten ließ er sich auf den Stuhl fallen. Es machte den Anschein, als sei die Luft aus ihm entwichen.
***
„Kommen wir zum zweiten Teil.“
Cassani blickte nach der offiziellen Pause in Nicolas Gainsbourgs Richtung, der sogleich ein paar Papiere auf die Seite schob und sich erhob. Bei seiner schiefen Körperhaltung musste er eine Hand auf den Tisch stellen, um seiner großen Gestalt Halt zu geben. Mit der anderen unterstrich er seine Worte:
„Ich bin dafür.“
Es sah aus, als würde er jeden Satz mit einem Ausrufezeichen beenden.
Lag es an seinem Aussehen, das entfernt an Albert Einstein erinnerte, dass er für die weitere Erforschung war?, fragte sich der Hüter, der schon jetzt eine rabenschwarze Bilanz zog. Gut, es war gerade eine Stimme mehr geworden. Doch mit der von Hinnerk waren es erst zwei. Nur waren mittlerweile sechs dagegen.
Als nächstes meldete sich Stanley Henley zu Wort. Es sah ganz so aus, als würde er seinem Kollegen Jason Bright im Urteil folgen. Er stimmte nämlich gegen die Zeitmaschine.
Sobald Ruben Hernandez zu sprechen begann, durchfuhr Mark Larsen die Realisation, dass jetzt bereits das Urteil gefallen war: mehr als die Hälfte war dagegen! Da mochte der Spanier auch nichts mehr ausrichten. Das Wort „Dagegen“ machte das Unheil auch nicht geringer. Er hatte es bereits vermutet, dass der Hotelinhaber gegen die Erforschung stimmen würde. Schon allein aus dem Grund, weil er – der Hüter – dafür war. Was hatte er ihm nur in den Weg gelegt, dass er so ablehnend war?
Der fettleibige Peter Lord brachte mit seinem schwungvollen „Ich bin gegen die Erforschung“ nur gerade seine Hängebacken zum Tanzen.
George Sandford und Reinhold Stössner bildeten den Abschluss der Abstimmung. Der eine war dagegen, der andere dafür. Doch wirklich benötigt hatte man ihre Stimme nicht mehr. Die Würfel waren schon gefallen!
Neun zu drei Stimmen, und das gegen die Erforschung der Zeitmaschine. Lag das nun wirklich an den ungeahnten Möglichkeiten oder Gefahren, die die Zeitmaschine bot, oder hatte das auch noch damit zu tun, dass er den Ratsmitgliedern zuvor ein Abfuhr wegen des Eingangs über das Glückshaus verpasst hatte?
***
„Ich bin dafür!“
Der Hüter war aufgestanden und tat seine Meinung kund, auch wenn ihn niemand direkt nach dieser gefragt hatte. Man blickte ihn zum Teil an, als wäre plötzlich und unvermittelt ein rosa Elefant unter ihnen erschienen. Es wurde mit einem müden Lächeln akzeptiert, dass er nicht einfach so kampflos aufgeben wollte.
„Das dürfte wohl allen klar sein, Mark“, meinte Feldmann. Seine Stimme enthielt eine Spur Mitleid, die er zu ignorieren versuchte.
Hinnerk wolle ihn zurück auf den Stuhl ziehen, aber er ließ das nicht zu. Er wedelte die Hand weg.
„Ich denke, dass Leonardos Maschine wichtig ist“, sagte er beharrlich, fast schon trotzig.
„Ist zur Kenntnis genommen worden“, sagte Cassani.
„Weshalb genau?“, wollte Jason Bright wissen. Neugierde hatte sich auf seine Züge geschlichen, aber Mark konnte nicht sagen, aus welchem Grund. War es wirklich seine Meinung, die da mit Spannung erwartet wurde oder etwas anderes? Falls es etwas anderes war, worauf wartete der Schotte dann? Dass er sich hier blamierte?
Der Hüter holte tief Luft und begann ausführlich seine Ansichten darzulegen, die er bereits Ma Kirby und Dieter Feldmann am Anbeginn der Zeit als Theorie unterbreitet hatte: der Darwinismus des Verräters. Und dass unter Umständen gerade das Auftauchen in dieser Zeit der Grundstein für das menschliche Leben gelegt wurde.
Es wurde gespannt zugehört. Daran gab es nichts zu rütteln. Aufmerksame Hörer waren die Ordensmeister und ihre Gäste allemal.
„Ist weit hergeholt“, ließ sich Cassani vernehmen, als der Hüter geendet und sich wieder hingesetzt hatte.
Zum Teil wurde beipflichtend genickt. Einige ließen sich zu keiner Äußerung verleiten. Das war auch gut so, dachte sich der Hüter. Es war ja nur eine Theorie. Zumindest zu denken geben, sollte sie ihnen. Falls es in naher Zukunft wieder eine Abstimmung geben sollte ...
„Nicht unbedingt“, zuckt der Autor auf einmal auf und erhob sich von seiner Sitzfläche, als sei er von einer Biene gestochen worden.
„Nicht unbedingt was?“
„Die Idee. Die Theorie. Ich finde sie nicht allzu weit hergeholt.“
„Wie meinst du das?“
Es war dem Großmeister anzusehen, dass er das Thema gerne beendet hätte. Vor allem sein Blick auf die Armbanduhr sprach Bände.
„Was geht dir wieder durch den Kopf, Jason“, wollte auch Feldmann wissen. „Eine Idee zu einem neuen Buch?“
Er winkte ab.
„Stellt euch doch nur mal vor, dass die Zeitmaschine den Impuls ausgelöst hat, indem sie sich dafür verantwortlich zeigte, dass das erste Leben den Ozean verließ, um sich an Land breit zu machen.“
Mit leuchtenden Augen schaute Jason Bright in die Runde. Er war hinter seinen Stuhl getreten und während des Sprechens entledigte er sich seines Karo-Sakkos. Er ließ es über den linken Arm fallen. Es sah aus, als wäre er bereit zu gehen, wollte aber noch schnell etwas zum Thema geklärt haben.
Wenn er ein so mitreißender Autor war, wie er sich vor Zuhörern gab, dann waren seine Bücher zu Recht in den Bestsellerlisten vertreten, ging Mark Larsen ein Gedanke durch den Kopf. Hatte er in ihm einen Befürworter seiner Theorie gefunden, trotz dessen Ablehnung, die Experimente weiterzuführen?
„Es gibt da nur ein klitzekleines Problemchen.“
Und der Hüter sah seine Felle schon wieder davonschwimmen!
„Falls Leonardos Maschine mit ein Grund war – und ich betone das speziell – falls sie von uns rein zu diesem Zweck verwendet wurde – ob wissend oder unwissend –, dann hat sie hiermit ihre Aufgabe bereits erledigt.“
Jason Bright hob die Schultern.
„Es gibt also auch von dieser Seite her keinen Grund, die Experimente wieder aufzunehmen. - Nur so ein Gedanke.“
Der Großmeister nickte, stand auf und schlug die Hände zusammen.
„Das war’s!“
Allerdings!, ging dem Hüter noch durch den Kopf, als alle aufstanden und sich zum Gehen bereitmachten. Die Entscheidung war gefallen.
***
Es war dunkel. Das passte ausgezeichnet zu seiner Stimmung! Nur vom Gang her drang etwas Licht in den Konferenzraum. Der Hüter lag rücklings auf dem Tisch, um den über das weitere Vorgehen bei der Maschine entschieden worden war.
Seine Beine baumelten bewegungslos über dem Boden.
Er stellte resigniert fest, dass man zu dieser außergewöhnlichen Verantwortung nicht gerade Sorge getragen hatte.
Alle waren gegangen. Nur Hinnerk trieb sich noch irgendwo im Center herum und wartete auf ihn. Und was hatten sie zurückgelassen? Einen Scherbenhaufen! Mark Larsen konnte es nicht fassen! Es war also genau so geschehen, wie er es geahnt hatte: Die Erforschung der Zeitmaschine war eingestellt worden! Und das mit einer erdrückenden Mehrheit. Er kam sich vor wie bei einem Deja-vû. Schon einmal hatte sich der Orden gegen die Nutzung der Maschine ausgesprochen. Als aber ein Angriff erfolgte und es anschließend zu einer weiteren Abstimmung kam, hatte es sich der eine oder andere noch einmal anders überlegt.
Nicht so heute!
Er hatte auf etwas gewartet, er konnte nicht genau sagen, was es war. Irgendwie empfand er es betrüblich, dass er auch mit einem erneuten Angriff zufrieden gewesen wäre. Einfach etwas, das den Leuten vom Orden gezeigt hätte, dass es die Zeitmaschine und deren Erforschung brauchte.
Doch es war nichts geschehen ... Und er hatte dem Rest der Sitzung nur noch mit einem Ohr zugehört.
Als der Beschluss gültig war, kam man zu der Folgerung, dass die Zeitmaschine in die Schweiz gehörte. Man würde sie anschließend im Tresor von Dieter Feldmanns Bank unterbringen, bis man genau wusste, was mit ihr zu geschehen hatte.
Das Center in Palermo wurde zur Erforschung von anderen Objekten aus der Höhle der Geheimnisse beauftragt. Es gab ja noch genug davon! Die Höhlen im Center waren durch die Zeitmaschine etwas in Mitleidenschaft gezogen worden, aber es gab genug andere, in die man ausweichen konnte.
Dwight Leach bekam einen Verweis, blieb aber vorläufig in seiner Stellung als Chef der Wissenschaftler. Mit den weiteren Forschungen waren nicht mehr so viele Menschenleben einer Gefahr ausgesetzt. Hoffte man jedenfalls!
Flavio Peronino kam vor ein Strafgericht.
Das selbe mit Jane Esposito. Ihr wurde fahrlässige Tötung vorgeworfen, der schließlich Allan Whitey Snyder und Harry Kane zum Opfer gefallen waren. Nicht zu vergessen auch Vincent Toneatti. Es war jedoch anzunehmen, dass diese Urteile nie ausgeführt wurden. Sie waren nicht wirklich die Luft und das Papier wert, das dafür vergeudet wurde, bis die Urteile standen. Beide TS-Soldaten hatten in außergewöhnlichen Situationen Entscheidungen getroffen, die unter normalen Umständen anders ausgefallen wären. Dessen waren sich alle bewusst.
Klar hatte Mark Larsen damit gerechnet, dass sein Wunsch den Bach runter ging. Feldmann gegenüber hatte er diese Möglichkeit bereits erwähnt, bevor sie gemeinsam den Abstimmungssaal betreten hatten. Doch das war damals gewesen. Jetzt hatte er es mit der Realität zu tun. Und die hatte es in sich!
Er fühlte sich enttäuscht. Geschlagen. Nicht, dass ihn jemand physisch getreten hätte, als vielmehr der Gedanke, dass hiermit eine Schlacht verloren gegangen war und ihm damit jede Möglichkeit genommen wurde, etwas auszurichten. Und das Perfide daran war, dass diese Niederlage aus den eigenen Reihen kam!
Im Hinterkopf hatte er immer die Möglichkeit gehabt, auf der Suche nach der Waffe, die ihm prophezeit worden war, mit Leonardos Maschine zweitausend Jahre in die Vergangenheit zu reisen und den Prophezeienden selbst danach zu fragen. Diese einfache Möglichkeit war ihm nun genommen worden. Er musste die Waffe auf andere Weise finden – und er hatte nicht die geringste Ahnung, wie er das anstellen sollte.
Das alles ließen die letzten Stunden wie einen Verrat erscheinen, den die Ordensmeister an ihm geübt hatten. Diese Erkenntnis lastete schwerer auf ihm, als wenn er in einem fairen Kampf der Unterlegene war.
Hinnerk hatte noch versucht, ihn von den trüben Gedanken abzulenken, aber er musste ihn schließlich wegschicken. Er ertrug den Gefährten vieler Abenteuer im Moment nicht. Er wollte allein sein und sich darin suhlen, wie der Orden ihn gerade fertig gemacht hatte. Die Entscheidung nicht als einen persönlicher Affront zu nehmen, war schon schwer genug. Er hatte gute Lust alles hinzuschmeißen!
Bei diesem Resümee angelangt, musste er sich eine Träne aus dem Augenwinkel drücken. Es war unfair! So verdammt unfair und schwer!
Sehr viel später erhob sich der Hüter wieder. Es war kalt geworden und seine Bewegungen schmerzten, als er schließlich vom Tisch auf den Boden des Saales wechselte. Sich strecken half nicht viel. Dann verließ er etwas ungelenk den Versammlungssaal.
Draußen empfing ihn Hinnerks Stimme: „Lass uns nach Hause fahren.“
„Even the smallest light
shines in the darkness.“
***
Epilog – Vergangenheit
Am so genannten Beginn der Zeit, der sich als das Grab der Menschheit hätte herausstellen können, noch bevor sie überhaupt die Chance zu Leben bekommen hatte, liefen nackte Füße über zerfurchten und aufgerissenen Felsen. Ohne Hast und mit sicherem Tritt und ohne sich eine Verletzung zu holen. An einem unwirtlichen Strand kam die Person zum Stillstand, die trotz der heftigen Witterung nur ein dünnes Gewand trug, das sie sich über die Schultern und um die Hüften gewunden hatte. Es war ein samtartiger Sari. Das Kleidungsstück bestand aus blutroter Seide und bewegte sich kaum im Sturm.
Dunkles, fast schon pechschwarzes Wasser umspülte die Leiche von Vincent Toneatti, dem ehemaligen Assistenten von Dwight Leach, der hier sein unrühmliches Ende gefunden hatte. Um seinen Körper lagen zertrampelte Wesen, die fischähnlich aussahen. Spuren eines Kampfes wurden vom tosenden Meer und der Brandung mehr und mehr unkenntlich gemacht, und würden unter dem angespülten Sand mit der Zeit verschwinden.
Der Ankömmling blickte den Strand entlang und sah weitere Wesen, die sich aus dem Meer drängten. An dieser Stelle war die Anzahl der Tiere am größten. Doch er wusste, dass sich dieser Vorgang auch an anderer Stelle auf dieser Welt vollzog. Wenn auch in geringerem Umfang.
Die Gestalt im roten Gewand begab sich gemächlich zum leblosen Körper und kniete sich seitwärts daran nieder, während er darauf bedacht war, den zermalmten Wesen nicht noch mehr Schaden zuzufügen. Als sich an diesem Ort etwas wie Demut auszubreiten begann, lag die Welt drumherum in tosendem Aufruhr. War dies die Wiege der Menschheit, dann musste es eine Zangengeburt gewesen sein: Mutter Erde schrie, was das Zeugs hielt!
Was unmöglich erschien, geschah nun innerhalb von Sekunden: Die Person machte eine Handbewegung, die einem Zuschauer eher als beiläufig vorgekommen wäre, und die Gezeiten beruhigten sich. Der Sturm ließ nach und das Meer erschöpfte sich im Kampf der Gewalten. Mit derselben gebieterischen Hand fuhr er dem Toten über das blutige Gesicht. Zuerst geschah nichts. Dann kamen die Kugeln aus den Verletzungen heraus und fielen mit einem dumpfen Geräusch in den Sand. Die Wunden schlossen sich, nur um bald darauf ganz zu verschwinden.
„Erhebe dich!“
Eine weitere Unmöglichkeit geschah: Der Tote begann sich zu bewegen, hob langsam den Kopf, als würde er aus einem erholsamen Schlaf erwachen. Blinzelnd und verwirrt sah er sich um, bis ihn das Gesicht seines Erweckers gefangen nahm.
„Erhebe dich.“
Was zuvor in einer befehlsgewohnten Stimme gesprochen wurde, wich nun einer Bitte. Vincent Toneatti kam ihr aber augenblicklich nach. Er stand auf, klopfte sich, so gut es ging, den nassen Sand von den Kleidern, ohne dabei den Blickkontakt zu unterbrechen. Als hinge sein Leben davon ab! Auch wenn es nicht offensichtlich war, fühlte er doch, dass er sich in Gegenwart von etwas Königlichem befand.
„Was ist geschehen? Wer bist du?“, wollte Vincent wissen.
„Ich bin meines Vaters Sohn, so wie du auch meines Vaters Sohn bist. Ich bin gekommen dich in sein Himmelreich zu holen. – Komm, Bruder.“
Er streckte ihm eine Hand hin, die Vincent ohne zu zögern ergriff.
„Ich bin ein Bote des Himmels, und ich bin gekommen dich zu begleiten. Deine Aufgabe ist nun erfüllt. Der Weg ist gelegt!“
Wird fortgesetzt