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Bd. 13 - Deus Ex Machina

Cover

Take my hand
off to Never-Neverland

(Metallica – Enter Sandman)

 

Deus Ex Machina

von

Michel Wuethrich

 
    Gegenwart

Sein Name war Vincent Toneatti und ihm träumte, dass er gerade seinen besten Kumpel erschossen hatte. Er wusste noch, wie er die Waffe auf ihn gerichtet und einfach abgedrückt hatte. Ohne Bedauern, ohne Angst und ohne jegliche Regung. Dann zielte er auf eine andere Person, von der er wusste, dass es sich um Mark Larsen handelte.

Glücklicherweise verfehlte Vincent ihn, da der Sicherheitschef im letzten Augenblick den Hüter auf die Seite drängte.

Aber es war ein komisches Gefühl, das ihn dabei ergriff.

Dafür wurde Derron getroffen!

Wenig später hörte er noch die Worte „Tod der Menschheit“, dann wachte er schweißgebadet auf!

Es war alles nur ein Traum gewesen. Nur ein Traum! Ein TRAUM! Bitte, Gott, mach, dass es nur ein Traum war!

Mit Entsetzen musste er aber feststellen, dass es keiner gewesen war, der ihn da heimgesucht hatte. Es war wirklich passiert!

Vincent befand sich in der Zeitmaschine und schlug sich den Kopf, als er wie ein Klappmesser zusammenfuhr und mit der Decke kollidierte, die einige Zentimeter über ihm hing. Ein Schmerzensschrei kam dabei über seine Lippen.

Mein Gott, was hatte er getan?

 

***

 

Vergangenheit

Vincent versuchte sich zu erinnern, was geschehen war. Nur so konnte er herausfinden, ob er sich das alles nur ausgedacht hatte. Oder war er etwa auf dem besten Weg, verrückt zu werden?

An was konnte er sich noch genau entsinnen? Wann war die Welt noch in Ordnung gewesen? Wann hatte sie für ihn noch Sinn gemacht?

Wann war das gewesen, als er von der Arbeit nach Hause gefahren und in die Strada del Silencio eingebogen war – seine Straße?

Damals war es bereits dunkel gewesen ...

Wie so oft in den letzten Tagen und Wochen, als er müde von der Arbeit nach Hause kam. In der Familie machten sie sich schon Sorgen um seine Ehe, weil er immer so lang weg war.

„Dio mio“, hatte seine Mama überlaut durch den Hörer gerufen, als er das letzte Mal mit ihr telefoniert hatte. „Habt ihr Streit?“

Aus dem Hintergrund gab Papa mit tiefer Stimme seine Meinung kund, auch wenn ihm nicht wirklich jemand zuhörte. Seine vor Gott angetraute Ehefrau auf jeden Fall nicht. Die war zu sehr auf ihren eigenen Monolog konzentriert. Und er, Vincent, fand gerade heraus, dass das Telefon in dieser Situation an seine technischen Grenzen stieß.

Nachdem Vincent über Minuten bekräftigte, dass dem nicht so war und ihre Ehe gut lief, war Mama zwar etwas beruhigt, aber er hörte aus ihrem widerstrebenden Einlenken doch heraus, dass sie die Sache erst noch mit Carmen bereden musste. Von Frau zu Frau. Wie es sich gehörte. Aber erst, wenn er wieder an der Arbeit war. Natürlich!

Er konnte seiner Mutter ja schlecht auf die Nase binden, was der Grund für seine Überstunden war. Nicht einmal Carmen konnte er davon erzählen! Und das war etwas, das ihn unheimlich störte. Beide Frauen würden es kaum verstehen. Das heißt, wenn sie ihm überhaupt Glauben schenken würden!

Der Orden hatte absolutes Stillschweigen über das Projekt „Pathfinder“ ausgewiesen. Sie drohten nicht gerade mit dem Erschießungstod, aber Vincent sah selber ein, wie wichtig das Experiment für die gute Sache war. Und er wollte mit ganzem Herzen dabei mithelfen. An ihm sollte es nicht scheitern.

Auch wenn es Tage gab, an denen es ihm schwer fiel und seine Gesinnung ihm wie ein Tonnengewicht auf den Schultern lastete.

Als er also an jenem Abend in die Strada del Silencio einbog, lag sein Parkplatz im Dunkeln! Hatten sie wieder die Glühbirne aus der Lampe geschossen! Diese Drecksjungs, die auf der Straße rumlungerten und den ganzen Tag nur Dummheiten im Kopf hatten.

Er wollte gerade zu Zeter und Mordio ansetzen, als es rumste. Er hatte das Loch in der Straße mal wieder voll erwischt! Fluchend rangierte er seinen klapprigen Fiat in die Parklücke und stellte den Motor ab. Es gab noch ein paar hustende Geräusche, aber dann war Ruhe. Mit dem Herausziehen des Schlüssels erloschen auch die Scheinwerfer. Dann stieg er aus und schloss ab. Er machte das aus Gewohnheit, auch wenn er wusste, dass gerade dieses Schloss für niemanden eine Herausforderung darstellte, der den Wagen wirklich wollte. Er hielt sich einfach am Gedanken fest, dass niemand Interesse an seiner Kiste hatte. Und von einer Antiquität, die dann auch wieder groß Geld bringen würde, war sie noch weit entfernt. Und schon gar nicht in so einem Zustand, in dem sich das Fahrzeug befand.

Carmelita – wie Vincent seine Frau liebevoll nannte – hatte er schon lange einen neuen Wagen versprochen, aber da sie noch in dieser Straße wohnten, war eine Neuanschaffung mit einem Verbrechen zu vergleichen. Um nicht zu sagen mit enormer Dummheit. Sie schauten sich immer wieder in den Zeitungen nach Auto und Wohnung um, und ließen auch an Freunde und Bekannte ausrichten, dass es Zeit für einen Tapetenwechsel sei, aber in den letzten Wochen hatte er dazu nicht wirklich groß Zeit gehabt. Die liebe Arbeit! Seine Frau hatte deswegen auch schon geschmollt. Allein mache es nicht so Spass, hatte sie gemeint. Vincent war es gelungen, sie zu vertrösten und sich für seine Nachlässigkeit zu entschuldigen. Auch wenn er sich in jener Nacht doch arg hatte anstrengen müssen. Aber eine glückliche Frau war nun mal eine befriedigte Frau. Daran führte kein Weg vorbei.

Obwohl es kurz vor Mitternacht war – und das unter der Woche – drang noch Lärm aus den Wohnungen, die die Zugänge zu den Balkonen offen hatten. Es war ja auch eine schwüle Hitze, die trotz der späten Stunde noch herrschte. Die trieb auch Vincent den Schweiß auf die Stirn.

Zum Teil kam der Lärm von Leuten, die sich unterhielten, zum Teil von Fernsehern, in denen überlaut gesprochen wurde. Dann dröhnten die Boxen wieder mit ihrem Bass, und es war an keinen Schlaf mehr zu denken. Schließlich sollte jeder etwas davon haben! Der blaue Schein der Flimmerkisten war hinter fast allen Vorhängen zu sehen, die ganz leicht im Wind flatterten.

Sommer in Palermo. Da wurde es unerträglich heiß! Vergleichbar bestenfalls noch mit der Hölle. Der Volksmund besagte, dass der Unterschied darin lag, dass in der Hölle die Sünder schmorten. In Palermo gab es die zwar auch, aber da konnte aus jedem Sünder noch ein potentieller Heiliger werden.

Vincent gähnte, als er die Stufen zum zweiten Stock hochstieg. Als er zur letzten Treppe ansetzte, vernahm er eine Stimme, die laut schrie. Augenblicklich blieb er stehen und lauschte. Hatte er richtig gehört oder war das nur ein Zeichen seiner Erschöpfung gewesen? Es war auch schwierig dies genau auseinanderzuhalten, da überall dumpfer Lärm aus den angrenzenden Wohnungen drang. Womöglich schliefen die Menschen auf der ganzen Welt, aber nicht so in Palermo!

Dann hörte er es wieder. Dieses Mal war er sich sicher! Es war ein Schrei!

Augenblicklich begann Vincent, die Treppe hoch zu rennen. Von der Müdigkeit war plötzlich nichts mehr zu spüren. Es war Carmen, die da schrie!

Er nahm immer gleich zwei Stufen auf einmal, bog um die Ecke und sprintete den Gang entlang, auf seine Haustüre zu.

Carmen schrie wie am Spieß!

Vincent verkrampfte sich.

Mein Gott, was war da nur los?

„Carmen!“, rief Vincent, dann prallte er in die Tür. Es gab einen lauten Knall, als er mit dem ganzen Körper ins Holz der Tür donnerte und davor niedersank. Es hatte wie ein Gewehrschuss geklungen. Unter anderen Umständen wäre er bewusstlos geworden. Nicht so heute!

Er rappelte sich stöhnend vom Boden auf. Eine Hand fuhr an die Stirn. Als er sie zurücknahm, war sie voller Blut. Mit der anderen Hand rüttelte er an der Klinke rum. Es war abgeschlossen. Natürlich, Idiot.

„Carmen!“, rief Vincent erneut.

Aus dem Innern drangen Geräusche, als würde ihr bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen. Panisch schrie er immer wieder ihren Namen, während er mit zitternden Fingern den Schlüssel aus der Hosentasche klaubte.

Es klang aber nicht so, als würde Carmen ihn hören!

Was war eigentlich mit den Nachbarn? Hörte sie denn niemanden?

Natürlich erwies er sich gerade heute als ein Bewegungsidiot und ließ den Bund mit den Schlüsseln fallen! Fluchend ging Vincent in die Knie und hob sie zitternd auf. Ihm tat beim Atmen die ganze Seite weh. Der Aufprall hatte auch noch die Luft mit Wucht aus der Lunge gepresst. Die nächsten Sekunden benötigte er, um das Schloss zu treffen, dann drehte sich der Schlüssel endlich und die Tür flog in den Raum. Und er mit ihr in den anschließenden Gang.

Es war dunkel. Nur aus dem Wohnzimmer drang Licht. Vincent sprintete darauf zu.

Carmens Schreie wurden noch eindringlicher!

Eisige Schauer liefen ihm über die Haut und ließen ihn erzittern, als würden Minustemperaturen herrschen. Aus seinen Augen liefen Tränen und ihm graute davor, was ihn erwarten würde, sobald er den Raum erreichte. Seine Kopfhaut spannte sich.

„Carmen!“

Vincent kam im Wohnzimmer zu einem abrupten Halt, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Auf dem Boden lag Carmen. Sie hatte sich in die Embryostellung gekauert, als würde sie darin Schutz suchen. Sie machte auf den ersten Blick einen unverletzten Eindruck. Fast hätte er Erleichterung gespürt. Nur fast.

Denn das Schlimme war der Mann, der lässig hinter ihr auf dem großen Ruhestuhl saß und ihn mit einem teuflischen Grinsen betrachtete, wie er da so reingeplatzt war. Vincent blieb beinahe das Herz stehen, als der Eindringling den Mund öffnete. Er sah mit Grausen die Eckzähne, die im Licht der Lampe aufblitzten. Doch als der Vampir mit der Stimme von Carmen zu schreien begann, gaben Vincents Knie nach. Er begann, unkontrolliert zu schluchzen.

„Nein, nein, nein ...“, kam immer wieder über seine Lippen.

Seine Stimme war so gebrochen, wie er sich als Mensch gebrochen und zerstört fühlte.

Plötzlich stand der Vampir vor ihm.

„Hallo, Vincent.“

Es war immer noch Carmens Stimme.

Sie blickten sich in die Augen. Auf einmal bekam Vincent das Gefühl, als würde er fallen. Es war, als hätte ihn jemand angestoßen, doch der Mann hatte sich nicht mehr gerührt. Nicht einmal mit den Augen gezwinkert hatte er. Von einem Sekundenbruchteil zum nächsten wurde Vincent schwindlig. Er sah sein Blickfeld zusammenschrumpfen, als würde er einen Brunnenschacht runterfallen. Das Einzige, das er noch lange sehen konnte, war der Vampir, der zu lachen begann. Das Bild verflüchtigte sich schließlich, doch das Lachen blieb.

Dann wurde es schwarz um ihn.

Den Aufprall auf dem Fußboden bekam Vincent schon nicht mehr mit.

 

***

 

Es dauerte Sekunden, bis Vincents Körper sich wieder zu regen begann. Zuerst war es nur ein heftiges Zusammenzucken, als würde er träumen, und in diesem Traum plötzlich fallen. Dann lag er wieder ruhig da.

Der Vampir, der in all der Zeit bewegungslos geblieben war und seinen Blick nicht von Vincent gelassen hatte, lächelte zu ihm herab. Dann sagte er etwas, das Vincent – hätte er es gehört – sicher nicht verstanden hätte:

„Ich freue mich darauf, endlich wieder etwas Anderes zu mir nehmen zu können als Blut! Wollen wir doch mal sehen, ob du einen alten Wandersmann genauso freundlich aufnimmst, wie der hier.“

Mit diesen Worten schlug er sich selbst auf die Brust.

Plötzlich ging eine gespenstische Veränderung mit ihm vor. Seine Augen färbten sich schwarz und Tränen aus Pech rannen ihm über die Wangen. Doch bevor sie zu Boden tropfen konnten, sammelten sie sich zu einer Pfütze, die vor dem Gesicht des Vampirs schwebte.

Für einen Augenblick stand ein Ausdruck des Schreckens in den Zügen des Blutsaugers, doch sofort wurde er verdrängt von einem des Schmerzes. Der Vampir bäumte sich auf. Ein lautloser Schrei entrang sich seinem weit aufgerissenen Mund. Die Arme fuhren gegen die Decke, als wolle er danach greifen. Vielleicht war es auch eine anklagende Geste gegen einen Gott, der die Kreatur bereits vor Jahren verlassen hatte.

Dann fiel er nach hinten. Als er auf dem Teppich aufschlug, war von dem Körper nur noch ein Häufchen Asche übrig. Der leichte Wind, der schon die ganze Zeit durch die offene Balkontür drang und die heiße Luft leicht bewegte, brachte den Staub zum Tanzen.

Rückstände von Kleidern gab es keine.

Die Pechpfütze aber schwebte noch immer in der Luft. Von einem Augenblick auf den anderen raste sie auf Vincents Gesicht zu, klatschte ihm auf die Wangen und zerspritzte in einzelne Tropfen. Diese widersetzten sich der Schwerkraft, kullerten Vincents Wangen hoch und krochen ihm unter die Augenlider.

Übergangslos erwachte Vincent aus seiner Bewusstlosigkeit. Er setzte sich auf, um sich nach einiger Zeit wankend zu erheben. Der Staub, der dadurch aufgewirbelt wurde, brachte ihn zum Husten.

Die Unsicherheit der Beine war schnell verflogen. Vincent schüttelte sich, als spüre er eine Kälte, die es nicht wirklich gab, die er aber tief in sich fühlte.

Er ging zu Carmen, die sich in all der Aufregung überhaupt nicht gerührt hatte. Als er die Arme unter sie legte und anschließend hochhob, gab es ein klebriges Geräusch. Das Blut, das sich unter ihr angesammelt hatte, wollte den Körper nicht einfach so freigeben. Ohne Regung trug er sie auf den Balkon, bettete sie auf eine Liege, und blickte in die Ferne, weit über Palermo hinweg.

Es würde noch Stunden dauern, bis die Sterne verblassten und die Sonne wieder ihren angestammten Platz am Firmament einnahm. Sobald sie das tat, würde sie Carmen erlösen.

Vincent ging in die Wohnung zurück und setzte sich in den Ruhesessel, in dem bei seiner Ankunft noch der Vampir gesessen hatte. In der ganzen Wohnung war es das bequemste Teil.

Es gab einiges zu tun, doch die Zeit war noch nicht reif dafür!

 

***

 

Als Vincent erwachte, kam er sich vor, als wäre er in einem dunklen Keller zu sich gekommen. So fest er auch die Augen aufriss, er bekam nichts zu sehen! Da war nur undurchdringliche Schwärze!

Wenn er sich darauf konzentrierte, was um ihn herum vorging, dann konnte er auch nichts hören.

Was fühlte er dann? Was spürten seine Hände? Er vermeinte zu wissen, wie er sich selber umarmte. Aber ihm wurde klar, dass das nicht wirklich stimmte. Er wusste, dass er das getan hätte, wenn er es hätte tun können, aber er spürte weder seine Arme, noch die Hände oder Füße.

„Nur keine Panik!“, versuchte er sich zu beruhigen, obwohl gerade dadurch sein Puls beschleunigt wurde. Doch das Verrückte war, dass er den Puls nicht wirklich fühlte.

Vincent ging in sich, wie er das schon lange nicht mehr getan hatte. Er versuchte die Panikattacke abzuwehren, indem er sich auf den Atemrhythmus konzentrierte. Auch wenn er sich eingestehen musste, dass er den gar nicht spürte. Wie es sich aber ungefähr anfühlte, das vermeinte er noch zu wissen.

Es war ein Überbleibsel aus seiner Esoterikzeit, als er sich auch mit Meditation beschäftigt hatte. Irgendwie hatte er den Anfang gemacht, als er dann aber Carmen begegnete, blieb das dann alles irgendwie auf der Strecke. Gelegentlich benötigte er die Technik des Beruhigens, wenn es ihm schwer fiel, einzuschlafen, aber sonst? Es war leichter sich mit Dingen zu beschäftigen, die in der Realität verankert waren. Doch zu der hatte er keinen Zugang mehr. Die war ihm abhandengekommen ...

Er konzentrierte sich, tauchte hinauf, hinab; er konnte es nicht wirklich beschreiben. Das einzige Gefühl, das er mitbekam, war, sich auf etwas zu zu bewegen.

Und mit einmal sah er sich im Spiegel!

Vincent erschrak. Und das Erstaunliche war, dass er ein weiteres Mal zusammenzuckte, was aber nicht auf ihn zurückzuführen war!

Sein Kinn war zum Teil noch eingeschäumt. Er sah den Nassrasierer ein paar Zentimeter davor verharren. Aus dem Wasserhahn kam ein feiner Strahl, der das einzige Geräusch darstellte, das Vincent im Badezimmer hören konnte.

Über der Stirn klebte ein Heftpflaster ...

Als er seinen fragenden und überraschten Blick senkte, blickte ihn jemand an, den er nicht kannte! Das heißt: Natürlich war es sein Spiegelbild, das da zurückstarrte, und doch war es etwas Fremdes. Etwas Bestialisches und Uraltes.

Und seit wann hatte er unterschiedlich farbige Augen?

Das eine war blau und das andere grün.

„Das sind die Farben des Ewigen Feindes“, drang eine belustigte Stimme zu ihm. Er konnte sie hören und wusste gleichzeitig, dass er sie nicht über das Gehör vernahm. Er wollte etwas sagen, doch die Macht, die auf ihn eindrang, schlug wie eine Welle über ihm zusammen, die ihn zerquetschte und zermalmte. Sie drängte ihn in den entlegensten Winkel seines Bewusstseins, den es zu erreichen gab. Was vorher kam, bereitete ihn nicht im geringsten auf die Schmerzen vor, die noch kommen sollten.

 

***

 

Wie ein geschlagenes und getretenes Tier kam sich Vincent vor. Er spürte überall an seinem Körper die Schmerzen, obwohl er wusste, dass sein Geist es gewesen war, der gemartert und gequält wurde, bis er daran beinahe zerbrach.

Am liebsten hätte er geheult und sich in sein Schicksal ergeben. Und doch war da eine Kraft in ihm, die nicht nachließ. Nicht nachlassen wollte. Etwas, zu dem sein Peiniger keinen Zugriff bekam, auch wenn er es immer wieder versuchte und Vincent über diese Stelle hinausdrängen wollte.

Vincent besaß noch Hoffnung!

Und er wusste, solange die bestehen würde, wäre der Ewige Feind im Nachteil. Es sprach zwar im Moment alles gegen ihn, doch dafür war die Hoffnung ja da.

 

***

 

Es war ein unerwarteter Besuch in seinem Körper, den Vincent mitbekam. Er wurde an die Oberfläche geschwemmt, als er es am allerwenigsten erwartete.

War es Unruhe und Unsicherheit, die dies ausgelöst hatte? Vielleicht sogar Angst? Oder war es Überheblichkeit?

Auf jeden Fall bekam Vincent mit, wie er plötzlich an der Front stand, und er sich im Gang des Centers wieder sah. Der Sicherheitschef stand vor ihm!

„Aldega Derron!“, schrie jede Faser in seinem Körper auf, doch als er in seinem Gegenüber keine Veränderung feststellen konnte, dass er ihn auch wirklich hörte, musste er sich resignierend eingestehen, dass er nicht wirklich die Kontrolle über seinen eigenen Körper besaß. Er war vielmehr ein Beobachter, ein Mitreiter. Ob willentlich oder aus einem anderen Grund, vermochte er nicht zu sagen.

Vincent bekam mit, wie er Derron das Telefon zurückgab, das ihm wohl entfallen sein musste. Er unternahm alles, dies zu verhindern. Nur irgendwie auf sich aufmerksam machen! Irgendwie. Aber keine Chance! Der Sicherheitschef wandte sich mit einem Nicken ab und damit schien die Sache bereits wieder gegessen zu sein.

Nach ein paar Metern den Gang runter trabte Derron an ihm vorbei und Vincent bekam mit, dass sich eine Unruhe in ihm aufbaute, die nicht von ihm selber kam. Eine Empfindung, die Angst und Panik sehr nahe stand.

Das Wesen hatte also auch Gefühle, schrie es in ihm hoffnungsvoll. So etwas wie Erleichterung kam auf, obwohl er weit davon entfernt war, etwas gegen seinen Unterdrücker tun zu können. Jedenfalls wusste er nicht wie!

Er schrie und tobte, aber alles war vergebens. Er besaß keine Macht. Er lebte noch in seinem Körper, aber sonst waren sowohl die visuellen wie auch die physischen Eindrücke normalerweise abgeschnitten. So musste sich ein Schwerstbehinderter fühlen, ging ihm durch den Kopf.

Er war der Unterlegene, der Gedemütigte, der Geduldete. Der andere besaß die Kontrolle! Es war so, dass ihm diese Überlegenheit auch vermittelt wurde. Als sie an einer Tür vorbeikamen, die so poliert war, dass man sich beinahe darin spiegeln konnte, blieb er abrupt stehen und betrachtete sich. Auch wenn der Kontakt verschwommen und undeutlich war, wusste Vincent mit diesem Blick, dass der Ewige Krieger seine Anwesenheit duldete. Er würde jedoch seine Hilflosigkeit bis an die Grenzen des Möglichen auskosten.

Ein schallendes Lachen begleitete ihn auf den Weg zurück in die Dunkelheit.

 

***

 

Ein einziges Mal bekam Vincent Schmerzen zu spüren, die nach einem fernen Echo seines wirklichen Körpers klangen. Etwas musste geschehen sein! Euphorie breitete sich in ihm aus. Vincent wusste, dass dieses Gefühl unmöglich von ihm stammen konnte.

Dann dauerte es nicht mehr lange, und der Ewige Feind wurde aktiv.

 

***

 

„Der Schatten, den du wirfst, ist der Schatten, den sie fürchten.“

Dwight Leach sah von seinen Berechnungen auf, die er mit höchster Konzentration in den Computer vor sich eingegeben hatte. Als die Stimme neben ihm zu sprechen angefangen hatte, war er zuerst zusammengezuckt, und es hätte nur wenig gefehlt, und das blöde Ding von einer Steuerung wäre ihm aus den Händen gefallen.

Das wäre dann mal etwas gewesen, dies Aldega Derron mitzuteilen, dass das wichtigste Gerät der Zeitmaschine am Boden zerschellt war, ging ihm blitzschnell durch den Kopf. Mit Sicherheit wäre er von Billie Holiday gevierteilt worden. Das war doch genau das, was sie brauchte: einen Vorwand! Er sah auf, schob die Brille mit dem dunklen Rand die Nase hoch und fragte halb interessiert an seinen Assistenten gewandt:

„Was war das?“

Vincent schüttelte den Kopf, als würde er gerade aus einem Tagtraum erwachen, und setzte ein schüchternes Lächeln auf. Die Lippen verschwanden fast unter dem dunklen Schnauzer. Mit seinem weißen Kittel als Kontrast sah er wie eine erfolgreiche Waschmittelwerbung aus.

„Was war was?“, fragte er.

„Du hast doch gerade was gesagt?“

„Habe ich?“

„Würde ich sonst fragen?“

Dwight betrachtete seinen Assistenten skeptisch und etwas genervt über den Brillenrand hinweg. So ein Blick kam immer gut, dachte er sich. Auch wenn er das Gestell nur gelegentlich trug, machte es ihn noch intellektueller, als dies sonst der Fall war, mit all seiner Bekleidung, die zum Teil an einen zerstreuten Herrn Einstein erinnerte.

„Ich habe nichts gesagt.“

„Dann hast du aber sehr laut gedacht.“

„Tschuldigung.“

„Kein Problem. Ich habe nur nachgefragt. Es hätte ja etwas Wichtiges sein können.“

Vincent schüttelte erneut den Kopf.

Der Wissenschaftler lenkte seine Aufmerksamkeit wieder den Berechnungen zu. Die Episode war vergessen, wie sein Gesichtsfeld sich abwandte. Er beobachtete die Zahlencodes, die über die Bildschirme flirrten. Dabei zuckten seine Augen immer wieder zu dem handgroßen Gerät, das vor ihm auf dem Tisch lag und fast wie eine PSP[1] aussah. In Ermangelung einer besseren Bezeichnung war es unter ihnen auch bei der Bezeichnung geblieben, da ‚Steuerung’ so lahm klang. Oder lag es daran, dass sie das Zeitexperiment für ein Spiel hielten? Er hoffte nicht. Vor allem auch wegen der menschlichen Verluste, die sie erlitten hatten. Und er, Dwight Leach, trug die Schuld daran.

 Für einen unbeteiligten Zuschauer sah es aus, als konnte der Chef des Wissenschaftler-Teams diesen Code lesen, der von oben nach unten über den Bildschirm lief. Es sah beinahe wie der Zahlencode aus, der mit dem Film „Matrix“ einige Berühmtheit erlangt hatte. Doch statt Grün enthielt der Code alle Farben.

„So, fertig“, hörte sich Dwight Leach mit Genugtuung sagen. Flink entfernte er die Kabel, die Computer und das Steuergerät miteinander verbunden hatten, und hielt das kleine Gerät stolz hoch. Seine Augen glänzten. Ob vor Müdigkeit oder Stolz, war nicht ganz klar.

„Ein kleiner Schritt für die Timeonauten ...“

„... aber ein großer für die Menschheit.“

Aldega Derron hatte sich zum Kontrollstand dazugesellt. Obwohl ihr letztes Aufeinandertreffen keine guten Erinnerungen in Dwight Leach zurückgelassen hatte, konnte er sein Lausbubengrinsen nicht unterdrücken. Dieses Erfolgserlebnis zu verspüren tat zu gut. Und das ließ er sich von diesem Miesepeter auch nicht verderben.

Derron sah zwar etwas gestresst aus, aber irgendwie musste ihn die ganze Situation in eine angespannte Erwartungshaltung versetzt haben, in der er trotzdem gelöster aussah, als üblicherweise. Wahrscheinlich war er einfach froh, dass der Zeitpunkt endlich da war.

Sobald das Experiment hinter ihnen lag, musste er mal mit dem Sicherheitschef über eine Gehaltserhöhung reden. Besser sogar: Über ein paar Wochen Ferien.

„Allerdings. Allerdings“, pflichtete Dwight Leach bei.

„Wie lange noch?“, wollte Aldega Derron wissen.

„Von mir aus kannst du das Experiment beginnen.“

„Okay.“

Damit wandte er sich um und ging auf das leicht erhöhte Rednerpult zu, das man in der Halle provisorisch aufgestellt hatte.

Es konnte losgehen!

Das dachte sich auch Vincent und erhob sich ...

 

***

 

Vincent wusste, wann genau er den Verstand verloren hatte. Dass war kurz nach dem Zeitpunkt gewesen, in dem er zusammenzuckte und aufschreckte, als tauche er aus einem Tagtraum auf, und er vermeinte, nur schnell eingenickt zu sein. Doch es war wieder eine ganz andere Realität, die ihn erwartete, als jene, an die er sich vom letzten Mal noch erinnern konnte. Und die beinahe schon so weit weg war, dass sie selber wie ein Traum schien.

 Ein paar Meter vor sich sah er seinen Arbeitskollegen Toni, der sich mit einem Grinsen auf dem Gesicht von ihm abwandte. Er schien noch etwas zu sagen, was sich jedoch Vincents Gehör entzog. Da war ein Sausen und Dröhnen in der Luft, das ihn ablenkte und störte. Bevor er sich fragen konnte, wie zur Hölle er plötzlich hierher gekommen war, zog er ohne Umschweife eine Pistole aus dem weißen Arbeitskittel, richtete sie auf Toni, der an der Zeitmaschine eine Einstellung vornahm, und sah, wie sich dessen Hinterkopf in einen Brei aus Knochen, Hirn und Blut verwandelte. Verdammt viel Blut!

Vincent begann zu schreien!

 

***

 

Niemand beachtete ihn, wie er die Waffe erneut anlegte.

Hörte ihn denn niemand?, fragte er sich ängstlich.

Dieses Mal zielte er an der Zeitmaschine vorbei. Da befand sich der Hüter ...

Das war in seinem Hilferuf ein weiterer klarer Gedanke, bis sein Innerstes wieder von diesem Entsetzen ergriffen wurde, das ihn fühlen ließ, als wäre gerade etwas in ihm zerbrochen. Etwas, das sich nie mehr würde flicken lassen. Er wollte die Hand wegdrücken, die zielte, aber sie gehorchte ihm nicht.

Was sollte das? Er wollte das nicht tun!

Dann begann seine Hand zu zucken und er erkannte mit Schrecken, wie Rauch aus der Mündung gegen die Decke zog.

Er hatte schon wieder abgedrückt!

Von einer Sekunde zur anderen wurde ihm schwindlig. Er sah sein Blickfeld wieder zusammenschrumpfen. Als würde er mit enormer Geschwindigkeit von der Realität wegfliegen. Sie wurde kleiner und kleiner, bis ihn nur noch absolute Schwärze umhüllte. Wenn es eine Ohnmacht war, dann begab er sich mit Freuden hinein. Sein Innerstes war unruhig. Sein Unterdrücker hatte zugeschlagen und ihn zu einem Mörder gemacht. Er hatte getötet! War das der Grund gewesen, warum man ihn seines Körpers beraubt hatte?

 

***

 

Eine Art Gegenwart

Die Freiheit, die er fühlte, dauerte nur kurz an. Er wollte sich gerade daran erfreuen, als er bemerkte, wie er wieder verdrängt wurde. Doch nicht so weit, wie es auch schon passiert war. Er kam sich vor, als wäre er vom Platz gewiesen worden und musste nun das Spiel außerhalb des Feldes beobachten. Das Spiel, das doch sein Leben war!

Vermochte es der Eindringling nicht mehr, ihn in der Versenkung verschwinden zu lassen? Schwächte ihn die Zeitreise?

Möglich war ja alles ...

Jedenfalls war er froh darüber, auch wenn er tatenlos zusehen musste, wie die Zeitmaschine zu einem Stopp kam. Sie sprang noch mehrmals hin und her, bevor sie wirklich in der ausgesuchten Zeit verblieb: dem zwölften Jahrhundert. Er selber hatte die Zahlen berechnet. Das war alles nun schon so verdammt lange her!

Hier hätten sie das Kloster untersuchen sollen, das so viele Mumien enthielt. Eine davon sollte ein Hüter gewesen sein.

Daraus würde aber nun sicher nichts werden!

Vincent sah sich aussteigen und anschließend vor der Maschine strecken. Überall im Körper knackste es. Ein erleichtertes Lachen bekam er dabei zu hören, das so gar nicht nach ihm klang. Wie eine Tonbandaufnahme seiner selbst, die meilenweit von dem entfernt war, wie er seine Stimme sonst vernahm.

In der Ferne vernahm er Glockengeläut. Ob das bereits das Kapuzinerkloster war, fragte sich Vincent?

Er schaute in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Doch außer spärlich grünen Hängen bekam er nichts zu sehen, das auch nur im entferntesten an ein Kloster erinnerte.

Ihm fiel auf, wie sauber die Luft war. Kein Smog oder sonst irgendwelche Verunreinigungen, die auf eine Zivilisation deuten ließen. Es würde noch viele Jahre dauern, bis sich das ändern würde.

Der Ewige Feind wandte sich der PSP zu und nahm, nachdem er sie aufgeklappt hatte, eine neue Einstellung vor. Mit Schaudern bekam Vincent mit, was er da eingab. Das war zuvor noch nie von jemandem versucht worden.

Das war reiner Wahnsinn!

Anschließend ging er zu den Timeonauten. Jeden einzelnen schaute er sich genau an. Beim Hüter verweilte er länger. Die Verletzung an der rechten Schulter inspizierte er kurz, unternahm aber nichts, was den Blutverlust eingedämmt hätte.

Dieter Feldmann, den Meister des Ordens, drückte er grob auf die Seite, damit er an das untere Fach gelangen konnte, doch davon bekam der Banker nicht wirklich etwas mit. In dem Fach lagen säuberlich verstaut die Betäubungsmittel. Vincent zog eine Ampulle hervor, ebenfalls eine Spritze und drückte sich damit das Mittel in den Arm.

Bald schon wurde Vincent davon schläfrig, aber bevor er das Bewusstsein ganz verlor, wurde die Zeitmaschine automatisch aktiviert. Die Reise ging weiter.

 

***

 

Wie viel Zeit verstrich, bis das Ziel erreicht war, vermochte Vincent nicht zu sagen. Zeit war in einem solchen Fall wie Gummi. Sie war zwar vorhanden, aber sie mit einem Chronometer zu messen und festzulegen, war beinahe unmöglich. Oder doch sehr subjektiv, da es bei einer Zeitreise nie eine Konstante gab. Außer natürlich der eigenen, gefühlten Zeit des Reisenden.

Man könnte auch sagen, dass er erst zu sich kam, als die Arbeit schon fast getan war. Vincent bekam mit, wie sein Unterdrücker die Timeonauten aus der Postkutsche holte und einfach irgendwie ins hüfthohe Gras fallen ließ. Dabei ging er weder vorsichtig noch zimperlich vor. Die Passagiere waren immer noch alle bewusstlos und schienen sich am rauen Umgang nicht allzu sehr zu stören. So wie er mit ihnen umging, würden sie zwar alle blaue Flecken davontragen, aber schließlich hatten sie ja noch ihr Leben.

Von wehmütigen Überlegungen geplagt, verließ Vincent diese Zeit wieder. Er wäre zu gerne bei den Menschen geblieben, obwohl die Welt, in der sie zurückgelassen wurden, alles andere als ein gemütliches Örtchen für Spaziergänge werden würde. Zu sehr waren ihm die Geräusche dieser Welt eingefahren. Was es auch immer gewesen war, das da geschrieen hatte, es hatte gefährlich geklungen. Und sehr hungrig. Und verdammt groß!

 

***

 

In einer weit entfernten Vergangenheit

Das Geräusch eines Motors im Leerlauf riss ihn aus der Bewusstlosigkeit. Übergangslos war Mark Larsen wach! Er fuhr hoch und wollte sich an etwas abstützen. Seine Hände tasteten suchend nach Halt, als ein stechender Schmerz durch die rechte Schulter fuhr, was ihm einen Schrei entlockte. Sofort schnellte die linke Hand an diese Stelle und drückte zu, wie um den Schmerz zu ersticken, aber der zusätzliche Druck verursachte einen Brechreiz in seinem Magen, sodass er zurückfiel. Farbige Kreise begannen vor den Augen zu tanzen, wo zuvor nur Dunkelheit geherrscht hatte.

Er konnte von Glück reden, dass er bei diesem Manöver nicht noch voll auf die Schnauze gefallen war!

Großer Gott! Was war passiert?

Er konnte sich an nichts mehr erinnern! Das Schreckliche daran war, dass er die Wichtigkeit in jeder Faser seines Körpers spürte und es essentiell war, wenn er so schnell wie möglich die Amnesie wegschütteln könnte. Sein Leben hing davon ab!

Von seinem Nacken strahlte ein Schmerz aus, wie er ihn noch nie zuvor verspürt hatte. Er breitete sich über den ganzen Körper aus, aber an dieser Stelle war er am stärksten. Fast so, als würde da etwas wachsen, was da nicht hingehörte! Seine Finger tasteten ängstlich Hals- und Schulterpartie ab, konnten aber nichts erfühlen.

Dazu kam noch, dass sein Kopf dröhnte, als hätte eine Horde Elefanten damit Fussball gespielt.

„Oh, Mann.“

Als wäre das noch nicht genug, schlug er mit dem Kopf noch irgendwo dagegen, als er einen erneuten Anlauf nahm, sich aufzurichten. Er quittierte es mit einem leisen Fluch. Zu mehr war er nicht fähig.

Jedenfalls meinte er das ...

Langsam begannen sich aus der Dunkelheit Konturen zu schälen, und die Farbschleier, die ihm das Sehen erschwerten, verschwanden. Direkt vor sich konnte er einen riesigen Strunk ausmachen, der hin und her baumelte. So ohne Wind? Ihm wurde sofort mulmig zumute.

Bewegung, die unerwartet auftauchte, war nie gut! Zuerst nahm er nur eine undeutliche Form wahr, bis sich die Augen endlich fokussieren konnten. Der Schleier wurde weggerissen. Was er sah, ließ ihm das Blut gefrieren! Übergangslos! Das Geräusch des Motors, das ihn geweckt hatte, bekam Sinn ...

Vor ihm stand ein Saurier und beäugte ihn mit sichtlichem Interesse! Die Augen vermittelten nur eines: Hunger!

Nicht einfach eine Attrappe von einem Saurier, wie er feststellte. Dieser lebte und bewegte sich, atmete und stank, war gierig und hungrig ...

Mark Larsen wollte reagieren, aber er war vor Fassungslosigkeit erstarrt. Vampire, Werwölfe und andere Horrorgestalten konnte er mittlerweile akzeptieren. Das hier war etwas vollkommen Anderes!

Mit Erstaunen nahm er zur Kenntnis, wie sein Körper reagierte: Überall brach Schweiß aus. Als wolle das Wasser noch schnell den Körper verlassen, bevor alles vorbei war!

Es war kein kleiner, zierlicher Saurier, der da vor ihm stand. Es war ein Tyrannosaurus Rex! Oder jedenfalls ein sehr naher Verwandter. Wobei aus dieser Nähe jeder Saurier ein Cousin des Königs hätte sein können.

Die kalten, reptilienartigen Augen waren groß wie Autoreifen. Sie musterten ihn aufmerksam. Wie ein Koch, der sein Steak in der Pfanne brutzelte und die bevorstehende Gaumenfreude kaum erwarten konnte.

Da die Augen seitlich am Kopf saßen, musste der Saurier ihn ständig hin- und herbewegen. Der Geruch, den diese Bewegung mit sich brachte, war übel. Wenn ihm nicht bereits schlecht gewesen wäre, dann hätte das spätestens jetzt zugetroffen. Ein typischer Fleischfresser, ging dem Hüter durch den Kopf, ohne dass er sich von dem faszinierenden Anblick losreißen konnte. Er musste trocken schlucken. Schmerz durchzuckte den ausgedorrten Hals.

Die Haut des T-Rex hatte keine Schuppen wie die einer Schlange, sondern war eher wie die eines Elefanten: dick und trotzdem porös. Mark Larsens Gedanken waren jedoch fern davon, die Hand auszustrecken, um zu erfühlen, was er festgestellt hatte. Zu nah war bereits das Gebiss, als dass er sich unnötig bewegen wollte. Vielleicht war es aber auch keine gute Idee zur Salzsäule zu erstarren ...

Das Maul kam näher. Das riesige Maul! Die Mutter aller Mäuler. Vollgespickt mit einer Batterie rasiermesserscharfer Zähne. Gelegentlich fehlte auch einer, was dem Zweck aber sicher keinen Abbruch tat. Das Maul war nicht ganz offen, sondern wurde immer leicht auf- und zugeklappt, während der Saurier Mark Larsen fixierte.

Als aus der Kehle ein tiefes Grollen erschall, brach der Bann. Mit einem Schrei auf den Lippen sprang Mark Larsen auf. Diese Bewegung ließ ihn aber gleich wieder zusammenzucken, da er den Kopf an etwas stieß. Eine Bewegung, die ihn gleichzeitig aus dem Gleichgewicht brachte. Dadurch taumelte er auf die Seite. Sofort versuchte er sich wieder aufzurappeln, aber der Schmerz in der rechten Schulter machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Da halfen auch keine Flüche!

Riesige Nüstern blähten sich auf und er wurde mit fauler Atemluft besudelt, die mit einem feuchten Etwas durchsetzt war, von dem er lieber nicht wusste, worum es sich im Speziellen handelte. Dann öffnete sich das Maul des Sauriers und ein Brüllen erklang, das man ohne Weiteres noch in der Zukunft hören konnte! Mark Larsen wurde nach hinten geschleudert. Dieses Mal vermochte er sich beinahe aufzufangen, als er über etwas stolperte, das am Boden lag. Mit rudernden Armen konnte er einen Strunk ausmachen ... Oder war es ein Bein? Wo war dann der Rest?

Sofort sah er wieder hoch. Der Saurier machte eine Schnappbewegung, ohne ihn dabei zu erwischen. Die kleinen Greifarme, die von seiner Perspektive aus wie totes Gewicht unter dem Kopf baumelten, kamen überhaupt nicht zum Zuge. Für einen Sekundenbruchteil sah der Hüter einen blauen Himmel über sich auftauchen. Der Gedanke, dass das Dach der Zeitmaschine weggerissen war, durchzuckte ihn für einen Sekundenbruchteil.

Mein Gott, die Zeitmaschine! Natürlich ... Aber das konnte sie unmöglich sein!

Dann trat sein Fuß ins Leere. Er kippte vollkommen nach hinten weg. An Gesträuch und Dickicht scherte er vorbei, dass ihm Haut geschürft, weggerissen oder wie ein Nadelkissen zerstochen wurde. Schließlich blieb er an etwas hängen und knallte mit dem ganzen Gewicht an einen Baum, der ihm mit einem Schlag alle Luft aus der Lunge schlug.

Schließlich wurde es wieder Nacht um Mark Larsen.

 

***

Gegenwart

Aldega Derron hatte gerade noch Zeit, kreidebleich zu werden, als im Center der Alarm losging. Es war ein höllischer Lärm! Das auf- und abschwellende Geräusch der Alarmglocken erinnerte ihn an einen Einsatz in Saigon, als die Bomben fielen und er nur ganz knapp mit dem Leben davongekommen war. Er hatte überlebt. Nicht das erste und auch nicht das letzte Mal. Und er weigerte sich zu glauben, dass es dieses Mal anders ausgehen würde.

Er schrie Befehle, die jedoch im Getümmel untergingen. Männer und Frauen liefen hin und her, waren sich gegenseitig im Wege und wussten nicht, auf was oder wen sie ihre Waffen richten sollten. Wenn es nicht so ernst gewesen wäre, dann hätte die Situation durchaus erheiternd gewirkt. Vor allem die Einheiten, die erst nach dem Sprung der Zeitmaschine die Halle stürmten, wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Die Leute der TS waren darauf trainiert, jeden Feind unschädlich zu machen! Nur gab es hier keinen zu erledigen, hatte er sich doch feigerweise durch die Zeit aus dem Staub gemacht. Wohin auch immer! Dass er eigentlich jederzeit wieder in ihrer Mitte auftauchen und sie alle über den Haufen schießen konnte, bezweifelte Derron. Der Ausspruch des Verräters „Tod der Menschheit“ ließ auf einen größeren Plan schließen.

Endlich wurden die Alarmglocken abgewürgt. Das Heulen verstummte. Die darauf folgenden Sekunden der Stille waren beengend. Fast wie die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm.

„Wurde aber auch Zeit!“, sagte jemand. Alle Köpfe ruckten zum Sprecher hin, da durch die Resonanz der Halle die Stimme klang, als habe Gott gesprochen. Schließlich kamen auch andere Stimmen auf und entwickelten sich zu einem Teppich von Fragen und Anschuldigungen.

Aldega Derron rappelte sich an seinen zwei Begleitern hoch, die ihn zwischen sich genommen hatten, und bat um Ruhe, die auch bald eintrat.

„Männer und Frauen. Ich will wissen, wie das passieren konnte! Ich will wissen, wie jemand in das Center gelangen und uns an der Nase rumführen konnte. Und ich will vor allem, dass Dwight Leach in Untersuchungshaft genommen wird.“

Gesichter ruckten zum Leiter der Wissenschaftler herum, und in der Stille war ein empörtes Schnappen nach Luft zu hören.

„Ich verbitte mir solche Anschuldigungen ...“

Jemand fiel ihm ins Wort. Eine Frauenstimme. Es war Billie Holiday, die ihn mit funkelnden Augen anstarrte und ihre Worte wie puren Hass ausspritzte: „Der lügt doch schon, wenn er Luft holt, um zu antworten!“

Derron ging nicht darauf ein. „Lasst euch von seinem Gehabe nicht ins Bockshorn jagen!“, rief er stattdessen.

Damit winkte er seinen Leuten aufmunternd zu, seinem Befehl Folge zu leisten.

Mit fuchtelnden Händen versuchte Dwight Leach, sich den Soldaten zu entziehen. Dabei schrie er Zeter und Mordio.

„Packt ihn euch endlich“, verlor der TS-Chef langsam die Geduld. „Und lasst ihn gefälligst nicht aus den Augen.“

„Derron, du machst einen großen Fehler ...“, klang es aufgebracht vom Leitstand her. Vier Mann hingen bereits am Wissenschaftler.

Aldega Derron sah gerade noch, wie Billie Holiday von ihrem Standort auf Dwight zuging, blitzschnell die Pistole aus dem Halfter holte und diesen über des Wissenschaftlers Kopf zog. Der fiel wie ein Sack Kartoffeln in sich zusammen.

„Ab mit ihm!“, befahl sie niemand Bestimmtem. Ein boshaftes Lächeln umspielte dabei ihre Lippen. Sie wusste, dass Derron es sah, aber es schien ihr egal zu sein.

Bevor die TS-Leute der Aufforderung nachkamen, wechselten sie noch kurz einen Blick mit ihrem Chef. Der enthielt sich jeden Kommentars, nickte jedoch aufmunternd. Er stierte Billie böse nach, die dem Trupp vorausging und gerade durch die Schleuse trat. Ihren Gang konnte man nur als fröhliches Hüpfen bezeichnen.

Sie war böse, ging es Derron durch den Kopf. Hüte dich vor einer Frau, die hasst. Da kann selbst ein Mitglied der Schwarzen Familie noch was lernen.

Dwight Leach war mittlerweile wegtransportiert worden. Man würde ihn ärztlich versorgen und anschließend unter strengster Beobachtung gefangen halten. Wenn er wieder zu sich kam, würde Aldega Derron ihn aufsuchen und befragen. Mit Sicherheit sollte er dies tun, bevor ihn Billie in die Finger bekam. Auch wenn sie im Moment mit Schadensbekämpfung die Hände voll hatte, konnte es geschehen, dass sie plötzlich ihre Pflichten fahren ließ und den Wissenschafter in die Mangel nahm, noch bevor er, Derron, die Möglichkeit dazu hatte.

Er musste dem einen Riegel vorschieben!

Es konnte nicht wirklich ein Zufall sein, dass so viele Experimente schief gegangen waren und sich jetzt zusätzlich ein Mitglied des Wissenschaftlerteams als Verräter herausstellte! Irgendwann war es vorbei mit diesen Zufällen! Falls er Dwight Leach Unrecht tat, würde er sich bei ihm entschuldigen. So viel Größe besaß er. Falls er sich aber als ein weiterer Verräter herausstellte, würde er ihn eigenhändig exekutieren. So viel Munition besaß er noch.

Wenig später gab er weitere Befehle an seine Truppen ab. Sie sollten Vorsicht walten lassen und mit allem rechnen, auch wenn eine Rückkehr sehr unwahrscheinlich war. Doch Vorsicht war besser als Nachsicht. Sowohl außerhalb des Centers als auch innerhalb.

Noch wusste niemand zu sagen, ob der Verräter allein gehandelt hatte und was das für Folgen nach sich ziehen würde.

Langsam kam Bewegung in die Leute, als er einen Teil aus der Halle werfen ließ. Es wurde Zeit, dass sie zu ihren Stationen zurückkehrten. Da die Ärzteschaft sich so besser um die Verletzten kümmern konnte, blieb sie jetzt, wo es endlich etwas Platz gab, in der Halle.

Leider gab es auch Tote zu beklagen. Nicht viele. Nur fünf, aber das reichte.

Mittlerweile hatte man Derron einen Stuhl herangezogen. Als sich sofort ein Arzt um ihn kümmern wollte, scheuchte er ihn ungehalten weg. Zuerst seine Leute, dann erst war er an der Reihe!

Er schaute sich seine Verletzung an. Ein glatter Durchschuss, stellte er fest, als er den provisorischen Druckverband etwas anhob. Ein kleines Loch, da, wo die Kugel eingedrungen war. Auf der anderen Seite des Oberschenkels war es fast fünfmal so groß. Das würde wehtun und verdammt lange brauchen, bis alles wieder verheilt war.

Er fühlte, wie sich das Adrenalin zu verflüchtigen begann. Langsam machte sich der Schmerz bemerkbar.

Immer wieder ging ihm derselbe Gedanke durch den Kopf: Er musste etwas tun! Irgendetwas, sonst würde er noch durchdrehen. Aber er hatte keine Ahnung, was. Es war unmöglich, in die nächste Zeitmaschine zu hüpfen und die Verfolgung aufzunehmen. Es gab nur diese eine Zeitmaschine! – Was sich da vor wenigen Minuten ereignet hatte, war so ziemlich der schlechteste Ausgang eines Tests gewesen, den man sich nur ausdenken konnte!

Natürlich war das Ding schon von alleine zurückgekommen. Er dachte da vor allem an den Sprung in die Sonne, als die unmittelbare Existenz der Maschine bedroht war. Da war sie plötzlich wieder aufgetaucht, und Mensch und Maschine waren dem Unheil entronnen. Die jetzige Situation war jedoch gänzlich anders ausgerichtet. Sie war entführt worden! Wohin entzog sich seiner Kenntnis. Wann erst recht. Und zu welchem Zweck? Ihm brach der Schweiß aus, wenn er nur schon daran zu denken wagte. „Tod der Menschheit“ ließ auf jeden Fall nichts Gutes vermuten.

Die Sekunden verstrichen und wurden zu Minuten. Die Zeitmaschine tauchte nicht wieder auf. Nichts geschah. Was, zur Hölle, konnte er unter diesen Umständen tun?

„Es soll mir verdammt noch mal endlich jemand sagen, wie der Typ überhaupt geheißen hat! Ich bin es nämlich müßig, ihn immer als Verräter zu bezeichnen“, schrie Derron in die Halle hinein. Alles erstarrte für einen Sekundenbruchteil ob dieses Gemütsausbruchs, um dann in rege Emsigkeit zu verfallen. Niemand wusste wirklich, was in einer solchen Situation zu tun war, aber das hatte wie ein Befehl geklungen. Das gab den Leuten einen Antrieb. Problem gelöst.

Derron musste lachen, aber das Lachen tat ihm im Innersten weh.

 

***

 

In einer weit entfernten Vergangenheit

Mark Larsen schwamm. Eigentlich war es mehr ein Sich-treiben-lassen. Wo genau er dies tat, vermochte er nicht zu sagen, aber es war ungemein gemütlich und angenehm. Eine Wärme ging von diesem Wasser aus, wie sie schöner nicht hätte sein können. Wahrscheinlich hatte er sich zum letzten Mal im Mutterleib so wohl gefühlt. Ihm fiel auf, dass er sich gar nicht auf der Oberfläche befand, was ihm jedoch keine Schwierigkeiten bereitete.

Dumpf nahm er die Umgebungsgeräusche wahr, die durch das Wasser abgehalten, aber doch an ihn herangetragen wurden. Es konnten Stimmen sein, die er jedoch nicht verstand. Nicht verstehen wollte. Irgendwie waren sie ihm egal. Er wollte jetzt bloß hier schwimmen und die Zeit vergessen und genießen.

Langsam schwollen die Stimmen an, sodass sie anfingen zu stören. Er holte ein paar Mal tief Luft und versuchte etwas zu sagen, was ihm aber nicht gelang. Die Außengeräusche wurden lauter, die nun durch das Wasser verstärkt zu ihm drangen. Es klang wie eine Tonbandaufnahme, die jemand langsam abspielte: Dumpf, tief und unverständlich.

Dann platzte auf einmal die gigantische Wasserblase und Mark Larsen fiel durch einen engen Kanal, an dessen Ende er Licht auftauchen sah. Diese Helligkeit sprang ihn an. Überrascht wollte er nach Luft schnappen, aber es gelang ihm nicht. In seiner Brust machte sich ein Druck breit, der nicht von dieser Welt stammte. Als er mit Händen danach greifen wollte, stellte er fest, dass er gar keine besaß. In dem Augenblick war das Licht bei ihm und schlug wie eine riesige Welle über ihm zusammen. Noch das letzte Quäntchen Luft wurde damit aus den Lungen gedrückt. Er wollte schreien, aber kein Laut kam über seine Lippen.

Mit einem Schlag war er dann plötzlich hellwach. Die Dunkelheit offenbarte sich vor seinen Augen. Was er zuvor für Licht gehalten hatte, war der Schmerz, der die Herrschaft über den Körper zurückeroberte. Mark Larsen wollte etwas sagen, aber ein gequältes Stöhnen war das Einzige, was er zustande brachte. Doch das bekam er nur kurz zu hören, da ihm jemand eine Hand auf den Mund drückte. Sie stank nach Erde und anderem.

„Schhhhh!“, hörte er ein gepresstes Zischen.

Wenn er im Vollbesitz seiner Kräfte gewesen wäre, dann hätte er die Hand auf die Seite geschlagen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als nachzugeben. Sein Körper blieb angespannt. Wie eine Stahlfeder, die unter Druck stand.

„Wenn dir dein Leben lieb ist, dann halt die Klappe und verhalte dich ganz ruhig“, raunte die Stimme.

 

***

 

Als die Augen sich langsam an die Umgebung gewöhnt hatten, sah Mark Larsen, dass die Dunkelheit doch nicht so vollkommen war, wie er zuerst vermeint hatte. Konturen zeichneten sich ab, die er in seiner liegenden Position durchaus als Menschen erkennen konnte, die sich in seiner Nähe aufhielten. Er wollte zuerst protestieren und sich heftig wehren, als er auf die Geräusche aufmerksam wurde, die aus der unmittelbaren Nähe kamen: Als würde etwas Riesiges durch das Unterholz tapsen. Es krachte bei jeder Berührung mit dem Boden explosionsartig, als würden meterlange spröde Knochen zerbrechen. Der Boden bebte. Dazu gesellte sich ein tiefes, rollendes Grollen, das nach Sekunden zu einem Laut der Frustration wuchs und den Menschen im Unterholz beinahe das Gehör zertrümmerte. Die Schatten, die sich in dem Unterschlupf am nächsten zum Geräusch befanden, versuchten zurückzuweichen, aber es war zu eng.

Mark Larsen versuchte sich aufzurichten, damit er gegen die anrollende Gefahr gewappnet sein konnte. Falls das Ende nahte, dann wollte er es aufrecht, in geschnürten Stiefeln willkommen heißen und nicht wie ein hilfloses Kind auf dem Rücken liegend. Es blieb beim Wollen, da ihn die Hand des Unbekannten weiterhin belästigte und das Gewicht der anderen ihn niederdrückte. Ihm fehlte die Kraft, alles wegzuschlagen. Ein Schatten beugte sich über ihn, aus dem sich Dieter Feldmanns Gesicht schälte. Es strotzte nur so vor Dreck! Anstrengung und Schweiß hatten ihre Spuren hinterlassen. Die Augen darin zeichneten sich deutlich als helle Flecken ab. Sie fixierten und beschworen ihn, und schließlich erlahmte des Hüters Widerstand.

Die Außengeräusche entfernten sich einige Meter. Es waren aber nur Sekundenbruchteile, die ein erleichtertes Aufatmen zuließen, da sie sogleich wieder bedrohlicher wurden.

Zwischen dem Getöse vermeinte Mark Larsen eine Stimme zu vernehmen, die etwas von „Ich halte das nicht mehr aus“ zwischen den Lippen hervorpresste. Als Bewegung durch die Gruppe ging, wusste er, dass er sich das nicht bloß eingebildet hatte. Am liebsten wäre der Hüter losgerannt, doch irgendetwas warnte ihn vor diesem Entschluss. Er würde in sein Verderben rennen. Unweigerlich! Das Vieh wäre auf jeden Fall schneller bei ihm, als er an einem anderen Ort in Sicherheit gewesen wäre. Außerdem hatte er ohnehin nicht die Kraft, mit einem Monster ein Wettrennen zu veranstalten.

Es gab ein Gerangel. Von überall her wurde er gestoßen, getreten oder geschlagen. Der Schatten, der sich bereits halb aufgerichtet hatte, wurde zurück auf den Boden geworfen, und andere warfen sich sofort auf ihn. Mark Larsen bekam das aber nur aus dem Augenwinkel mit. Seine vollste Aufmerksamkeit galt dem Lärm, der von draußen kam. Er wäre so froh gewesen, wenn der Kampf in absoluter Stille über die Bühne gegangen wäre. Dem war aber nicht so. Es war viel zu laut! Er wartete auf den Zeitpunkt, in dem sich wegen eines verräterischen Tons plötzlich das Ding da draußen wieder umdrehen, nähern und mit einem finalen Schritt in das Versteck treten würde.

 

***

 

Gegenwart

„Sir?“

Aldega Derron sah auf und wandte seine Aufmerksamkeit dem Soldaten zu, der sich vor ihm aufgebaut hatte. Er wechselte von einem Bein auf das andere, während ihm die Knarre immer von der Schulter rutschen wollte. Er warf sie dann jedes Mal mit einer heftigen Geste auf den Rücken zurück, was schmerzen musste.

Derron hob fragend die Augenbrauen. Der Arzt, der sich um die Wunde am Oberschenkel kümmerte, würde wohl für ein paar Minuten auch ohne seine blumenreichen Kommentare fertig werden.

„Was ist?“

„Vincent Toneatti, Sir.“

„Okay“, meinte der Chef der Treasure Security langsam. „Was wollen Sie von mir, Vincent Toneatti?“

„Nein, Sir, nicht ich ...“

„Sie wollen nichts von mir, aber jemand anders?“

„Nein, auch nicht.“

Nun war es an Derron, ihn mit zusammengekniffenen Augen zu mustern.

„Na, wie denn? – Lassen Sie sich gefälligst nicht alles aus der Nase ziehen, junger Mann. Schließlich könnte meine Genesung darunter leiden.“

„Der Verräter, Sir ...“

„Was ist damit“, schnauzte er ihn an und wollte gleich aufspringen, aber eine energische Hand drückte ihn auf den Stuhl zurück.

„Halten Sie gefälligst still, Mann, oder ich nähe mir hier noch die Zunge an ihrem Bein fest!“

„Schon gut, schon gut“, meinte Derron, wobei er den Doktor gleich wieder vergaß. Sein Bein war total anästhesiert. Er wäre nicht weit gekommen.

An den Soldaten gewandt fuhr er fort:

„Was ist mit dem Verräter?“

Das letzte Wort spuckte er förmlich aus. Er hasste dieses Wort. Es war langsam abgenutzt.

„Das ist sein Name.“

„Oh ...“

Er wollte darüber nachsinnen, als er unterbrochen wurde.

„Sie wissen schon: Dwight Leachs Assistent.“

„Ich sehe die Zusammenhänge, junger Mann“, sagte Derron etwas gereizter, als er es vorgehabt hatte. Etwas versöhnlicher: „Wie heißen Sie?“

„Angelo Alabor, Sir.“

„Wer ist Ihr Vorgesetzter, Soldat Alabor?“

„Jane Esposito, Sir.“

Aldega Derron wollte gerade erfragen, wer denn in ihrer Abwesenheit das Kommando führte, obwohl er beinahe vermutete, dass es sich dabei um Billie Holiday handeln würde, als das vertraute Geräusch des Rennwagens anschwoll. Die Zeitmaschine kam zurück!

Derrons Blick und der des Soldaten Alabor kreuzten sich für Sekundenbruchteile. Keiner war zu einer Bewegung fähig. Denselben Gedanken im Gesicht des anderen zu sehen, war zudem verblüffend.

Der Arzt hatte aufgehört, am Bein herumzufummeln, was Derron aber wegen der Mittel nicht mitbekam. Sein Aufstehen unterbrach den Blickkontakt zum Soldaten. Von diesem Zeitpunkt an waren Derron und Angelo Alobar wieder fähig, sich zu bewegen.

Der TS-Chef schrie Befehle, wobei der wichtigste darin bestand, sich irgendwo an etwas Schwerem festzuhalten. Ein Komiker rief „Schumilärm“ und warf sich dann hinter den Tischen in Deckung, wo vor nicht allzu langer Zeit das Pathfinder-Team mit einer Schlafdroge versehen worden war. Männer und Frauen der TS nahmen ihre Gewehre in Anschlag und richteten sie auf die Stelle, wo die Zeitmaschine verschwunden war und auch wieder auftauchen sollte.

Was würde hier und jetzt erscheinen?, fragte sich der eine oder andere.

 

***

 

In einer weit entfernten Vergangenheit

Es kam dem Hüter wie Stunden vor, bis das Monster endlich verschwand. Das Nervenkostüm war kurz vor dem Zusammenbruch, als doch noch Rettung in Form eines anderen Sauriers kam und sich das Tier mit lautem Gebrüll an die Verfolgung machte. Die Geräusche verklangen langsam. Was übrig blieb, waren Phantomgeräusche, die noch für ein paar Minuten nachklangen. Als die Geräusche der Umgebung wieder zu hören waren, konnten sie davon ausgehen, dass die Luft rein war. Aus mehreren Richtungen – aber zum Glück doch aus der Ferne – vernahmen die Menschen die Rufe der Monster. Ob es eine ganze Herde davon gab?

„Was zur Hölle war das bloß?“

Langsam kam Bewegung in die Leiber, die um Dieter Feldmann und Mark Larsen lagen. Als ob mit diesen Worten ein Bann brach, erhoben sie sich mühsam. Feldmann löste sich vom Hüter, der es dankbar zur Kenntnis nahm. Ein Laut des Schmerzes löste sich aus dessen Kehle. Lange hatte er diesen zurückhalten müssen.

„Lass mich endlich aufstehen, du Arschgesicht“, zischte jemand wütend hervor. Zuerst konnte Mark Larsen nicht genau erkennen, wer diesen Ausspruch ausgestoßen hatte – vor allem auch gegen wen – aber als die Männer dann gebückt standen, erkannte er sie als die Gestalten von Alfredo Cerutti und Flavio Peronino. Letzterer hatte sich zuerst erhoben, und als er helfen wollte, schlug ihm Alfredo wütend die Hand weg.

„Komm mir nicht zu nahe“, fuhr er ihn an. Dies zog einen erstaunten Ausruf von Feldmanns Seite her, den Alfredo jedoch großzügig ignorierte.

Der große, breitschultrige Peronino sagte nichts. Er wollte sich den kleineren Italiener gerade zur Brust nehmen, als eine schneidende Stimme dazwischenfuhr. Es war Jane Esposito, ihre Vorgesetzte. Unter dem natürlichen Dach ließ sich ihr Gesicht nicht genau ausmachen, da sich nur Umrisse gegen den helleren Hintergrund abzeichneten, der durch das Grünzeug drang, aber ihre Haltung ließ erkennen, dass sie mehr als nur stinkig war. Sie schnappte sich Alfredo Cerutti und ging mit ihm nach draußen. Als sie das Versteck verließen, kam Licht herein, und für einen kurzen Augenblick konnte Mark einen wolkendurchzogenen Himmel erkennen. Das Laub fiel zurück und der Himmel wurde wieder aus der Erdhöhle ausgesperrt.

„Was ist passiert? Wo sind wir?“, fragte Mark. Seine Stimme klang kratzig und schwach.

„Kannst du dich an nichts erinnern?“, wollte Ma Kirby wissen, die sich neben Dieter Feldmann hingekniet hatte und ihm half, den Hüter etwas aufzurichten. Mit Müh und Not gelang es ihnen, da ihm jede Bewegung Schmerzen bereitete.

Auch sie sah aus, als habe man sie stundenlang durch tiefsten Schlamm und Dreck geschleift. Ihr Haar stand in alle Richtungen, und wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte er darüber gegrinst. Das Drei-Wetter-Taft war hoffnungslos überfordert! Palermo vor Millionen von Jahren, kurz vor dem Frühstück: Die Frisur hält!

Der Hüter verkniff sich ein Lachen.

„Hier, meine Jacke.“

Er nahm es mit einem dankbaren Seufzer entgegen.

„Ich weiß nur noch, dass etwas schief gegangen ist ...“

„Allerdings!“, kam es schnaufend vom Ausgang her. Der große Schatten des TS-Mannes wandte sich ab und ging auf die andere Seite, um auch da für Sekunden rauszublicken. Dann wiederholte sich das Spiel in die andere Richtung. Er schien seiner Aussage nichts mehr anhängen zu wollen.

„... habe aber keine Ahnung, was“, fuhr der Hüter deshalb fort. „Das ist wie ausgelöscht.“

„Du hast dir auch ganz schön den Kopf gestoßen, wie ich vorhin erkennen konnte.“

Ma Kirby beugte sich über ihn und fühlte die Stirn. „Fieber scheinst du keines zu haben. – Noch nicht“, schränkte sie sogleich wieder ein, obgleich Erleichterung aus ihrer Stimme sprach.

„Ist das ein gutes oder schlechtes Zeichen?“, wollte er wissen.

„Unter Umständen kriegst du gar keines. Was wir im Moment mehr als begrüßen würden.“

„Mit Pflaster und Verband, einigen Vitaminpräparaten und zwei, drei Salben lässt sich nicht unbedingt viel anfangen“, kam Dieter Feldmann einer weiteren Frage des Hüters zuvor.

„Kennt sich denn niemand mit den Handgriffen eines Arztes aus?“

„Wo sind wir hier denn? Auf einem Seminar? Das war eine militärische Operation. Da haben Ärzte doch nicht wirklich etwas verloren.“

„Oder keine Sau hat daran gedacht“, meinte Peronino zynisch, während er aus dem Unterholz heraus die Umgebung im Auge behielt. Der Dreck unter seinen Füßen gab ein matschiges Geräusch von sich, wenn er sich langsam hin- und herbewegte.

„Oder das.“

„Mir kommt da etwas in den Sinn“, rief auf einmal Ma Kirby dazwischen. Sie griff in eine Tasche ihres Overalls und förderte mehrere kleine Plastikfläschchen zutage. Sie begann eines davon kurz zu schütteln, öffnete dieses anschließend, ließ etwas vom Inhalt auf ihre Hand träufeln, um es dann zwischen den Handflächen zu zerreiben. Feldmann nahm ihr das Fläschchen ab.

„Was ist das?“, wollte er wissen.

„Aura-Soma-Notfallset.“

„Noch nie davon gehört.“

„Es kann kleine Wunder bewirken, hat aber nichts mit Magie zu tun. Es wirkt positiv auf den Körper. Einige Essenzen haben eine aufbauende Wirkung, allein schon durch den Geruch.“

Sie strich Mark Larsen die Flüssigkeit ins Gesicht, wobei sie bei der Stirn anfing, um dann über die Schläfen an den Hinterkopf zu gelangen.

Dieter Feldmann schaute gespannt zu. Natürlich erwartete er keine Wunder, aber wenn es was brachte, war ihm alles recht. Und wie er sah, ging es Mark Larsen ebenso. Wortlos ließ dieser alles über sich ergehen.

„Spürst du etwas?“, fragte er ihn gespannt.

„Es wird ganz leicht warm“, meinte der Verletzte nach einigen Sekunden des Überlegens.

„Brennt es denn nicht auf den offenen Hautstellen?“, wollte der Ordensmeister wissen.

„Nein, nicht wirklich. Es ist sogar angenehm. Als beruhige es die Wunde.“

„Es kann sein, dass du nach einiger Zeit wahrnimmst, dass die Flüssigkeit zu riechen beginnt. Das macht sie aber nur ganz sachte. Meistens wird der Geruch durch die Eigenausdünstung verstärkt. – Das hier jedoch“, sie griff zu einem anderen Fläschchen, das sie ohne zu schütteln öffnete und Dieter Feldmann hinhielt, „hat wiederum eine ganz andere Eigenschaft. Es riecht nicht nur gut, sondern kann dir auch anderweitig helfen.“

„Wie anderweitig?“, wollte der Hüter wissen.

„Riech erst mal dran.“

Bei dieser Aufforderung hielt Feldmann etwas argwöhnisch die Hände vor das Gesicht.

„Und jetzt Mark.“

Der verhielt sich fast genauso und schnupperte vorsichtig, bevor er dann noch zwei, drei Mal ganz tief einatmete.

„Das tut gut“, war sein einziger Kommentar.

„Es ist eine Meisteressenz, die dir auch von innen her Heilung bringt. Alles ohne Magie.“

Für kurze Zeit herrschte Stille in der Dunkelheit. Von draußen konnte man Jane Esposito hören, wie sie mit Alfredo ein Streitgespräch führte, aber man verstand nicht wirklich etwas. Es war jedoch laut genug, um die normalen Geräusche aus der Umgebung zu übertönen.

„Wo sind wir hier?“, unterbrach der Hüter die relative Stille.

„Wir sind wahrscheinlich im Trias.“

„In Italien?“

Es war hell genug, dass er sah, wie Dieter Feldmann die Schultern zuckte.

„Was weiß ich denn? Trias ist die Zeit, in der offenbar die Saurier gelebt haben? Irgendwann zwischen dem Jura und jetzt.“

„Wow!“

„Genau.“

„Dann funktioniert das Ding mit der Zeitmaschine also?“

„Offensichtlich.“

„Und wann genau ist dieses Trias gewesen?“

Bevor er antwortete, tat Dieter Feldmann einen tiefen Atemzug: „Es soll an die 160 Millionen Jahre gedauert haben und ist nun auch schon wieder ein paar Millionen Jahre her.“

„Wow!“, meinte der Hüter erneut, aber dieses Mal etwas überraschter und mit gehauchter Stimme. „Da sind aber noch ein paar Jährchen dazu gekommen.“

„Allerdings“, pflichtete ihm der Ordensmeister bei.

„So genau kann ich mir diese Zahl gar nicht vorstellen ...“

„Das sind ungeheuerlich viele Jahre!“, ließ sich Ma Kirby vernehmen. Der Hüter sah, wie sie den Kopf in die Hand senkte. Wahrscheinlich bereitete ihr das Verständnis Kopfschmerzen, was er auch gut nachfühlen konnte.

Es dauerte noch einmal ein paar Sekunden, bevor er erneut das Schweigen brach:

„Was ist passiert?“

 

***

 

Gegenwart

Die Leute, die nichts in der Halle verloren hatten, machten, dass sie so schnell wie möglich rauskamen. Der aufkommende Wind, der von einem zentralen Punkt aus in alle Richtungen aufbrauste, erschwerte die Sache ungemein. Es gab einige, die an die Wand gedrängt wurden und den Nachfolgenden den Weg versperrten. Andere wiederum wurden von den Füßen gehoben und an die nächsten, arretierten Gegenstände geschleudert. Blitze, wie elektrische Entladungen, zuckten auf und flimmerten an den Gewehren entlang. Leute der TS, die ihre Waffen bereits im Anschlag hatten, ließen sie mit einem Schmerzenslaut wieder fallen.

Derron spürte einen Stromschlag um die Hüfte, der ihn zusammenzucken ließ. Als er runterblickte, sah er an der Gürtelschnalle einen Blitz entlang tanzen, der aber bereits wieder verblasste. Man konnte den Schmerz aushalten, aber es war trotz der Kleidung unangenehm. Er war nicht der Einzige, der mit einem verzerrten und zerknirschten Gesichtsausdruck um sich schaute, um sich neu zu orientieren.

Dann war sie da! Es gab einen ohrenbetäubenden Knall, und die Zeitmaschine war zurück. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde durch einen warmen Luftdruck umgerissen und weggefegt. Sie hatte sich den Platz in der Gegenwart zurückerobert, den sie so schmählich hatte verlassen müssen.

Was war der Preis für ihre Rückkehr?

 

***

 

In einer weit entfernten Vergangenheit (Was bisher geschah)

„Oh mein Gott“, ächzte neben ihm eine Stimme. Sie war kaum zu verstehen und klang so, als würde der Sprecher mit vollem Mund durch eine Glasscheibe reden. Es brachte jedoch genau das zum Vorschein, was auch ihm als Erstes durch den Kopf ging. Er wollte etwas sagen, aber die Zunge fühlte sich wie ein Fremdkörper an, die auf seine Befehle nicht reagierte. Jedenfalls nicht so, wie sie es üblicherweise tat.

Er lag mit dem Gesicht auf dem Boden. So viel konnte er ausmachen, ohne gleich die Augen zu öffnen. Es war Gras oder auch Unterholz, auf dem er ausgestreckt lag, und das ihm in die Haut stach. Es roch streng nach Verfaultem. Er kam sich vor, als hätte er ins Gras gebissen. Nur dass an dieser Stelle kurz zuvor ein Tier sein Geschäft verrichtet hatte.

Die Lider drückten mit dem Gewicht einer Autohaube.

„Oh mein Gott“, erklang es erneut, aber dieses Mal panischer, und der Ausruf wurde von einem anderen, fremdartigeren Laut quittiert, der jedoch nichts Menschliches hatte. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und er gab sich den Befehl, endlich aufzustehen. Nur war das schneller gedacht als getan. Wie er sich so kraftlos auf die Seite schaukelte, lag ein Gegenstand in dieser Richtung, die seine Bewegung abbremste. Die Berührung brachte ein Grummeln hervor, das sehr ungesund klang. Anstatt sich darüber Gedanken zu machen, schlug er die Gegenrichtung ein. Aber auch da traf er sogleich auf eine Masse, die ihn blockierte. Da von dieser Stelle aber keine Reaktion kam, drückte er sich so weit herum, dass er schließlich auf den Beinen der Person zu liegen kam, die wie er ausgestreckt da lag. Bevor er mit seinem Tun weiterkam, ergriff jemand seinen Arm und riss ihn in eine sitzende Stellung hoch. Ihm wurde schwindlig. Erschrocken machte er die Augen auf ...

„Mein Gott, Flavio. Schau dir das nur an!“

Sobald sich der erste Schreck legte und er die Stimme als die von Whitey Snyder erkannte, tat er mühsam wie ihm geheißen und blickte an dessen Gestalt vorbei. Zuerst sah er nur Snyder, der vor ihm stand und immer wieder mit einer Hand über den kahlen Schädel fuhr, während glänzende Schweißperlen daran hingen und ihn wie einen Kopfschmuck zierten. Er konnte nichts entdecken, was Whiteys Ausruf gerechtfertigt hätte. Da war nur eine grüne Fläche. Genauer gesagt eine Wand von Grün! Hell auf Dunkel und irgendwie so wirr durcheinander, dass er Mühe hatte, die Augen darauf einzustellen. Erst nach Sekunden schälte sich etwas daraus hervor. Etwas, das sich bewegte! Es war wie eines jener Bilder, die ein verborgenes versteckt hielten und dieses erst enthüllten, wenn man es lange genug anstarrte.

Es war eine Echse, die auf ihren Hinterläufen stand, um so an die höher gelegenen Zweige zu kommen. Die genaue Größe konnte er nicht schätzen, da er keine Vergleichsmöglichkeit besaß.

Snyders Zunge zuckte nervös hin und her. Als er flüsternd fragte: „Das ist ein Saurier, nicht wahr?“, klang etwas wie Belustigung in seiner Stimme mit.

Peronino vermochte nur zu nicken. Es war eines, Modelle dieser Tiere in einem Museum zu betrachten, ausgestellt und bewegungslos. Sie dann aber lebend zu sehen, keinen Steinwurf entfernt, war schon ergreifend. Jede Bewegung, jede Falte und jeder Körperteil flossen und passten zusammen. Und erst die Geräusche, die der kleine Kerl von sich gab. Das war fantastisch! Ein Anblick, den Menschen bislang nur aus Filmen kannten, die mittels Stop-Motion oder hochwertiger Tricktechnik die Tiere dem Menschen näher brachten. Aber das hier war real!

Was zur Hölle tat dieses Vieh im zwölften Jahrhundert?, trat auf einmal ein klarer Gedanke aus dem Nebel der Verwirrungen in Peroninos Kopf.

„Yeah!“, rief Snyder plötzlich, wobei er ihm die Hand zum „High-Five“ hinhielt. Ohne nachzudenken, schlug er ein.

Die Echse erstarrte beim ersten Geräusch. Beim nächsten war sie bereits mit einem Sprung im Wald verschwunden. Vom Dickicht verschluckt.

„Wir haben es geschafft, Flavio. Obwohl ich einen Schädel habe, wie nach einer unserer Nächte in Palermo. Aber schau dich um, Mann.“ Dabei machte er eine Geste der Offenbarung und drehte sich einmal im Kreis. „Wir haben uns zeitlich bewegt. Genau so, wie es Dwight Leach prognostiziert hat.“

„Hast du daran gezweifelt?“

„Zur Hölle, ja! Jedes Mal!“, meinte er und versuchte, eine Ernsthaftigkeit an den Tag zu legen, die ihm Peronino nicht ganz abnahm. „Aber was ist das Leben schon ohne ein Quäntchen Abenteuer? Das ist wie ... wie ...“

„Sex ohne Kondom?“, half er ihm mit einem Ausspruch aus, der ihm einfach über die Lippen kam. Keine Ahnung, woher dieser Gedanke plötzlich aufgetaucht war.

Snyder klatschte die Hände zusammen: „Genau!“

Der Laut zerriss ihm beinahe das Trommelfell. Hinzu kam, dass ihm der Schädel brummte. Die Augen musste er zusammengekniffen halten, da ihm die Helligkeit zu schaffen machte. Und dann erst diese Fröhlichkeit, die Snyder an den Tag legte. Wenn die nötig war, um das Leben zu meistern – jedenfalls in den nächsten paar Stunden – dann war er hoffnungslos zum Sterben verurteilt.

Peroninos Sitzfläche begann sich zu bewegen, und er rutschte langsam daran auf den bewachsenen Boden runter. Alfredo Cerutti gab daneben seine ersten Lebenszeichen von sich, während neben ihm Kane bereits etwas am Grummeln war. Wenn man genau hinhörte, ließ es sich als ein kontinuierlicher Fluch ausmachen, der erst abriss, als er sich unter Mühe auf den Rücken schob.

„Soll ich dir hoch helfen?“, bot Snyder an. Sein Angebot wurde abgewunken.

„Ich hoffe doch, dass sich jemand die Mühe gemacht hat, die Nummer aufzuschreiben“, kam es mühsam aus Kanes Kehle.

„Was für eine Nummer?“, wollte Peronino wissen.

„Vom Lastwagen, der mich überfahren hat!“

„Das sind bloß die Nachwirkungen vom Sprung.“

„Was für ein Sprung?“

„Der Zeitsprung.“

Als ihn Kane immer noch fragend und auffordernd anblickte, fuhr er fort: „Sagt dir wenigstens Palermo etwas?“

„Frag mich das in einer halben Stunde noch mal, ja? Ich fühle mich irgendwie, als müsste ich reihern. Weiß aber nicht, ob ich dazu die nötige Kraft aufbringe.“

„Dann bleib einfach weiterhin ruhig liegen. Vielleicht legt es sich wieder.“

Snyder legte ihm eine Hand auf die Schulter und kniete sich dann neben Alfredo hin, der nun schon länger die Augen offen hielt. Seine Haare lugten schelmisch unter dem verrutschten farbigen Kopftuch hervor.

„Und warum seid ihr schon wach?“, wollte Kane wissen.

„Die Techniker haben es mit dem Alkohol im Blut verglichen. Eine große Körpermasse kann mehr Alkohol aufnehmen.“

„Also wenn ihr welchen bekommen habt, dann hat man mich schamlos übergangen. Mir hat man nur eine Spritze gezeigt, und bevor ich reagieren konnte, hat mir der Assistent eine ähnliche schon in den Arsch gejagt.“

„Aus den Tests wurde mit der Zeit ersichtlich, dass massigere Menschen den Sprungschock besser verarbeiten als eine zierliche Person.“

„Hast du überhaupt gehört, was ich gerade gesagt habe?“

„Mann, ich bin immer noch dabei, deine erste Frage zu beantworten.“

„Okay, okay“, winkte Kane ab. „Dann hat das also nichts mit mir selber zu tun, dass ich mich so memmenmäßig verhalte?“

Snyder winkte grinsend ab.

„Natürlich nicht. Ich bin viel größer und kräftiger gebaut. Und auch schon gesprungen. Das hat alles dazu beigetragen, dass mein Körper besser damit klarkam.“

„Dich könnte man in der Größe halbieren, und ich würde es immer noch hassen, dich im Kino vor mir zu haben.“

Snyder musste lachen.

„Aber hier und jetzt ... Mann, Whitey, da bin ich doch froh, dich dabei zu haben.“

 

***

 

Neben Kane lagen Dieter Feldmann, der jedoch immer noch bewusstlos war, und Jane Esposito, die sich bereits unruhig verhielt. Ma Kirby lag in einer anderen Richtung. Sie schlummerte immer noch vor sich hin.

Peronino hielt sich an die letzte Person, die hinter ihm lag. Sie zuckte gelegentlich zusammen, als bekäme sie kleine Schocks verpasst. Es sah aus wie ein Hund, der im Schlaf von einem herrlichen Sommertag träumte, Fangen spielte, einem Ball nachhetzte und deswegen seine Beine nicht ruhig halten konnte.

Es wirkte belustigend, aber bevor er schmunzeln konnte, sah er, um wen es sich bei der Person handelte. Der Schreck kam unverhofft und packte ihn mit klammen Fingern, die sich um sein Herz legten. Als er sich umwandte, musste er noch bleicher ausgesehen haben als beim Aufwachen. Snyder sah ihn an, und dessen Leuchten in den Augen verflog.

„Was ist, Flavio?“

„Wisst ihr, wer das ist?“ Er deutete auf die Person, auf der er halbwegs lag.

Snyder schüttelte den Kopf und blickte in die Runde, als könne er durch negative Selektion den Verbliebenen ausfindig machen. Kane erhob sich gespannt in eine halb liegende Stellung, in der er den Oberkörper leicht abstützen musste. Beinahe klar konnte er sehen, wie sich die Augen von Alfredo verengten. Er war wach und bekam alles mit, fühlte sich aber zu kraftlos, um am Gespräch teilzunehmen.

„Wir sind alle“, kam von Snyder die Bestätigung.

„Ich weiß“, sagte Peronino. Sein Stimme klang beinahe weinerlich.

„Wer ist es denn nun?“, wollte Kane wissen. „Mach es nicht so spannend.“

„Larsen!“

„Der Hüter?“, fragten beide gleichzeitig.

„Was will der denn hier?“

„Habt ihr nicht das Gefühl, dass etwas fehlt? Nicht, dass etwas zu viel ist, so wie die Person des Hüters, der gar nicht mit uns in die Vergangenheit springen sollte, sondern etwas verdammt Wichtiges fehlt?“

„Ja, was denn?“

„Spuck’s schon aus!“, unterstrich Kane diese Aufforderung.

„Die Zeitmaschine, ihr Hirnis!“

 

***

 

Kane hatte sich erhoben und wankte auf wackeligen Beinen in die Richtung, in der klar ersichtlich etwas Schweres auf dem Boden des Dschungels gelegen hatte. Das Gras war niedergedrückt und auf die Seite gedrängt worden. Der unebene Boden erschwerte das Vorwärtskommen zusätzlich, umso mehr, als er noch nicht ganz sicher auf den Beinen war. Nasse, schmutzige Erde kam zum Vorschein, und jeder Schritt wurde von einem saftigen Geräusch begleitet. Von dem Gegenstand selber, der seine Abdrücke zurückgelassen hatte, war jedoch nichts zu sehen.

Nach Sekunden stellte sich Snyder neben ihn.

„Aber ... ich habe mir nichts dabei gedacht“, begann dieser eine Erklärung. „Die verschwindet bei jedem Sprung wieder, um dann erneut aufzutauchen. Natürlich ist das ungemütlich, aber es ist doch nun mal so.“

„Und wie lange liegen wir hier schon rum?“, wollte Peronino wissen, der den Hüter immer noch musterte, als könne er es kaum fassen.

„Ich bin seit ungefähr fünfzehn Minuten wach“, stellte Snyder mit einem Blick auf das Handy fest, das er aus der Hosentasche klaubte. Als es zu surren begann, ließ er es vor Schreck fallen.

„Himmelherrgott!“

„Was ist damit?“

Snyder hob es hoch und stellte es ab.

„Nur der Alarm. Ich habe vergessen, ihn abzustellen. Normalerweise ist das meine Weckzeit.“

„Hast du Empfang?“, fragte Kane.

Peroninos Kopf zuckte bei dieser Frage hoch, und er sah, wie Snyder den Leibwächter mitleidig anschaute.

„Ist das jetzt ernst gemeint, oder was?“

„Schon gut, schon gut. War ja nur eine Frage.“

„Kein Empfang.“ Wie als Bestätigung hielt er ihm das Display hin.

„Und dass wir einfach so neben und übereinander lagen, hat in dir keine Fragen aufgeworfen?“, fragte Kane.

„Nicht wirklich“, gab Snyder kleinlaut zurück.

Kane riss den großen Mann herum und begann ihn zu schütteln. Es sah aus, als würde ein Kleinkind versuchen, einen Baum auszureißen.

„Da ist verdammt noch mal was schief gegangen!“, schrie er ihm entgegen.

„Ich seh' das nun auch, Mann. Kann ich da was für?“

Mit diesen Worten riss er sich von Kane los, der umfiel und in den Dreck stürzte. Er schien es aber nicht wirklich persönlich zu nehmen. Vielmehr blieb er sitzen und vergrub den Kopf in den Händen, nachdem er einmal mit dem Fuß in eine Pfütze stampfte.

„Was sollen wir nun tun?“, wollte Snyder wissen.

„Kann dein Handy wenigstens Bilder schießen?“, fragte Peronino. „Ich habe meines nämlich nicht dabei.“

„Klar.“

„Willst du damit den speziellen Kodakmoment festhalten?“, ereiferte sich Kane.

„Sei du mal ruhig, ja“, wurde er von Snyder angeblafft.

„Schick es nur ein. Fedex soll schon am nächsten Tag an Ort und Stelle sein ... Halt, wir sind da ein paar Jährchen zu früh dran. – So ein Scheiß!“

„Jungs, ich will ja nicht bloß als Überbringer von schlechten Nachrichten gelten“, fing Peronino an, sodass beide erneut in seine Richtung schauten, „aber ich denke mir, dass ihr das sehen solltet.“

„Was sehen?“

„Larsen blutet an der Schulter.“

„Ach halt doch am besten ab jetzt die Klappe, Flavio.“

„Du mich auch, Whitey.“

„Also wirklich, Flavio. Am besten machst du nur noch den Mund auf, wenn du was Erfreuliches zu sagen hast.“

Während Snyder trotz seiner Tirade zu Peronino ging, stand Kane langsam auf. Zögerlich wischte er über die Hose. Es brachte nicht wirklich etwas.

Als er über Alfredo steigen wollte, hielt ihm der eine Hand entgegen. Kane vollendete seine Bewegung und half ihm anschließend auf die Füße.

„Wie geht’s dir?“

Mit einem müden Ausdruck auf dem Gesicht versuchte Alfredo optimistischer dreinzuschauen, als ihm wirklich zumute war. Die Geste mit der offenen Hand, die „Sosolala“ bedeutete, war da schon ehrlicher.

„He, Kane, komm mal her“, rief Peronino dem Leibwächter zu.

Als er zu den Männern trat, die sich über den Hüter beugten, machte Snyder einen Schritt zur Seite und ließ ihn näher kommen.

„Du kennst dich damit besser aus.“

„Was ist das?“, wollte Peronino wissen. Seine ängstlichen Augen verrieten jedoch, dass er die Antwort bereits kannte. Er wollte sie nur noch bestätigt haben.

„Eine Schusswunde.“ Und nach einer kleinen Pause, in der er tief Atem holen musste: „Eine gottverdammte Schusswunde.“

„He, fluch nicht so“, waren Alfredos erste Worte zu vernehmen.

„Ach, lass mich doch in Ruhe“, gab Kane von sich, ohne ihn näher zu beachten. Er blickte sich nicht einmal um. Vielmehr kniete er sich zum Hüter runter, um die Wunde genauer zu untersuchen.

„Da ist wirklich etwas krumm gelaufen!“

„Halt das mal bildlich fest“, wurde Snyder angehalten.

Ein Blitz zuckte auf.

„Houston, wir haben ein Problem!“

Niemand fand daran was zu lachen ...

 

***

 

Gegenwart

Was er sah, versetzte Aldega Derron in Erstaunen?

Über die Kimme seiner Sig Sauer, die automatisch in der Hand aufgetaucht war, betrachtete er die Zeitmaschine.

Sie war zurück!

Zum Teil wenigstens. Sie war durchscheinend und er konnte die Wand dahinter ausmachen! Das Verwirrendste war jedoch, dass sie schwebte!

Er strich sich mit der freien Hand über die Augen, aber der Eindruck ließ sich nicht wegwischen. Er war wach!

Verrückt war auch der anhaltende Lärm, der sich wie ein durchstartender Rennwagen anhörte und einfach nicht verklingen wollte. Fast hätte er sich bei einem Formel-1-Rennen gewähnt, doch der Ton blieb beständig und anhaltend laut.

Von dem kleinen Orkan gar nicht zu reden, der nach wie vor durch die Halle tobte. Hatte das etwa damit zu tun, dass die Postkutsche nicht materialisierte? Nicht wollte oder nicht konnte? So was war in all den Wochen noch nie geschehen, in denen die Experimente durchgeführt wurden. Nicht mal bei denen, die um ein Haar in die Hose gegangen waren.

Aldega Derron steckte seine Waffe weg und bedeutete seinen Leuten, ihre weiterhin auf die Zeitmaschine gerichtet zu halten.

„Niemand schießt ohne meinen ausdrücklichen Befehl, außer er ist in Gefahr!“

Er sah, wie sich die Postkutsche träge hin- und herbewegte. Als sie einer Außenwand bedrohlich nahe kam, an der seine Leute Stellung bezogen hatten, wichen diese ängstlich auf die Seite. Derron bemerkte, wie schwierig dieses Unterfangen unter dem stetigen Wind war. Der Wind zerrte an Haaren und Uniformen, aber sobald die Zeitmaschine wieder Abstand hatte, bezogen die Soldaten erneut Stellung.

Das Durchgleiten der Zeitmaschine schien auf feste Gegenstände keinen Einfluss zu haben. Das Panzerglas zum Computerraum blieb unbeschadet. Oder schwebte die Maschine einfach durch es hindurch? Niemand war gewillt sich als Freiwilliger zur Verfügung zu stellen, um herauszufinden, ob sich lebende Materie genauso verhielt.

Als Derron neben sich einen Ausruf der Überraschung hörte und einer seiner Soldaten neben Alobar auf die Zeitmaschine deutete, folgte er der ausgestreckten Hand. Und erstarrte! Aus dem Innern blickte ihm ein Gesicht entgegen. Es war ein alter, verhärmter Mann, in weißes, gewelltes Haar und in einen schweren Bart gehüllt. Sein Gesicht klebte an der Glasscheibe und schien genauso überrascht zu sein, sie zu sehen, wie sie das über den unerwarteten Besuch waren. Derron wurde von den stechenden Augen fixiert und es gelang ihm im ersten Moment nicht, den Blick abzuwenden.

„Mein Gott, war das daVinci selber?“, fragte Derron leise. Niemand schien ihn gehört zu haben.

„Sir, sehen Sie?“, schrie neben ihm eine Stimme. „Er versucht, uns etwas mitzuteilen.“

Erst nach diesen Worten gelang es dem Sicherheitschef, seine Augen loszureißen. Tatsächlich. Der Mann bewegte seinen Mund. Wie lange er das schon tat, wusste er nicht zu sagen. Das Problem war nur, dass er nicht verstand, was er ihnen mitteilen wollte. Dann fiel ihm auf, dass sich die Bewegungen wiederholten. Es waren immer nur zwei Wörter, die der Mann von sich gab.

„Weiss jemand, was er uns zu sagen versucht?“, erhob Derron zu niemand Bestimmtem seine Stimme. Da er keine Bestätigung erhielt, wusste wohl niemand eine Antwort darauf. Oder kein Schwein hatte seine Frage in all dem Getöse vernommen.

In der Kutsche schlug der alte Mann mit den Fäusten an die Scheibe. Falls dabei ein Geräusch verursacht wurde, dann verschluckten es der Wind und der anhaltende Lärm.

Derron erhob sich mühsam aus der Stellung, hinter der er Schutz gesucht hatte. Das anästhesierte Bein knickte immer wieder weg. Der Wind war ein zusätzliches Problem. Er rüttelte an seiner Kleidung und wollte ihn immer wieder zu Boden werfen. Noch spürte er keine Schmerzen, und dafür war er dankbar.

Der Junge von zuvor wollte ihm zu Hilfe eilen, aber er scheuchte ihn weg. Das Aufstehen wurde zu einer Qual, aber schließlich hatte er es auch ohne Hilfe geschafft. Er humpelte die wenigen Meter nach vorne, damit er besser sehen konnte. Er ließ den alten Mann nicht aus den Augen, der sein Näherkommen neugierig mitverfolgte.

Dann scheint er uns auch wahrzunehmen, ging es Derron durch den Kopf. Aber er konnte nicht sagen, ob dies nun ein positiver oder negativer Aspekt war.

Je näher er der Zeitmaschine kam, umso stärker wurden die elektrischen Entladungen, die sich an seiner Gürtelschnalle entfachten. Zum Glück hatte er die Waffe bereits weggesteckt. Andere Dinge, die sich hätten entladen können, wie Ringe und Halsbänder, trug er nicht. Er zuckte trotzdem vor Schreck immer wieder zurück, ließ aber nicht von seiner Vorwärtsbewegung ab.

Der Wind erschwerte ihm das Atmen. Als würde ihm die Luft direkt vom Mund weggefegt, bevor er sie den Lungen zuführen konnte. Es ging, aber stundenlang konnte er das nicht aushalten.

Schließlich trennte sie nur noch ein Meter. Die langsame Bewegung, die die Maschine ausführte, sah Derron nicht als gefährlich an. Er würde genügend Zeit haben auszuweichen. Selbst in seinem Zustand.

Derron blickte dem Mann direkt ins Gesicht und dieser erwiderte sein Starren.

War das der geniale Erfinder, dem sie die Zeitmaschine zu verdanken hatten? Er hätte gerne gefragt, aber ...

Er bewegte wieder die Lippen! Dieses Mal sah Derron, dass er es übertrieben artikulierte. Als müsse er es einem Geistesbehinderten mitteilen. Voller Anspannung versuchte Derron, die Mundbewegung nachzuahmen, immer und immer wieder. Er hörte sich dabei Laute ausstoßen, die wenig bis gar keinen Sinn ergaben, aber der alte Mann schien ihn zu ermutigen.

Es schien Stunden zu dauern.

Dann begann er auf den Rachen zu achten, den Hals, und ahmte diese Bewegungen auch nach, bis ein Laut aus seinem Mund kam, der, kaum dass er die Lippen verlassen hatte, wie ein Donnergrollen durch den Raum schallte.

Auf einmal herrschte absolute Stille ...

... als würde die Welt für eine Sekunde den Atem anhalten.

Dann wurden die Wörter ein weiteres Mal von einer Stimme gesprochen, die nicht von dieser Welt stammte. Als würde sie das Gesagte wie ein Echo wiederholen:

„NAXOS SCHADRACH!“

Von einem Sekundenbruchteil zum nächsten war der Spuk vorbei. Die Zeitmaschine weg. Spurlos verschwunden! Ohne Laut und ohne ein Spektakel zu veranstalten, wie sie es sonst immer tat.

Der Sturm hatte sich genauso schnell gelegt. Das war auch das Einzige, das sich beruhigt hatte. Die Herzen der Männer rasten vor Überraschung und Schrecken.

Den Sicherheitschef hatte es umgehauen. Vom Boden her blickte Aldega Derron an die Decke. Feiner Staub hatte sich von der natürlichen Decke gelöst und war runtergefallen. Doch jetzt, wo der Spuk verschwunden war, schien auch das aufgehört zu haben.

„Was zur Hölle war das bloß?“

 

***

 

In einer weit entfernten Vergangenheit (Was bisher geschah – Teil 2)

 

„Falls es hier Mausefallen gibt, werden Fische damit gefangen“, meinte Alfredo, als er aus dem Overalloberteil schlüpfte und es sich um die Hüfte schlang. Dann ergriff er Dieter Feldmanns ausgestreckten Arm, legte sich den auf die Schulter und half Feldmann anschließend auf die Beine. Gemeinsam wankten sie in das Randgebiet des Dickichts. Da, wo die Sonnenstrahlen nicht mehr direkt hinkamen. Es war heiß und stickig!

„Glaubst du, dass wir zurückkehren werden?“, wollte Alfredo vom Ordensmeister wissen. Der gab ihm zuerst keine Antwort, zu sehr beschäftigte ihn das Atmen. Die ungewohnte Hitze sowie die erdrückende Feuchtigkeit machten ihm mehr zu schaffen, als den anderen Teilnehmern. Was sowohl mit dem Alter als auch mit dem Zeitsprung zusammenhängen konnte. Als er schließlich im Schatten saß, hielt er Alfredo an der Hand zurück.

„Gib nie die Hoffnung auf, Alfredo. Nie!“

„Ich weiß, Dieter, ich weiß, aber ...“

„Kein Aber“, herrschte er ihn mit einer kräftigeren Stimme an, als Alfredo dies noch vor ein paar Sekunden von ihm erwartet hätte. „Nashi würde das nicht wollen!“

„Ich werde mir Mühe geben.“

„Gibt sich und hat Mühe ...“

„Was?“

Ein mitleidiges Lächeln offenbarte sich auf den Zügen des Meisters. „Tu es einfach, Alfredo! Mit Mühegeben hast du schon fast verloren.“

Mit einer nur angedeuteten Verneigung machte er sich davon. Feldmann antwortete mit einem müden Nicken, was Alfredo jedoch nicht mehr mitbekam ...

 

***

 

Es war das Geschehnis, wie Dieter Feldmann es schon mehrmals mitbekommen hatte. Wieder und immer wieder spielte es sich in seinen Gedanken ab. Den Tag durch konnte er die Bilder einigermaßen erfolgreich verdrängen. Die Nächte waren normalerweise schlimm. Da kamen die Szenen ungefiltert und ohne Gnade.

Er sah sich aus Thun hinausfahren, einer Stadt, die sich als das Tor zum Berner Oberland bezeichnete. Er fuhr in Richtung Bern, dem Hauptsitz der Schweiz. Dabei befuhr er die normalen Straßen, anstatt die Autobahn zu benutzen. Das Wetter war zu schön, als dass er einfach so mit dem Wagen an den Dörfern und Städten vorbeirasen konnte. Die Sonne legte perfektes Postkartenwetter an den Tag. Zudem hatte er noch eine schöne Begleitung, die es ihm mit ihrer charmanten Gegenwart leicht machte, dem alltäglichen Stress zu entfliehen. Sie hieß Jeannine und hatte es sich auf dem Beifahrersitz gemütlich gemacht. Es war erst ein paar Tage her, dass sie sich kennen gelernt hatten. Nichts Festes, jedenfalls noch nicht! Auf jeden Fall war es angenehm, sie in seiner Nähe zu haben. Und ihr schien es ähnlich zu gehen. Sie war um vieles jünger als er, aber schließlich war er auch nicht dabei, eine neue Familie zu gründen. Diese Zeiten waren vorbei. Manchmal musste man einfach tun, was einem Spaß machte. Oder gleich beiden.

Sie scherzte gerade, als er den Bus auf der anderen Seite der Straße ausscheren sah. Der Fahrer des Busses und er blickten sich über die schnell schrumpfende Distanz in die Augen. Beide erstaunt darüber, dass so etwas überhaupt passieren konnte. Gerade mit ihnen. Die Situation kam so schnell und überraschend, dass keiner der Beiden mehr reagieren konnte. Oder unternahmen sie deshalb nichts, um das Unheil abzuwenden, weil es einer dieser Momente war, die einfach passieren mussten?

Wie in Zeitlupe bekam der Ordensmeister mit, wie sein Arm vom Steuer glitt und zu Jeannine in Richtung Brusthöhe fuhr. Er wollte sie vor dem Aufprall bewahren. Sie beschützen. Aber was konnte sein Arm schon gegen diese Gewalt ausrichten, die da auf sie zuraste?

Dann war der Bus heran. Die Sekundenbruchteile waren aufgebraucht, die sie noch hätten retten können. Der normale Verlauf holte wieder auf.

Metall wurde wie Papier zusammengedrückt und gab dabei Laute von sich, die ins Reich der Tiere gehörten. Es war, als würde der Wagen seine Schmerzen in die Welt hinausschreien. Glas splitterte, Knochen brachen, Stoff wurde zerfetzt, Funken sprühten. Alles geschah gleichzeitig und doch irgendwie so, dass Dieter Feldmann alles mitbekam.

Als er die Berührung an seiner rechten Hand fühlte, blickte er zum Beifahrersitz rüber. Die junge Frau schaute ihn an, als wüsste sie, dass nun alles vorbei war. Der Moment war gekommen, um sich voneinander zu verabschieden. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie war traurig. Ob über den Umstand, dass sie sterben würde, oder darüber, dass ihnen nicht mehr Zeit gegeben wurde, würde sie nie mehr beantworten können.

Dieter Feldmann nickte, oder jedenfalls meinte er, das getan zu haben, und ...

 

***

 

... dann wachte er immer schweißgebadet auf!

So wie jetzt!

„Wie geht es dir?“

Feldmann zuckte zusammen, als Ma Kirby das Wort an ihn richtete. Eigentlich hatte er nur für einen Moment die Augen ausruhen wollen und musste wohl eingenickt sein. Sie bemerkte es und auf ihrem Gesicht zeigte sich ein Ausdruck, den er nicht mochte: Mitleid.

„Mir geht es gut, danke. Selber?“, versuchte er seinen Schreck vor ihr zu verbergen.

Sie musterte ihn lange mit einem kritischen Blick, aber da er nicht darauf eingehen wollte ...

„Du willst also den starken Mann spielen“, konnte sie sich nicht verkneifen zu sagen. Es war keine Frage gewesen.

„Ich würde jetzt darauf gerne eine schnippische Antwort geben, aber mir kommt leider nichts in den Sinn. Vielleicht bin ich auch einfach zu müde. Die gestrige Nacht war ja schon kurz genug.“

„Bist du es nicht mehr gewohnt, lange aufzubleiben?“, fragte sie nach, wobei sie sich ein Grinsen verkneifen musste.

„Gewohnt? Ich bin einfach keine zwanzig mehr, das ist wohl das Problem, meine Liebe.“

„Sonst geht’s dir gut?“

Er nickte.

„Bist du verletzt?“

„Nur im Stolz.“

„Also doch nicht ganz auf den Mund gefallen.“

„Wie konnte uns das nur passieren?“, warf er unvermittelt ein.

Es war keine Frage, die jemand vom Team ohne Weiteres beantworten konnte. So ließ sie es bleiben und überging sie sicherheitshalber.

„Mit der Zeit solltest du dich an die Umstände hier gewöhnen. Ein Mann in ...“

„Meinem Alter?“, unterbrach er sie fragend.

„Ich wollte eigentlich ‚deiner Verfassung’ sagen, aber das kommt auch hin.“

Sie gab ihm einen neckischen Stoß, und er musste trotz der Lage, in der sie sich befanden, lächeln. Ihre grünen Augen musterten ihn erstaunt, als wisse sie nicht, was sie von ihm halten sollte.

„So lange habe ich eigentlich nicht vor zu bleiben.“

„Wer denn schon von uns?“, gab sie etwas kleinlaut von sich. „Wir müssen uns Zeit geben. Zeit, uns an den Gedanken zu gewöhnen, dass wir gestrandet sind.“

„Es wird gut werden, Ma. Das verspreche ich dir.“

Sein Blick war hypnotisch, als sie in seine Augen starrte.

„Wie kannst du nur so ein Versprechen geben?“

Ein Ausdruck von Schmerz zeigte sich kurz auf ihrem Gesicht. Es war ein Ausdruck, den Dieter Feldmann nicht genau einordnen konnte.

„Es wird etwas passieren. – Es muss einfach!“, stieß er heftig hervor. Als sie aufstand, versuchte er, nach ihr zu greifen, aber sie wich ihm aus.

„Du kommst mir vor wie jemand, der am Gras zieht, nur damit es schneller wächst.“

Mit diesen Worten lief sie davon. Es sah aus, als wolle sie verhindern, dass er ihre Tränen sah, wenn es denn welche waren, die sie zu verbergen suchte.

„Ma!“, rief er ihr nach. Sie tat jedoch, als würde sie ihn nicht hören.

Sie ging zum Hüter.

Sie vermittelten ihm jede Hilfe, deren sie fähig waren, aber schließlich fehlten ihnen alle Utensilien. Die waren noch alle in der Zeitmaschine. Und die war ... irgendwo!

Oder irgendwann!

„Wenigstens ein glatter Durchschuss“, meinte Kane nüchtern, als sich Ma Kirby neben ihm niederließ. Er sah weder zu ihr hoch noch sonst eine Person an, die sich im Umkreis von zehn Metern aufhielt. Das waren so ziemlich alle, da niemand wirklich wagte, die nähere Umgebung zu verlassen. Die Zeitmaschine konnte ja zurückkommen ...

Oder war es die Angst vor dem Neuen? Vor dem Dschungel, der sich um sie erhob? Sie hielten sich auf einer Art Lichtung auf, wo der Bewuchs spärlicher ausfiel und die grelle Sonne ungehinderter durchschien, aber was darüber hinausging, war unbekanntes Land. Urwald. Niemand vermochte zu sagen, was sie da draußen erwartete.

Kane hielt eine Hand auf den Boden, wie um sich abzustützen, doch seine geschlossenen Augen verrieten, dass er anderweitig beschäftigt war.

„Wird er es überleben?“

„Die Blutung?“

„Was denn sonst?“, fragte Ma Kirby erstaunt nach.

„Die Blutung wird er ohne Frage überleben. Die habe ich so weit gestoppt. Fragt sich nur, ob er in den Genuss kommt, dies dann auch noch zu erleben.“

Den letzten Teil hatte er ihr in einem verschwörerischen Ton zugeflüstert. Kanes Stimme klang trotz allem gelassen. Als würde er sich mit ihr über Aktien unterhalten. Vielleicht war es gerade das, was ihr einen eisigen Schauer über den Rücken fahren ließ.

„Legen Sie mal die Hand auf die meine.“

Sie tat es und spürte sofort die Vibration, die sich vom Boden her übertrug.

„Was ist das?“

„Wollen Sie das wirklich wissen?“

Sie schaute ihn fragend an, bevor sie wortlos nickte.

„Etwas Großes. Etwas sehr Großes.“

 

***

 

Nachdem Jane Esposito mit Snyder vom Erkundigungsgang zurückkehrte, der nicht mehr als eine halbe Stunde gedauert haben konnte, versammelten sie sich. Dieter Feldmann ging es mittlerweile den Umständen entsprechend besser. Die Atmung und der Puls hatten sich etwas beruhigt. Auch die anderen Teilnehmer fanden langsam wieder zu ihrer alten Form zurück, nachdem die Symptome des Sprungs abklangen. In einem Halbkreis gruppierten sie sich um die Leiterin der Expedition.

„Wir wissen nicht, was passiert ist“, gab sie unumwunden zu. „Jedenfalls nichts Genaues. Der Einzige, der sicher mehr von den Geschehnissen wüsste, ist dummerweise auch der, der eigentlich gar nichts hier verloren hat: der Hüter.“

„Könnte man ihn nicht irgendwie wach kriegen?“, wollte Alfredo wissen. Der kleinwüchsige Italiener trippelte nervös von einem Bein auf das andere. Das ärmellose Shirt war überall von Schweißflecken gezeichnet.

Kane winkte ab. „Wenn eine Schusswunde ihn schon nicht wach kriegt, dann muss er sich schon in einer tiefen Ohnmacht befinden. Und Riechsalz habe ich keines.“

„Versuchs mal mit deinen Socken. Vielleicht hilft das.“

Wenn es ein Witz sein sollte, dann war er zu bissig gesprochen. Es gab niemanden, der lachte. Jane Esposito bat um Aufmerksamkeit und fuhr fort: „Die Zeitmaschine ist verschwunden, und es sieht so aus, als wären auch unsere Hilfsmittel und damit alle Gegenstände weg.“

„War das denn nun geplant oder nicht?“, warf Ma Kirby ein.

„Was meinst du mit ‚geplant’?“

„Sie will wissen, ob das so etwas wie ein Test sein soll“, half Snyder nach.

„Ein Test?“

Die Augen Alfredos glommen auf, als er den Wortwechsel zwischen den beiden Frauen beobachtete.

„Ein Test?“, wiederholte Esposito. „Wenn es einer sein soll, dann bin ich nicht darüber informiert worden.“

„Das heißt aber nicht, dass es nicht doch einer sein kann, oder?“

Gemurmel erklang aufgrund dieser Möglichkeit.

„Ich kann es mir schlecht vorstellen, Leute“, erhob Jane Esposito erneut die Stimme. „Es würde von schlechtem Geschmack zeugen, und zudem hat der Orden im Augenblick wirklich Besseres zu tun, als Spiele zu betreiben.“

„Aber die andere Möglichkeit ist auch nicht gerade rosig“, nahm die Leiterin des Centers erneut den Faden auf.

„Welche denn?“

Ma Kirby konnte den funkelnden Augen entnehmen, dass Jane Esposito genau wusste, was sie ansprechen wollte. Für einen Augenblick zögerte sie. War es wirklich gut, dies zu erwähnen? Wenn nicht schon jeder denselben Gedanken gesponnen hatte, dann wäre es vielleicht besser, den Schnabel zu halten. Sie verwarf diese Argumentation aber gleich wieder.

„Wenn es kein Test sein soll, was bleibt da noch? Doch nur die Tatsache, dass mit der Zeitmaschine etwas geschehen ist. Und die Tatsache, dass wir alle auf dem Boden lagen, setzt doch voraus, dass uns jemand aus der Zeitmaschine geworfen hat – um es mal vorsichtig auszudrücken.“

Unruhe kam in der kleinen Gruppe auf.

„Was willst du damit sagen?“, hakte Dieter Feldmann nach.

„Dass wir entführt wurden ...“

„So ein Quatsch!“, war zu vernehmen.

„... oder vielmehr die Zeitmaschine selber.“ Sie ließ sich durch die Unterbrechung nicht aus der Ruhe bringen.

„Wem soll denn so etwas von Nutzen sein?“, wollte Snyder wissen.

„Vielleicht hat das blöde Ding ja gar nie funktioniert und wir befinden uns irgendwo im Dschungel von Borneo“, gab Alfredo seinen Senf dazu. „Wie soll ich wissen, wie es da aussieht? Für mich ist Dschungel gleich Dschungel.“

„Das kannst du dir abschminken, Junge“, warf Peronino ein, der bislang ruhig geblieben war und nur zugehört hatte. „Die Maschine funktioniert.“

Snyder bestätigte das, indem er überzeugt in Alfredos Richtung nickte.

„Und wer sagt mir, dass du nicht ein Teil des Tests bist?“

Alfredo funkelte den breitschultrigen Mann an, als trüge er an allem die Schuld. Anstatt von der Anschuldigung eingeschnappt zu sein, lachte Peronino den Kleinwüchsigen mit einem offenen Grinsen an.

„Jetzt wirst du aber paranoid.“

„Na und?“, zischte jener zurück, und noch bevor er etwas Unüberlegtes tun konnte, drängte sich Dieter Feldmanns tiefe Stimme dazwischen.

„Hey. HEY. HEY!“

Alles blickte ihn an. Der Ausdruck auf seinem verschwitzten Gesicht zeugte von Wut.

„Dies sollte meines Erachtens ein militärisches Unterfangen sein und kein Ausflug des hiesigen Kindergartens. Oder sehe ich das etwa falsch?“

Niemand fühlte sich direkt angesprochen. Vor allem auch, weil die Argumentation nicht wirklich einer Antwort bedurfte.

„Dann übergebe ich das Wort doch wieder der Chefin.“

„Danke, Sir“, meinte Jane Esposito in seine Richtung gewandt. Und zu den anderen: „Wir können Näheres erst herausfinden, wenn Mark Larsen aus seiner Ohnmacht erwacht ist. Oder die Zeitmaschine wieder auftaucht.“

Es wollte schon wieder ein Stimmengewirr aufkommen, aber sie sprach ungehindert weiter:

„Bis dahin sind wir auf Spekulationen angewiesen. Und wohin uns die führen, haben wir ja gerade herausgefunden.“

Sie hielt einen Augenblick inne, wie um eine Kunstpause einzufügen. Jedenfalls hätte man das durchaus als solche bezeichnen können. Sie sprach jedoch nicht weiter, sondern begann, über die Köpfe der Anwesenden hinweg einen Punkt zu fixieren. Die anderen folgten ihrem Beispiel und wandten sich der Richtung zu. Geräusche wurden mit unheimlicher Geschwindigkeit lauter und lauter. Was da vorbeihastete und den Boden in Erschütterung versetzte, ließ auch den letzten Zweifler verstummen. Es war eine Herde Saurier! Das Geschnatter der kleinen Biester war erstaunlich. Es war ein Geräusch, das nicht verstummen wollte. Genauso wie ein Bild auf der Netzhaut, das nicht verblasste.

Saurier?

„Das sieht aber nicht nach Italien im zwölften Jahrhundert aus, meine Damen und Herren“, ließ sich Ma Kirby vernehmen. „Außer mir wurde in Geschichtskunde einiges unterschlagen ...“

„Wie weit sind wir eigentlich in der Vergangenheit?“, stellte Dieter Feldmann schließlich die wichtigste Frage des Tages.

„Jedenfalls keine paar hundert Jahre!“, gab Alfredo energisch zurück.

Erschrockene Stille. Lange Blicke. Bedrückendes Räuspern.

„Soweit ich im Bilde bin, sind diese Viecher vor fünfundsechzig Millionen Jahren ausgestorben“, sagte Ma Kirby. Es klang laut und machte den Eindruck, als hätte sie in der Kirche geniest. Vielleicht war es auch nur die Zahl, die diesen Effekt auslöste.

„Mann, fünf ... fünfundsechzig Millionen Jahre.“

Jane Esposito ließ die Zahl einmal über die Lippen rollen. Es müsste eigentlich einfach sein, schließlich war es nur eine Zahl. Wenn man jedoch erkannte, was das für sie als Gestrandete bedeutete, dann war es eher beängstigend. Fürchterlich. Jeder fühlte es. Jeder auf seine Art, doch der Schrecken der Realisation saß tief.

Aus Alfredos Richtung erklang ein Kichern, das gleich wieder verstummte, als er sich dessen bewusst wurde.

„Durch einen Meteoreinschlag, wie Wissenschaftler vermuten.“

„Hoffentlich sind wir nicht gerade jetzt da, wo wir diesem Schauspiel beiwohnen dürften.“

„Da kann ich dankend darauf verzichten“, ließ sich Alfredo vernehmen.

„Und ich erst!“, pflichtete ihm Whitey Snyder bei.

 

Die Saurier waren relativ klein gewesen, aber deren Anblick hatte sie alle aufgewühlt. Vor allem auch, weil die Erkenntnis von zuvor nun zur Bedrohung wurde, als Snyder vor dem Erkundigungsgang mit seiner Chefin locker nachfragte:

„Wo sind denn eigentlich die Waffen?“

Eine Frage, die zu einigem Unbehagen führte. Man hatte die Kutsche mit drei größeren Geschützen ausgerüstet, nebst drei großkalibrigen Gewehren. Das wussten sie alle. Nur waren die jetzt auch irgendwie, irgendwo oder irgendwann ...

Sie waren zurückgelassen worden mit dem, was sie gerade am Leib trugen!

Natürlich besaßen sie als TS-Leute immer noch ihre Waffen, die sie in den Halftern an den Fußknöcheln trugen. Nur was konnten die schon gegen einen ausgewachsenen Saurier ausrichten? Eines war klar: Wenn es diese kleineren Tiere gab, dann konnten deren große Verwandte nicht weit sein ... Eine Barracuda Tomcat verschoss Kugeln des Kalibers 0.32 mm. Für einen Saurier musste das wie energisches Streicheln wirken.

 

***

 

Es blieb heiß und stickig. Die Sonne wanderte nur langsam über den Himmel und brachte die Umgebung zum Dampfen. Schwaden zogen auf, die sich wie Nebel verhielten und den Dschungel als ein Paradies erscheinen ließen. Die Laute, die jedoch daraus zu vernehmen waren, deuteten eher darauf hin, dass sie in der Hölle gelandet waren.

„Ich habe Durst“, sagte Alfredo beharrlich.

„Dann trink doch etwas.“

Der kleine Italiener bombardierte seine Vorgesetzte mit giftigen Blicken.

„Was denn?“

„Wie wäre es mit Wasser?“, schlug ihm Snyder vor.

„Und woher nehmen? Wir hatten ja nicht mal welches dabei. Der Trip sollte so kurz ausfallen, dass niemand daran gedacht hat.“

„Hier muss es doch welches geben“, mischte sich Feldmann in das Gespräch ein. „Schließlich ist der Boden sumpfig.“

„Machen Sie sich doch bitte auf die Suche.“

Der Ordensmeister nickte Jane Esposito zu.

„Von mir aus.“

„Dann habe ich noch etwas anderes: Wir sind auf dem Boden nur bedingt sicher.“

Sie war die Erste, die aussprach, was sich der eine oder andere auch schon durch den Kopf hatte gehen lassen.

Es galt, einen Baum zu finden, der ihnen Schutz gewährte. Möglichst in der Nähe der Ankunftsstelle, da die Zeitmaschine jederzeit wieder auftauchen konnte. Unter ihnen war niemand, der diesen Zeitpunkt verpassen wollte, sollte er je eintreffen.

 

Es war übertrieben von einer Lichtung zu reden, wo nicht wirklich eine war. An dieser Stelle waren einfach weniger Bäume vorhanden. Die Sonne erreichte stellenweise sogar den Boden. Das Gestrüpp der Kronen verschlang sich daneben wieder mit denen der anderen Waldriesen. Dadurch gab es ein natürliches Dach aus Ästen und Laub. Es sollte ein Leichtes sein hinaufzuklettern und da oben einen Unterschlupf zu errichten.

 

Nach Stunden erst waren die Männer damit fertig geworden, in sechs Metern Höhe eine Ebene anzufertigen, auf der sie sitzen konnten. Ein paar wohl platzierte Zweige boten dann gegen die Sonnenbestrahlung noch etwas spärlichen Schutz. Sie würden damit zwar keinen Preis gewinnen, aber es musste genügen!

Während des Baus waren mehrmals verschiedene Tiere aufgetaucht, die über die Lichtung sprinteten. Einige waren stehen geblieben, hatten sie neugierig beäugt, um dann gleich wieder das Weite zu suchen. Dabei hatten sie Laute ausgestoßen, wie man sie noch nie gehört hatte, auch wenn krampfhaft nach einem Vergleich gesucht wurde. Es klang zu exotisch: Blöken, Schreien, Gurren und dann wieder so fremdartige Geräusche, die sich jeder Beschreibung entzogen.

Des Weiteren waren die Tiere in einer erstaunlichen Vielfalt anzutreffen. Es kam immer wieder vor, dass die Gestrandeten vor Schreck oder Überraschung erstarrten, wenn eines davon in ihre Nähe gelangte.

Natürlich hatten sie alle schon einmal Elefanten oder Wale gesehen, wenn auch meistens nur im Fernsehen, Kino oder Zoo. Aber auf einmal direkt mit einem solchen Riesentier konfrontiert zu werden, das in zwanzig Metern Entfernung in einem gemütlichen, beinahe ermüdenden Trott vorüberlatschte, war doch etwas ganz anderes!

„Mein Gott, seht euch das an“, wurden dann Stimmen laut.

Oder auch: „Was ist das?“

„Ein Saurier natürlich“, war dann die etwas spöttische Antwort.

„Ja, aber was für einer?“

„Ein sehr großer Saurier.“

„Das sehe ich auch. Aber was für einer?“

„Keine Ahnung. Den gab’s nicht bei Jurassic Park.“

Meckerndes Lachen.

„Ich hab den sowieso verpennt.“

 

***

 

Gegenwart

Tief unten, in den Verließen des Centers, lagen die Zellen. Es würde wohl nie einen Verwendungszweck für sie geben, da ein Platz an der Sonne zum größten Teil der wirksamste Ort für ein Mitglied aus der Schwarzen Familie war, und trotzdem waren sie gebaut worden. An einem Ort, den man gerade noch mit einem Aufzug erreichen konnte.

Nichtsdestotrotz waren drei der Zellen besetzt. In zwei davon wurden nicht wirklich Gefangene gehalten. Ihre Insassen waren vielmehr dem Krieg als Opfer anzurechnen, den der Orden gegen die Schergen Asmodis führte, obschon sie weder gestorben noch in seine Kreaturen verwandelt worden waren.

Der letzte Zugang war gerade erst eingetroffen. Dwight Leach war hier vorübergehend untergebracht worden. Erst als die Wachmannschaft gegangen war und er aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte, wurde es hier unten für einige Zeit laut. Jedoch nur so lange, bis ihm die Luft ausging und sich die Stille erneut über die langen, hell erleuchteten Gänge ausbreiten konnte. Unterbrochen von einem gelegentlichen Schluchzen.

Samuel befand sich in einer der anderen Zellen. Er war nicht wirklich ein Gefangener, aber die Welt da draußen hielt ihn für tot. Die Chancen waren äußerst gering, dass er je wieder klar im Kopf wurde. Er wurde hier festgehalten, weil niemand erfahren durfte, welchem Unfall er zum Opfer gefallen war.

Seine Zelle war auch nicht wirklich eine. Sie war mit Decken, Kissen und anderen weichen Dingen wattiert worden, damit er sich keinen Schaden zufügen konnte, falls er aus seinem statischen Dasein erwachen sollte. Er saß einfach nur da, in eine Ecke gedrängt, und ließ den Schein eines Nachtlichtes auf sich ruhen.

Er wurde mit allem versorgt, was er zum Leben brauchte. Obschon Billie Holiday – seine vor dem Unfall zukünftige Frau – von einem ganz anderen Leben geträumt hatte. Für sie kam es eher einem Dahinsiechen gleich. Eine Kugel im Kopf hätte seinem Leiden – und wahrscheinlich auch ihrem – ein wohlverdientes Ende bereitet, als es dieser unverständliche Kodex der Ärzte in Wirklichkeit tat. Ärzte wollten Leben erhalten. Koste es, was es wolle. Was dabei mit den Gefühlen der Angehörigen geschah, zählte neben dem Erfolg „Leben“ gar nicht.

Sein Geist war verwirrt. Oder war dieser bei der Reise in der Vergangenheit einfach auf der Strecke geblieben?

Er war gerade dabei gewesen, seine ewige Litanei von sich zu geben, als der Name „Naxos Schadrach“ selbst durch die Tiefen des Komplexes drang und den Fels um ihn herum zum Zittern brachte.

„Ich weiß es. Ich weiß ...“

Dann verstummte er.

Ein Zustand, der zum ersten Mal eintrat, seit ihn die Ärzteschaft in diesem Raum untergebracht hatte. Vor sehr vielen Tagen ...

Dann hob er seinen Kopf leicht an, den er bisher hatte hängen lassen, und schien zu horchen. Doch da war nichts!

Sobald seine eigene Stimme das nächste Mal durch den Raum klang, war klar, dass er nun wusste, wovon er sprach. Verständnis hatte sich in seine Gesichtszüge geschlichen. Nur war niemand da, der diese Veränderung sah.

„Ich weiß es!“

Unmittelbar vor ihm öffnete sich auf seine Worte hin ein Riss in der Existenz, der sich erweiterte und ihn schließlich verschlang. Ein Schrei erklang! Niemand hätte sagen können, ob dieser von Samuel ausgestoßen wurde oder ob das Geräusch mit der Falte im Universum einherging.

Für kurze Zeit erhellte gleißendes Licht den Raum, dann war der Riss wieder verschwunden. Und mit ihm auch Samuel.

Nur das grüne Nachtlicht brannte weiter, als sei nichts passiert.

Aus einer anderen Zelle drang Dwight Leachs Stimme, der durch den Knall aufgeschreckt worden war. Dann fiel ihm auf einmal auf, dass Samuels Litanei ein Ende gefunden hatte.

„Hallo?“, warf er zaghaft in den Gang, den er durch einen Schlitz erkennen konnte. Er konnte nicht wirklich etwas sehen. Als dann der Schrei erklang, zuckte Dwight von der Tür zurück und verkroch sich wimmernd im dunkelsten Winkel der Zelle.

Erst sehr viel später wagte er sich wieder an die Tür zurück. Auf seine weiteren Kontaktversuche, die er ebenso leise und vorsichtig von sich gab, wie zuvor auch schon, gab es keine Erwiderung mehr.

 

***

 

In einer weit entfernten Vergangenheit (Was bisher geschah - Teil 3)

Allen Whitey Snyder hatte sich zu einer Pinkelpause in das Unterholz verzogen. Nur hatte er nicht gepinkelt. Schon die ganze Zeit über hatte sein Magen rumort, dass es keine Freude mehr war.

Er hatte schon Spott über sich ergehen lassen müssen, warum er denn so weiß sei – ha, ha, ha – und schließlich hatte er dem Drang der Natur nachgegeben. Jetzt ging es ihm schon sehr viel besser.

Als er sich vom Baum löste, hinter dem er sein Geschäft verrichtet hatte, stand auf einmal ein Saurier vor ihm. Seine Hände erstarrten, wie er gerade dabei war, sich die Hose zuzuknöpfen. So aus der Nähe war das Tier nicht unbedingt ein schöner Anblick, aber Snyder hatte aus Erfahrung gelernt, dass man nichts auf Äußerlichkeiten geben konnte. Er sah mit seinem ausgeprägten Haarwuchs ums Kinn auch nicht wie der Wunschtraum jeder Frau aus. Vor allem, weil es um die auf dem Kopf so schlecht bestellt war.

Das Ding ihm gegenüber war so groß wie er. In Anbetracht der Riesentiere, die sie seit ihrer Ankunft gesehen hatten, war das Tier also relativ klein.

Es war auf jeden Fall etwas Faszinierendes!

Es waren beachtliche zwei Meter und ein paar Zerquetschte, die da plötzlich vor Snyder aus dem Unterholz aufgetaucht waren! Der Saurier war genauso überrascht wie er selber, aber als dieser nach ihm schnappte und Snyder am Arm verletzte, verpasste er dem Vieh einen Kinnhaken, dass es umkippte und auf den Boden schlug. Zuerst blieb es verdutzt und bewegungslos liegen, bis der Saurier dann mit den Beinen um sich zu stampfen begann, um wieder auf die Füße zu gelangen.

Staub wirbelte auf und Snyder musste sich hustend abwenden. Das Tier schrie dabei immerzu in einer hohen Tonlage, dass es in den Ohren weh tat.

Hände oder Flügel, die ihm beim Aufstehen hätten helfen können, besaß es keine. Nur kleine Stümpfe, die nichts nutzten.

„Willst du ein Stück von mir, he? Willst du ein Stück von mir?“, schrie Snyder. „Dir werde ich helfen ...“

Er begann mit den Füßen nach dem Saurier zu treten, doch die Schreie wollten nicht verstummen.

Die qualvolle Feuchtigkeit brachte Snyders ganzen Körper in Schwierigkeiten. Ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt. Leichter Schwindel befiel ihn. Hatte er vom Bau des Baumhauses her schon geschwitzt – und das erst noch unter diesen höllischen Temperaturen und der teuflischen Feuchtigkeit – dann brachte dies nun sein Wesen bedrohlich an die Grenze des Möglichen. Er war dabei, sich voll zu verausgaben! Dann forderte sicherlich die Narkose auch noch ihren Tribut.

Ein eiskalter Schauer legte sich plötzlich über Snyders Nacken und die Schwierigkeiten, die er verspürt hatte, waren plötzlich wie weggefegt. Als er herumwirbelte, sah er sich weiteren Sauriern gegenüber. Ohne ein Geräusch von sich zu geben, hatten sie sich herangeschlichen. Oder hatte der andere Saurier mit Absicht so laut geschrieen, dass Snyder die Artgenossen gar nicht hatte wahrnehmen können?

Das Vieh zu seinen Füßen verstummte. Als Snyder es ansah, vermeinte er so was wie triumphierendes Blitzen in den Augen zu erkennen. Das konnte doch nicht sein, oder? So viel Intelligenz konnte ein Saurier nicht haben? Sonst wären die Dinger doch nicht ausgestorben ...

Snyder drehte sich blitzschnell ab, in Richtung des Baumes, auf dem sie Unterschlupf gefunden hatten. Ein langer Hals fuhr neben ihm ins Leere, den anderen konnte er gerade noch auf die Seite schlagen, und dann schrie er nur noch, als er über den Dschungelboden hetzte, gejagt von Jägern, denen ein Mensch eigentlich nie hätte begegnen dürfen.

 

***

 

Sofort wurden die anderen auf die Schreie aufmerksam. Jane Esposito ließ sich die wenigen Meter vom Baum fallen, den sie gerade erklimmen wollte, rollte ab und lief bereits auf einen Erdwall zu, hinter dem sie, nach einem Sprint über den Dschungelboden, in Deckung ging. In ihrer Hand tauchte augenblicklich die kleinkalibrige Barracuda Tomcat auf. Neben ihr warfen sich Peronino und Alfredo zu Boden.

Dann blickten sie über die Erhebung, und was sie sahen, würden sie ihren Lebtag nicht mehr vergessen!

Snyder kam ihnen entgegen gerannt. An die zehn Saurier, die beängstigend schnell aufschlossen, hetzten ihn.

„Raptoren. Shit!“, dachte Esposito kalt.

„Wir können auch gleich mit Murmeln werfen“, vernahm sie Peroninos Stimme. Seine Stimme klang verhalten. Esposito wusste, dass er nur das ausgesprochen hatte, was sie alle dachten. Aber sie war nicht bereit, einen ihrer Soldaten im Stich zu lassen.

„Jeder Schuss muss treffen“, zischte sie.

Dann begann sie, Stellung zu beziehen. Bevor sie einen Saurier ins Visier nehmen konnte, stolperte Snyder, knallte auf den Boden, schlitterte ins Unterholz, um sogleich von einem Strunk aufgehalten zu werden, der ihm in den Rücken schlug.

Das Schussfeld war frei, aber sie zögerte. Dann waren die vordersten Saurier bei ihm. Die wilden Bestien warfen sich mit einem triumphierenden Geheul auf Snyder und vollführten dabei mit ihren hungrigen Kehlen einen Lärm, dass die Schreie, die Snyder ausstieß, darin vollständig untergingen.

Der Bann löste sich, als neben ihr der erste Schuss erklang. Jane Esposito zuckte zusammen. Die Kugel hatte sich einem der Saurier, der bereits eine blutige Schnauze aufwies, in den Schädel gebohrt. Obwohl Peronino das Auge getroffen hatte, waren sie womöglich zu spät dran. Ohne ein Geräusch von sich zu geben – oder sie hatten es in all der Aufregung nicht vernommen – sackte die Bestie in sich zusammen. Dann knallten weitere Schüsse.

Nicht jeder fand sein Ziel!

Teilweise prallten die Kugeln einfach von der festen Schuppenhaut ab und schwirrten als Querschläger ins Unterholz. Und die, die trafen waren bestenfalls harmlose Wassertropfen, die sie den Sauriern verabreichten. Mehr nicht!

Dann waren die restlichen Saurier heran. Sie schnappten sofort nach den Artgenossen, die, ebenfalls getroffen, am Boden lagen und sich kaum mehr bewegten.

Snyders Schreie waren verstummt. Die Beine zuckten noch lange nach, aber das konnte auch dadurch hervorgerufen worden sein, dass die hungrigen Mäuler daran rupften und sich gegenseitig die besten Stücke streitig machten. Irgendwann verschwand seine Gestalt unter dem Ansturm der wilden Tiere. Staub wirbelte auf und legte einen gnädigen Vorhang darüber. Doch die Geräusche, die an ihre Ohren drangen, waren schlimm genug!

Jane Esposito hatte sich hinter ihrer Deckung verkrochen. Sie wusste, dass sie diesen Anblick lange mit sich herumtragen würde. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, für die sie sich wahrscheinlich das ganze Leben lang hassen würde. Jemand hatte sie fällen müssen!

Ein Blick in Alfredos Augen, der neben ihr lag und auch ein verbissenes Gesicht aufgesetzt hatte, zeigte, dass es ihm genauso erging und er wusste, womit sich ihre Gedanken herumschlugen.

Sie war der Chef und sie hasste die Situation, in der sie sich befanden. Sie mussten jetzt bloß schauen, dass sie von hier wegkamen. So schnell als möglich. Es war fast keine Munition mehr vorhanden. Vielleicht noch je zwei bis drei Schuss in den Kammern. Was sollten ihnen die nutzen?

Mit ein paar deutlichen Handzeichen drängte sie zum Rückzug. Ihre Gesten waren bestimmt, und die zwei Männer folgten ihr, ohne zu murren. Snyder war nicht mehr zu helfen. Im Moment war die Gefahr größer, dass auch sie in den Mägen der Biester landen würden.

 

***

 

Gegenwart

Als Aldega Derron sich bewusst wurde, wo er sich befand und was geschehen war, kam er sich deplatziert vor. Der Vorgang erinnerte ihn an einen Sexakt. All die Anspannung der vorherigen Minuten war verklungen, und das Einzige, das ihm im Augenblick in den Sinn kam, war: „War es das denn schon?“

Er wischte den Gedanken beiseite und richtete sich vom Boden hoch, auf dem er rücklings lag und wo er sich zuerst nicht hatte rühren können. Nicht hatte rühren wollen, so sehr dröhnte ihm der Kopf!

Das Aufrichten war jedoch ein großer Fehler! Kaum hatte er das getan, begann die Welt, sich um ihn herum zu drehen. Das Pochen des Oberschenkels nahm er irgendwie noch entfernt wahr, doch er versuchte es zu ignorieren, soweit er konnte. Es gelang ihm nur schwer, da die Betäubung nachließ.

„Was war hier los?“, ertönte eine Stimme.

Derrons Kopf ruckte so schnell herum, dass ein Knacken durch den Nacken fuhr. Das mussten alle gehört haben, dachte er noch, bevor er auch diesen Gedanken verdrängte und den Mann anstarrte, der am Eingang der Halle stand. Er kannte diese Stimme. Würde sie wohl immer und überall erkennen: Fabio Cassani! Was zur Hölle machte er hier?

 

***

 

In einer weit entfernten Vergangenheit (Was bisher geschah - Teil 4)

Jane Esposito, Alfredo Cerutti und Flavio Peronino gaben alles, was ihre Körper herzugeben bereit waren! Es war ein Wettrennen mit dem Tod. Doch dieser saß ihnen nicht nur sprichwörtlich im Nacken.

Sie hatten sich gerade ein paar Meter von der Stelle davongeschlichen, wo Snyder sein Ende in Form von blitzschnellen, fleischfressenden Sauriern gefunden hatte, als eine andere Tierart – zwar auch ein Saurier, aber mit langem Hals und nur gerade drei Meter lang (war das ein Plateosaurus, der einfach noch nicht genug ausgewachsen war?) – vor ihnen aufschrak und einen Laut der Überraschung ausstieß. Sofort ruckten die Köpfe der Echsen hoch, die sich an dem kargen, menschlichen Mal gütlich taten, das Snyder für diese Gruppe hungriger Mäuler abgab.

Dann war es auf einmal vorbei mit der Ruhe!

Die Raptoren stießen einen bitteren Ruf aus, der der Menschengruppe die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Augenblicklich stoben die Tiere hoch und schlugen die Richtung ein, in die sich die Menschen zuvor begeben hatten. Die muskelbepackten Beine ließen die Strecke gefährlich schnell zusammenschrumpfen. Baumstrünke und Unebenheiten übersprangen die Urviecher ohne Schwierigkeiten, und der Abstand zu den Menschen verringerte sich rasend schnell. Gab es überhaupt ein Entkommen?

Sie waren erstarrt stehen geblieben, als der Saurier neben ihnen losblökte – anders konnte man diesen Laut nicht umschreiben.

Alfredo stand am nächsten zu dem nashorngroßen Ding. Und obwohl er eigentlich im Normalfall davor Angst gehabt hätte, schlug er ihm die Hand auf den breiten Arsch und schrie etwas von „Halt die Klappe“. Nur nutzte es nichts. Im Gegenteil. Der Saurier startete eine weitere Blökfanfare, als rufe er nach seinen Eltern. Irgendwo in der Ferne wurde auf die Rufe geantwortet. Nur konnte niemand sagen, welches Tier da Antwort gab! In der jetzigen Situation war das auch ziemlich egal!

Obwohl es unsinnig war, hatte doch jeder von ihnen gehofft, dass der Ton im Dschungel untergehen würde. Doch wie besagte schon Murphys Gesetz: Was schief gehen kann, wird schief gehen! Und als das Geschrei der  Saurier hinter ihnen losging und die Befehle zum Wegrennen vom Gehirn zu den Füßen gelangten, war es fast schon zu spät, sich überhaupt noch die Mühe zu machen. Doch Mühe gaben sie sich allemal!

Es waren nur acht Echsen, die hinter ihnen herhetzten. Für die unbewaffneten Männer und Frauen hätten es aber auch zwanzig sein können. Einen großen Unterschied machte das nicht mehr! Nur in der Menge an Nahrung, die jeder der Raptoren für sich beanspruchen konnte. Bei acht Verfolgern lag es doch zugunsten der Saurier!

Sie spurteten auf den Baum zu, der so was wie Schutz gewähren sollte, und doch wusste keiner von ihnen, ob er ihn auch wirklich erreichen würde. Ihre Waffen waren fast leer. Und selbst wenn sie voll gewesen wären, hätten die Kugeln wie Wattebäuschchen auf die Saurier gewirkt. Nur ein wohl gezielter Schuss brachte diese Tiere zu Fall. Aber wer hatte schon Zeit zum Zielen, während er rannte?

 

***

 

„Was zum Teufel tun die da?“, fragte Dieter Feldmann Minuten nachdem die drei TS-Leute ihrem Kollegen zu Hilfe geeilt waren. Die kurze Zeit, die sie erst weg waren, kam den Zurückgebliebenen wie eine Ewigkeit vor. Er hatte diese Frage niemand Bestimmtem gestellt, aber sein fragender Blick, den er anschließend in die Runde warf, erweckte den Eindruck, als hätte er eine Antwort erwartet. Irgendeine. Mochte sie noch so dumm oder nichts sagend ausfallen.

Wie er da gebückt auf dem Unterschlupf stand und in die Ferne starrte wie einst Tarzan, bevor dieser sich von Liane zu Liane hangelte, stellte er nüchtern fest, dass seine Sicht eingeschränkt war. Nur ein paar mit Schnüren zusammengebundene Holzpflöcke und Zweige – was Whitey Snyder in einem Anfall von beginnendem Wahnsinn als eine Baumhütte bezeichnet hatte – hielten alles zusammen. Bäume und Geäst versperrten ihm die Sicht an den Ort, an dem seit einigen Sekunden ein theatralisches Geheul und Geschrei erklang.

„Das klingt ja, als würde da hinten eine Sau abgestochen!“

Ma Kirby hatte sich kniend zum Ordensmeister hinbewegt. Sie musste dabei an Mark Larsen vorbei, der immer noch in einer tiefen Bewusstlosigkeit versunken am Boden lag.

Als sie sich aufrichtete, legte sie Feldmann eine Hand auf die Schulter, um sich an ihm abzustützen. Anschließend versuchte sie, etwas zu erkennen. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, es war hoffnungslos. Vor ihnen erstreckte sich eine undurchdringliche grüne Wand.

„Was zum Teufel tun die da?“, wiederholte Dieter Feldmann seine Frage.

„Ich kann nichts sehen“, stellte sie enttäuscht fest. Ein Schulterzucken schloss diese Feststellung ab.

„Es ist wohl eher so, was die zum Teufel nicht tun!“

Harry Kane wandte sich zu ihnen, als gerade der erste Schuss fiel. Sie zuckten alle zusammen, da das Geräusch nicht in die Umgebung passte und gerade deshalb überraschend kam. Dabei rutschte Ma Kirbys Hand an Dieter Feldmanns breitem Rücken ab. Es sah für einen kurzen Augenblick aus, als würde sie ins Leere fallen, doch im letzten Augenblick konnte sie sich im Geäst festhalten. Gleichzeitig hatte auch Kane sie gepackt und so weiteres Unheil abgehalten.

„Nur nicht so schnell, Ma“, meinte er lakonisch und hatte die Situation bereits wieder vergessen. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er in die Ferne, aus der die Geräusche kamen. Weitere Schüsse folgten dem ersten.

„Das verheißt nichts Gutes“, meinte Dieter Feldmann mit verzerrtem Gesicht. Seine Stimme klang leise, als wolle er nicht derjenige sein, der das Unglück heraufbeschwor. Und wenn es bereits da war, dann wollte er es nicht noch auf sich aufmerksam machen.

„Es könnte sein, dass Sie Recht haben, Sir.“

„Was sie wohl mit der Knallerei bezwecken? Es bringt ja doch nichts.“

„Sagen Sie das mal jemandem, der sich in die Ecke gedrängt fühlt.“

„Da“, unterbrach Ma Kirby das Gespräch und zeigte auf einige Farbtupfer, die sich bewegten und sich im verschiedenen Grün in der Pflanzenwand abzeichneten. „Das sind sie doch, oder nicht?“

„Heilige Hölle, klar“, stimmte Kane ihr bei. Er bewegte den Kopf ein wenig hin und her, als wären die Farbtupfer nicht ständig auszumachen. Oder waren es plötzlich mehr Farbtupfer, als sie eigentlich Leute draußen hatten?

„Shit“, stieß Kane plötzlich fluchend hervor, was ihm von den Anderen verwunderte Blicke einbrachte. „Shit! Shit! Shit!“

„Was ist?“, wollte Ma Kirby wissen.

Beide wunderten sich über Kanes Ausbruch, da er bis jetzt immer einen ruhigen Eindruck gemacht hatte.

„Am besten ladet ihr schnell eure Pistolen, Leute. Es sieht so aus, als würden wir sie in den nächsten Minuten brauchen.“

Ma Kirby und Dieter Feldmanns Köpfe ruckten in die angegebene Richtung. Sie konnten nicht mehr ausmachen, als zuvor auch schon, aber je länger sie hinschauten, desto mehr erkannten sie, und umso deutlicher wurde, was da auf sie zukam.

Dieter Feldmann nestelte bereits seine kleinkalibrige Pistole hervor, als endlich Bewegung in Ma Kirby kam. Sie zuckte seitwärts und wollte eigentlich nur an ihr Fußgelenk greifen, wo sie ihre Waffe umgeschnallt hatte. Sie gab Feldmanns Oberkörper einen Schubs, der dadurch aus der Balance geworfen wurde. Zudem hatte er sich etwas vornüber gebeugt, um besser zu sehen. Nur so war es zu erklären, dass er plötzlich einen Schrei des Erstaunens ausstieß. Und schon fiel er kopfüber runter.

„Dieter!“, brachte Ma Kirby noch hervor. Alle Schreie nutzten nichts! Kane, der über sie hinweg nach dem Ordensmeister greifen wollte, kam nicht an ihn heran, da sie ihm im Weg war. Ma Kirby selber kriegte noch einen Fetzen Stoff in die Hand, aber der wurde ihr einfach entrissen. Dann fiel sie ebenfalls in die Tiefe, da Kane mit ihrem Rücken zusammenstieß. Im letzten Augenblick konnte sie einen Ast packen. Kane bekam auch wieder festen Halt, und er griff stattdessen nach ihr, als er die Aussichtslosigkeit seines Tuns erkannte.

Für Sekunden wusste niemand, was zu tun war. Die TS-Leute waren nur noch fünfzehn Meter entfernt. Die Saurier folgten ihnen auf dem Fuß und veranstalteten eine unheimliche Geräuschkulisse. Wenn ihr Erscheinen nicht schon einschüchternd genug war, dann waren es die Laute, die sie triumphierend von sich gaben.

Und nun war auch noch Dieter Feldmann runter gefallen ...

 

***

 

Wenn er sich nicht im letzten Augenblick im Fallen gedreht hätte, dann wäre er wohl mit dem Kopf zuerst am Boden aufgeschlagen. Was ihm wohl unweigerlich das Genick gebrochen hätte. Dummerweise fiel er aber nicht lange genug, um diese Drehbewegung auch wirklich zu Ende zu führen. Schließlich war er ja keine Katze, die nicht mal eines ihrer neun Leben für diesen unfreiwilligen Sprung hätte abgeben müssen, da es für sie eine Leichtigkeit gewesen wäre, auf den Pfoten zu landen. Dieter Feldmann kam auf dem linken Arm auf, den er von sich streckte. Ob er sich damit etwas Schwung hatte geben wollen oder es einfach eine Kumulation böser Zufälle war, sei dahingestellt. Tatsache war, dass es einen knallenden Laut gab – und oben auf dem Baum schlug Ma Kirby die Hände vor die Augen. Kane kniff das Gesicht zusammen, als er das Geräusch hörte. Das würde weh tun!

Zwischen all dem Dreck sah Ma Kirby Dieter Feldmann am Boden aufschlagen. Die Wucht des Aufpralles brachte es mit sich, dass er sich rücklings überschlug und gleich wieder auf den Beinen zu stehen kam. Aber nur kurz, da es ihn erneut umfegte, er zwei weitere Purzelbäume hinlegte, bevor er verrenkt liegen blieb. Als würde er die Gefahr spüren, in der er steckte, erhob sich Feldmann mühsam. Sein Gang war alles andere als gerade, und er taumelte im Kreis herum, ohne wirklich vorwärtszukommen, da sich die Welt um ihn drehte. Wie leblos hing sein linker Arm an der Seite.

Mit Bestimmtheit hatte Kane Ma Kirby zurückgehalten, die sich bereits in die Tiefe fallen lassen wollte. Ein einziges Wort war dabei über seine Lippen gekommen: „Stopp!“

Ihr Kopf ruckte zum Leibwächter herum. Sie wollte aufbegehren, aber es war schon zu spät.

„Halten Sie die Festung“, raunte Kane, als er ihr die Waffe aus der Hand drehte.

„Die Festung halten?“, schrie sie auf. „Was zum Teufel soll das bedeuten?“

Dann trat Kane über die Plattform.

Ohne große Überlegungen sprang er direkt auf den Urwaldboden zu! Hätte er nämlich bereits von Anfang an sein Gehirn eingeschaltet, dann wäre er nicht einmal mit in die Vergangenheit gekommen. Warum also jetzt damit anfangen?

In der einen Hand hielt er ihre kleinkalibrige Waffe, in der anderen die seine, die jedoch auch nicht mehr Durchschlagskraft besaß. Er war aber bereit, sie auf den ersten Raptor abzufeuern, der Feldmann zu nahe kommen sollte.

Man hatte ihn vom Orden her dazu beauftragt, den Banker zu beschützen. Sie befanden sich nun nicht mehr in der Gegenwart, aber seine Aufgabe war klar umrissen. Er würde alles in seiner Macht Stehende versuchen, sie zu erfüllen. Nein, der Ordensmeister würde nicht ins Gras beißen, während er selber noch unter den Lebenden weilte!

Die Saurier waren nun nahe genug herangekommen. Zu nahe! Er begann zu feuern, sobald er festen Boden unter den Füßen hatte.

 

***

 

„I don’t know where I’m going,

but I can’t wait to get there.

- All I know is I’m just going ...“

Blackie Lawless

 

Irgendwann

Das Erste, was Samuel bewusst wahrnahm, war ein Tippen an seine Schultern, nachdem der Schmerz nicht mehr sein ganzes Denken und Fühlen einnahm.

Jemand stieß ihn an! Und das nicht etwa zimperlich.

Mein Gott, er lebte noch!

Diese Feststellung durchfuhr ihn sowohl mit Erleichterung wie auch mit Schrecken.

Als er jedoch die Augen mit einem Schmerzenslaut aufriss und sah, was ihm gegenüberstand, wurde ihm angst und bange.

Er lag am Boden und da war eine ganze Menge von Leuten, die auf ihn hinunterschauten. Die Mehrheit war in dunkle und dreckige Kleider gehüllt, die stellenweise Löcher aufwiesen, wie er feststellen konnte.

Die Fackeln, die von einer Handvoll von Leuten getragen wurden, ließen die Situation in einem gespenstischen Licht erscheinen. Die Schatten tanzten hin und her und waren die einzige Bewegung, die Samuel erkennen konnte.

Dann wurde er erneut angestoßen.

Mit einem Schmerzenslaut zuckte Samuel zusammen. Ein kleinwüchsiger Mann stand über ihm und funkelte ihn mit irrsinnigem Blick an. Die Augen traten ihm dabei fast aus dem Kopf. Er trug eine dunkle Uniform, die schon bessere Tage gesehen hatte. Am Hals und den Handgelenken wies das Hemd schmutzige Stellen auf und wirkte ebenfalls abgetragen.

Als sich Samuel aufsetzte, ging Bewegung durch das Volk und ein Laut der Überraschung erklang aus der Menge. Es klang wie ein erstauntes und erschrockenes Luftholen!

Samuel hob beschwichtigend die Hände, doch selbst diese Geste wurde falsch ausgelegt, da er sofort sah, wie sich bei den Menschen in den vordersten Reihen die Augen weiteten.

Sie haben Angst!, durchzuckte es ihn.

Bevor er sich weitere Gedanken darüber machen konnte, schlug ihm der uniformierte Mann von vorhin ein Bein vor die Brust. Unter seinem triumphierenden Geheul fiel Samuel auf den Rücken. Die Menge hielt gespannt den Atem an.

 Der Mann, obwohl klein von Statur, thronte erneut über ihm, als habe er ihn in einem fairen Zweikampf besiegt.

Samuel wollte gerade zu einer Gegenwehr ansetzen, als er sah, was zuvor in seinem Rücken gestanden hatte. Erschrocken holte er Luft. Er blickte von der Menge zum Mann, der ein hämisches Grinsen aufgesetzt hatte und anschließend wieder zurück zu dem schauerlichen Anblick. In Samuel dämmerte es und ein Gefühl tauchte in ihm auf, als würde der Tod nach seiner Seele greifen.

Es waren fünf Scheiterhaufen, die er da sah!

Fein säuberlich auf Bergen von Holz und Reisig aufgestockt, ragten die Pfähle heraus, an denen bereits vier Menschen gefesselt waren: drei Frauen und ein Mann. Trotz des spärlichen Lichts der Fackeln erkannte Samuel, wie die Körper geschunden und zum Teil sogar mit Brüchen übersät waren.

„Hexer!“

Als Samuel den Kopf herumriss und den Sprecher anschaute, sah er mit Entsetzen, dass der Mann, der ihn zuvor getreten hatte, auf ihn zeigte.

„Hexer!“, wiederholte er, und aus der Menge gesellten sich vereinzelte Stimmen dazu.

Je länger das Wort nachgesprochen wurde, desto wütender wurden die Laute, die Samuel entgegenschlugen. Die Menschen wurden immer mutiger.

Dann setzte sich der Pöbel langsam in Bewegung und kam auf ihn zu ...

 

***

 

In einer weit entfernten Vergangenheit (Was bisher geschah - Teil 5)

Sie konnten nicht glauben, was sich da vor ihren Augen abspielte. Zuerst fiel Dieter Feldmann vom Unterstand, und wenig später folgte Kane nach – erst noch freiwillig! Und nicht nur das: Der kam auch noch auf sie zugerannt! Er blieb auf ihrer Höhe stehen, während sie an ihm vorbeisprinteten, und begann auf die Viecher zu feuern. Das anfängliche Triumphgeschrei wurde zu einem Toben und Kreischen der Enttäuschung, als die ersten Kugeln ihre Ziele trafen. Zwei der Saurier fielen um, schlitterten noch wenige Meter, um dann zur Ruhe zu kommen. Einer davon brachte Alfredo in Schwierigkeiten, da er dessen Füße streifte und ihn so zu Fall brachte. Alfredo wurde auf die Seite geschleudert, drehte sich, fiel flach auf den Rücken. Schon war der nächste Saurier heran, der auf ihn zusprang und sich seinen Teil an der Beute holen wollte. Kalt erwischte er ihn im Flug, genau zwischen den Augen. Der Kopf des Tieres wurde nach hinten geworfen, und schon fiel das gesamte Gewicht auf den Italiener. Nachdem ihm anfänglich die Luft aus den Lungen gedrückt wurde, begann er einen Schrei auszustoßen, der kein Ende nehmen wollte. Alfredo Cerutti hatte Angst, wie er sie noch nie zuvor in seinem Leben gehabt hatte!

 

Jane Esposito warf sich hinter dem Baum in Deckung, nachdem der erste Versuch misslang, im Spurt auf den Baum zu springen und sich irgendwo im Geäst festzuhalten. Nicht einmal Ma Kirbys Arme, die ihr hilfreich zugestreckt wurden, reichten aus, dass sie Halt fand. Stattdessen fiel sie mit rudernden Armen runter und vermochte für Sekunden den Augenkontakt zu Ma Kirby zu halten, der einen tiefen Schmerz ausdrückte. Die darin steckende Enttäuschung, ihr nicht helfen zu können, war beklemmend.

Dann lag sie für einen Sekundenbruchteil atemlos auf dem Rücken, bevor sie hochgezerrt wurde und Peroninos Stimme vernahm, der ihr zuschrie:

„Gottverdammt, Jane. Auf mit dir!“

Es war brutal, wie er sie an der Montur hochriss und vor sich her stieß. Zu mehr reichte es nicht aus. Etwas sprang Peronino von hinten an und er wurde in die Richtung geschleudert, in die er zuvor seine Chefin geworfen hatte. Als er auf dem Boden landete, krachte etwas Schweres auf den Rücken, das unheimlich groß sein musste! Der muskelbepackte Mann spürte, wie sich Krallen in seinen Rücken bohrten und nicht weit von seinen Ohren ein Geheul erklang, das ihn bis in sein Innerstes erschütterte.

Dann wurde in nächster Nähe seines Kopfes eine Waffe abgefeuert. Der Todestanz des Raptors malträtierte seine Rückenfront in unerträglicher Weise. Er schrie laut auf. Dann krachte der Kopf der Echse neben ihm zu Boden. Ihre Augen blickten direkt in sein Innerstes, und er wusste plötzlich, was es hieß, wenn der Abgrund zurückschaute!

Ein ekliger Gestank nach frischem Fleisch drang Peronino entgegen. Trotz des Schmerzes, den ihm jede Drehung im Rücken bereitete, fuhr er hoch, einen gejagten Ausdruck im Gesicht, und versuchte sich rückwärtsgehend in Sicherheit zu bringen. Hinter den Baum, hinter einen Strauch oder auch einen Stein. Nur weg! Er wolle schreien, aber gleichzeitig wusste er, wenn er schrie, dann würde er für immer den Verstand verlieren.

Es gab kein Entkommen! Die Saurier waren überall!

 

Das bekam auch Harry Kane zu spüren! Er schoss um sich, was das Zeug hielt. Nur ein direkter Treffer brachte den erwarteten Erfolg, und die waren selten genug.

Vor allem musste er feststellen, dass es schwierig genug war, im Rennen ein Ziel zu treffen und zusätzlich noch mit Wesen konfrontiert zu werden, die man nur aus Kinofilmen kannte. Schließlich war er stehen geblieben. Es brachte nichts, wenn er sich zu weit von ihrem Platz entfernte.

Je näher die Viecher kamen, umso besser traf er sie. Umso größer überkam ihn aber auch die Angst, dass plötzlich ein leeres Klicken die Antwort auf das Durchziehen des Zeigefingers war. Er schrie und schrie seine Angst hinaus, und schnappte immer wieder gierig nach Luft, um gleich wieder loszuschreien. Schweiß rann ihm in die Augen, aber er wagte es nicht, ihn wegzuwischen.

Die Schatten wurden nicht weniger. Die Umrisse immer größer. Dann und wann bekam er durch heftiges Blinzeln einen klaren Blick, der beim nächsten Flattern der Augenlider gleich wieder weggewischt wurde. Gott sei Dank! Dem Tod in die Augen zu sehen war eines, doch diese emotionslosen Augen auf sich zu spüren, konnte einem schon das Herzflattern beibringen!

Ein heftiger Schlag ließ ihn das Gleichgewicht verlieren. Er stolperte, richtete sich jedoch gleich wieder auf. Ein weiterer Hieb hob ihn fast von den Füßen. Wie er zu Boden kam und sich wegduckte, schmetterte etwas Großes knapp neben seinem Kopf vorbei und war auch schon weitergehetzt, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Ohne nachzudenken, kam er auf die Beine und zog erneut die beiden Pistolen durch. Immer nur ein Schuss erklang. Als er runtersah, wusste er sofort warum: Er hatte nur noch einen Arm! Vom Linken besaß er nur noch den oberen Teil. Er sah es und wusste sogleich, was das zu bedeuten hatte. Im Moment ging es aber nur ums Überleben. Das war das Wichtigste ...

Vor ihm tauchte ein Umriss auf, der unheimlich schnell näher kam. Bevor er jedoch reagieren konnte, zuckte dieser auf die Seite und kam schlitternd neben ihm zu liegen. Als Kane in die Richtung blickte, aus der der hilfreiche Schuss erklungen war, sah er Dieter Feldmann auf dem Waldboden knien. Beide Hände hielten die Waffe. Aus dem Lauf kräuselte eine feine Rauchfahne.

Wie konnte das sein, fragte sich Kane? Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie der Ordensmeister vom Baum fiel. Anschließend hatte es ein knackendes Geräusch gegeben, das auch gut das Genick hätte sein können.

Die Reihen der Saurier begannen sich zu lichten und es wurden weniger. Doch genauso weniger wurde die Munition. Es gab immer noch zu viele von den zweibeinigen Kreaturen. Lange konnte es so nicht mehr weitergehen. Sie befanden sich auf verlorenem Posten. Es war wirklich an der Zeit, dass ein Wunder geschah, oder es wäre aus mit ihnen ...

Das war der Augenblick, als der Boden zu beben begann. Etwas Großes näherte sich mit Riesenschritten und brachte dabei im Urwald einen Lärm zustande, den Kane nicht wirklich einordnen konnte. Für Sekunden vermeinte er sogar, das Geräusch kam von überall her. Fast so, als würde sich eine Naturgewalt nähern.

Der Ton erschütterte ihn so fest, dass er beinahe umfiel. Da brauchte es die kleinen Beben nicht auch noch, die jede Sekunde mit sich brachte. Als Kane schließlich das Geräusch orten konnte und sich ihm zuwandte, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen.

Er war mal in New York im Naturhistorischen Museum einem Skelett gegenübergestanden. Das war damals ein imposanter Eindruck gewesen, der ihn aber sonst komischerweise kalt gelassen hatte. Schließlich war dessen ehemaliger Eigentümer schon seit Millionen von Jahren tot. Gestorben. Ausgestorben durch eine Naturkatastrophe, wie Wissenschaftler herausgefunden haben wollten.

Der Tyrannosaurus Rex, den er jetzt vor sich sah, war alles andere als gestorben. Seine Knochen waren nicht blank, sondern bepackt mit kräftigen Muskeln.

Der König der Saurier blieb stehen und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er war so groß, dass er bestimmt seine eigene Postleitzahl hatte! Ein ohrenbetäubender Schrei folgte, der den Menschen beinahe die Trommelfelle zerfetzte. Das war eine Naturgewalt, aber eine der gefräßigsten und gefährlichsten, die es je auf der Erde gegeben hatte.

Nachdem der Saurier auch der dümmsten Echse seine Ankunft kundgetan hatte, setzte er sich wieder in Bewegung. Unaufhaltsam kam er auf den Platz zu, an dem Menschen einen Unterschlupf errichtet hatten. Da, wo sich die meisten Raptoren drängten und wie erstarrt den Neuankömmling anschauten. Das war der Zeitpunkt, als auch wieder Bewegung in ihre Reihen kam, wie Kane feststellte. Und nicht nur das, sie stürzten in alle Richtungen davon, wie Hühner, denen man an den Kragen wollte. Rechts und links schnappte sich der T-Rex die kleinen Saurier, um sich gleich wieder dem Nächsten zu widmen, wenn er den jeweiligen Favoriten mit dem Zucken seines riesigen Schädels irgendwo in den Urwald schmiss. Nun war es an den kleinen Sauriern, Angst zu verspüren. Der Monstersaurier schien überall zu sein. Wahrlich eine Gewalt der Natur! Kane konnte ein hämisches Grinsen nicht verbergen.

Dumm war nur, dass der T-Rex auch ihnen unaufhaltsam näher kam. Falls er sie in dem Getümmel noch nicht gesehen hatte, konnte es nicht mehr lange dauern, bis das zutraf.

Na super, dachte sich Kane. Vom Regen in die Traufe!

Dann wandte er sich torkelnd um, brachte zwei Schritte zustande, blieb erneut stehen, als er seinen fehlenden Arm am Boden liegen sah. Kalt und nüchtern waren seine Gefühle, als er ihn aufhob und die Richtung zum Hort einschlug. Er kam nicht weit. Nach drei weiteren Schritten brach er zusammen.

Wie durch einen Nebel hindurch bekam er mit, wie Dieter Feldmann ihn hochhob und wegzuzerren versuchte.

„Was ...“, begann Kane, aber er war zu sehr geschwächt, als dass er den Satz vollenden konnte. Trotz der Aufregung bekam er nun die Verletzung zu spüren.

„Jetzt bloß durchhalten, Mann!“, rief der Ordensmeister keuchend über die Schultern. Schwere Atemzüge begleiteten seine Worte.

Kane nickte.

„Wir haben es gleich geschafft. Durchhalten!“

Gib auf, wollte Kane ihm zuschreien. Wir haben keine Chance gegen dieses Monster, aber er bekam nur Schmerzenslaute aus dem Mund. Vor seinen Augen begann sich alles zu drehen. Als sei er in einem Karussell, das einen Weltrekord aufstellen wollte.

Das war für einige Zeit das Letzte, was er mitbekam. Eine wohltuende Schwärze umhüllte sein Denken. Mit Freuden versank er darin.

 

***

 

Das Überleben war schwierig genug gewesen. Dies dann aber auch noch in Worte zu fassen und zu erklären, warum sie überlebt hatten, war beinahe schon eine Unmöglichkeit.

War es Glück, das sie vor den unmittelbaren Fängen des T-Rex gerettet hatte? Oder war ihnen der ganz normale Gevatter Zufall zu Hilfe gekommen? Gab es den überhaupt? Oder funktionierte dieser sogenannte Zufall nur, wenn eine höhere Macht lenkend eingriff und diesem die richtigen Bahnen wies, in denen er gefälligst zu arbeiten hatte?

Auf jeden Fall entkamen sie dem König der Saurier. Wobei dies so ausgedrückt nicht ganz stimmte. Es setzte nämlich voraus, dass er sie beachtet, gesehen und als eine spezielle Abwechslung auf seinem Speiseplan angesehen hatte. Eine Bereicherung, die er sich natürlich einverleiben wollte und auch alles daransetzte, dies in die Tat umzusetzen. Und die Menschen, die nichts unversucht ließen, diesem sicherlich speziellen, aber nicht erstrebenswerten Schicksal zu entgehen. Das wäre so die Grundvoraussetzung für eine solche Argumentation.

Doch im Nachhinein, und wie sich Dieter Feldmann beim Erzählen der Geschehnisse überlegte, war es durchaus möglich, dass der T-Rex sie gar nie gesehen hatte, und sie nur deshalb entkamen, weil so viele Saurier in unterschiedliche Richtungen ausbrachen und es so dem Urvieh verunmöglichten, sich auf etwas Spezielles, so Kleines wie einen Menschen, zu konzentrieren. So reagierte dieser auf die Bewegungen, die seinen Kopf hin- und herzucken ließen. Während der Vorwärtsbewegung schnappte der T-Rex nach den kleineren Sauriern, die elendiglich aufschrien, wenn der riesige Rachen sie packte. Nur um sie dann zerfetzt und wie ein unbrauchbares Stück Holz gleich wieder wegzuwerfen.

Doch damals, als der T-Rex den Angriff startete, war das den Menschen, und vor allem Dieter Feldmann, alles andere als klar gewesen. So unternahmen sie alles, um einem Ende zu entkommen. Auf eine Art, die nicht unbedingt nur von Ruhm und Ehre zu zeugen vermochte.

 

***

 

Am Beginn

Vincent wusste nicht, wo er sich befand, als er das nächste Mal an die Oberfläche seines Verstandes geschwemmt wurde. Mit Verwunderung sah er nur, dass sich die Welt, in der er erwachte, in Aufruhr befand. Es rüttelte und schüttelte die Zeitmaschine, sie stand nah bei ihm, auf dunklem und von Wasser umspülten Felsen und wankte dabei hin und her. Das ganze Gefährt drohte, auseinander zu brechen. Über das Firmament zuckten so häufig Blitze, als wären Zeus alle Blitze aus dem Köcher gefallen und gingen auf einmal los. Immer und immer wieder.

Die Erde bebte, als drücke sie der anhaltende Donner aus der Umlaufbahn um die Sonne. Und den Geräuschen nach zu urteilen, war das Ergebnis mehr als erfolgreich.

Als er zum Himmel hoch blickte, war da natürlich keine Sonne zu sehen, aber Vincent wusste, dass da eine sein musste. Sonne bedeutete Leben. Auch wenn diese Welt nicht danach aussah.

Wo bzw. wann waren sie aufgetaucht?, fragte sich Vincent. Bevor er sich darüber den Kopf zerbrechen konnte, drang von hinten Licht, das sich explosionsartig ausbreitete. Er wirbelte herum und sah, dass die Zeitmaschine verschwunden war! Der Platz, auf dem sie gestanden hatte, war leer.

„Tod der Menschheit!“, drang der schmerzvolle Gedanke in Vincents Bewusstsein. Der Ewige Feind hatte sich ihm gegenüber wieder geäußert. Und obwohl Vincent gar nicht danach war, begann er zu lachen. Es tat in der Brust weh, aber er wusste nicht, wie er seinen Ängsten sonst ein Ventil schaffen konnte.

Für einen kurzen Moment fühlte er so etwas wie Verwunderung, das sein Unterdrücker ihm gegenüber empfand, dann war es schon wieder vorbei. Vincents Geist wurde gepackt und in den tiefsten Kerker seines Bewusstseins geschleudert.

 

Für den Ewigen Feind war nun die Zeit gekommen, den Plan in die Tat umzusetzen. Dazu brauchte er weder ein Publikum noch sonst eine Ablenkung.

Tod der Menschheit. Das war seine Devise. Seine einzige!

 

***

 

Gegenwart

Aldega wollte etwas sagen, das in Richtung eines Protestes gegangen wäre, wäre er dazu fähig gewesen, aber er brachte nichts Vernünftiges zustande. Es klang nur wie ein Flüstern.

Fasziniert beobachtete er, wie hinter Cassani TS-Leute hereinquollen – anders konnte er es nicht umschreiben. Es gab ein Gewusel wie bei einem Ameisenhaufen, bei dem alles durch einen kleinen Eingang hineindrängte.

Die Männer in ihren dunklen Anzügen und Visieren verteilten sich in der Halle, sodass diese bald eng zu werden begann.

Und es kamen immer mehr herein!

Wenn er sich umschaute und der fließenden Bewegung folgte, fielen ihm vor allem seine Leute auf, die sich schwankend aufzurichten versuchten, als stünden sie unter Drogen. Ihm erging es genauso. Er hatte selbst in einer sitzenden Stellung Schwierigkeiten, den Oberkörper so weit stillzuhalten, dass ihn die schwankende Bewegung nicht zum Kotzen brachte. Konnte man seekrank werden, ohne einen Fuß auf ein Boot gesetzt zu haben?

Fabio Cassani stand auf einmal neben ihm und drückte ihn auf den Boden zurück.

„Bleib sitzen.“

Aldega Derron winkte gleichmütig ab. Nur brachte diese Bewegung seinen Magen zum Überlaufen. Er erbrach sich. Wenigstens nicht in die Richtung, in der der Großmeister stand und ihn am Boden festhielt, damit er nicht kopfüber in sein Erbrochenes fiel.

Fasziniert beobachtete Aldega, dass Cassani immer noch mehr um sein Wohlbefinden besorgt war, als dass ihm der Ekel etwas ausmachte. Auf Cassanis Stirn erschienen Schweißperlen, die zuvor da noch nicht gewesen waren, und er schrie etwas nach hinten, das wie „Medic!“ klang, wobei Aldega sich da nicht ganz sicher war.

„Was ist passiert?“, fragte Fabio Cassani.

Aldega Derron versuchte, etwas zu sagen, aber es kam nur Luft aus seinem Mund, den er nur unter Mühe bewegen konnte. Er war viel zu schwach, als dass ihm das etwas ausgemacht hätte.

Der Großmeister näherte sich mit geneigtem Kopf Aldegas Mund und versuchte so, etwas aus seinen Bemühungen herauszuhören. Es war laut in der Halle und deshalb fast unmöglich, aber Aldega gab sich Mühe und schließlich gelang es ihm, einen kurzen Satz zu formulieren. Es war wie das Flüstern des Windes. Wenn man ihn gefragt hätte, dann hätte er gesagt, dass er dazu Monate brauchte, bis er ihn gesprochen hatte: „Was tust du hier, Fabio?“

Erstaunen zeichnete sich auf dem Gesicht des Großmeisters ab, als er ihn von sich schob, um ihm in die Augen zu blicken.

„Was ich hier mache?“, wiederholte er. Es klang überrascht und irritiert. Als könne er seine Frage nicht richtig einordnen. Dann nahm er seine randlose Brille ab und knetete mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand die Nasenwurzel. Sekundenlang sagte er nicht.

Schließlich setzte er die Brille wieder auf und schüttelte  den Kopf. „Die Frage ist: Was habt ihr gemacht? Wo wart ihr die letzten drei Tage?“

Um Aldega Derron wurde es schwarz. Dass ihn der Großmeister schüttelte, bekam er schon nicht mehr mit ...



[1] PSP = Playstation Portable

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