Leit(d)artikel KolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Jasmin

Jasmin is my favorite girl, my favorite girl in the whole wide world
Never will forget the day that she stole my heart away
Now Jasmin is my favorite girl, my favorite girl in the whole wide world
Gotta let everybody know that she’s my favorite girl

Youth Asylum

CoverHüters Weihnacht

Weihnachtsgeschichten aus dem Universum des Hüters

Jwan Reber

Jasmin -
Eine Weihnachtsgeschichte des Hüters

Der Raum

Mark Larsen taumelte, als ihn der Schlag am Hinterkopf traf. Vergeblich versuchte er, sich noch auf seinen scheinbar zu Gummi gewordenen Beinen zu halten. Mehr instinktiv als bewusst drehte er seinen Körper im Fall, sodass er mit dem Rücken aufschlug. Während des Sturzes, bevor ihn die Schwärze aufsog und er das Bewusstsein verlor, sah er verschwommen eine dunkle Gestalt. Der Angreifer packte Mark und hob ihn ohne sichtliche Kraftanstrengung hoch, als wäre er eine leere Hülle. Ungesehen stampfte die Gestalt mit ihrer Beute ins Dunkel der Winternacht. Die Spuren wurden schon bald von dem in großen Flocken rieselnden Schnee überdeckt.

Als Mark wieder zur Besinnung kam, fühlte er sich, als wäre er von einem Laster angefahren worden. In seiner Nase hatte sich ein schwacher, aber dennoch widerlicher Medizingeruch eingenistet. Er war betäubt worden! Während der Attacke hatte er nur einen knappen Blick auf seinen Peiniger erhaschen können. Der Schlag war anscheinend von Menschenhand geführt worden. Den Vergleich mit dem Laster fand er aber trotzdem passend.

Mark blinzelte. Seine Augen ließen sich nur mühsam öffnen. Er versuchte sich ein Bild von der Umgebung zu machen, und vor allem davon, in welcher Lage er sich befand. Wie lange er bewusstlos gewesen war, hätte ihm ein Blick auf seine Uhr verraten, wären seine Hände nicht hinter dem Rücken gefesselt gewesen. Er befand sich in einem kleinen Raum, der wohl als Abstellkammer diente. Der Raum wurde durch eine verstaubte Neonröhre nur spärlich beleuchtet.

Mark konnte das Inventar nur anhand der sich schwach abzeichnenden Konturen erahnen. Sobald er wieder klar sehen konnte, würde er etwas Scharfes suchen, um sich von seinen Fesseln befreien zu können. An seinen ebenfalls verschnürten Fußknöcheln konnte Mark erkennen, dass es sich zumindest nicht um Ketten handelte.

Da sein Mund weder verbunden noch verklebt war, hatte es wohl auch keinen Sinn zu schreien. Denn so unvorsichtig war wohl der dümmste Entführer nicht, dass er sein Opfer ungeknebelt und unbeaufsichtigt in Hörweite möglicher Helfer ließ.

Aber ein Hüter schreit ja auch nicht um Hilfe, motivierte sich Mark.

Sein noch immer brummender Schädel ließ ihn bei jeder Bewegung stöhnen und innehalten!

„Ohhh ... der hat gesessen!“, murmelte Mark.

Außer einer Spinne, die er in seiner Nähe erblickte, hörte ihn keiner. Mit Mühe und Not begann sich der Hüter zu strecken und winden, und schaffte es so, seine Position zu ändern. Den dadurch verursachten Schmerz versuchte er zu ignorieren. Nach dieser schweißtreibenden Aktion konnte er sich auf die Knie aufrichten.

„Und nun, wie weiter?“, fragte er sich, während er neidisch die Spinne betrachtete, die fleißig ihr Netz spann, ohne sich zu verheddern ...

***

Idylle

Einige Stunden vorher

Im Obergeschoss des Glückshauses von Hüll rannte Christine aus ihrem Zimmer und die Klänge von Tokio Hotels Rette mich quollen die Treppe hinunter und drangen ungebeten in das Wohnzimmer ein.

Rette mich! Und zwar vor dieser Musik!, dachte Mark, der gemütlich auf dem Sofa lümmelte. Er konnte der Hysterie um den vampirblassen Leadsänger und dessen Gefolge einfach nichts abgewinnen.

Sabrina und er genossen einen ruhigen Nachmittag im Wohnzimmer. Der dichte Schneefall verwandelte die Außenwelt in eine idyllische Winterlandschaft.

„Solche Bleichgesichter werden normalerweise gepfählt!“, ließ Mark die einzige Anwesende wissen.

„Hä?“ Sabrina ließ sich nur ungern von ihrem fast beendeten Sudoku-Spiel ablenken. Ein fragender Blick untermalte diese wohl formulierte Äußerung und bestätigte Mark, dass sie keine Ahnung hatte, wovon er gerade gesprochen hatte.

„Ach, der blasse Sänger dieser Shanghai Motel ist doch eher Vampir als Mensch! So schminkt sich doch kein Mann!“

„Mark!“, tadelte Sabrina ihren Freund, da Christine den Wohnbereich nahezu erreicht hatte. Ein Grinsen konnte sie sich aber trotzdem nicht verkneifen.

„Machst du dich wieder über Tokio Hotel lustig?“, wollte die eben ins Wohnzimmer tretende Christine wissen. Ihre langen blonden Haare, die sie meistens offen trug, hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.

„Ach ja, so heißen die! Nö, hab’ nur meinem Schatz eine Theorie erklärt!“, schmunzelte Mark lausbubenhaft

„Ich dachte, ich bin dein Schatz“, kokettierte Christine.

„Na ja, schon. Stimmt! Aber nicht so ...“

„Keine weiteren Details, sonst wird plötzlich noch jemand rot!“, unterbrach Sabrina die zwei.

„Eigentlich wollte ich nur fragen, ob mich dieses Jahr der Weihnachtsmann auch besuchen kommt?“ Christine setzte ihr unschuldigstes Lächeln auf und blinzelte übertrieben bambihaft. Sie wusste, dass Hinnerk mit James und Knut unterwegs war, um Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Christine konnte es kaum erwarten, ein paar der Bücher zu kriegen, die sie sich unter anderem zu Weihnachten wünschte.

„Na, warst du denn dieses Jahr auch brav genug?“, fragte Sabrina.

„Hey, das hat die Kleine doch im Blut!“, konterte Mark und knuddelte Christine, die sich mittlerweile zu ihm aufs Sofa gesetzt hatte.

„Ich freue mich riesig auf die Geschenke, aber was wäre Weihnachten ohne Maria und Josef und die Heiligen Drei Könige? – Irgendwie füllt ihr diese Rollen für mich aus!», sinnierte Christine mit einem warmen Lächeln.

„Wow!“ Sabrina konnte nicht anders, ging zu Christine und drückte sie ganz fest. Auch Mark fehlten beinahe die Worte.

„Danke!“, stammelte er ob des schmeichelhaften Kompliments. Er schaute Sabrina, die Christine immer noch umarmte, tief in die Augen und ihr Blick sprach Bände. Er genoss diesen Augenblick, wie ihn nur Liebende teilen können.

Mark schnappte sich einen hervorragend gebackenen Weihnachtskeks von James, ihrem von Christine soeben zum König gekrönten Butler. Während er herzhaft in das süße Gebäck biss und sich zurück ins gemütliche Sofa fallen ließ, fragte er Christine:

„Weifft du ...“ Schmatz! „... waf diefe Idylle ...“ Schmatz! „... perfekt machen würde?“

„Schon gut, ich mach die Musik leiser!“

***

Der Schlag

Seine Augen lieferten ihm wieder zuverlässige Bilder, sein Schädel brummte aber nach wie vor. Mark schaute sich aufmerksam in dem Raum um, in dem man ihn gefangen hielt. Da er gefesselt war und kniete, war es reichlich mühsam, sich einen vernünftigen Überblick zu schaffen. Bei jeder Bewegung hatte er Angst, einfach zur Seite wegzukippen.

Wie zuvor angenommen, befand er sich in einer Art Abstellkammer. Besen, Kübel, Garten- und sonstige Werkzeuge waren in Unmengen vorhanden. Ebenso entdeckte er Papierstapel, Markerstifte und sonstiges Büromaterial. Wie die zeitweise flackernde Neonröhre war alles ziemlich verstaubt und zeugte davon, schon länger nicht mehr gebraucht geworden zu sein.

„Wo zum Teufel bin ich hier?“

Wie er in diese Situation geraten war, konnte Mark nur noch vage nachvollziehen. Es war alles viel zu schnell gegangen.Er war der Hüter. Das war nicht nur ein Job, es war eine Bestimmung. Wenn ein Polizist seine Uniform auszieht, hat er Feierabend. Dieses Privileg war Mark nicht vergönnt. Er war der Hüter. 24 Stunden im Tag. Sieben Tage in der Woche. Er wusste das, aber die Vorweihnachtsstimmung und der gemütliche Nachmittag mit Sabrina und Christine hatten ihn unbeschwert und unachtsam werden lassen.

Er war unterwegs gewesen, um Sabrina ein Weihnachtsgeschenk zu kaufen. James hatte Mark diskret angeboten, ihm die Besorgung abzunehmen, aber der hatte dankend abgelehnt. Es gab Dinge, die musste man selber erledigen.

Am frühen Abend hatte er gerade einen Parkplatz in Stade gefunden. Im örtlichen Antiquitätengeschäft wollte er Sabrina die Skulptur kaufen, von der sie ihm bereits mehr als einmal vorgeschwärmt hatte. Die Skulptur stellte einen Engel mit Schwert dar, der über einem besiegten, teufelsähnlichen Dämon thronte. Keine Darstellung hätte das Bestreben von Mark und seinen Freunden besser einfangen können.

Gut besiegt Böse – sie arbeiteten dran!

Fortuna, die Schicksalsgöttin, hatte es gut mit Mark gemeint. Die Skulptur stand noch an der gleichen Stelle im Laden. Neben altem, hübsch verziertem Geschirr, rustikalen Möbeln und allerlei anderen antiken Gegenständen, passte sie gut ins Bild. Bald würde sie aber einen neuen Standort erhalten und seiner Sabrina eine Freude bereiten.

Der weißhaarige Verkäufer konnte sein breites Grinsen nur schwerlich hinter seinem etwas längeren, ebenso weißen Bart verstecken. Wäre er etwas dicker, hätte er glatt als Weihnachtsmann durchgehen können, dachte Mark. Der Verkauf dieser 50-jährigen Rarität, kurz vor Ladenschluss, machte dem Ladenbesitzer richtig Freude.

„Möge das Schwert immer scharf und spitz bleiben und der Teufel auf ewig unterliegen“, sagte der dünne Nikolaus feierlich und lugte schmunzelnd über die Gläser seiner Lesebrille.

„Ihr Wort in Gottes Ohr!“, entgegnete Mark, während er die ordentlich verpackte Skulptur entgegennahm.

Nachdem er bezahlt hatte, hätte er beim Verabschieden des sympathischen Weißhaarigen gerne: „Und noch einen lieben Gruß an den dicken Bruder“ gesagt, beließ es aber beim „Gute Nacht“.

Der Schneefall hatte sich mittlerweile verstärkt und die Flocken zauberten eine beachtliche Schicht Neuschnee auf die winterliche Stadt. An einem Kiosk kaufte Mark noch die neuste Ausgabe der Bravo, auf der Tokio Hotel die Titelseite zierte.

Da wird sich mein kleiner Schatz freuen!, dachte Mark und unterdrückte die restlichen Gedanken, die der Band wenig schmeicheln würden.

Als er sich mit seinen Besorgungen zurück zum Auto aufmachte, ging es bereits auf 19.00 Uhr zu. Die meisten Leute würden sich bald in ihre warmen Behausungen zurückziehen. Auch Mark konnte es kaum erwarten, die Beine zu strecken und den Abend zu genießen.

Um den Feierabendverkehr zu umgehen, hatte Mark sein Auto in einer Seitengasse etwas außerhalb des Zentrums geparkt. Er genoss den knirschenden Schnee unter seinen Füßen und pfiff fröhlich Jingle Bells durch die Zähne. Nach einem mehrminütigen Fußmarsch war er beim Wagen angekommen und hatte die Einkäufe auf dem Rücksitz verstaut. Dann reinigte Mark die dicht verschneiten Fenster, während er sich mit einer etwas zu schnell gepfiffenen Version von Oh Tannenbaum unterhielt. Als er die Scheibe der Hintertür vom Schnee befreit hatte, spiegelte sich plötzlich eine Gestalt darin.

Bevor er sich umdrehen konnte, traf ihn der Schlag am Hinterkopf. Vergeblich kämpfte er darum, sein Gleichgewicht zu halten.

«Ugh!», hörte Mark sich noch stöhnen, bevor ihn die weiße Pracht auffing und es schwarz um ihn wurde.

***

Warten

Sabrina konnte sich nicht mehr so richtig auf ihr neu angefangenes Sudoku-Spiel konzentrieren. Es lag nicht daran, dass Christine die sonst so andächtige Stille mit den Spielgeräuschen ihres Nintendo DS ausfüllte. Es waren Sorgen, die ihre Konzentration störten. Mark war schon lange unterwegs. Er hatte zwar nicht gesagt, was er vorhat, aber sie ahnte, dass es mit ihrem Weihnachtsgeschenk im Zusammenhang stand. Frauen haben ein Gefühl für so was. Sie war richtig gespannt, ob er ihre Wünsche von den Augen ablesen konnte. In gewisser Hinsicht hatte er das nämlich ziemlich drauf ...

Verspielt wickelte sie eine Strähne ihres langen, dunklen Haares um den Zeigefinger. Würden ihre Gedanken an die Wand projiziert, müsste sie Christine wohl die Augen verdecken. Das nicht jugendfreie Szenario spielte sich jedoch nur in Sabrinas Kopf ab. Christine starrte nämlich immer noch gebannt in ihren Nintendo-Bildschirm.

Sabrinas aufblitzende, schöne Gedanken verflogen leider so schnell, wie sie gekommen waren. Es war schon lange dunkel und der Schneefall hatte zugenommen. Sabrina war unwohl zumute. Christine und sie waren im Glückshaus mehr als gut aufgehoben, aber die Abwesenheit der Männerschaft verunsicherte sie. Mit Hinnerk, James und Knut konnte sie bestimmt nicht vor 21 Uhr rechnen, das hatten sie so mitgeteilt.

Mark war schon zu lange unterwegs. Sie wählte seine Handynummer und wartete. Er ging nicht ran. Obwohl sich Sorgenfalten auf ihr Gesicht stahlen, wollte sie sich nicht von ihren Ängsten einnehmen lassen. Christine ließ sie vorerst nicht an ihren Gedanken teilhaben. Ein chinesisches Sprichwort sagte: Abwarten und Tee trinken.

Was sie auch tat ...

***

Das Gespräch

Mark inspizierte die verschiedenen, lieblos platzierten Werkzeuge und fand zwischen Besen und Schaufeln eine Sense.

Konnte das denn wahr sein? War sein Entführer doch dämlicher, als Mark vermutet hatte? Aber das sollte nicht sein Problem sein!

Nur langsam auf seinen Knien rutschend, konnte Mark sich zu seinem Ziel bewegen. Die ohnehin schon engen Fesseln schnitten unsanft in seine Gelenke. Die linke Hand war durch die abgewürgte Blutzufuhr bereits taub.

Der Raum war zwar klein, doch bei dieser mühsamen Fortbewegung wirkte er riesig. Noch einen Meter, dann hatte er es geschafft. Vorsichtig ließ sich Mark auf die Seite fallen. Der dadurch aufgewühlte Staub ließ ihn husten.

Jetzt aber schnell!

Er wusste nicht, wer seinen Bewegungen lauschen mochte. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er die Klinge der Sense zu fassen kriegte. Langsam und mit festem Druck begann er, seine Fesseln um die Handgelenke aufzuritzen.

Die Klinge war ungeschliffen und stumpf. Marks Geduld zahlte sich aber aus. Die Fesseln lösten sich. Mit einem Seufzer der Erlösung streckte Mark seine Arme und war froh, neben der Beule am Hinterkopf und den Schürfungen um die Gelenke keine weiteren Verletzungen davongetragen zu haben.

Das Zifferblatt seiner Uhr war gespalten. Sie tickte aber immer noch zuverlässig. Eine Schweizer Uhr. Seit dem Angriff waren fast zwei Stunden vergangen. Er musste unbedingt Sabrina informieren. Sie machte sich bestimmt schon Sorgen.

Als er sich auch von seinen Fußfesseln befreit hatte, klopfte er die verstaubten Kleider ab, richtete sich auf und trat leise zur Tür. Ein Blick durch das Schlüsselloch offenbarte ihm nur Dunkelheit.

Vorsichtig drückte Mark die Türklinke nach unten. Es war offen! Offen? Entweder hatte er es mit einem Amateur zu tun, oder die Flucht durch diese Türe würde dem Hüter nichts bringen!

Eigentlich sollte er sich schämen, nach seiner tölpelhaften Überrumpelung jemand anderen einen Amateur zu nennen.

Es gab nur einen Weg herauszufinden, was ihn jenseits der Türschwelle erwarten würde. Mark wählte aus den zahlreichen Werkzeugen eine kleine Sichel aus, die ihm zur Not als Waffe dienen konnte, und begab sich zurück zur Tür.

Er trat in einen dunklen Raum, der nur durch das Licht der Abstellkammer etwas erhellt wurde. Das reichte aber bei weitem nicht aus, um zu erkennen, wo er sich befand.

Dafür kann jeder, der hier im Dunkeln lauert, mich in der erleuchteten Tür stehen sehen! Mark Larsen, DU bist selbst ein Amateur!

Direkt neben der Türe seines vorübergehenden Gefängnisses konnte er einen Lichtschalter erkennen. Ohne zu zögern, drückte er darauf. Mit dem Rücken zu der noch offenen Tür hielt er die Sichel im Anschlag und den linken Arm zur Abwehr bereit.

Flackernd entzündeten sich die Neonröhren und gaben Stück für Stück die Sicht auf den großen Raum preis. Die Erleuchtung wirkte fast wie ein ausgelöstes Dominospiel. Das Inventar des Raumes bestand aus alten Sportgeräten und einer Unmenge etwa meterlangen Holzpfählen, die wohl zur Abzäunung vorgesehen waren. Viele Geräte waren mit Leinentüchern bedeckt, und die zahlreichen Spinnweben und der dichte Staub verrieten, dass auch dieser Teil des Gebäudes schon länger nicht mehr gebraucht wurde.

Als Mark nach dem Handy in der Jackentasche griff, um Sabrina anzurufen, begann es zu vibrieren. Womöglich war es gerade Sabrina, die ihn zu erreichen versuchte. Noch bevor er den Anruf entgegennehmen konnte, wurde seine volle Aufmerksamkeit von der Mitte des Raumes verlangt. Er musste den Anruf ignorieren.

Die Muskeln des Hüters spannten sich an und er umklammerte den Holzgriff der Sichel noch fester.

In der Mitte des Raums saß ein Mann breitbeinig auf einem hölzernen Stuhl. Er war schwarz gekleidet. Sein bleiches, kantiges Gesicht, das von wirren, dunkelbraunen Haaren umfasst wurde, wirkte durch das Neonlicht beinahe maskenhaft. Übertrieben theatralisch klatschte er in die Hände.

„Bravo, du warst wirklich schnell! Und du hast nicht mal um Hilfe gerufen! Das hätte ich dir nicht zugetraut, nachdem du dich mir selbst auf dem Silbertablett serviert hast. So wie ein blutiger Anfänger!“

Drohend offenbarten sich spitze Eckzähne, während der Bleiche sprach. Instinktiv betastete Mark seinen Hals und fürchtete, zwei Bissmale zu erfühlen, die er vorhin übersehen hatte.

„Hä, hä, hä! Keine Angst, mit deinem Blut habe ich mich nicht besudelt. Ich brauche deine volle Aufmerksamkeit!“

„Die hast du bereits!“ Langsam hob Mark die Sichel an. „Was willst du von mir?“

„Rache, Gerechtigkeit? Hm, such dir was aus!“

„Warum hast du mich nicht getötet, als du die Chance hattest? Ich verspreche dir, ich werde es dir nicht leicht machen!“, entgegnete Mark dem Vampir, der sich mit einer langsamen und fließenden Bewegung, beinahe im Zeitlupentempo, vom Stuhl erhoben hatte.

„Das Warum ist leicht erklärt. Dich nur einfach so zu töten, wäre viel zu langweilig. Ich liebe die Bühne und das Theater. Mein Drehbuch steht fest – spiel mit!“ Der Vampir grinste, während er sich einladend verbeugte.

„Na toll! Nun denn, zurück zum ersten Akt: Wie hast du mich gefunden?“, wollte der Hüter wissen.

„Eure ach so geliebte Weihnachtszeit, in der ihr euch mit unsinnigen Geschenken überhäuft und euch im Überfluss des Materialismus suhlt, hat trotz eurer Ausbeutung noch etwas von ihrer Magie bewahren können. Es geschehen noch Wunder; ich streifte ziellos durch das Land und suchte nach Erlösung. Aber Gott hat mich schon lange verlassen. Selbst seine weltlichen Denkmäler weisen mich ab. Jede Kirche strahlt mit ihrem geweihten Boden eine Energie aus, die mich innerlich fast zerreißt. Das Betreten eines Gotteshauses würde meine Vernichtung bedeuten, und doch ziehen sie mich magisch an.“

Die Miene des Vampirs wurde düster, seine Augen wirkten jedoch traurig. Er schien mehr zu sich selbst als mit Mark zu sprechen.

„Ich wurde an dem glücklichsten Tag meines Lebens in die Dunkelheit gerissen. Meine Braut, mein Engel, folgte mir. Ihr Strahlen wurde zu einem Schatten, ihr Herz wurde schwarz. Wir wurden zu Geschöpfen der Nacht und Sklaven des Blutes. Doch nichts vermochte uns zu trennen – so war es vorbestimmt. Aber ich will mich nicht in der Vergangenheit verlieren ... Als ich wie gelähmt vor der für mich unerreichbaren Kirche stand, sah ich, wie du den Antiquitätenladen betratst. War es einfach nur Glück, ein Geschenk oder Zufall? Nein, es ist Bestimmung!“

Der Vampir starrte ins Leere.

„Natürlich erinnerst du dich nicht an die Gesichter meiner Brüder und Schwestern, die du getötet hast. Oder verfolgen sie dich womöglich in deinen Albträumen? Hach, was für eine befriedigende Vorstellung!“

Der Schwarzgekleidete faltete verzückt seine Hände, während er mit der Zunge die spitzen Eckzähne leckte. Seine Stimmungsschwankungen präsentierten bereits ein ordentliches Repertoire.

Die Miene des Vampirs verdunkelte sich. „Erinnerst du dich an Jasmin?“

Er packte den Stuhl, auf dem er eben noch gesessen hatte, und schleuderte ihn direkt auf Mark zu. Obwohl er mit diesem plötzlichen Angriff nicht gerechnet hatte, reagierte er blitzschnell und konnte den Stuhl mit einer Abwehrbewegung, die er mit der Sichel führte, in eine andere Bahn lenken. Der Stuhl zerschmetterte an der robusten Betonwand in mehrere Stücke. Die von zu vielen Jahren gezeichnete Sichel war jedoch für eine solche Aktion nicht geschaffen gewesen. Die Hand des Hüters umschloss nur noch den Holzgriff. Die Klinge war durch den Stuhl mit einem Ruck aus dem Schaft gerissen worden. Seiner Waffe beraubt, ließ Mark das nutzlose Stück Holz fallen.

Der Vampir machte keine Anstalten, einen weiteren Angriff zu starten.

Mark schaute den Vampir grimmig an, konnte seine Verwunderung aber nicht verbergen.

„Du erinnerst dich also nicht an sie!“, stellte der Vampir fest. „Wie solltest du auch? Um deinen Schatz zu schützen, tötest du meinesgleichen so selbstverständlich wie lästige Mücken!“ Wie ein Tiger im Käfig lief der Vampir hin und her, ließ aber seine Augen nie vom Hüter ab.

„Du tötest zahlreiche Menschen, um dein eigenes untotes Leben zu erhalten. Du tötest für Nahrung oder um eure dunkle Brut zu erweitern“, entgegnete Mark, wohlwissend, dass er den Vampir damit nicht unbedingt besänftigte.

Der Hüter suchte den Raum immer wieder mit gehetztem Blick ab, um mögliche Angriffe vom Gefolge des Blutsaugers vorherzusehen. Er konnte sich nicht sicher sein, ob der Vampir alleine war.

„Fühlst du dich unwohl, Hüter? In die Ecke getrieben? So fühlte sie sich auch, als du sie gepfählt hast!“ Der Vampir geriet in Rage, wobei er seine Wut vorerst nur verbal äußerte.

Mark runzelte die Stirn. Er hatte keinen Schimmer, wovon der Blutsauger schwafelte.

„Erinnere dich, Hüter! Du und dein dicker Freund, eine Waldlichtung, ein Dutzend Vampire aus der Tepescu-Sippe. Weißt du nicht mehr? Elena Dracul Tepescu dürstete in dieser Nacht ausnahmsweise nicht nach dem Blut des Schatzes. Es war Drachenblut, nach dem sie gierte.“

Mark zuckte zusammen. Endlich wusste er, wovon der Vampir sprach![1] Elena hatte das Blut damals nicht bekommen, stattdessen war Dr. Thomas Hartmann in den Bann des Bluts geraten. Seit damals, seit Hartmanns schrecklicher Verwandlung, hatten sie nichts mehr von ihm gehört.

Elena hatte ihre Handlanger ausgeschickt, um Mark und Hinnerk aufzuhalten. Es waren auch zwei weibliche Blutsauger dabei gewesen. Mark hatte eine von ihnen gepfählt, Hinnerk hatte die andere mit seiner Magie entflammt. Nur ein Vampir hatte entkommen können.

Unmissverständlich war es der Entflohene, der nun direkt vor ihm stand und ihn für seinen Verlust bezahlen lassen wollte. Hinnerk stand ihm dieses Mal nicht zur Seite. Dies war sein Kampf.

Mark nickte.

„Ah, du erinnerst dich!“, sagte der Vampir und klatschte in die Hände.

„Ich erinnere mich an keine Jasmin, nur an spitze Zähne und einen teuflischen Blick!“, erwiderte Mark.

„Sie war mehr als das, du Hund! Für diese Beleidigung sollte ich dir die Gedärme rausreißen!“ Der Blutsauger durchbohrte Mark mit seinem Blick. „Aber ich will zu ihr und dazu brauche ich dich!“

Der Vampir wirkte auf einmal ruhig und in sich gekehrt. Er drehte sich vom Hüter ab und wandte ihm den Rücken zu.

Mark war während des Gesprächs näher zu den Holzpfählen gerückt, sodass er nur noch zugreifen brauchte, falls er sich verteidigen musste. Einem zähnefletschenden Blutsauger unbewaffnet gegenüberzustehen, fühlt sich an, wie ein Spaziergang auf brüchigem Eis.

Der Vampir drehte sich wieder um und sah Mark an. Sein Blick war nicht mehr böse und hasserfüllt, sondern eher flehend. Ohne Vorankündigung schnellte er vor, direkt auf Mark zu und schrie: „Schließe den Kreis und bring mich zu ihr.“

Der Vampir entblößte seine langen Eckzähne und stieß ein raubtierhaftes Knurren aus. Reflexartig griff der Hüter nach einem Holzpfahl. Der Vampir hatte ihn bereits erreicht und packte ihn an seinem Jackenkragen. Mark hielt den Pfahl fest umschlossen. Der Vampir drängte ihn gegen die Wand und pfählte sich selbst. Mark stürzte rücklings zu Boden und das Gewicht des Vampirs, der immer noch seinen Kragen umkrallte, verringerte sich innerhalb weniger Sekunden. Wie im Zeitraffer begann sich die Materie des Vampirs aufzulösen. Er pulverisierte. Das Gesicht, welches zu zerbröckeln begann, war nicht schmerzverzerrt, es war friedvoll. Der Vampir löste sich in Staub auf und nicht viel mehr als das Gewicht seiner Kleider sackte auf den Hüter herab. Mark stieß die verstaubten Kleider des Vampirs von sich und richtete sich auf.

Er hielt den Pfahl noch immer fest umschlossen, während er sich im Raum umsah. War der Vampir wirklich alleine gekommen? Im Kleiderhaufen des zum zweiten Mal Verstorbenen, bemerkte Mark eine Wölbung. Er untersuchte die Taschen des schwarzen Mantels und konnte nebst einem Paar Handschuhen nur einen Behälter finden. Der Behälter war silbern und mit goldenen Ornamenten verziert, die ein Herz umschlossen. Er hatte etwa die Größe einer 5-dl-Getränkedose und ließ sich anhand eines Schraubverschlusses öffnen. Es war etwas Staub darin. Staub wie der, der die Kleider des vernichteten Vampirs ausfüllte und sich vor Marks Füßen ausbreitete.

***

Die drei Könige

Es gab nicht viel, was Christines Blick bisher von ihrem Nintendo-DS-Display hatte lösen können. Vielleicht hätte Bill, der Sänger von Tokio Hotel, mehr Erfolg gehabt als James’ Weihnachtsplätzchen oder Sabrinas Versuche, eine Unterhaltung anzufangen.

Der vorfahrende Wagen jedoch erzielte eine Wirkung, wie es wohl nicht einmal Bill geschafft hätte. Christine klappte ihr Nintendo zu, ohne ihren Spielstand zu speichern, und schenkte Sabrina ein herzhaftes Lachen.

Sabrinas Lächeln wirkte eher gequält als euphorisch, obwohl sie sich bereits aus dem Sofa erhoben hatte. Christine eilte zur Eingangstür, um den Ankömmling, oder die Ankömmlinge zu begrüßen. War es Mark, hatte er bestimmt an die Bravo gedacht, wären es Hinnerk, James und Knut, würde Knut ihr hoffentlich die neue CD von Kylie Minogue mitbringen. Ihr Taschengeld war es ihr wert, die Songs schon vor Weihnachten hören zu können. Um das gewünschte Buch lesen zu können, würde sie noch etwas Geduld aufbringen müssen. Sie würde es zwischen den anderen, hoffentlich zahlreichen Geschenken unter dem Weihnachtsbaum finden. Ihre Wunschliste war ja lang ...

Erwartungsvoll öffnete Christine die Tür. Hinnerk watete, mit James und Knut im Schlepptau, durch den dichten, noch ungeräumten Schnee auf die Eingangstür zu. Fast wie der Weihnachtsmann persönlich sah Hinnerk aus. Statt einer roten Mütze zierte zwar sein geliebter Elbsegler sein Haupt, unterstütze die Illusion aber trotzdem.

Die dicken Schneeflocken tanzten um sein freundliches Gesicht und ließen ihn die Augen leicht zukneifen, sodass sie nur noch dünne Schlitze waren.

„Ho, ho, ho, du kannst es wohl kaum erwarten!“

Hinnerk trat mit vollen Einkaufstaschen durch den Eingang und imitierte den Weihnachtsmann mit seinem tiefen Bariton perfekt. James und Knut kamen nicht minder beladen hinterher. Der Butler ließ sich seine würdevolle Miene auch vom Schneefall nicht wegwehen. Nach der Begrüßung stellten die drei Männer die großen Taschen in den Eingang und entledigten sich ihrer Winterjacken. James verschwand schon bald mitsamt den Einkäufen in der Küche. Christine hängte sich förmlich an Knuts Fersen und konnte es kaum erwarten, ihre CD zu erhalten.

Sabrina wandte sich an Hinnerk, dessen Miene sorgenfreier war als ihre. Das lag zum großen Teil daran, dass er wieder mal die Pferdestärken des BMW hatte ausreizen können. Der Wintersturm hatte wohl eher eine zusätzliche Herausforderung, als eine Behinderung dargestellt.

„Setzt dir das Wetter zu? Oder hat dich die Kleine auf Trab gehalten?“, wollte der wohlgenährte Hüne wissen.

„Es ist wegen Mark! Habt ihr von ihm gehört?“

„Nein, ich hab ihn eigentlich bei euch erwartet!“

„Das war er auch, aber er wollte noch etwas besorgen. Ich mache mir Sorgen. Er sollte schon längst zurück sein! Auf seinem Handy konnte ich ihn nicht erreichen ...“ Sabrina sah den Vollbärtigen Hilfe suchend an.

„Der wird sich bestimmt bald melden, mach dir deswegen nur keinen Kopf! Ich habe da so ein Gefühl“, brummte Hinnerk tröstend.

Im Wohnzimmer überreichte Knut der ungeduldigen Christine die Kylie-CD. Eingepackt in schönstem Glitzerpapier. Fragend suchte sie in Knuts Augen eine passende Antwort, die er auch gleich lieferte.

„Heute wird dein Sparschwein nicht geschlachtet! Ich dachte mir, du könntest dein Taschengeld bestimmt für was anderes brauchen. Ich war kurz vom Weihnachtsgeist besessen und ließ ihn gewähren. Die CD ist als kleine Weihnachtseinstimmung gedacht. Viel Spaß damit!“

Knut kam nicht dazu, seine Arme auszustrecken, Christine umarmte ihn bereits ganz fest. „Daaanke...!!! Weihnachten sollte das ganze Jahr durch sein!“

Aus der Küche hörte man Schließgeräusche verschiedener Schranktüren und dem Kühlschrank. James nahm es immer peinlich genau mit dem Einräumen der Einkäufe. Im Gegensatz zu den anderen Mitbewohnern brauchte er jeweils auch nur einen Griff zu machen, um das Gesuchte zu finden.

Da klingelte Sabrinas Handy.

Es war Mark! Na endlich! Man konnte den Stein, der sich von Sabrinas Herzen löste, förmlich plumpsen hören ...

***

Staub zu Staub

„Jasmin?“

Mark umklammerte den Behälter mit feuchten Händen. Er betrachtete den Innenraum nachdenklich und bemerkte, dass er nur halb voll war. Trug der Vampir etwa seine Geliebte bei sich? Wie eine Urne? Waren dies ihre letzten Überreste? Plötzlich empfand er Mitleid mit der Kreatur. Als Hüter konnte er sich solche Gefühle für das Gefolge der Schwarzen Familie nicht leisten. Heute Nacht war er aber bereit, eine Ausnahme zu machen.

Da fiel ihm der Anruf auf dem Handy ein, den er vorhin nicht hatte annehmen können.

„Sabrina!“

Mark ahnte, dass es seine Freundin gewesen war, die ihn hatte erreichen wollen. Ein Blick auf das Display bestätigte seine Vermutung. Er drückte die Rückruftaste.

Beide waren gleichermaßen froh, die Stimme des jeweils anderen zu hören.

„Mark, endlich! Ich war so besorgt um dich! Geht es dir gut? Ist dir etwas zugestoßen?“ Sabrina klang ganz aufgelöst, erleichtert und doch angespannt.

„Das kann man so sagen. Eigentlich habe ich zugestoßen. Um jegliche Missverständnisse zu vermeiden – mir ist ein Vampir über den Weg gelaufen. Aber abgesehen einer dicken Beule und ein paar Schrammen geht es mir gut. Ich erzähle dir die ganze Geschichte, wenn ich zu Hause bin. Aber erst muss ich noch was erledigen.“

Sein Sarkasmus ermöglichte es Mark, die Begegnungen mit Vampiren, Untoten und den verschiedensten Anhängern der Schwarzen Familie besser verarbeiten zu können.

„Ich schicke Hinnerk zu dir!“, seufzte Sabrina.

„Nein, ist nicht nötig. Den Rest schaffe ich alleine. Ich passe auf mich auf!“

„Und ob du das tust! Die Angst hat mich schon fast aufgefressen!“ Nach einer kurzen Pause sagte Sabrina mit leiser Stimme: „Ich liebe dich!“

„Ich liebe dich auch! Ich bin bald bei dir.“

Nach der Verabschiedung verstaute Mark das Handy in seiner Jackentasche und kniete sich vor die Überreste des vernichteten Vampirs.

„Staub zu Staub!“

Mit versteinerter Miene füllte der Hüter den Behälter mit den Überresten seines Gegners auf. Er verschloss den Behälter und nahm die Kleider des Vampirs an sich. Obwohl diese Anlage schon länger nicht mehr betreten worden war, wollte er mögliche Spuren beseitigen. Er war sich ziemlich sicher, dass der Vampir alleine gekommen war, trotzdem sah er sich immer wieder um. Marks Gedanken drehten sich unaufhörlich um das eben Erlebte. Hatte er die Vampire unterschätzt? Waren sie zu Liebe fähig?

Der namenlose Vampir hätte ihn töten können, erwählte ihn aber stattdessen zu seinem Todesengel. Wie in einem Spiel hatte er den Hüter gelenkt und dessen Handeln manipuliert. Er überließ nichts dem Zufall; die Sense, die offene Türe, die Holzpflöcke ... Der Vampir wollte, dass sich Mark befreien konnte. Der ganze Aufwand, nur um ihm den endgültigen Tod zu schenken?

„Bald ist Weihnachten, die Zeit des Schenkens – welch morbide Ironie!“, dachte Mark stirnrunzelnd.

Wichtiger als Jasmins Tod zu rächen, war es dem Vampir gewesen, zu ihr zu gelangen. Auch wenn dies seine vollständige Vernichtung bedeutete. Hatte er tatsächlich eigenmächtig gehandelt, oder war sein Clan informiert? Hatte er eine Fährte gelegt?

Gedankenversunken trat Mark aus der Anlage. Er konnte zwar keine Anschrift entdecken, aber anscheinend war es ein altes Firmengebäude. Mark befand sich im Industriegebiet von Stade. Ein längerer Fußmarsch zu seinem Wagen stand ihm bevor. Nach etwa einer halben Stunde hatte Mark sein Auto erreicht.

Durchnässt und durchgefroren öffnete er die Türe, startete den Wagen und schaltete die Heizung ein. Der Vampir hatte ihm sogar die Autoschlüssel in die Jacke gesteckt. Die Engel-Skulptur war auch noch an derselben Stelle. Das hatte er noch nie erlebt. Ein Vampir mit Moral?

Kopfschüttelnd begann er die Scheiben vom Schnee zu befreien und sicherte nach allen Seiten ab, sodass er dieses Mal nicht wieder unterbrochen werden konnte. Anschließend startete er den Wagen und fuhr los. Das Glückshaus in Hüll war sein Ziel, doch er würde es über einen Umweg erreichen. Er fuhr zu der Kirche St. Wilhadi, deren Turm ein Wahrzeichen der Stadt bildet. Man nennt ihn auch den Schiefen Turm von Stade. Da die Erbauung der Kirche bis ins 14. Jahrhundert zurückreichte, hatte der Zahn der Zeit schon ziemlich lange Gelegenheit, an der Fassade zu nagen.

Die verschneiten Straßen und das immer noch dichte Schneetreiben verlangten hinter dem Steuer höchste Konzentration. Mark erreichte die Kirche ohne weiteren Zwischenfall. Er war einer der wenigen Menschen, die noch unterwegs waren. Die Stadt hatte sich nach innen gekehrt. Es fehlte nur noch eine riesige Glaskuppel, und die malerische Stadt würde glatt als Schneekugel durchgehen, wie man sie in Souvenir-Shops findet. Mark war froh darüber, dass ihm das Wetter bei seinem Vorhaben Schützenhilfe leistete.

Er parkte den Wagen in der Nähe der Kirche. Danach lief er um einen Teil des Gotteshauses herum und fand schon bald, was er suchte. Das Anwesen wurde von einer Unmenge Sträuchern und einer Rasenfläche umsäumt. Der Puderzucker der Natur wurde auch über St. Wilhadi in beachtlicher Menge ausgeschüttet, und hatte Grün in Weiß verwandelt. Ein schönes Bild. Der Hüter betrat die beschneite Rasenfläche und suchte sich einen passenden Platz aus. Er hatte sich zuerst versichert, dass er ungesehen blieb. Er wollte unnötige Konfrontationen vermeiden. In weiser Voraussicht hatte er aus dem alten Firmengebäude eine kleine Spitzhacke mitgehen lassen. Er war sich ziemlich sicher, dass sie von niemandem vermisst werden würde. Die Erde unter den Sträuchern war nur teilweise vom Schnee bedeckt und noch relativ weich. Mark grub ein etwa zwanzig Zentimeter tiefes Loch. Er öffnete den verzierten Behälter, in dem sich der Staub der beiden Vampire vermischt hatte.

„Bis dass der Tod euch vereinigt! Mögt ihr im Jenseits zusammen den Frieden finden, der euch im Leben verwehrt blieb!“

Mark kippte den Staub in das freigelegte Loch und deckte es mit der Erde wieder zu.

Ohne zurückzublicken, verließ der Hüter die improvisierte Grabstätte. Nur seine verblassenden Spuren im Schnee waren Zeugen seiner Gegenwart.

***

Heimkehr

Mark erreichte Hüll kurz nach 23.00 Uhr. Später, als er sich ursprünglich ausgemalt hatte. Außerdem war er schmutzig, durchnässt und mit Blessuren. Die Einschnitte der engen Fesseln machten sich beim Lenken mit leichtem Brennen bemerkbar. Der starke Schneefall hatte nachgelassen und das Glückshaus wurde nur noch von wenigen Flöckchen umrieselt.

Das Wetter spielte in Marks Erlebnis eine prägende Rolle und hielt sich vorbildlich ans Drehbuch: Der Sturm hat sich gelegt, der Held kehrt heim. Ihm war klar, dass er sich ein weiteres Mal aus dem Griff des Todes, der ihn mit seinen knochigen Fingern fest umkrallte, hatte befreien können. Er war glücklich und erleichtert und doch hatte ihn die Vernichtung eines Vampirs noch nie so sehr berührt, wie heute.

Der frisch geräumte Schnee, der sich am Weg zur Eingangstüre wie eine kleine Mauer türmte, wirkte fast wie ein Empfangskomitee. James erledigte die Arbeiten, die im und um das Haus anfielen, ebenso zuverlässig wie seine Pflichten als Butler. Mark öffnete die Eingangstür und stellte seine Einkaufstasche ab, als ihm Sabrina bereits mit großen Schritten entgegenkam. Ihr Gesicht wirkte durch ihr sanftes Lächeln und ihre glänzenden Augen noch schöner. Sie empfing ihn mit einer festen Umarmung, einem tiefen Blick in die Augen und einem dicken Kuss auf die Lippen.

„Gibt es eine schönere Ankunft?“ Marks Anspannung, die ihn noch die ganze Fahrt lang beherrscht hatte, begann sich langsam zu lösen.

Nachdem er sich aus der nassen Jacke geschält hatte, begrüßte er Hinnerk und die restlichen Bewohner des Glückshauses. Es hatten sich schon alle in der Küche, die sich zum Zentrum ihres Hauptquartiers entwickelt hatte, versammelt. James begann unaufgefordert, Wasser zu kochen. Mark setzte sich zu Christine auf das Sofa, das dank Knuts Initiative in der Küche stand, und begann, seine Geschichte in allen Details zu erzählen. Zumindest in fast allen Details. Den Kauf der Engel-Skulptur verschwieg er natürlich.

Sabrina lehnte sich an das Sofa und streichelte Mark durch das feuchte Haar.

„Ähem, entschuldigen Sie die Unterbrechung! Ihr Tee, Sir.“ Mark kannte James nicht anders als mit perfekten Manieren und als Butler durch und durch.

„Danke James, du kannst Gedanken lesen.“ Das Kompliment entlockte dem guten Geist des Glückshauses den Hauch eines Lächelns.

Als Mark seine Erzählung beendet hatte, waren alle erleichtert, dass sich die Geschichte so glücklich gelöst hatte.

Für das merkwürdige Verhalten des Vampirs wusste auch Hinnerk keine Erklärung. „So schwarz, wie ihr Herz ist, sind sie auch immer wieder für Überraschungen gut! Ich bin froh, dass es sich für dich als eine angenehme entpuppte. Wir müssen aber davon ausgehen, dass der Blutsauger sein Gefolge informiert hat. Wir müssen auf alles gefasst sein!“

Hinnerk zupfte an seinem Bart und sah Mark nachdenklich an.

„Mien Jung, wir müssen dein Training ausfeilen. Du könntest tot sein ... Kämpfen tust du verdammt gut, aber deine Sinne müssen wir noch schärfen!“

„Alles klar, Yoda, ich bin dabei!“

„Wer zur Hölle ist Yoda? Nimmst du mich wieder nicht ernst?“ Hinnerks Blick wurde streng und das Mitgefühl verließ seine Stimme.

„Kennst du denn Star Wa...“, begann Knut, doch Marks erwidertes „Todernst!“ unterbrach den Satz.

Morgen war ein neuer Tag und neue Taten würden folgen. Mark verabschiedete sich nach einem zweiten Tee und einer beachtlichen Menge von James’ köstlichen Weihnachtskeksen und wünschte allen eine gute Nacht. Sabrina schloss sich seiner Verabschiedung an. Mark freute sich auf das warme Bett und eine ordentliche Mütze voll Schlaf. Obwohl schon beide Uhrzeiger bei der Zwölf vorbeigetickt waren, würde er sich vorher noch in einem heißen Bad entspannen.

***

Mark stand vor dem Spiegel im Badezimmer, rieb an seiner Beule und schaute sich in die Augen. Er sah müde aus. Er sah nicht nur so aus, er war es auch. Er zog seinen Rollkragenpullover und sein T-Shirt aus und erschrak, als er seinen nackten Oberkörper betrachtete. In großen, schwarzen Lettern stand etwas direkt unter seinem linken Schlüsselbein geschrieben. Die Schrift ließ sich auch spiegelverkehrt gut lesen: „VERGISS NIE!“

Zusätzlich zierten zwei ebenso schwarze Punkte seinen Hals.

Seine Hand zuckte nach oben, strich über die Bissmale – doch da war nichts.

Erst als Mark sich dem Spiegel entgegenbeugte und die Punkte genauer inspizierte, sah er, dass auch sie mit Filzstift aufgemalt worden waren.

Sein Herz raste und es wurde ihm wieder bewusst, wie knapp er dem Tod entronnen war. Der Vampir hatte ihn entrinnen lassen. Was den Blutsauger dazu bewogen hatte, würde der Hüter wohl niemals vollends begreifen. Er war nur dankbar. Als neuer Hüter lernte er noch immer dazu. Die heutige Lektion würde ihn für immer prägen.

Mark erinnerte sich an einen Auszug von Sunzis Die Kunst des Krieges, das Werk eines chinesischen Generals und Militärstrategen um 500 v. Chr., das er in seiner Studienzeit gelesen hatte.

„Wenn du dich und den Feind kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten. Wenn du dich selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst du für jeden Sieg, den du erringst, eine Niederlage erleiden. Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen."

Auch ohne Schlaufe und Pralinen betrachtete Mark dieses Erlebnis und sein Überleben als das wichtigste Weihnachtsgeschenk.

***

Er streckte sich in der Wanne richtig durch und war froh, dass sich die Nachricht des Vampirs mit Sabrinas Nagellackentferner wegwischen ließ. Aus seiner Erinnerung würde er die Zeilen jedoch nicht einfach löschen können. Plötzlich klopfte es leise.

„Bereit für ein bisschen Ablenkung?“, fragte Sabrina durch die geschlossene Tür.

„Immer!“

„Schließ deine Augen!“

„Die sind schon zu!“

Leise öffnete Sabrina die Tür und trat ein. „Brave Mädchen kommen in den Himmel, böse Mädchen überall hin!“, hauchte sie Mark schmunzelnd entgegen. Als Mark die Augen öffnete, stand Sabrina, nur mit einer Nikolausmütze bekleidet, vor ihm. „Hast du noch einen Platz frei ...?“

Frohe Weihnachten!



[1] Der Hüter Nr. 4 – „Kampf um das Drachenblut“ von Stefan Albertsen

Der Gästezugang für Kommentare wird vorerst wieder geschlossen. Bis zu 500 Spam-Kommentare waren zuviel.

Bitte registriert Euch.

Leit(d)artikelKolumnenPhantastischesKrimi/ThrillerHistorischesWesternAbenteuer/ActionOff TopicInterviewsHintergründeMythen und WirklichkeitenFictionArchivRedaktionelles

Wir verwenden Cookies, um Inhalte zu personalisieren und die Zugriffe auf unsere Webseite zu analysieren. Indem Sie "Akzeptieren" anklicken ohne Ihre Einstellungen zu verändern, geben Sie uns Ihre Einwilligung, Cookies zu verwenden.