Die Lebenden und die Toten
Der Totengräber verrichtete schon seit vielen Jahren seinen Dienst. Er war der Herr über die Toten.
Auf diesem Friedhof gab es ein seltsames Grab, auf dem ständig kleine Hügel wuchsen, die aussahen wie Maulwurfshügel. Auf keinem anderen Grab gab es so viele Hügel. Es gab auch kaum Maulwürfe hier, hie und da ein paar Hügelchen, aber nicht so zahlreiche und nicht so dicht aneinander. Die Monate vergingen. Der Totengräber ebnete das Grab mit einem Rechen, am nächsten Tag standen frische Hügel darauf. Jedes Mal war das so.
Der Totengräber dachte nach: „Vielleicht hat die Seele dort unten noch keine Ruhe gefunden, ist im Warteraum des Jenseits, darf noch nicht eintreten durch seine Pforten. Er machte sich ans Werk das Grab freizulegen. Die Erde war merkwürdig locker. Er grub in schnellem Takt. Schließlich stieß er auf Holz. Er öffnete den Sargdeckel, der nicht vermodert war, obwohl das Grab vor einem halben Jahr ausgehoben wurde. Der Leichnam war unversehrt. Die Augen des Toten waren aufgeschlagen, die Arme vor der Brust überkreuzt. Am kleinen Finger der linken Hand schimmerte ein Brillantring. Seine Lippen bewegten sich nicht, doch er begann zu reden.
„Ich habe gesündigt, Herr über die Toten, und deshalb werde ich erst gehen, wenn mein Herz sich zur Ruhe gebettet. Die Schuld, die ich auf mich geladen, wiegt schwer. Nur wenn sie getilgt, kann ich in Frieden ruhen. Die Sühne, sie fährt mir hinab bis in die Knochen, ein lebender Leichnam bin ich. Hilf mir, Herr über die Toten, hilf mir einzutreten in das Reich über den Wolken oder in die ewige Verdammnis, denn alles ist besser als das hier. Nur du kannst mich befreien, Herr über die Toten, so wie du meinen Körper freigelegt hast, bitte ich dich, auch meine Seele zu befreien. Hilf mir, sonst werde ich auf ewig stören die Ruhe dieser Grabstätten, das will ich nicht, so lass mich eintreten meinetwegen auch ins Reich der Finsternis. Nur du kannst es vollbringen, Herr über die Toten, und erblicke, was mein schändliches Leben aus mir gemacht. Ich werde dir meine Geschichte erzählen und du wirst verstehn:
Ich wurde vor zweiundvierzig Jahren in einem Dorf weit von hier entfernt geboren. Es war ein kalter Tag im Dezember, als ich das Licht der Welt erblickte. Die Bauernhöfe waren damals noch größer. Die Menschen satt und zufrieden. Kaiser Franz Joseph herrschte über das vereinigte österreichisch-ungarische Land. Er war schon alt und gebrechlich damals, die Monarchie lag in ihren letzten Zügen. Meine Mutter war eine warmherzige, schöne Frau, die, so wurde mir erzählt, als ich drei Jahr alt war, an der Schwindsucht verschied. Mein Vater war ein Taugenichts, ein Herumtreiber. Nach dem Tode meiner Mutter machte er sich aus dem Staub. Hatte eine andere Frau kennen gelernt und zog mit ihr von dannen. Ich kann mich nicht daran erinnern ihn jemals gesehen zu haben, außer auf der Hochzeitsfotografie. Es zeigt einen schnauzbärtigen, rüden Gesellen. Seine Hände waren, so gut man auf dem Bild sehen konnte, nicht schwielig. Er war ohne erlernten Beruf, arbeitete als Krämer, der Kochgeschirr und Tuch verkaufte, von hie nach da reiste und den Menschen das Geld aus der Tasche zog. So wuchs ich bei den Eltern meiner Mutter auf. Die waren arm wie Kirchenmäuse. Großvater war Holzfäller gewesen, hatte einen Arbeitsunfall erlitten und ein Bein verloren. Er war immer gut zu mir, wenngleich mein Magen oft leer blieb und ich nur ein Paar dünne Schuhe besaß. Großmutter schlug mich häufig mit dem Teppichklopfer oder dem Nudelholz, wenn ich ihr Streiche spielte. Sie war verbittert, weil ihr einziges Kind, meine Mutter, gestorben war. Ich wuchs ohne Geschwister auf, hatte keine richtigen Freunde, da die Keusche meiner Großeltern tief im Wald verborgen war. Ich sammelte Pilze und Beeren, die meine Großmutter an den reichen Händler des Dorfes zu einem geringen Preis verkaufte. Aber wenig ist doch besser als nichts. Ich durfte nur selten die Schule besuchen, lernte nur mühsam Buchstaben zu entziffern. Den Sinn eines Satzes konnte ich nur selten erforschen. Im Rechnen war ich besser, das bereitete mir Spaß. Ich war nicht oft genug in der Schule, um es richtig gut zu können, aber ich vermochte zu addieren, zu subtrahieren, zu multiplizieren und zu dividieren. Und ich wusste den Preis einer Ware genau zu schätzen. Wahrscheinlich hatte ich das von meinem Vater geerbt.
Als ich neun Jahr alt war, wurde der Thronfolger in Sarajewo ermordet und der grausame Krieg brach aus. Mit ihm kam das Elend. Im Dorf waren die Menschen noch besser dran als in den Städten, denn sie hatten Vieh, Brot, Milch und Eier. Doch alle gesunden, wehrfähigen Männer wurden eingezogen. Zurück blieben die Frauen, die Kinder, die Krüppel. Der Krieg währte vier Jahr. In dieser Zeit lernte ich mein Handwerk, dieses, wo man am Friedhof auf der Lauer liegt und wartet, bis die Toten begraben. Dann, zu nächtlicher Stunde, begibt man sich mit Schaufel und Spaten zu den Gräbern, gräbt sich durch zu den Toten, öffnet die Deckel ihrer Särge und nimmt sich, was sie einst besessen. Zieht ihnen Ringe von den leichenstarren Fingern, reißt Medaillons mit den Bildern ihrer Liebsten von ihren Hälsen, stiehlt ihre Schuhe. Alles, was von Wert ist. Wird genommen, wird verkauft. An fahrende Händler, zu dem, was sie bereit sind zu geben. Und sei es auch nur wenig, ist es doch besser als nichts.
Das alles lernte ich durch zusehen, wie es andere taten, brachte mir das meiste selbst bei. Mühevoll war das Ausheben der Gräber, es kostete lange Zeit, aber niemals erwischten sie mich. Gott sei Dank oder dem Teufel sei Lob.
So wuchs ich heran. War ein Aussätziger, wurde von den anderen gemieden. Die Anderen, das waren die Rechtschaffenen, die Bürger, die reichen Bauern. Ich nahm, was man ihnen auf ihre letzte Reise mitgab. Und ich tat es ohne Reue. Auch ich musste essen, mir manchmal eine wonnige Magd für eine Nacht kaufen, die mich in die Liebe einwies, denn ich war noch jung und unerfahren.
Nachdem meine Großmutter starb, Großvater war schon früher von dannen gegangen, wurde ich vom Besitzer der Keusche aus ihr vertrieben. Ich war damals zwanzig Jahr. Nahm mein Hab und Gut, es war so wenig, dass ich es in einem Rucksack tragen konnte, und machte mich auf, fremde Dörfer und Städte zu entdecken. Ich kam bis an die Grenzen des Landes. Ich plünderte und verkaufte. Schändete die Toten, mein Lohn war ihr Besitz. Sie klagten mich an, doch sie konnten nicht mehr sprechen. Einmal fasste mich ein Pfarrer, er nannte mich einen räudigen Hund. Doch ich vermochte ihm zu enteilen. Sein Fluch sei mir gewiss.
So vergingen die Jahre. Ich wurde älter, aber nicht edler. Ich trieb es immer dreister. Wagte mich sogar an protzige Familiengruften heran, hob steinerne Platten mit einem Helfer, einem jungen Burschen, der mir zur Hand ging, fand darin Geschmeide, die ich zu einem guten Preis loswurde. Ich wurde aber nie reich, denn das Geld zerrann mir zwischen den Fingern. Ich trank und vertrieb mir die Zeit mit käuflichen Frauen. Ich trachtete gar nicht, das Herz einer zu erringen, mir genügten ihre Körper, die weich waren und warm. Mit Herzensdingen kannte ich mich überhaupt nie so recht aus. Wenn ich mein Handwerk verrichtete, standen sie schon still, die Herzen. Die Würde des Menschen ist nur eine Chimäre, was zählt, ist was er am Leibe trägt, ob lebendig oder tot, sei´s egal. Niemand reist in die Finsternis mit seinem Gewand. Drum nehm ich´s mir, denn mir ist es von Nutz.
Mein Leben nahm weiter seinen gewohnten Lauf. Mal war ich hier, mal war ich dort. Mein heimatliches Dorf sah ich nie mehr wieder. Der große Fang blieb mir immer verwehrt.
Als der zweite große Krieg kam und seine Verwüstung mit sich zog, war ich in meinen Dreißigern. Ich ging fort aus der großen Stadt, in der ich gelebt hatte. Dort war es mir zu gefährlich, denn die Bomben fielen wie Regenschauer.
Der zweite Krieg war noch viel schlimmer als der erste. Nie vergessen werde ich die Bilder von Leid und Verzweiflung und Tod. Ich zog in ein Bergdorf, das blieb von den Bomben verschont. Doch das Geschäft ging schlecht. Die Toten hatten kaum etwas, was sich lohnte zu plündern. Ich lebte von der Hand in den Mund, musste mich sogar als Knecht verdingen zu einem kärglichen Lohn.
Der Krieg währte über sechs Jahr. Es war die Zeit der Furcht und des Schreckens und der bitteren Armut. Viele Menschen verloren ihr Hab und Gut, litten Hunger. Die Menschen gingen in Lumpen. Wer eine Kuh und Hühner besaß, war ein reicher Mann. Die Bauern waren bevorzugt, aber auch sie litten Not und hatten Angst um ihre Söhne, die in der Wehrmacht kämpften. Deutschland und das angegliederte Österreich verloren diesen Krieg. Und die Verlierer hatten sich zu schämen.
Doch als die Trümmer noch rauchten, ging es langsam wieder aufwärts. Man sammelte, was man kriegen konnte. Es reichte, um den Bauch halbwegs zu füllen und zu überleben.
Zwei Jahre nach Ende des Krieges, ich hatte mich mittlerweile vorläufig in diesem Dorf niedergelassen, wurde der reiche Jogl-Bauer beerdigt. Er hatte ein hohes Alter erreicht. War passionierter Jäger gewesen und brüstete sich in den Gasthöfen, Zwölf- oder Mehr-Ender geschossen zu haben. Wenn es keine Hirsche gab, tötete er alles, was ihm vor die Flinte kam, auch wenn es Katzen waren. Es gab aber nicht so viele, denn die wurden von den armen Leuten gerne verspeist. Bekannt war er wegen seines wertvollen Brillantringes gewesen, einem seltenen Erbstück.
Nachdem sie ihn verscharrt hatten, wartete ich, bis die Nacht angebrochen. In kurzer Zeit gelang es mir, das Grab auszuheben. Ich hob den schweren, eichernen Sargdeckel auf. Er trug den Brillantring noch. Ich zückte mein Taschenmesser, schnitt ihm den klammen Finger mit dem kostbaren Ring ab und steckte ihn auf den kleinen Finger meiner linken Hand. Plötzlich lief ein Zucken durch seinen Körper. Der Fingerstumpf blutete. Er begann zu schreien. Schlug mit den Fäusten um sich. Ich atmete schwer, immer schwerer. In meinem Brustkorb begann es zu stechen, stärker und stärker. Mein Herz hörte auf zu schlagen. Ich fiel wie ein Sack Mehl auf den Jogl-Bauern. Der stieß mich weg, stand auf. Umklammerte den Fingerstumpf. Brüllte wie ein Tier, rief um Hilfe.
Du, Herr über die Toten, fandest mich in seinem Grabe liegen, riefest den Pfarrer herbei und begrubest mich mit einem Armenkreuz auf meiner Ruhestätte. Ich bin gestorben, aber Ruhe kann ich erst finden, wenn der Ring seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben. Hilf mir, Herr über die Toten, meine Seele zu befreien, dann werde ich gehen, wohin man mich schickt.“
Nur kurz überlegte der Totengräber. Nahm den Ring vom Finger des Sünders. Hob seinen Körper aus dem Grab. Schaufelte es zu, entfernte das Kreuz. Glättete es, als wäre es niemals hier gewesen. Verbrannte seinen Körper im Krematorium und streute die Asche auf ein Feld, auf dem fortan nur Unkraut wuchs.
Zum Autor
- Gedichte in „Driesch“, Nr. 5 im Jahr 2011.
- Kurzgeschichte in „Brückenschlag“, Band 27 im Jahr 2011.
- Kurzgeschichte in „TrokkenPresse“, Nr. 5 im Jahr 2011.
- Prosatext in „TrokkenPresse“, Nr. 2 im Jahr 2012.
- Gedichte in und Gedicht auf „Brückenschlag“, Band 28 im Jahr 2012.
- Miniaturen in „WORTSCHAU“, Nr. 17 im November des Jahres 2012.
- Gedichte in „Spring ins Feld“, 13. Ausgabe, Dezember des Jahres 2012.
- Kurzgeschichte in „Brückenschlag“, Band 29 im Jahr 2013.
- Prosatext in „TrokkenPresse“, Nr. 3 im Jahr 2013.
- Gedicht in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 59, 09/2013.
- Kurzgeschichte in der Anthologie „Mein heimliches Auge, Das Jahrbuch der Erotik XXVIII“ vom konkursbuch Verlag
- Claudia Gehrke im Jahr 2013.
- Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 60, 12/2013.
- Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 61, 04/2014.
- Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 62, 08/2014.
- Kurzgeschichte und Gedicht in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 63, 11/2014.
- Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 64, 04/2015.
- Kurzgeschichte und Gedicht in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 67, 04/2016.