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Wie neu geboren - Teil 2

StoryWie neu geboren
(Teil 2)

Zu ihrem zweiten Termin mit Manfred Richter erschien Lydia Schwerdtfeger eine Stunde zu früh, um einen der Pfleger über den Patienten zu befragen. Der junge Mann mit den breiten, muskulösen Schultern strich sich über den glatt rasierten Kopf, ehe er antwortete: "„Ruhig. Höflich. Kooperativ, aber zurückhaltend. Er spricht nicht viel, hört aber aufmerksam zu. Und er macht jeden Tag diese Gymnastikübungen. Irgendwas Chinesisches, glaube ich."“

Lydia nickte. „"So lange Sie hier arbeiten -– ist er da irgendwann mal unruhig geworden? Oder sogar gewalttätig?"“

 

"„Nein. Er nicht. Ein paar andere, aber nicht Manfred Richter."“ Der Pfleger verzog die Mundwinkel. „"Ich hatte mal Haare, länger als Ihre. Aber dann ist einer meiner Kollegen hier von einem Patienten fast skalpiert worden, mit bloßen Händen, und da habe ich - … na, Sie sehen's ja."“

„"Guten Tag, Herr Richter. Lassen Sie uns bitte fortfahren. Letzte Woche hatten Sie mir beschrieben, wie Sie sich mit dem Ahnenerbe beschäftigt haben, um herauszufinden, von wem dieses Persönlichkeits-Aufbauprogramm stammte?"“

„"Das stimmt, Frau Doktor. Aber es war dann gar nicht mehr nötig. Sehen Sie, ich hatte einfach Glück ..." …
 
* * *
 
Die “Übung zur Förderung des Erinnerungsvermögens” bestand darin, sich eine Reihe von altertümlichen Schwarzweiß-Foto­grafien mit im Detail beschriebenen Techniken einzuprägen. In der Anfangsphase sollte eine möglichst vollständige Beschreibung des Bildinhaltes eine Stunde nach der Betrachtung niedergeschrieben werden, in späteren Stadien konnte man angeblich noch Tage später den Bildinhalt aus dem Gedächtnis abrufen. Ich schaute mir diese schon etwas verblassten Bilder näher an. Sie zeigten Personen und Landschaften, und auf einer von ihnen gruppierten sich vier junge Männer in der Kleidung der zwanziger Jahre um einen Wagen und grinsten breit in die Kamera. Irgend etwas am Hintergrund kam mir bekannt vor. Schließlich erinnerte ich mich: dieser Brunnen mit der Storchenfigur, vor dem der Wagen abgestellt war – dieser Brunnen stand bis zu einem Bombenangriff 1944 auf dem Marktplatz in Eisenach, gar nicht weit entfernt von meinem Heimatort. Ich hatte eine Fotografie der Brunnenfigur in einem Bildband gesehen, der Eisenach in der Zeit zwischen den Weltkriegen beschrieb. Vorsichtig löste ich das Foto aus dem Manuskript und drehte es um; in verblasster Tinte und altdeutscher Schreibschrift stand dort '“Mein Automobil!”'

Damit hatte ich meinen ersten vagen Anhaltspunkt, um das Geheimnis um die Identität des Verfassers zu lüften. Eisenach hat einen recht aktiven Heimat- und Geschichtsverein; vielleicht konnte sich dort noch irgendein alter Mann an die Gruppe um den Wagen erinnern?

Hartwig hatte nichts dagegen, dass ich mir von einem Foto-Fachgeschäft Kopien der alten Bilder anfertigen ließ. Sobald ich diese Kopien hatte, schrieb ich einen Brief an den Vereinsvorsitzenden und bat um seine Unterstützung.

Nicht ganz drei Wochen später erhielt ich Antwort aus Eisenach: der Geschichtsverein hatte tatsächlich einige Menschen gefunden, die zu den Personen auf dem Foto Namen angeben konnten. Namen, an die ich bei meinen Recherchen anknüpfen konnte.

* * *

Hans Liebenau lebte damals in einem Altenpflegeheim. Sein Bruder Georg ist 1943 in Russland gefallen und Walter Gleim starb 1947 als Kriegsgefangener in einem Lager in Sibirien. Der vierte Mann, Rudolf Scheller, galt seit 1945 als vermisst. Ich schrieb einen Brief an Hans Liebenau und bat ihn darum, mich als Besucher zu empfangen und mir bei meinen Forschungen behilflich zu sein, um die Anerkennung eines seiner damaligen Freunde als Vordenker der Neurolinguistischen Programmierung zu erreichen.

Zu diesem Zeitpunkt wurde mir klar, wie stark die Wirkung des Manuskripts auf Hartwig wirklich war. Er war unvermittelt zum Vegetarier geworden und hatte mit dem T’ai Chi aufgehört, um statt dessen verstärkt Dauerlauf zu betreiben. "“Einen gesunden Geist verlangt es nach einem gesunden Körper"”, antwortete er auf meine erstaunte Nachfrage.

Kurz bevor ich nach Eisenach fuhr, traf ich Hartwig zufällig in der Stadt beim Einkaufen. Er stand vor einem der Obdachlosen in der Fußgängerzone, einem langhaarigen, bärtigen Mann in einem alten Parka, der auf einem dünnen Sitzkissen hockte und einen Schäferhundmischling neben sich liegen hatte. Hartwig hatte die Hände in die Hüften gestemmt und herrschte den Mann an, es gäbe jetzt genug Arbeit in der Landwirtschaft und Bauern, die händeringend nach Erntehelfern suchten -– warum also säße er hier und erwarte von anderen Hilfe für seinen Unterhalt, anstatt zum Beispiel in den Brandenburger Spargelfeldern die Ärmel hoch zu krempeln und einen neuen Anlauf für sein Leben anzufangen? Der Bärtige starrte ihn an, setzte mehrmals mit gedämpfter Stimme zu einer Erklärung oder Verteidigung an, aber Hartwig ließ sich in seiner flammenden Ansprache nicht unterbrechen. "“Haben Sie denn jede Selbstachtung verloren, Mann? Wollen Sie gar nicht mehr auf die Beine kommen? Sind Sie zufrieden damit, hier auf einen warmen Regen zu warten?"” Einige Passanten wagten im Vorbeigehen scheue Blicke auf die Szene, ohne sich jedoch in irgendeiner Form einzumischen.

Als Hartwig mich sah, ließ er schließlich von seinem Opfer ab und kam zu mir herüber. Mein Gesicht muss ihm meine Überraschung verraten haben. Das war so gar nicht mehr der Hartwig, den ich kannte! Seine Haltung und seine ganze Körpersprache hatten sich verändert. Es gibt in der Psychologie einen “persönlichen Raum”, und Menschen fühlen sich verunsichert, wenn die Grenze dieses Raumes überschritten wird. Der “neue” Hartwig machte durch sein ganzes Auftreten deutlich, dass er diesen Raum beherrschte und bereit war, ihn mit Gewalt zu verteidigen. Mein früher so sanftmütiger und verständnisvoller Freund schüttelte den Kopf und sagte: "“Dieser Kerl und sein elender Köter ... Ein Mann, der sich derartig aufgibt, wartet nur noch auf den Tod. Auch wenn er es nicht einmal sich selbst gegenüber zugeben wird."” Dann nahm er mein Erschrecken wahr und fügte noch einen Satz hinzu, der seine neue Haltung erläutern sollte. "“Ich sage dir - das bedingungslose Wollen kann alles vollbringen!"”

Das Übungsprogramm verlangte inzwischen von Hartwig, während der sportlichen Übungen eine besondere Mischung von Räucherwerk zu verbrennen. Angeblich sollten die Dämpfe das Bewusstsein erweitern und die umfangreichen Teile des Gehirns zugänglich machen, die wir Menschen sonst ungenutzt lassen; als ich ihn traf, hatte er gerade bei verschiedenen chinesischen und indischen Händlern nach den Zutaten gesucht.

* * *

Herr Liebenau war noch sehr rüstig, wenn man sein hohes Alter bedenkt. Seine Pfleger vertrauten mir damals an, dass sie schon Vorbereitungen für seinen hundertsten Geburtstag im Frühjahr 2001 trafen. Der alte Mann musterte mich aus wasserblauen Augen und forderte mich auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen.

Einige der Bilder sagten ihm gar nichts. Andere erkannte er nach einigem Zögern. Beim Anblick des Wagens glättete ein Lächeln viele der Falten in seinem Gesicht. Und als ich ihm schließlich die Fotografie mit dem Ehepaar im Sonntagsstaat zeigte, da nickte er und sagte: "“Natürlich erinnere ich mich an die Schellers. Das sind Rudolfs Eltern."”

Ich hatte meinen Mann. Rudolf Scheller hatte also die “Übungen zur Entwicklung des persönlichen Potentials” verfasst. Aber was für ein Mensch war dieser Rudolf Scheller gewesen?

Herr Liebenau versicherte mir, dass Rudolf Scheller –- egal was man ihm sonst nachsagen mochte -– immer ein brillanter Kopf gewesen war. Hart, fordernd und rücksichtslos gegen sich und andere, aber ein brillanter Denker. Genau die Sorte Mitarbeiter, nach denen die SS suchte und die sie dann auch entsprechend förderte.

Ich will Sie nicht mit einer ausführlichen Beschreibung meiner folgenden Recherchen langweilen oder meine Korrespondenz mit verschiedenen Archiven schildern. Aber Herr Liebenau hatte nicht übertrieben.

Rudolf Scheller hatte in Berlin und München Psychologie studiert, um schließlich in Göttingen zu promovieren; seine Dissertation hatte das Thema '“Das Unbewusste im Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe”' und war dort 1931 mit summa cum laude bewertet worden. Anschließend hatte er eine steile Karriere in der NSDAP gemacht; sein Weg führte ihn über den Werbefeldzug, der zum überwältigenden Erfolg bei den Reichstagswahlen 1932 führte, in den Organisationsstab der Reichsparteitage, danach zur Ausrichtung der Olympiade 1936 in Berlin und anschließend zur SS. Am Höhepunkt seiner Laufbahn war Standartenführer Scheller der Leiter der SS-Junkerschule in Braunschweig, nachdem er ein Jahr lang in der Hauptabteilung IV 1 für die weltanschauliche Ausbildung des Führungsnachwuchses an den Junkerschulen verantwortlich gezeichnet hatte. Vor dieser Aufgabe war Scheller auf eigenen Wunsch für ein Jahr der Zentralstelle des Ahnenerbes für Runenkunde in Göttingen zugeteilt worden.

Wie sehr viele andere hochrangige SS-Angehörige war Rudolf Scheller rechtzeitig zum Ende des Krieges untergetaucht. Allerdings stand in den Unterlagen des Berliner Dokumentationszentrums, dass Scheller im Juli 1945 von einer amerikanischen Streife in der Nähe von Fulda gestellt worden war; er versuchte, sich den Weg frei zu schießen, und wurde bei dem Schusswechsel tödlich getroffen. Laut dem Bericht der Streife hatte er keinerlei Reisegepäck bei sich.

Es erscheint mir plausibel, dass Scheller irgendwo im Raum Fulda Zwischenstation gemacht und seinen Koffer dort nur kurz zurückgelassen hatte; als er dann nicht mehr zurückkehrte, um sein Gepäck abzuholen, hatte sein Gastgeber den Koffer auf den Speicher gebracht und vergessen.

* * *

Je weiter ich auf meiner Suche nach den Spuren Rudolf Schellers in die Welt des Nationalsozialismus, der SS und des Ahnenerbes eintauchte, um so fremdartiger und unbegreiflicher erschien mir die Welt dieser Männer. Zeitlich trennten mich gerade zwei Generationen von ihnen, aber trotzdem war ihre Welt in geistiger Hinsicht so verschieden von der meinen wie die Maya und ihre Blutrituale vor tausend Jahren oder das Ägypten der Pharaonen mit seinem Totenkult.

In dieser Welt wurde der Stellenwert eines Menschen, ja sogar seine Existenzberechtigung daran gemessen, welchen Nutzen er der Gemeinschaft erbringen konnte. Leben sollten die Sippe, das Volk und das Reich - das einzelne Individuum nur insofern, als es das Weiterleben dieser Kollektive garantierte.

Und schließlich wurde mir klar, dass alle meine Nachforschungen, selbst wenn ich einen lückenlosen Lebenslauf erstellen mochte, letztendlich doch nur Namen und Daten auf Papier blieben. Der Mensch Rudolf Scheller, seine Ziele und Motivation, war auf diese Weise nicht zu begreifen. Ich musste mit anderen Menschen sprechen, die ihn persönlich gekannt hatten. Dazu musste ich Kontakt mit ehemaligen SS-Angehörigen aufnehmen, und das ist die Art von Unternehmung, die man nicht einfach so in Angriff nimmt.

Vor allen Dingen aber musste ich mir selbst die Frage nach meinen Gründen stellen: Warum wollte ich so viel wie eben möglich über Rudolf Scheller herausfinden?

Über die Wahrheit bin ich mir bis heute nicht sicher. Ich habe oft gedacht, es ginge mir um das faustische Verlangen zu erkennen, “'was die Welt im Innersten zusammenhält'.” Rudolf Scheller hatte auf seine Weise einen Blick hinter die Kulissen der Welt getan und Dinge herausgefunden darüber, wie wir Menschen denken und fühlen. Vielleicht hoffte ich, anhand der Spuren, die er hinterließ, ebenfalls eine Offenbarung zu erleben.

Zu meinem großen Unglück und zu Hartwigs Verderben hatte ich schließlich Erfolg damit.

Anfang August wandte ich mich an den “Bundesverband der ehemaligen Soldaten der Waffen-SS” und bat um Unterstützung bei meinem Bemühen, die Lehrtätigkeit und die Methoden von Standartenführer Scheller im Licht der heutigen Pädagogik zu bewerten und ihm eventuell die Anerkennung zukommen zu lassen, die er verdiente. Ich beschrieb mein Problem – ein kompletter Lebenslauf ist nur leblose Geschichte und keine wirkliche Hilfe dabei, einen Menschen zu verstehen. Außerdem versicherte ich, meine Studien so objektiv und unvoreingenommen wie nur möglich durchzuführen – „ergebnisoffen“ nennt man das heute wohl - und auf Wunsch die Namen meiner Gesprächspartner zu ändern.

Zwei Wochen später erhielt ich einen Brief ohne Absender aus Tschechien. Das Schreiben war sehr kurz gehalten; in gestochen scharfer Handschrift stand da: "“Der Kamerad hat sich einverstanden erklärt, mit Ihnen zu sprechen. Seien Sie am 16.9. um 09.00 in Passau. Man wird Sie am Bahnhof abholen. Ihr Schweigen über die Umstände des Treffens ist selbstverständlich.”"

Ich hatte den Brief gerade zu Ende gelesen, als Hartwig mich anrief und mir mitteilte, er müsse für einige Zeit verreisen. Er kam vorbei, gab mir seinen zweiten Hausschlüssel und bat mich darum, mich um seine Post und die Blumen zu kümmern. Über das Reiseziel wollte er nicht mehr sagen als “nach Österreich”. Als ich Hartwig fragte, wann er voraussichtlich zurückkommen würde -– da wären noch einige Termine, die ich selbst wahrnehmen müsste -– da schnaufte er kurz, schüttelte den Kopf -– eine Geste, die ich bisher noch nie bei ihm gesehen hatte und bei der ich unwillkürlich an ein Pferd denken musste - und sagte: “"Das hängt davon ab, wie schnell ich ans Ziel komme. Wenn ich es wüsste, hätte ich’s dir doch gesagt, oder?”"

 

 

Kommentare  

#1 Hermes 2011-03-17 17:46
Hhm, entwickelt sich ganz ordentlich weiter!

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