Sieben gegen die Hölle - Jan Falkenberg (Teil 1)
Sieben gegen die Hölle
Jan Falkenberg (Teil 1)
Links von ihm lag das Restaurant, dessen Tür sich unvermittelt öffnete. Ein älterer Mann trat heraus und blieb überrascht stehen. Es war Herr Lakic, der freundliche Wirt, welcher ihn kurz nach dem Erkennen anlächelte.
„Sie sind schon wach, Herr Falkenberg? Sind Sie aus dem Bett gefallen?“
Er ließ ein herzliches Lachen aufklingen. Jan war noch zu müde, um diese Fröhlichkeit teilen zu können, aber er hatte ein großes Programm vor sich heute und wollte vor allem ungestört bleiben dabei.
„So ähnlich, Herr Lakic, so ähnlich.“
Der Wirt sah auf seine Armbanduhr.
„Sechs Uhr in der Frühe. Alle Achtung. Leider kann ich ihnen noch nichts anbieten. Höchstens einen Kaffee.“
„Den nehme ich gerne.“
Lakic nickte.
„Gehen Sie nur rüber in die gute Stube. Dann bringe ich ihnen gleich eine Tasse.“
Ohne auf eine Antwort zu warten verschwand der ältere Mann. Jan ging hinüber in das kleine Restaurant, in dem zu dieser Uhrzeit noch nicht einmal die Tische gedeckt waren. Er ließ den Rucksack hinab gleiten und setzte sich an den erstbesten Tisch. Danach rieb er sich über die Augen. Er hatte das Gefühl, dass sie ihm gleich wieder zufallen würden. Tatsächlich wäre er fast eingenickt, aber die frohe Stimme seines Gastgebers riss ihn aus seinen Träumen.
„So, ihr Kaffee, Herr Falkenberg.“
„Danke.“
Er nippte daran und verzog anerkennend das Gesicht.
„Das ist ein echter Wachmacher.“
Wieder lachte der Wirt. Generell war dies sein Markenzeichen. Er verbreitete immer gute Laune, dass hatte Jan in den zwei Tagen, seit dem er sich hier eingenistet hatte, schon bemerkt.
„Das will ich wohl meinen. Marke Texas, das Hufeisen muss oben schwimmen.“
Jan nahm erneut einen Schluck des heißen Getränks. Tatsächlich spürte er die belebende Wirkung. Vielleicht bildete er sich das aber auch nur ein. Lakic stand immer noch vor seinem Tisch und sah ihn an.
„Verraten Sie mir auch, wohin Sie so früh aufbrechen wollen?“
„Klar, das ist schließlich kein Geheimnis. Ich möchte zum Frau Holle-Teich.“
„Und das mitten in der Nacht?“
„Jetzt bin ich mit Sicherheit noch alleine dort und kann in Ruhe arbeiten.“
„Arbeiten? Was wollen Sie denn dort arbeiten?“
Der Wirt legte seine Stirn in Falten, dann setzte er sich zu Jan an den Tisch.
„Ich schreibe an meiner Doktorarbeit. Sie müssen wissen, ich studiere Germanistik. Und mein Thema behandelt unter anderem, inwieweit die alten Sagen und Märchen auch heute noch Einfluss auf unsere Zeit haben. Und da ist natürlich auch der Zusammenhang zum Tourismus ein Aspekt.“
„Ah, ich verstehe. Das klingt interessant.“
Jan leerte die Tasse und stellte sie vor sich ab.
„Na ja, vor allem ist es viel Arbeit. Aber immerhin komme ich mal raus und muss nicht nur in meiner WG schreiben. Da ist es eh meistens zu turbulent um zu arbeiten.“
„Das glaube ich Ihnen. Dann viel Erfolg heute.“
„Danke.“
Die beiden Männer verabschiedeten sich und Jan verließ den Gasthof. Draußen war es noch kühl, aber die Wetterprognosen hatten einen sonnigen Tag verkündet. Der sechsundzwanzigjährige zog den Reißverschluss seiner Jacke bis oben hin zu und machte sich auf den Weg. Er wollte zu Fuß gehen, denn es waren nur knapp viereinhalb Kilometer. Dafür lohnte es sich nicht seinen alten, klapprigen Golf zu starten. Außerdem musste er bald tanken und bei den Preisen hatte er dazu keine Lust. Besonders als armer Student sollte man dort bald subventioniert werden, dachte er grinsend. Ein kühler Windstoß fuhr durch seine blonden Haare und trieb ihm Feuchtigkeit in das glatt rasierte Gesicht. Leider hatte er keine Kapuze, die er überziehen konnte. Zum Glück war seine Frisur aber immer so verstrubbelt, dass sie auch ein ausgewachsener Sturm nicht mehr hätte verschlimmern können. Seine Schritte führten ihn schnell aus Germerode hinaus. Hatte die Gemeinde Meißner schon nur knapp dreitausendzweihundert Einwohner, so lebten hier nicht einmal neunhundert. Es dauerte keine Viertelstunde, bis er die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte und er über die alte Kohlenstraße, vorbei an Feldern und Wiesen, das Waldgebiet erreichte, in dem der sagenumwobene Teich der Frau Holle lag. Die frische Luft tat ihm gut. Sie war ganz anders als im Ruhrpott, wo er eigentlich lebte und studierte. Dort waren selbst um diese Uhrzeit schon viele Menschen und Autos unterwegs und auch nachts wurde es weder komplett dunkel noch ganz still. Er genoss die Ruhe und freute sich sogar über das Zwitschern der Vögel, die den Tag begrüßten. Tief atmete er durch und mit jedem Schritt fühlte er sich besser. Die Müdigkeit war ganz von ihm abgefallen. Nach einer weiteren halben Stunde erreichte er das kleine Gewässer. Er war kaum mehr als zwanzig Meter breit und an seiner längsten Stelle erreichte er nicht mal fünfzig Meter. Er befand sich hier auf der Ostseite des hohen Meißners, dessen höchsten Punkt er auch noch besuchen wollte. Jetzt aber galt es erst einmal sich hier vor Ort ein paar Notizen zu machen, die er später für seine Doktorarbeit gebrauchen konnte. Außerdem wollte er auch einige Fotos machen. Er legte seinen Rucksack im flach abfallenden Uferbereich ab und wagte sich noch ein paar Schritte vor. Von hier aus konnte er die beiden Holzstatuen sehen, die Frau Holle darstellen sollten. Die eine eher grob bearbeitet und fast wie ein Schneemann aus Holz wirkend, die andere ein echtes Kunstwerk. Letztere zeigte Frau Holle als junge Frau, ein Kissen in der Hand haltend, während die erste Frau Holle älter darstellte. Direkt vor dem Wasser ging er in die Hocke und streckte kurz die Hand hinein. Schnell zog er sie wieder heraus und schüttelte sie. Obwohl die letzten Tage außergewöhnlich warm gewesen waren, lag der Teich kalt vor ihm. Er wusste, dass er von einer unterirdischen Quelle gespeist wurde, die ständig neun Grad Celsius kalt war.
„Kalt, nicht wahr?“
Er zuckte zusammen und sprang danach förmlich auf. Nur wenige Schritte von ihm entfernt stand eine junge Frau. Er hatte sie gar nicht gesehen, als er zum Teich gegangen war. Oder war sie erst jetzt dazu gekommen? Dann hatte er sie aber auch nicht gehört. War er so sehr in Gedanken gewesen? Wie auch immer, wenn er nicht weiter wie ein völliger Depp vor der hübschen Frau stehen wollte, sollte er langsam mal etwas sagen.
„Ja, sehr kalt.“
Gut, dass war nicht gerade die intelligenteste Erwiderung, aber immerhin hatte er seine Sprache wieder gefunden. Jetzt nahm er sich die Zeit die junge Frau zu betrachten. Sie mochte ein wenig jünger sein als er selbst, schätzte er. Und ebenso wie er hatte auch sie blonde Haare, allerdings wesentlich länger. Sie fielen ihr bis über die Schultern und ihre Farbe erinnerte ihn mit seinem Glanz an ein Weizenfeld in voller Pracht. Sie war schlank und hatte ein auffallend hübsches Gesicht. Anscheinend hatte er sie zu lange angestarrt, denn sie lächelte ihn süffisant an.
„Und? Zufrieden mit dem Ergebnis?“
„Was für ein Ergebnis?“
„Na, Ihre Betrachtung meiner Wenigkeit.“
„Oh, entschuldigen Sie, ich wollte nicht ...“
Sie lachte auf.
„Keine Sorge, alles okay.“
Sie kam auf ihn zu und hielt ihm die Hand hin.
„Helena. Helena Boda.“
Er ergriff ihre Hand und schüttelte sie. Ihre Finger waren zart.
„Jan Falkenberg.“
„Freut mich. Nun, Jan Falkenberg, darf ich fragen, was du hier machst?“
Sie war direkt zu der vertrauten Anrede übergegangen, was ihn auch gar nicht störte. Im Gegenteil, die junge Frau war ihm auf Anhieb sympathisch.
„Ich? Oh, ich arbeite an meiner Doktorarbeit.“
„So sieht das aus? Ich hätte eher getippt, dass du dir gerade die Hände wäscht.“
Wieder zeigte sie dieses süffisante Lächeln, das ihn so nervös machte.
„Also ich schreibe an einer Doktorarbeit über die alten Sagen und Märchen und ihre Auswirkungen auf die heutige Zeit. Und da ist dieser Ort natürlich optimal, musst du zugeben. Wenn auch reichlich kalt am frühen Morgen.“
„Da hast du Recht. Mit beiden Sachen.“
Sie legte die Arme um ihren Körper und erst jetzt fiel ihm die für Zeit und Ort unpassende Kleidung der Frau auf. Sie trug ein sommerliches Kleid aus weißem Stoff, in das goldene Fäden eingearbeitet zu sein schienen. Immer wenn ein Lichtstrahl darauf fiel, glitzerte es auf. Später, wenn die Sonne schien, würde das Kleidungsstück angemessen sein, aber jetzt doch noch nicht. Er stutzte. Irgendetwas an dieser Person kam ihm komisch vor. Er konnte nicht sagen, was es war, dennoch beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Bevor er darüber nachdenken konnte, sprach sie ihn wieder an.
„Ich kenne mich gut hier aus. Wenn du Fragen hast, dann kannst du sie ruhig stellen.“
„Danke für das Angebot. Ich komme gerne darauf zurück. Wohnst du denn hier in der Nähe?“
„Ja, im Landhotel Meißnerhof.“
„Echt?“
„Ja, warum fragst du?“
„Weil ich auch dort wohne.“
„Na, das ist ja eine Überraschung.“
Das war es tatsächlich, denn in den zwei Tagen, die er dort übernachtet hatte, war ihm Helena Boda nicht aufgefallen. Und über so viele Zimmer verfügte das kleine Hotel doch auch nicht. Dazu nur das eine Restaurant. Eigentlich hätte er sie schon gesehen haben müssen. Andererseits, wenn sie nicht im Restaurant aß, konnte es schon gut sein, dass sie sich bisher nicht über den Weg gelaufen waren. Die Zimmer hatte er schließlich nicht durchsucht.
„Du, sei mir nicht böse, aber mir wird langsam doch frisch. Wir können gerne heute abend etwas zusammen trinken und uns unterhalten. Wenn du möchtest, meine ich.“
Er nickte.
„Klar, gerne. Wo treffen wir uns?“
„Ganz einfach an der Bar im Hotel. Um 22 Uhr?“
„So spät?“
Sie entfernte sich schon langsam von ihm
„Ja, ich habe noch viel zu erledigen heute. Also einverstanden?“
„Einverstanden.“
„Super.“
Sie winkte ihm noch einmal zu, dann verschwand sie hinter einigen Bäumen und er konnte sie nicht mehr sehen. Er schüttelte den Kopf. Manchmal traf man Menschen an den Orten, an denen man sie am allerwenigsten erwartete. Er ging wieder zu seinem Rucksack und nahm seinen Notizblock heraus. Dort hatte er sich schon ein paar Notizen zu dem Teich gemacht, die er jetzt noch ergänzen würde. Unter anderem stand dort auch einiges zu der Legende, die den Teich umgab. Er sollte angeblich unendlich tief sein und den Eingang zu Frau Holles Reich darstellen. Nun, das würde er bei den Wassertemperaturen ganz sicher nicht testen. Plötzlich hörte er ein Rauschen. Er hob den Blick von seinem Notizzettel, doch er entdeckte nichts. Trotzdem wurde das Rauschen immer lauter. Er drehte sich um die eigene Achse, doch immer noch nicht konnte er die Ursache dieses Geräuschs erkennen. Dann schoss etwas mit gewaltiger Geschwindigkeit von hinten kommend flach über seinen Kopf hinweg. Er taumelte nach vorne. Beinahe wäre er gestürzt, doch er konnte sich gerade noch fangen und knickte nur mit einem Knie leicht ein. Mit einem schnellen Schritt stand er wieder fest auf zwei Beinen. Und jetzt endlich konnte er sehen, was ihn da beinahe zu Boden geworfen hatte.
„Oh mein Gott“, entfuhr es ihm.
Auf der anderen Seite des Frau Holle-Teichs zog ein gewaltiger Adler seine Kreise durch die Lüfte. Seine Spannweite war riesig, wahrscheinlich mehr als drei Meter, schätzte er. Aber das war unmöglich. So große Adler gab es hier nicht. Trotzdem war das riesige Tier keine dreißig Meter von ihm entfernt. Wie gebannt starrten sie sich gegenseitig an. Trotz der Distanz zwischen sich konnte er die Augen des Königs der Lüfte deutlich erkennen. Sie schienen gelb zu leuchten und ihn dabei böse anzufunkeln. Wenn ihn dieses Tier als Beute ansah, dann würde er vor großen Problemen stehen. Langsam und ohne sich umzudrehen, ging er rückwärts. Mit mächtigen Schwingenschlägen verharrte der Adler an seiner Position. Mit einem Mal ließ er ein lautes Schreien hören. Jan ließ den Notizblock fallen und presste beide Hände auf die Ohren. Trotzdem glaubte er, dass sein Trommelfell jeden Moment zerreißen müsste. Er krümmte sich unter diesem Schrei zusammen. Dann schoss der Adler auf ihn zu. Im letzten Moment ließ Jan sich zu Boden fallen. Sofort rollte er sich herum. Der Adler schoss dem Himmel entgegen. Dabei drehte er noch einmal den Kopf, kehrte aber nicht mehr um. Nach einem letzten Schrei verschwand er in den Wolken.
Jan zitterte am ganzen Körper. Was war das jetzt gewesen? So ein Tier konnte es gar nicht geben. Und Adler griffen für gewöhnlich auch keine Menschen an. Immer noch von Angst erfüllt rappelte er sich auf und stand dann auf wackligen Beinen. Seine Knie zitterten. Tief atmete er durch. Das war verdammt knapp gewesen. Für heute hatte er eindeutig genug von der Schönheit der Natur. Schnell sammelte er seine Notizen ein und verstaute sie im Rucksack. Den Blick immer wieder gen Himmel richtend, machte er sich auf den Rückweg zum Gasthof. Zum Glück blieb der Riesenadler verschwunden. Auf jeden Fall hatte er etwas, dass er heute abend Helena erzählen konnte. Aber würde sie ihm glauben?
Kommentare
Der Meißner ist wirklich mal eine Reise wert, auch wenn gerade kein Mundus droht. Aber irgendwie kann man in der Atmosphäre tatsächlich spüren, wieso die Ahnen vor 2000 Jahren hier an Odin und Co. geglaubt haben. Ich habe versucht, mir den Berg ohne die Zerstörungen durch den Kohleabbau vorzustellen. Wenn das gelingt, ist das wie ein Dimensionstor.