Sieben gegen die Hölle - Lai (Teil 1)
Sieben gegen die Hölle
Als wären sie aus den Maschen entstanden, zwei links, zwei rechts, ein Prinz, eine fallen lassen, das Monster ist tot, eine Reihe beendet, die Geschichte nimmt eine Wendung, das Muster entfaltet sich wie sich die Erzählung entfaltet und Gestalt annimmt. Die Geschichte endet mit der letzten Masche, das Ende, das Vernähen des Fadens, der Pullover ist fertig und wir fast am Einschlafen.
Vielleicht wäre es noch schöner gewesen, wenn wir irgendwo auf dem Land gelebt hätten, in einem alten Bauernhaus mit offenem Kamin und einem flackernden Feuer, das schattenhafte Monster an die Wände geworfen hätte, die von Maschenprinzen besiegt worden wären. Der Sturmwind wäre um das Haus geheult, das Holz hätte geknarrt und gekracht, während unsere Großmutter in einem gleichmäßigen Rhythmus weitergeklappert und so einen Zauberbann gewebt hätte, der alles Böse von uns fern hielt. Vielleicht stimmte sogar letzteres.
Damals saßen wir jedoch in einem hellerleuchteten Wohnzimmer mit einer großen dunklen Schrankwand voller Geheimnisse und einem alten Ecksofa, mit einem Tisch, an dem die ganze Familie Platz gehabt hatte. Oma saß in ihrem Sessel, Opa auf dem Sofa und blätterte den ganzen Abend in den unzähligen Zeitungen, die sie überall zu haben schienen. So wie Oma strickte und erzählte, so las Opa in meinem Erinnerungen Zeitung.
Meine Mutter erzählte keine Geschichten, meine Eltern waren viel beschäftigte arbeitende Menschen. Sie gaben mir und meinem Bruder ein Dach über den Kopf, Essen auf den Tisch und Kleidung. Sie sorgten für uns und liebten uns auch. Auch wenn es nicht immer einfach war. Doch Geschichten haben wir nie bekommen. Als ich dies einmal meiner Großmutter erzählte, in einer dahingeworfen Bemerkung, darüber, dass ich gerne ihre Geschichten hörte, die ich zu Hause nicht bekam, war sie einen Moment traurig. Doch dann lächelte sie wieder wie immer und der Moment war so schnell vergangen, dass ich es lange Zeit glaubte mir eingebildet zu haben. Aber vielleicht hatte es sie wirklich traurig gestimmt, denn das Erbe war nicht übergesprungen und vielleicht nicht weitergegeben worden. Keiner würde mehr ihre Geschichten erzählen, denn Geschichten erzählen lag mir nicht. So dachte ich zumindest für lange Zeit.
Es war an einem nebeligen Tag, einer solcher Tage, die nie wirklich begonnen haben. Der Himmel war grau-weiß mit Wolken in einem dunkleren Grau, am Horizont türmten sie sich auf. Hinter den Bergen vergraben versuchten sie nach der Welt jenseits zu greifen. Der Wind versuchte sie zu verdrängen, zur Seite zu fegen, doch Stück für Stück eroberten sie sich das Gebiet. Über dem Boden lagen noch einzelne Schlieren in mattem Weiß, die der Welt eine trübe Färbung gaben. Ein ständiger Schleier über dem Sichtfeld, der einen in Versuchung trieb, ständig die eigene Brille oder Linsen zu putzen. Die Luft war kalt und klamm, die letzten Tage hatten nur Regen gebracht.
An jenem fast mystischen Tag glaubte man zu sehen, dass sich Schatten in den Wolken bewegen, und meinte das Heulen von Wölfen zu hören, die schon lange nicht mehr existierten. An eben jenem Tag erreichte mich eine Kiste, nicht mehr als ein Schuhkarton im Format, eingeschlagen in das typische dunkelbraune Packpapier. Doch nicht das ebengleiche Klebeband hielt die Lagen zusammen, sondern altmodisch eine graue, faserige Paketschnur. Die Ecken waren abgegriffen, aber nicht eingerissen. Hier und da waren dunkle Flecken zu sehen, aber immer sorgsam schon fast von der Schrift ein Stück entfernt. Als wäre das Paket oft angefasst und verräumt worden, aber immer mit größter Achtsamkeit. Die kunstvolle Handschrift erkannte ich sofort, es war die meiner Großmutter. Für einen Moment musste ich mich setzen.
Vor zwei Jahren war sie verstorben, hatte die ewig klappernden Nadeln und die endlosen Geschichten mit sich genommen. An ihre Stelle waren Kälte und Dunkelheit getreten, keine hellerleuchteten Wohnzimmer, kein Großvater mit den Zeitungen und kein Lächeln mehr auf dem runden Gesicht. Ich vermisste sie sehr, auch wenn ich sie die letzten Jahre nicht mehr so oft gesehen habe, wie ich es gern gewollt hätte.
Und nun hatte ich Post, von ihr. Ich strich sanft darüber und schaute genau hin. Die Schrift und der Poststempel waren leicht vergilbt. Hatte es solange bei der Post gelegen und nur jetzt den Weg zu mir gefunden? Hatte es jemand einfach dagelassen, einsam an der Schwelle zu meiner Wohnungstür? Verwandte, die es bei sich gefunden hätten, hätten sicherlich vorher angerufen oder geklingelt oder auf eine anderen Wege eine Nachricht hinterlassen.
Ein plötzliches Krah ließ mich zusammenzucken. Meine Wohnung war nicht sehr groß, zu meiner Linken lag gleich der Balkon, die Tür stand leicht offen, um ein wenig der kühlen Luft hereinzulassen. Ein Rabe hatte sich auf der Brüstung niedergelassen und hatte den Kopf in meine Richtung gedreht. Raben waren seltsame Tiere. Majestätisch, intelligent und immer da. Ich hatte schon oft hier Raben gesehen. Immer wieder, in einem Baum, auf dem Dach, sitzend, schweigend, manchmal krähend. Ich wunderte mich immer über die Menschen, die noch nie einen wirklichen Raben aus der Nähe gesehen hatten. Doch für mich waren sie immer in der Nähe. Ich starrte meinen Besucher an. Irrte ich mich oder erwiderte er den Blick? Ich schüttelte den Kopf, der Rabe krächzte noch einmal, es klang wie ein heiseres Lachen, und mit schnellen Flügelschlägen verschwand er in einer Wand aus Dunst und Nebel. Ich schaute ihm noch einen Moment hinter her.
Ich blickte in den dichter werdenden Nebel. Ich vermochte nicht zu sagen, wie spät am Tag es war, alles erschien losgelöst von der wirklichen Welt. Als hätten die Wolken eine Mauer gezogen, und das Dorf, in dem ich lebte, einfach an einen anderen Punkt in Raum und Zeit transferiert, vielleicht auch nur mich, denn einen weiteren Menschen sah nicht auf der Straße. Ich schloss die Balkontür und drehte mich zurück zum Paket. Ich ging daran vorbei, zum Kühlschrank der Wohnküche, und wollte einen Kaffee machen.
Als ich die schwarze Blechdose mit Kaffeepulver herausziehen wollte, fiel mein Blick auf den Whiskey, der noch auf der Anrichte stand. Nicht der beste, neumodisch mit Honig versehen. Ich entschied, das ich etwas Stärkeres brauchte. Ich holte ein Glas, ließ einen Eiswürfel mit einem leisen Pling hineinfallen und umspülte ihn mit zwei Fingerbreit der goldgelben Flüssigkeit. Ich nahm einen Schluck und ließ ihn einen Augenblick auf der Zunge ruhen, bevor ich ihn hinunterschluckte. Es brannte einen Augenblick in der Kehle und dann zog er sich als warme Spur einmal durch den kompletten Oberkörper und legte sich mit einem beruhigenden Gefühl auf den Magen. Meine Muskeln und meine Nerven entspannten sich, beschworen für einen Moment die Bilder der Vergangenheit herauf und spülten sie dann fort in die Gegenwart. Dass ich die Augen geschlossen hatte, bemerkte ich erst, als ich sie wieder öffnete und das fahle Licht betrachtete, das sich träge durch den Raum ergoss. In der Mitte der Lichtachse aus Fenster und Tür stand das Paket, ein wenig anklagend. Ich musste lächeln.
Ich stellte das Glas neben mich und holte die Schere aus der Schublade. Die Schnur war schnell vernichtet, das Paketpapier auch. Vorsichtig war ich mit dem Teil der Adresse, die Handschrift meiner Oma winkte mir entgegen. Was war in dem Whiskey noch alles gewesen? Meine Finger zitterten, als ich den Deckel der sonst einfachen weißen Kiste hob. Seidenpapier erwartete mich, Unmengen von Seidenpapier, ein kleiner schwarzer Holzkasten. Die Oberfläche aus Lack, ohne jegliche Spur oder einen Fingerabdruck. Behutsam hob ich ihn heraus. In der Mitte prangte ein Baum. Ein seltsamer Baum. Voller Schlieren und Muster, ineinander verwoben und verschlungen. Ohne Ende und Anfang. Ewig. Etwas kroch bei dem Gedanken eiskalt den Rücken einmal rauf und dann wieder hinunter, ein langsames Gleiten, das genug Zeit ließ, dass die Kälte durch sämtliche Adern kroch und sich überall festsetzte. Ich fröstelte, meine Armhärchen stellten sich auf und die Haut zog sich unangenehm zusammen. Ich hob den Deckel und schloss erneut die Augen.
Meine Familiengeschichte beginnt irgendwann in der Zeit. In einer längst vergangenen Zeit, wie so viele Familiengeschichten. Wir können unsere Ahnen nicht anhand von Stammbäumen in die graue Vorzeit der Zivilisationen zurück verfolgen, wir haben kein Familienwappen, das sich auf irgendwelchen Dokumenten, die man datieren kann, wiederfindet. Wir gehören einem Geschlecht an, das eine Zeitlang überall war und dann verschwand, im Schleier der Zeit, entschwunden, als andere Bedürfnisse für die Menschen wichtiger wurden.
Geschichten sind das Erbe meiner Familie. Manche behaupten, Scheherezade war eine von uns. Sicherlich die Minnesänger und das fahrende Volk des Mittelalters, das überall umherwanderte und seine Geschichten als Ware feilbot. Doch unsere Geschichten sind nicht die Legenden und Märchen, die die Menschen heute kennen, die alten Sagen des Altertums, oder Mythos aus dem nordischen Land. Vielleicht doch ein bisschen. Ein bisschen von allem. Für uns sind die Götter wahr. Wir berichten von ihnen, als könnte man sie berühren, nicht als wären ihre Legenden nur ein Weg, um die Naturgewalten sich verständlich zu machen. Es gibt sie. Sie sind unter uns. In der Luft, dem Wind, dem Wasser und der Erde. Viele schlafend, manche wartend, lauernd, bereit zuzuschlagen, wenn wir einmal nicht mehr auf der Hut sind, wenn wir aufhören, ihre Geschichten zu erzählen und somit ihre Schwächen kundzutun. Dann, wenn wir sie vergessen haben und keine Macht mehr kennen, die gegen sie wirken könnten. Dann werden sie zurückkehren und wieder das ihr eigen nennen, auf das sie einmal schon den Anspruch gehabt hatten. Die Welt der Menschen.
Doch die Geschichtenweber sind nur noch wenige. Das Erbe und das Blut sind dünn geworden, verwässert und im Strom der Zeit langsam vergessen, eine Illusion, eine Mär.
Meine Mutter hatte bereits nicht mehr erzählen können, aus ihrem Mund kam kein festes Gewebe, keine Wahrheit, nur ein flaches Konstrukt, das nichts nur noch enthielt.
Ich öffnete meine Augen und starrte auf den goldenen Schlüssel, der sonst immer an einer langen Kette am Busen meiner Großmutter geruht hatte. Sie hatte nie gerne den Name Zunft verwendet oder Gilde, und doch war das der Schlüssel zu den Toren eben jenes Hauses, das uns einmal beherbergt hatte. Ein Haus, das es den Erzählungen nach nicht mehr gab. Einst niedergebrannt und nie wieder aufgebaut. Schlüssel und Schloss waren verblieben. Der, der den Schlüssel trug, war der Meister, der Vorstand, der Kopf. Die Person, die das Schloss hatte, der Hüter des Eingangs, der Wahrer der Geheimnisse und auch der Prüfer.
Ich nahm den Schlüssel heraus und drehte ihn in meinen Händen. Er war alt und angekratzt, hatte sich an manchen Stellen bereit verfärbt. Ratlos starrte ich ihn an. Was sollte ich nun damit tun? Was wollte mir meine Großmutter damit sagen? Mein Blick fiel auf das Stück Packpapier, das die Adresse hatte. Es war nicht der Name meiner Oma als Absender, sondern ein männlicher Name,, ein Mann, der irgendwo in Hamburg lebte. Darunter eine Telefonnummer. Warum hatte ich das nicht gleich bemerkt? Aber die Handschrift war eindeutig die von Oma. Für einen Augenblick wollte ich mich gegen das stemmen, das ich im Begriff war zu tun, doch es währte nicht lange. Mit einem Seufzen ließ ich den Schlüssel wieder in die Holzkiste gleiten und stand dann auf, mein Telefon zu holen. Als ich dem Freizeichen lauschte, in der vagen Hoffnung, dass niemand abheben würde, wusste ich, das ich heute Morgen nicht hätte aufstehen sollen.
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