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Sieben gegen die Hölle - Sarasvati Galadriel Clausnitzer (Teil 1)

Sieben gegen die HölleSieben gegen die Hölle

Sarasvati Galadriel Clausnitzer (Teil 1)
„Jetzt komm mal wieder 'runter und rede vernünftig mit mir, klar?“

Niemand beachtete die schlanke junge Frau mit den hennaroten, schulterlangen Haaren, die vor dem Eingang zur Stadtbibliothek von Worms stand und zum Siegfriedbrunnen hinüber schaute. Ihre Nase war etwas zu groß, ihr Kinn ein wenig zu spitz und ihre Brüste zu klein, um auf Anhieb Köpfe zu verdrehen. Zwar sprach sie in die Luft, aber das Smartphone an ihrem Ohr garantierte ihr Privatsphäre.


Man konnte ja nicht sehen, dass es nicht eingeschaltet war. Denn die Stimme, mit der sie sich unterhielt, erklang in ihrem Kopf.

„Dir muss doch klar sein, dass du so was nicht andauernd mit mir abziehen kannst.“ Sie schwankte und verzog das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse. „Ja, klar, du kriegst das hin. Jederzeit, überall. Aber ich halte es nicht aus! Ich gehe daran kaputt, und dann kannst du dir eine andere Dumme suchen. He, Moment mal … genau das kannst du eben nicht. Hat ja schließlich die letzten Jahrhunderte über auch nicht soo gut funktioniert. Du hast keine große Auswahl, oder?“

***

Sarasvati Galadriel Clausnitzer hasste ihren Namen seit der Grundschule und stellte sich, wenn es denn nötig wurde, als „Sara“ vor. Zu wirklich besonderen Gelegenheiten auch schon mal als Sarasvati, aber nie, nie, niemals als Galadriel. Das war freilich kein Grund, den Verstand zu verlieren. Und so schlimm war der Film eigentlich auch wieder nicht gewesen …

Ihr aktuelles Problem hatte im Campus-Kino angefangen, als sie mit Freunden die „Avengers“ gesehen hatte. Es begann mit Tom Hiddlestons Auftritt und dem unbestimmten Gefühl, dass da etwas nicht in Ordnung war.

Der Schauspieler sah nicht aus wie Loki.

Sara wusste das ganz einfach, auch wenn sie andererseits keine genaue Vorstellung hatte, wie der nordische Gott der List denn eigentlich hätte aussehen sollen … aber so jedenfalls nicht. Und das fing schon mit der Rüstung an. Grün und Gold? Einfach lachhaft. Kein Gott mit einem Hauch von Selbstachtung würde so etwas tragen. Na schön, vielleicht eine Göttin der Asen, falls sie sich gerade für gute Ernten zuständig fühlen sollte, aber ganz gewiss nicht der listenreiche Laufey-Sohn, Meister der Täuschung und Eidbruder des Allvaters!

Das war der Moment, in dem Sara sich fragte, woher sie eigentlich so viel über die Götter des Nordens wusste - oder eher zu wissen glaubte. Schließlich hatte sie sich nie besonders für dieses ganze alte Zeug interessiert, eigentlich nur ein einziges Mal, und auch dann nur ganz kurz. Da ließ nämlich ihr damaliger Freund Klaus seine Haare lang wachsen und hängte sich ein silbernes Hammeramulett um den Hals, um dann bei allen möglichen Gelegenheiten Thor um Kraft zu bitten. Für gewöhnlich tat Klaus das in Situationen, in denen ihm ein wenig mehr Vernunft und Überlegung deutlich besser geholfen hätten, aber das war nun mal nicht Thors Ressort. Und zu viel Nachdenken war ja sowieso unmännlich. Sara hatte diese Beziehung dann auch recht schnell beendet, denn der neue Klaus war ihr nicht mehr ganz geheuer.

***

Im Film hatte sie inzwischen den Anschluss verloren. Der unechte Loki befahl einer Menschenmenge „Kniet nieder!“ und hielt ihnen dann einen Vortrag darüber, dass sie geschaffen worden seien, um beherrscht zu werden.

Auch das fühlte sich falsch an. Sicher, Loki würde wohl Respekt verlangen von den Sterblichen, aber nicht diese Art der Unterwerfung. Blinden Gehorsam hatte er immer schon verachtet.

Ganz im Gegensatz zu …

Und wie aufs Stichwort erschien Thor auf der Leinwand. Ein Meter neunzig selbstverliebte Arroganz mit einem Hammer. Thor, der seinem ersten Filmgegner mit einer Handvoll Blitzen durchaus unbeabsichtigt sogar noch mehr Macht schenkte als dieser zu Anfang gehabt hatte. Thor, der so außerordentlich vorhersagbare Sohn Odins. Thor, der seinen Hammer Mjollnir überhaupt nur durch eine von Loki ersonnene Täuschung von den Riesen wiedererlangen konnte, als die ihn gestohlen und versteckt hatten.

Sara schüttelte den Kopf. Eigentlich war es sinnlos, noch länger hier im Hörsaal zu sitzen und so zu tun, als ob sie sich den Film ansähe. In ihrem Kopf wirbelten Eindrücke durcheinander, und eine furchtbare Migräne schien sich gerade warm zu machen. Ein Spaziergang über den nächtlichen Campus könnte jetzt gerade sehr hilfreich sein, entschied sie. Sara beugte sich zu ihrer Freundin Ingrid und flüsterte ihr ins Ohr: „Mir ist ein bisschen schwindlig. Ich gehe mal kurz 'raus und schnappe Luft, okay?“

Ingrid drehte den Kopf, musterte sie einen Augenblick lang und antwortete „Klar. Falls es länger dauert: Wir gehen danach noch ins Bohemien. Vielleicht könntest du uns da einen Tisch freihalten?“

Sara grinste. „Ich glaube, das krieg' ich so eben noch hin.“ Dann stand sie auf und bewegte sich, Entschuldigungen murmelnd, seitlich durch die Sitzreihe zum Seitengang und aus dem Hörsaal hinaus. Im Forum entschied sie sich dafür, doch erst die Toilette zu suchen – eine Hand voll kaltes Wasser reichte vielleicht schon aus, um den Kopf wieder klar zu bekommen.

***

„Sei gegrüßt, Blut von meinem Blut.“

Sara erstarrte beim Klang der rauhen, heiseren Stimme. Gerade noch hatte sie sich über das Waschbecken gebeugt und die Hände in den Sichtbereich des Sensorfeldes gehalten, das daraufhin Wasser aus dem Hahn laufen ließ. Jetzt wirbelte sie herum und hob abwehrend die Hände, drängte sich mit dem Rücken gegen die Wand und ihr Blick suchte nach dem Eindringling, aber ...

Aber da war niemand. Die Kabinen waren leer.

„Ganz so einfach ist es nicht für mich, dich zu besuchen“, ließ die Stimme Sara wissen. Hilflos und Rat suchend drehte sie den Kopf, und dann sah sie das nahezu transparente fremde Gesicht im Spiegel hinter sich - und Sara erkannte es, ohne es je vorher gesehen zu haben. Die rotblonden Haare, offen und zerzaust, die fast unsichtbaren Brauen über bernsteingelben Augen, die lange Nase mit dem schmalen Rücken, der Mund mit den dünnen Lippen und der Kinnbart. „Du bist Loki“, hauchte sie ungläubig.

„Ich bin Loki Laufeys Sohn.“ Dünne Lippen verzogen sich zu einem bemühten Lächeln. „Dein Urahn.“

So war das also, wenn man den Verstand verlor. Ein Kichern stieg aus Saras Zwerchfell empor, das sich schnell zu einem schallenden Lachen steigerte und ihren Körper schüttelte. Das Lächeln schwand aus Lokis Antlitz, und die Stimme krächzte: „Es tut mir leid, Sarasvati Galadriel Clausnitzer. Es tut mir sehr leid, dass ich dir das antun muss. Aber nur so kannst du verstehen.“

Der Schmerz, der darauf folgte, war unbeschreiblich. Hätte man Sara bei vollem Bewusstsein skalpiert und geschmolzenes Blei in die offene Wunde gegossen, dann müsste sich das wohl wie ein ganz schwacher Vorgeschmack auf das anfühlen, was sie jetzt gerade durchlitt. Nur ein Hauch mehr von dieser Qual, und ihr Verstand würde sich kreischend in Nichts auflösen – und dann war der Schmerz fort und hinterließ nur donnernde Stille in ihrem Kopf.

Sie hielt sich mit beiden Händen am Waschbecken fest und erbrach sich, lange und schmerzhaft, gleichzeitig kämpfte sie verzweifelt darum, jetzt nicht das Bewusstsein zu verlieren. Ganz schwach fühlte sie den Inhalt ihrer Blase warm und feucht an ihrem Bein hinunterlaufen.

„Warum?“ wimmerte Sara. „Warum machst du das mit mir?“

„Das ist meine Strafe für Balders Tod. Ein Tod, an dem ich keine Schuld trage. Und ich bitte dich um Hilfe und um Erlösung davon.“ erklärte Lokis Stimme.

„Du hättest doch einfach fragen können ...“

„Früher habe ich das getan. Ich habe meine Nachfahren um Hilfe gebeten – oder jedenfalls die wenigen von ihnen, zu denen mein Geist sprechen konnte. Meistens wollten sie erst einmal wissen, was denn für sie dabei herausspringt.

Den ersten konnte ich nur meine Dankbarkeit anbieten, und das war ihnen nicht genug. Erst das Angebot, meinen Schmerz für den Rest ihres Lebens mit ihnen zu teilen, stimmte sie ein wenig hilfsbereiter. Aber … sie hatten keinen Erfolg.“

Sara ließ inzwischen kaltes Wasser über ihre Hände laufen und wischte sich über die Stirn.

„Bitte, Loki. Lass uns später weiter reden. Ich muss nach Hause und 'raus aus diesen Sachen.“

„Natürlich. Ich kann dich ja überall finden ...“

***

Zu Hause stellte Sara sich lange unter die Dusche, ehe sie sich in frischer Wäsche auf dem Sitzsack in ihrem Wohnzimmer niederließ. Dann stellte sie sich dem Unvermeidlichen. „Also, Loki? Lass uns reden. Wie soll ich es schaffen, dich zu … erlösen? Erwartest du, dass ich den wahren Mörder Baldurs finde?“

Die Stimme meldete sich erneut in ihrem Kopf. „Nein. Ich glaube nicht, dass dir das gelingen könnte, Blut von meinem Blut. Ich bitte dich, ein Pfand zu beschaffen, das ich den Asen im Tausch gegen meine Freiheit anbieten kann.“

„Und was wäre den Asen so viel wert?“

„Das Schwert von Sigurd, dem Drachentöter. Das Schwert, das ihm die Söhne Niflungs als Lohn gaben für seinen Dienst als Schiedsmann in ihrem Erbstreit. Das Schwert, mit dem Sigurd zuerst ihre Riesen erschlug und dann sie selbst, als sie ihn angriffen. Das Schwert Balmung.“

Ungläubig schüttelte Sara den Kopf. „Aber … das ist nur eine Sage! Es gibt keine Drachen, keine Riesen, keine … “

„Doch, Sarasvati. Früher, als unsere Welten noch ineinander verwoben waren, da gab es all das. Und es ist noch so manches übrig, das ihr euch nur weigert zu sehen.“

„Schön. Aber das muss doch Jahrtausende her sein! Selbst wenn dieses Schwert sich inzwischen nicht in einen Klumpen Rost verwandelt hat – wenn die Asen Balmung haben wollten, da hätten sie es sich doch schon vor unglaublich vielen Jahren holen können?“

„Sie wissen noch nicht, dass sie den Balmung brauchen werden. Und wenn es ihnen klar wird, dann musst du das Schwert bereits haben und es ihnen im Tausch für meine Freiheit anbieten. Wenn mein Eidbruder Odin sein Wort gibt, dann werde ich frei sein.“

„Augenblick mal. Wie viel Zeit habe ich?“ hakte Sara nach. „Und warum werden sie es jetzt auf einmal brauchen?“

Als Loki ihr den Grund nannte, blieb ihr zunächst der Mund offen stehen.

***

„Du erwartest also von mir, dass ich innerhalb von nicht mal zwei Monaten ein sagenhaftes Schwert finde, das seit über tausend Jahren verschwunden ist. Und sobald ich es dann habe, soll ich damit an den Arsch der Welt fahren und es den alten Göttern zum Tausch anbieten, damit sie sich darum kümmern können, dass das Tor zur Hölle verschlossen bleibt.“ Sara bedeckte ihr Gesicht mit der Hand, empört und verzweifelt zugleich angesichts dieser Aufgabe. „Ja, brat mir doch lieber gleich den Schädel! Da hab' ich's dann wenigstens hinter mir!“

„Falls es getan werden kann, dann kannst du es auch tun“, konterte Loki kühl. „Also nimm dich zusammen und fang an, deine Fähigkeiten für die Suche einzusetzen anstatt damit weiter auf Kindergeburtstagen aufzutreten!“

„Hallo? Ein paar Zaubertricks für Taschenspieler und ein bisschen Bauchreden machen mich also zur Retterin der Welt? Geht's noch?“

„Täuschung und List waren immer meine Waffen, und mehr als einmal haben sie den Asen gegen Feinde geholfen, denen Schwerter oder Speere nichts anhaben konnten. Sie werden auch dir nützlich sein - wenn du sie richtig einsetzt. Und jetzt los! Es ist ein weiter Ritt nach Ungarn zu Attilas Halle.“

„Ja. Richtig. Ungarn. Da werde ich erst mal nicht hin reiten.“ Diesmal baute sich der Schmerz langsam auf wie eine Welle, die riesig und unaufhaltsam auf den Strand zu rollt. Hastig fuhr Sara fort: „Ich glaube, nicht mal die Ungarn wissen, wo Attilas Halle stand – geschweige denn wo er begraben liegt. Lass mich doch wenigstens mal einen anderen Ansatz ausprobieren, verdammt!“

***

Die kleine esoterische Buchhandlung mit Antiquariat, die Sara im Namen ihrer Mutter führte, blieb in den nächsten Tagen „wegen Krankheit geschlossen“. Die Stammkunden wunderten sich nicht darüber, denn sie wussten, dass Saras Eltern in Goa überwinterten und erst mit Einbruch des Frühlings zurückkommen würden. Wenn Sara also krank wurde, dann musste der Laden eben geschlossen bleiben, bis es ihr wieder besser ging.

Kommentare  

#1 Pisanelli 2013-11-09 13:54
Das gefällt mir ganz gut. Finde allerdings, dass Sara die neue doch sehr irreale Situation mit Loki ein wenig zu schnell akzeptiert. Gewöhnliche Menschen würden sich doch vermutlich erstmal fragen, ob sie nicht einen an der Waffel hätten und ganz sicher würde sie sich erstmal weigern, irgendwelche Aufgaben von obskuren angeblichen Göttern zu erfüllen, die schon ewig nicht mehr existieren... oder? Ich würde jedenfalls erstmal überlegen, wer mir da einen Streich spielen will - außer, ich hätte schon immer einen Hang zum Übernatürlichen gehabt, aber das scheint bei Sara ja jetzt nicht der Fall gewesen zu sein. Sprachlich finde ich das hier angenehm.
#2 Kerstin 2013-11-09 14:27
Naja, wenn sie mit ihrer Mutter einen esoterischen Buchladen mit Antiquariat betreibt, hat Sara sicher schon so das eine oder andere Übernatürliche zumindest theoretisch kennen gelernt. Auch wenn sie den durchgeknallten Freund abserviert hat, heißt das ja nicht, dass sie der Sache an sich negativ gegenüber eingestellt ist.
#3 Larandil 2013-11-09 15:49
zitiere Pisanelli:
Finde allerdings, dass Sara die neue doch sehr irreale Situation mit Loki ein wenig zu schnell akzeptiert. Gewöhnliche Menschen würden sich doch vermutlich erstmal fragen, ob sie nicht einen an der Waffel hätten und ganz sicher würde sie sich erstmal weigern, irgendwelche Aufgaben von obskuren angeblichen Göttern zu erfüllen, die schon ewig nicht mehr existieren... oder? Ich würde jedenfalls erstmal überlegen, wer mir da einen Streich spielen will

Ob's nun ein heidnischer Gott ist, der dahinter steckt, ein Hirntumor, eine Persönlichkeitsstörung oder ein Alien-Fernsteuerungsimplantat: bei intensiven Schmerzen würde (glaube ich) jeder tun, was er oder sie kann, damit der Schmerz aufhört und nicht wiederkommt.
#4 Pisanelli 2013-11-09 15:53
Also, ich würde ja erstmal zum Arzt gehen - gerade, wenn ich diffuse Schmerzen habe, die vielleicht sogar von 'nem Hirntumor oder einem schizophrenen Anfall herrühren. Dat würde ich schon irgendwie wissen wollen, dass man das ausschließen kann ;-)
#5 Kerstin 2013-11-09 16:37
Glaub mir aus leidvoller Erfahrung mit einer schizophrenen Mutter: Was die in ihren Psychosen erleben, ist für sie selber über jeden Zweifel erhaben. Wehe dem, der etwas anderes behauptet! Dann wird das Kriegsbeil ausgegraben. Körperliche Schmerzen bereitet der Wahn auch nicht. Diese Diagnose kann also nicht passen.

Außerdem hat Sara ja genau mitgekriegt, wie Loki ihr absichtlich diese Schmerzen zugefügt hat. Das schließt eine körperliche Krankheit aus und bei den Geisteskrankheiten tut halt nix weh. Würde Loki das mit mir versuchen, würde ich bestimmt auch nicht ins Krankenhaus rennen. Allerdings auch kaum klein beigeben, sondern der Kerl könnte sein blaues Wunder erleben! :-*

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