Vorweihnachtliche Episode - Eine Geisterjäger John Sinclair Story
Vorweihnachtliche Episode
Eine Geisterjäger John Sinclair Story
Spielte mit dem Bommel an ihrer Strickmütze. "Geschenk? Welches Geschenk?"
Wir hatten es uns an einem der Tische vor einem kleinen Café gemütlich gemacht. Auch in Soho herrschte vorweihnachtliche Einkaufsstimmung. Mit bunten Tüten und Taschen beladene Leute schleppten sich durch die Straßen, von Geschäft zu Geschäft. Kinder quengelten, Erwachsene stöhnten. Der Himmel war blau, der schneidend kalte Wind, der uns zuvor beim Spaziergang durch den Hyde Park die Tränen in die Augen getrieben hatte, war in den engen, von Menschen wimmelnden Straßen kaum zu spüren. Wo die strahlende Sonne hinschien, war es beinahe warm.
Ich nippte an meinem Espresso und lehnte mich zurück. Erwiderte Janes Lächeln. "Tu´ nicht so. Du schenkst mir jedes Jahr etwas. Seit - lass´ mich nachzählen ..."
"Schon gut! Hör´ auf." Jane winkte lachend ab. Verrührte den Schaum auf ihrem Latte Macchiato.
"Also?" Ich zog die Augenbrauen hoch.
Sie guckte unschuldig. "Also was?"
"Na, was ist es?"
Jane zog eine tadelnde Schnute. "John. Der Sinn und Zweck eines Geschenks ..."
"Eine Krawatte."
"John." Wieder das spöttische Lächeln.
"Dann Rasierwasser."
"John!"
Ich machte ein entsetztes Gesicht. "Oh nein ..."
Jane runzelte die Stirn, Kaffeeschaum auf der Oberlippe. "Was?"
"... Eine CD von Barry Manilow."
"John!!" Vor Lachen hätte sie beinahe ihren Latte verschüttet. Ich zuckte die Achseln.
"Okay, ich geb´s auf."
Wir schwiegen. Betrachteten den Trubel um uns herum. Vor einem Bekleidungsgeschäft schräg gegenüber stand ein sieben, vielleicht acht Jahre altes Mädchen in einer pinkfarbenen Steppjacke und spielte Weihnachtslieder auf einer Blockflöte. Zumindest nahm ich an, dass es Weihnachtslieder sein sollten. Die Kleine spielte so herzzerreißend falsch, dass einem beim Hinhören die Zähne wehtaten.
Ich sah Jane an. Ihre Nasenspitze war rot wie eine Kirsche. Entweder die Kälte. Oder der Schuss Rum in ihrem Latte. Wahrscheinlich beides.
"Hast du mit Suko gesprochen?"
Sie schüttelte den Kopf, zog ein Papiertaschentuch aus der Manteltasche und putzte sich geräuschvoll die Nase. Wie um alles in der Welt hatte ich diese Frau wieder verlieren können? Jetzt war es zu spät. Sie hatte einen anderen. Allem Anschein nach eine feste Sache mit Aussicht auf Dauer. Toll. Ich war dabei gewesen, als sie sich kennengelernt hatten. Hatte dumm zugesehen, wie sie sich ineinander verliebten. Und nichts getan. Idiot.
"Mit Suko gesprochen? Nein. Wieso?"
Ich legte den Kopf in den Nacken. Ließ mir die Sonne ins Gesicht scheinen. "Also doch. Ich hab´s gewusst."
"Was hast du gewusst?" Ich hörte, wie sie geräuschvoll tief einatmete. "John ..?"
"Eine Anglerausrüstung."
Sie lachte so schallend, dass sich ein paar Köpfe an den Tischen um uns herum zu uns umdrehten.
***
"Was willst du denn angeln? Vampirfische in der Themse?"
Anschwellender Lärm von der anderen Straßenseite unterbrach jäh unser heimeliges Geplänkel und fesselte unsere Aufmerksamkeit. Ein älterer Mann in einem verwaschenen Trenchcoat hatte dem Mädchen in Pink die Flöte weggenommen und schwenkte sie drohend vor dessen Gesicht, während er die Kleine anschrie. Die stand nur da, den Blick gesenkt. Ein paar Passanten waren stehengeblieben, gafften, doch niemand schritt ein.
Und dann geschah es.
Das Mädchen hob ruckartig den Kopf, und selbst aus einer Entfernung von zwanzig, dreißig Yards sah ich deutlich das leuchtende Rot ihrer Augen. Sie kippte vornüber auf alle viere, und ich sah, wie die Steppjacke am Rücken aufplatzte und sich ein von reiner Muskelmasse gesäumtes, dicht behaartes Rückgrat emporwölbte. Hörte das tiefe, kehlige, hungrige Knurren. Stieß den Stuhl zurück und sprintete los.
Im Laufen zog ich gleichzeitig meinen Dienstausweis und die Beretta. Im gleichen Moment fiel mir ein, dass letztere bloß mit einfachen Stahlmantelgeschossen anstatt mit Silberpatronen geladen war. Gleichzeitig spürte ich, wie sich das Kreuz auf meiner Brust rasend schnell erhitzte.
Ich war halb über die Straße, als das Mädchen den Kopf hob. Es war in Sekundenschnelle vollständig transformiert. Die Wolfsschnauze fletschte die Zähne, und der Werwolf sprang dem Mann im Trenchcoat an die Kehle. Die Wucht des Sprungs warf den Mann auf den Rücken. Er schrie. Mit beiden Händen versuchte er das Maul des Wolfs abzuwehren, der auf ihm lag und mit den Fangzähnen nach seiner Kehle schnappte.
Panik brach aus, Leute fingen an zu schreien, zu rennen.
Ich schwenkte im Laufen meinen Ausweis. "Scotland Yard! Machen Sie Platz!"
Überflüssig, niemand beachtete mich. Flüchtende liefen mir entgegen, rempelten mich an. Ich ließ im Lauf Waffe und Ausweis fallen, zog mein Kreuz hervor. Die Kette, an der es hing, über den Kopf zu ziehen hätte zu lange gedauert, daher riss ich sie mir mit einem Ruck vom Hals. Im gleichen Moment hatte ich den Werwolf erreicht.
Ich sprang über ihn hinweg, bekam ihn dabei am Nackenfell zu packen und riss ihn von dem Mann herunter. Ohne den Schwarzblüter loszulassen, ließ ich mich fallen und rollte ab. Ineinander verschlungen kullerten wir über den asphaltierten Gehweg.
In der Nacht zuvor hatte es geschneit, doch der Schnee war tagsüber geschmolzen und verdunstet. Der Asphalt war rau und hart wie eh und je.
Für einen Sekundenbruchteil sah ich die gelbgrauen Zähne des Biests direkt vor meinem Gesicht zuschnappen, roch den heißen, stinkenden Atem.
Noch im Ausrollen drückte ich der Bestie das Kreuz auf den Schädel, direkt oberhalb der rot glühenden Augen. Der Werwolf winselte, zuckte, zappelte und trat aus, um sich aus meinem Griff zu befreien. Einer seiner Hinterläufe traf mich an einer empfindlichen Stelle. Doch ich biss die Zähne zusammen und hielt ihn fest. Beißender Gestank nach verbranntem Haar und verbranntem Fleisch drang mir in die Nase. Der Wolf zuckte noch einmal und lag still.
Ich rollte mich auf den Rücken, schloss die Augen und holte tief Luft. Als ich sie wieder öffnete, blickte ich in das Gesicht der Frau, die ich immer noch liebte. Irgendwie. Und wohl immer lieben würde.
Sie lächelte nicht. Ich versuchte es. Jane runzelte die Stirn. Um uns herum war es beinahe totenstill.
Selbst die Zeit schien für einen Moment stillzustehen.
Wir lauschten dem anschwellenden Sirenengeheul der herbeirasenden Streifenwagen der Metropolitan. Mit quietschenden Reifen kamen sie im Halbkreis um uns zum Stehen. Wagentüren schlugen, schrille Schreie erklangen. Jane verschränkte die Hände hinterm Kopf und stand langsam auf.
Ich rollte mich auf den Bauch und verschränkte ebenfalls die Hände hinterm Kopf. Drehte den Kopf zur Seite. Zwei Armlängen neben mir lag ein sieben, vielleicht acht Jahre altes Mädchen, nackt, mit einem schwarz verkrusteten, kreuzförmigen Brandmal auf der Stirn. Ein paar Meter weiter, im Rinnstein, lag die Blockflöte.
***
Es dämmerte bereits, als wir auf dem Nachhauseweg durch den Hyde Park spazierten. Die Sonne hing blutrot über dem Horizont. Der Wind hatte nochmal aufgefrischt. Unsere Augen tränten vor Kälte.
"Lass´ dich einfach überraschen", sagte Jane und schmiegte sich an mich.
Ich seufzte. "So wie jedes Jahr."
"So wie jedes Jahr." Sie wischte mir mit der Daumenspitze eine Träne von der Wange. Ich fasste den Rand ihrer Mütze und zog sie hinunter über ihre Augen. Ach, Sinclair. Mit Dämonen wirst du fertig ...
Jane schob sie wieder hoch. "Lass´ das, Blödmann." Sie küsste mich auf die Wange. "Bring´ brav das Mädchen nachhause."
"Wie es sich gehört."
"Genau. Wie es sich gehört."
ENDE