Körperkultur - Leseprobe aus »BISSE – 17 ungewöhnliche Geschichten«
Körperkultur
Leseprobe: »BISSE – 17 ungewöhnliche Geschichten«
Ich war nicht religiös, deshalb kann ich zur Sicherheit des Amens in der Kirche keinerlei Meinung bekunden. Und der Tod? Dieses Konzept überdenke ich seit geraumer Zeit neu, sozusagen aus gänzlich neuer Perspektive. Zu einem abschließenden Ergebnis bin ich allerdings nicht gekommen. Noch nicht. Vielleicht gelingt es mir ja noch. Schließlich habe ich Zeit. Unendlich viel Zeit sogar.
Obwohl das auch nicht stimmen muss. Denn über Unendlichkeit habe ich mir nie wirklich Gedanken gemacht, als ich noch lebte. Höchstens mathematisch. Aber da wären wir bei den Naturwissenschaften. Und nach naturwissenschaftlichen Vorstellungen bin ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tot. Mausetot.
Cogito ergo sum. Ich bin also. Da kann man also sein und tot sein, gleichzeitig, ohne dass es sich widerspricht. Ein beunruhigender Gedanke. Man fragt sich unwillkürlich, ob all die anderen Toten auch noch mit wachem Geist über ihre Existenz nachgrübeln, in ihren Gräbern liegen und darüber nachdenken, was es heißt, tot zu sein. Grübeln all die seit Anbeginn der Zeiten Gestorbenen? Grübeln und grübeln sie, wie ich, ohne die Möglichkeit zur Kommunikation, zum Gedankenaustausch?
Was denkt ein Wikingerschädel bei seiner Ausgrabung? "Hallo, endlich wird's hell!" oder "Lasst mich in Ruhe!" oder "Wo geht's hier nach Walhall?" Denkt er überhaupt? Und womit? Das Gehirn kann es nicht sein. Kann man mit den Knochen denken? Was passiert, wenn die Hälfte der Knochenfunde im Museum in Frankfurt und die andere Hälfte in New York liegt? Denken dann beide Hälften? Denken sie gemeinsam oder einzeln? Denken sie sich hälftig zu, umspannt ihr Denken unerkannt den halben Globus? Oder gibt es diese ominöse Seele, die sich vom Leib nicht trennen kann? Ist sie das unsichtbare Organ, das nach dem Tode denkt?
Vielleicht bin ich auch eine Ausnahme. Vielleicht liegt es daran, dass ich mein Gehirn noch habe, wohlpräpariert und dem Verfall entzogen. Nun, dann wäre ich nicht der Einzige. Hier in dieser Ausstellung gibt es mehrere von uns, die ihre gutpräparierten Gehirne noch haben. Meines ist freigelegt, meine Schädelplatte zersägt und hochgestellt, wie der Deckel einer altmodischen Musiktruhe. Mein linkes Auge ist aus der Höhle befreit und bildet die Blüte einer Blume aus Muskeln und Sehnerv.
Ich kann es genau sehen. Seit wir mit der Ausstellung in die neuen Räume gewandert sind, stehe ich gegenüber den Glastüren am Eingang, die bei bestimmtem Lichteinfall zum Spiegel werden. Ich kann mich bestaunen in meinem gesamten künstlerischen Ausdruck.
Die Idee, mich nach meinem Ableben der Kunst zur Verfügung zu stellen, fand ich einmal sehr ansprechend. Nun betrachte ich mich mit dem einen Auge auf dem Muskelstiel. So sehe ich mich, hautentblößt und aufgebrochen wie ein erlegtes Wild. Meine Bauchhöhle klafft, und gelbe Fettzellen purzeln in der Kaskade erstarrt scheinbar dem Boden entgegen. Mein Penis ist der Länge nach aufgeschnitten wie eine Weißwurst, mein linkes Ei explodiert gleichsam der Freiheit entgegen. Mein geschälter Arm hebt sich in Siegerpose und streckt eine Knochenhand anmutig gen Himmel.
Kunst. Ich war immer ein großer Freund der Kunst, habe es immer bedauert, selbst zu unbegabt, zu ungeschickt zu sein, um zur Kunst beizutragen.
Die Idee, selbst zum Kunstwerk zu werden, hatte etwas Verführerisches. Wie ein Mäzen fühlte ich mich, als ich das Testament und den entsprechenden Vertrag unterschrieb. Ohne zu zweifeln.
(…)
Bisse - 17 ungewöhnliche Geschichten