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Der Elbenschlächter Kapitel 1: Sink (Leseprobe)

LeseprobeDer Elbenschlächter
Kapitel 1: Sink

Es war noch früh am Morgen, zumindest aus Sicht eines frisch rasierten Trolls, den der Durst auf die Straße getrieben hat. Ohne Eile schlenderte Jorge die verschlafenen, nach verschüttetem Wein riechenden Straßen des Fassviertels entlang und pfiff ein Liedchen. Nur wenige Passanten kamen ihm entgegen, und diese sahen kaum anders aus, als man es von Zechern nach einer langen Nacht erwartet hätte – verquollene Gesichter, blutunterlaufene Augen, die eine oder andere Gesichtsverletzung.

 

Die meisten Fußgänger mieden seinen Blick, wechselten sogar die Straßenseite, sobald sie ihn sahen. Jedermann wusste, dass man einem Troll – insbesondere am Morgen – am besten aus dem Weg ging. Da halfen auch Jorges makellose Rasur, seine dezente Kleidung aus grobem schwarzem Leder, sein schlendernder Gang und das heitere Liedchen nichts. Ob Mensch, Elb oder Zwerg, man erkannte ihn. Jorge überragte alle anderen um mindestens zwei Köpfe, ein vor Kraft strotzender Berg aus Muskeln, Fett und unkalkulierbaren Launen. 

Das Fassviertel bestand fast ausschließlich aus Kneipen und Gaststätten. Anders als der Pfuhl bezog es seinen fragwürdigen Ruf allerdings nicht aus einem Übermaß an Kriminalität, sondern eher aus den häufigen Tumulten, die mit dem hemmungslosen Alkoholkonsum seiner Besucher einhergingen.  


Der Elbenschlächter
Fantasy und Krimi, das passt nicht zusammen? Wer so denkt, der darf sich in wenigen Tagen eines Besseren belehren lassen. Dann nämlich erscheint »Der Elbenschlächter«, ein lupenreiner Fantasykrimi des Autorenduos Jens Lossau und Jens Schumacher aus dem Hause Lyx.
Und darum geht es in dem Roman:

Fünf tote Elbenjünglinge innerhalb weniger Tage und alle auf magische Weise ihres Blutes beraubt – ein Fall für das IAIT, das Institut für angewandte investigative Thaumaturgie, spezialisiert auf die Aufklärung magischer Verbrechen. Seine beiden besten Agenten, Lichtadept Meister Hippolit und Jorge der Troll, werden ausgeschickt, um dem rätselhaften Elbenschlächter auf die Spur zu kommen. Die Entdeckungen, die sie dabei machen, überraschen sogar die beiden erfahrenen Ermittler ...
(Vorankündigung © Lyx Verlag 2010)

Zur Einstimmung auf diesen äußerst unterhaltsamen Roman findet ihr in am 14. April 2010 ein Interview mit den beiden Autoren hier auf dem Zauberspiegel – und heute schon das erste Kapitel als Leseprobe. Viel Vergnügen dabei!

Der Elbenschlächter
erscheint am
15. April 2010

Jorges zielloser Blick fiel auf ein dunkelbraunes Holzschild, das über dem Eingang einer Schenke baumelte. Ein lachendes Skelett mit einem Bierkrug war darauf abgebildet, darunter stand der Name des Ladens: Zum Entbeinten. Leise quietschten die Scharniere im Wind, der noch die Alkoholfahnen aus unzähligen Kehlen vor sich hertrieb.  

Jorge hatte die Nacht ebenfalls mit Trinken zugebracht, in seiner Stammkneipe Erlauchter Lurd am anderen Ende des Viertels. In den frühen Morgenstunden war er – wie üblich – besoffen wie ein Eber in sein Zimmer in der Zubergasse gewankt und nach Sekunden auf seiner Schlafstätte in ein traumloses Koma gefallen.  

Nach einem für Trollverhältnisse kurzen, aber erholsamen Schlaf hatte er sich am Morgen auseinandergerollt und die Reste eines gesottenen Krügerschweins vom Vortag vertilgt. Jorge liebte Krügerschweine, er verspeiste jede Woche mindestens acht Stück, mit Schwanz und Schnauze. Im Anschluss an dieses deftig-köstliche Frühstück hatte er beschlossen, den Tag mit einem kleinen Verdauungsspaziergang zu begrüßen. Nach wenigen Schritten an der frischen Luft hatte er jedoch festgestellt, dass der Durst der vergangenen Nacht mit Verstärkung zurückgekehrt war, und seine Schritte hatten ihn unweigerlich erneut die Säufermeile entlanggeführt.  

Von den nächtlichen Erlebnissen waren in seinem Gehirn nur noch verschwommene Eindrücke vorhanden. Es hatte da wohl einen Konflikt gegeben, einen Konflikt, der etwas mit seiner Definition von Betrug beim Kartenspiel zu tun hatte. Oder so  

ähnlich. Jorge konnte sich nicht an die Einzelheiten erinnern, schließlich hatte es wichtigere Dinge gegeben, mit denen er sich beschäftigen musste. Seine rechte Hand tat weh. Die fremden Blutspritzer und der abgebrochene Schneidezahn von Wemauch- immer sahen auf seiner Lederkluft nicht gut aus.  

Allem Anschein nach hatte er den Konflikt nachhaltig gelöst. Jorge hörte auf zu pfeifen, legte den Kopf zurück und rülpste viehisch. Ein Geschmack nach halb verdautem Krügerschwein schoss in seinen Mund. Er zuckte die Achseln und stieß die angelehnte Tür des Entbeinten auf.  

Abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Das zurückliegende nächtliche Gelage hing wie ein stinkender Schleier in der Luft: kalter Rauch, verschüttetes Bier, Paraffin, Schwefel, Urin, Erbrochenes, ein leichter Eisengeruch und vergammeltes Holz. An den Wänden hingen Geweihe von Harschtipplern und Ewusrauden, die zu jagen schon seit Langem verboten war. (Interessanterweise konnte man im Entbeinten nach wie vor ein vorzügliches Ewusraudensteak bekommen, wenn man ausdrücklich danach fragte.) Bläulicher Dunst, der vergessen hatte, sich zu verziehen, schwebte bewegungslos in der Mitte des Raumes. Die Tische, auf denen Kerzen in einfachen Metallhaltern standen, waren frisch gesäubert. Sie glänzten noch feucht, man sah die Schlieren, die das Putztuch hinterlassen hatte. Zusammengekehrter Unrat türmte sich neben der Tür, Scherben, Essensreste, Zigarrenstumpen. Jorge ließ seinen Blick fachmännisch über die Tische und die niedrige, dunkle Holzdecke zu den mit ehemals grünem Filz bedeckten Wänden schweifen, von dem vor lauter Brandlöchern kaum noch etwas übrig war. Tief sog er die Luft in seine Nüstern. Im gesamten Raum gab es nur ein schmales Buntglasfenster auf der rechten Seite, durch das kaum Licht fiel. Der Tresen lag in völligem Dämmerlicht. Unförmige Flaschen, die wie geschmolzen aussahen, reihten sich auf Regalen aneinander, gefüllt mit vielfarbigen Likören und selbst gebrannten Schnäpsen. Dazwischen verlor sich ein hellgelber Schrumpfkopf, vertrocknet und lächerlich. In seinen Augen steckten Korken. Der Wirt stand hinter der Theke, ein kleiner, dicker Mann in brauner Kluft, mit grauen Koteletten und einer schwarzen, flachen Mütze auf dem Kopf. Er war gerade dabei, Gläser in einen Schrank mit Türen aus gelbem Butzenglas einzusortieren. Ohne aufzublicken, sagte er: »Wir haben geschlossen, kommen Sie am Abend wieder. Verdammtes Dreckspack!« Jorge versuchte seit Jahren, einen Rat zu beherzigen, den ihm ein guter Freund, der zugleich sein Vorgesetzter war, einst gegeben hatte. Er lautete: »Fang nach Möglichkeit keinen Streit an – aber beende ihn immer.« Jorge, der ein Verfechter großzügiger Auslegungen war, hatte daraufhin vier goldene Regeln aufgestellt, wann er auf die diplomatische Beilegung eines Konflikts verzichten und guten Gewissens Kiefer zertrümmern durfte: –– Erstens: bei trollspezifischer Provokation. –– Zweitens: bei jeglicher Art von Grenzüberschreitung, verbal oder körperlich. –– Drittens: wenn sein Gegenüber beschissen aussah und/ oder sich genauso verhielt. ––Viertens: wenn ihm der Sinn danach stand. Die Vergangenheit hatte ihn gelehrt, dass Regel Nummer vier am häufigsten zur Anwendung kam. Niemand in Nophelet bezeichnete einen Troll ungestraft als »Verdammtes Dreckspack«! Mit raschen Schritten durchquerte er die dämmrige Kneipe und baute sich vor dem Tresen auf. Erst jetzt blickte der Wirt auf. Er musste sehr hoch blicken. Für einen Moment schien das  

Blut aus seinem Gesicht zu weichen, als er die riesige Gestalt sah. Geistesabwesend putzte er das Glas fertig, das er in der Hand hielt, und stellte es in den Schrank. Seine Miene verfestigte sich, und er starrte Jorge herausfordernd an, so als könne er den Troll mit seinem hypnotischen Blick aus dem Laden fegen. Noch verbreiteter als die Dummheit ist die Arroganz, sagte ein gewisser alter Freund und Vorgesetzter immer.  

Jorge fuhr sich über das glatt rasierte Gesicht. Er enthaarte sich jeden Morgen an allen sichtbaren Stellen, auch auf der Stirn. Vor einigen Zeniten hatte er einmal gegen die strenge Auflage des IAIT verstoßen, nach der Trolle im öffentlichen Dienst ein möglichst menschenähnliches Erscheinungsbild zu pflegen hatten. Das hatte Ärger gegeben, und nur die Fürsprache seines langjährigen Kollegen hatte ihn vor einem Rausschmiss bewahrt. Seither vermied er solche ungewollten Provokationen. Jorge legte einen Arm, so dick und muskulös wie anderer Leute Oberschenkel, auf den Tresen, öffnete seine Pranke und deutete ein Winken an.  

»Wir haben geschlossen«, stieß der Wirt zwischen zusammengepressten Lippen hervor. Jorge grinste und entblößte Zähne, deren Größe und Form an Grabsteine erinnerten. »Ich muss Sie wohl kaum auf die Schankverordnung aufmerksam machen?« Der Wirt deutete auf ein halb von Tüchern verhängtes Schild an der grünen Wand. »Kein Ausschank oder sonstiger Betrieb vor der zwölften Mittagsstunde. Sie müssen wieder gehen, schnell.«  

Jorge dachte nicht im Traum daran, wieder zu gehen, schon gar nicht schnell. Er hatte Brand, und der Tanz hatte gerade erst begonnen.  

»Weißt du, Wirt«, sagte er, »wir Trolle haben da ein Sprichwort, und es geht so: Mir egal!« Noch immer winkten seine Finger, und er zwang sie zum Stillstand. »Also, mein Lieber, Bier soll’s sein. Eines von diesen ganz großen. Weißt du, warum es Bier sein soll? Ganz einfach: Ich habe Durst. Entsetzlichen Durst. Warum tust du mir nicht einen Gefallen und machst mir gleich zwei Biere? Oder drei? Das wäre mal was! Ich hab’s: Mach drei Biere und dann noch vier Wurzelschnäpse, wo wir schon mal dabei sind, und zwar schnell, sonst fang ich an zu husten.« Im Gesicht seines Gegenübers regte sich kein Muskel. »Nein,«, sagte er gefährlich leise.  

Die Dummen rannten gerne blind in ihr Verderben. Jorge zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Weißt du, wir Trolle haben da ein Sprichwort, und es geht so: Doch.« »Nein, wir haben geschlossen, und die Schankverordnung besagt, dass …«  

»Ich bin die Schankverordnung, lieber Freund«, behauptete Jorge. »Also, jetzt mal Spaß beiseite: Bier und Wurzelschnäpse bitte, ich hab Durst. Sag mal, wie heißt du eigentlich? Irgendwoher kenne ich dich doch?«  

»Hören Sie, ich könnte Sie einfach …«  

»Du bist doch der Dolder, oder?«, platzte Jorge heraus. Da er sich freute, dass ihm der Name des Trottels eingefallen war, stieß er sich vom Tresen ab, brachte dabei zwei Barhocker zu Fall und schlug sich mit der Hand so fest gegen den Hinterkopf, dass sein langes Haar nach vorne flog. Es klang, als prügele jemand mit einem Hammer auf einen rohen Schinken ein. »Dolder, natürlich! Hab dich gleich beim Hereinkommen erkannt. Der alte Dolder!«  

Jetzt zitterten die Muskeln im Gesicht des Wirtes, das Blut verabschiedete sich aus der oberen Körperregion und verschwand – irgendwohin.  

»Sie … Sie kennen … woher kennen Sie mich?« Jorge drehte eine Pirouette. Das bedeutete, er schleuderte seinen Leib einmal im Kreis herum, so dass die dunklen Bo23 dendielen unter seinen Füßen ergeben ächzten. »Dolder, dacht ich’s mir doch. Jetzt aber mal wirklich Spaß beiseite, Dolder, wir Trolle haben da ein Sprichwort und es geht so: Spaß beiseite. Ich bin vom IAIT, hier, siehst du?« Er streckte eine Pranke aus, als wollte er Dolder an der Gurgel packen. An seinem Ringfinger steckte der klobige Zugehörigkeitsring des Instituts. »Das kennst du, nicht wahr, Dolder? Ich meine, unsere Behörde? Ich bin übrigens einer der ranghöchsten Beamten dort. Jetzt sag bloß, du kennst das Institut für angewandte investigative Thaumaturgie nicht? Das IAIT? Ausgeschlossen! Du bist doch mehr als einmal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, erinnerst du dich? Wir hatten schon miteinander zu tun!«  

Dolder schien plötzlich mit der Theke verwachsen zu sein. Seine Gesichtshaut kopierte die Maserung des Holzes. »Sie sind? Vom IAIT? Und Sie? Sie kennen? Mich? Und wollen jetzt? Bier? Und Schnaps?«  

Jorge drehte seinen Kopf in Richtung des leeren, dämmrigen Schankraums, als hätte sich dort ein unsichtbares Publikum versammelt. »Tabak und Freigetränke für den Mann, bei Batardos!  

Er hat’s kapiert. Ja, ich kenne dich, Dolder, sehr gut sogar!« Tatsächlich war ihm lediglich der Name des Wirtes eingefallen, mehr wusste er nicht von ihm, aber die Masche zog immer. Schließlich hatte jeder irgendwelche Leichen im Keller. »Wie auch immer, Dolder, ich bin ein ganz hohes Tier beim IAIT, aber wenn du mich ›Tier‹ nennen würdest, würde ich dir die Fresse polieren, jedoch, ich sehe, du bist klug, Dolder, du hältst dein Maul. Jetzt gib dieser Kehle Flüssigkeit, sonst krieg ich Komplexe.«  

Der Wirt mit Namen Dolder fuhr sich mit der Hand unter die schwarze Mütze und kratzte sich den Haaransatz. Dann kehrte überraschenderweise das Selbstvertrauen in ihn zurück. »Nun, werter Herr, wenn Sie vom IAIT sind, sollten gerade Sie mit den aktuellen Schankverordnungen vertraut sein, und die besagen, dass ich Ihnen nichts ausschenken darf, selbst wenn ich es wollte. Es ist so, dass …«  

»Ich habe es schon einmal gesagt, Dolder, aber vielleicht ist es dir in der Zwischenzeit entfallen. Ich bin die Schankverordnung. Ich bin der alleroberste Beamte beim IAIT. Weißt du, wir Trolle haben da ein Sprichwort, und es geht so: Halt jetzt die Klappe, ja? Weißt du eigentlich, wer hier vor dir steht? Ich war es, unter dessen Leitung seinerzeit der Aufstand der Zwerge in den Minen von Nékal-Rekák niedergeknüppelt wurde, die mit illegalen thaumaturgischen Mitteln Silber zu fördern versuchten. Höchste IAIT-Belobigung und der ganze Quatsch. Ich darf alles, Dolder, verstehst du meine Worte? Wir sprechen von dem Zwergenaufstand! Hast davon bestimmt in der Zeitung gelesen. Es gab viele rollende Zähne und geborstene Knochen, gingen alle auf mich, wenn du verstehst, was ich zart andeuten möchte. Also halt die Schnauze und schenk aus, sofort.«  

Die Sache lief ein bisschen aus dem Ruder. Allmählich war Jorge richtig genervt. Das trockene Brennen in seiner Kehle wurde unerträglich.  

»Sie können hier nicht einfach …«  

»Ich kann. Denn weißt du, wer ich bin? Ich bin Jorge! Jorge der Erwischer!« Jorge hatte sich den Titel im selben Moment ausgedacht, da er ihn ausgesprochen hatte, aber er fand, dass er verdammt gut klang.  

Ein Schatten huschte über Dolders Gesicht. Auf seinen Zügen wurde aufkeimende Ehrfurcht von plötzlicher Erkenntnis beiseitegewischt. Er stützte sich mit den Armen auf dem Tresen ab und schob sein Gesicht nach vorn. »Jorge, der Erwischer, wie? Jetzt weiß ich, woher ich Sie kenne. Sie waren vor zwei Zeniten schon mal hier!«  

Jorge dachte kurz nach. Eine dumpfe Erinnerung begann in seinem Hinterkopf Form anzunehmen. »Hier?« Er warf einen Blick quer durch den Schankraum. »Nun, das kann schon sein, Dolder. Weißt du, Jorge der Erwischer kommt viel herum. Um zu erwischen! Durchaus möglich, dass …«  

»Jorge der Erwischer schien mir damals ein weitaus weniger trinkfester und besonnener Troll zu sein, als er jetzt vorgibt. Ich glaube sogar, dass Sie es waren, der infolge eines Streits – es ging um eine Lappalie, einen harmloser Rempler – vor ziemlich exakt zwei Zeniten meine halbe Einrichtung demoliert hat. Der Schaden belief sich auf fast hundert Silberkaunaps.« Dolder verengte die Augen zu Schlitzen. »Doch, ich erinnere mich wieder. Eindeutig, Sie waren das. Blaak! Sie haben fünf meiner Stammgäste grundlos ins Klinikum geprügelt, sämtliche Tische und Stühle und den halben Tresen zerlegt!«  

Jorge sah Dolder an. Konnte es sein, dass der Kerl recht hatte? »Wie auch immer«, sagte er diplomatisch und zuckte die Achseln. »Das war gestern, nicht heute. Wir Trolle haben da ein Sprichwort, und es geht so: Vergiss es! Kein Grund, einen Dürstenden vertrocknen zu lassen. Ich war schon in beinahe jeder Schenke des Fassviertels, ziemlich sicher auch in dieser, bin bekannt wie eine bunte Glophendogge. Wie gesagt, als oberster Beamter des IAIT komme ich viel herum und …«  

»Verlassen Sie sofort mein Lokal. Ich setze sonst auf der Stelle einen Notwortwurf ab.«  

Jorge spuckte auf den Boden. »Leck mich!«  

»Ich warne Sie …«  

Jorge trat einen Schritt zurück und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Konnte es sein, dass Dolder versiert war? Unsinn, einen Notwortwurf konnte fast jeder absetzen, es gab thaumaturgische Apparate, die ausschließlich für diesen Zweck hergestellt wurden.  

Jorge schnappte sich einen der Barhocker und reckte ihn in die Höhe, als besäße er kein Gewicht. »Immer diese unkooperativen Menschen! Du willst mich also warnen, Dolder? Du willst mich warnen? Jetzt warne ich dich mal! Dich und deine Knochen. Und deine Zähne, die kullern nämlich gleich in deinen Arsch!« Jorge presste die Beine des Hockers zusammen, der sich knirschend zusammenfaltete, als bestünde er aus Zahnstochern. Eines der langen, massiven Beine behielt er wie einen Knüppel in der Hand, den Rest ließ er polternd zu Boden fallen. »Du befindest dich auf einer Reise in Richtung Schmerz, bei Batardos. Einer Reise in Richtung Schmerz.«  

»Sie können mir keine Angst …«  

»Einer Reise in Richtung Schmerz.«  

»Sie haben weder die Befugnis noch …«  

»Richtung Schmerz!«  

In diesem Moment wurde die Tür des Entbeinten von außen aufgestoßen, und ein junger Bursche mit halblangem braunem Haar und schlaksigen Gliedern erschien auf der Schwelle. Atemlos blickte er sich um. Als er Jorge sah, der mit erhobenem Stuhlbein vor dem Wirt stand, zögerte er. Dann, als würden Jorge und der Wirt lediglich Nettigkeiten austauschen, erschien ein erleichtertes Lächeln auf seinen jugendlichen Zügen, und er betrat den Schankraum.  

»Bei Lorgon«, rief er. Seine Stimme klang hell und fröhlich. Er war fast noch ein Junge. »Da sind Sie ja, Agent Jorge! Gut, dass ich Sie endlich gefunden habe. Geheimrat K. meinte, falls der Wortwurf in Ihre Privatunterkunft in der Zubergasse Sie nicht erreicht, soll ich der Reihe nach alle Kneipen des Fassviertels abklappern. Himmel, ich bin seit einer Ewigkeit unterwegs!« Der junge Bote trat neben Jorge, der ihn um vier Köpfe überragte, klopfte ihm auf die untere Hälfte seines breiten Rückens und setzte sich dann ganz in seiner Nähe an einen Tisch. »Ein Bier, bitte«, sagte er zu Dolder. »Himmel, hab ich einen Durst. Kein Wunder, bei der ganzen Rennerei.«  

Jorges Arm mit dem Stuhlbein sank herab. Dolder sah aus, als hätte er in etwas Verfaultes gebissen. Ungläubig starrte er den Neuankömmling an. »Sagt mal, seid ihr eigentlich von allen guten Geistern verlassen?« Er brachte nur noch ein Flüstern zustande.  

»Also, wer schickt dich?« Jorges Stimme klang mit einem Mal ganz sanft. Junge Menschen waren ihm grundsätzlich lieber als ausgewachsene.  

»Geheimrat K.«, sagte der Bursche. »Und es scheint um etwas Wichtiges zu gehen. Der Geheimrat weiß schließlich, dass Sie um diese Zeit des Tages, äh … nun, noch nicht gerne behelligt werden.«  

»Geheimrat K.?«, wiederholte Jorge verwirrt. »Ach so, du meinst das Maul! Hat es gesagt, was es will?«  

»Nein, aber es muss wirklich dringend sein. Warum sollte er mir sonst den Auftrag erteilen, sämtliche Spelunken im Fassviertel abzuklappern? Er hat gesagt: Geh sofort los, Rusasus … das ist nämlich mein Name, Rusasus. Also, er hat gesagt, Rusasus, hier ein wichtiger Auftrag für dich, zieh los und schaff mir Jorge her, so schnell es geht. Das hat er gesagt! Bin nur gerannt, der Auftrag war ja wichtig, da beeilt man sich besser. War in fast allen Kneipen des Viertels. Sind ja fast … wie viele Kneipen gibt es hier eigentlich? Ziemlich viele?«  

»Sauviele«, bestätigte Jorge. Er blickte zu Dolder, der verloren hinter dem Tresen stand und ins Nichts starrte, wahrscheinlich auf der Suche nach dem Universum, wie er es bisher gekannt hatte.  

»Ihr Stuhl ist ja kaputt«, sagte Rusasus und deutete auf die Überreste des Hockers in Jorges Hand.  

»Wie? Ach so, ja. Schlechte Qualität, mein Junge.« Er schleuderte das Stuhlbein quer durch den Schankraum. Es prallte gegen die grüne, brandlöchrige Filzwand und brach in der Mitte entzwei. »Na, dann wollen wir das gute, alte Maul mal lieber nicht warten lassen, was? Weißt du, wir Trolle haben da ein Sprichwort, und es geht so: Auf geht’s!«  

»Danke, ich bleibe noch einen Moment. Gönne mir ein Bierchen, hab ich mir verdient.«  

Jorge legte dem Jungen eine Pranke auf die Schulter. »Zweifelsohne hast du das, mein Sohn. Dolder? Einen Humpen Bier für meinen Freund, und zwar schnell!« Damit drehte Jorge der Erwischer sich um und verließ das Wirtshaus Zum Entbeinten.
 

Zum Interview mit den Autoren - Zur Rezension

 

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