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Kurt Luifs Werkausgabe - 4. Teil - Die Nacht der Affen

Kurt Luif WerkausgabeDie Nacht des Affen

Im Mai 2017 wäre Kurt Luif 75 Jahre alt geworden und aus dem Grund habe ich mir die Mühe gemacht und diverse Romane von ihm eingescannt und präsentiere Euch im Laufe der nächsten Monate einige seiner Werke in eine Art von Werksausgabe.

Sein erster Grusel-Roman erschien 1973 in der Vampir-Horror-Roman Reihe als Band Nr. 11 unter dem Titel "Die Nacht der Affen".


Die Geschichte wie er zu seinen ersten Grusel-Roman kam, den er unter dem Pseudonym James R. Burcette schrieb, und das er nach einem Exposé von Hans Gamber verfasste, kann man im zweiten Teil eines Interviews, daß ich 2011 mit Kurt Luif führte, nachlesen.

Viel Spaß beim Lesen...

Die Nacht der AffenDie Nacht der Affen
Vampir-Horror-Roman Nr. 11
von James R. Burcette
Dr. Ragors Experimente sind genial und grausam zugleich. Er verwandelt Menschen in Affen, indem er intelligente Gehirne in Gorillaschädel verpflanzt. Ein Rudel von dienstbaren Ungeheuern schafft dem besessenen Forscher immer neue Opfer heran. Auf den Spuren der verschwundenen Vicky Fairland gerät auch ein junger Privatdetektiv in die Fänge des Teufels mit dem Skalpell. In einer einsamen Moorgegend erlebt er am eigenen Körper das furchtbare Experiment...

***

Die Scheinwerfer des Wagens erfaß­ten eine halbverfallene Scheune. Der alte Morris ratterte über eine Stange, die quer auf der Straße lag, kam ins Schleudern und raste genau auf ein Ge­bäude zu.

Das Mädchen schloß ängstlich die Au­gen, doch der Fahrer bekam den Wagen wieder unter Kontrolle. Er gab Gas, lenkte zurück auf die Straße, schoß allerdings nur wenige Zentimeter an einem Brunnen vorbei.

„Das ist noch mal gutgegangen“, keuchte das Mädchen. „Fahr schnel­ler!“

Der Fahrer grunzte etwas Unver­ständliches.

Sie fuhren eine schmale Landstraße entlang, links und rechts lagen Felder.

„Wir haben es geschafft!“ sagte das Mädchen triumphierend. „Wir haben sie abgeschüttelt.“

Sie sah zurück, und ihre Freude er­losch. Das Scheinwerferpaar hinter ihnen kam rasch näher.

„Schneller!“ keuchte sie. „So fahr doch!“

Sie biß sich in die Hand und begann aufgeregt an ihren Nägeln zu knabbern.

Der Fahrer knurrte nur.

„Wir schaffen es nicht“, sagte das Mädchen.

Vor ihnen tauchte eine Tafel auf, die anzeigte, daß nach einer Meile eine Bau­stelle kam, mit einer Geschwindigkeits­beschränkung auf fünfzehn Meilen.

Die Scheinwerfer des Verfolgerfahr­zeugs blendeten im Rückspiegel. Als sie die Baustelle erreichten, kam ihnen ein Lastwagen entgegen.

„Du mußt bremsen!“ schrie das Mäd­chen.

Doch der Fahrer hörte nicht auf sie, sondern raste verbissen auf den Lkw zu und drückte auf die Hupe. Immer grö­ßer wurde der Kühler vor ihnen.

Jetzt ist es aus, dachte das Mädchen. Sie konnte den Blick nicht von dem Lastwagen losreißen. Automatisch drückte sie sich tiefer in den Sitz.

Der Lastwagen wich aus und stürzte beinahe die Böschung hinunter. Um Haaresbreite rasten sie an der Schnau­ze des Ungetüms vorbei.

Ein großes Insekt klatschte gegen die Windschutzscheibe, und das Mädchen erschrak. Sie drehte sich um. Ihr Verfol­ger war nicht mehr zu sehen.

„Wir müssen von der Straße 'runter“, sagte sie.

Links und rechts von der Straße war ein tiefer Graben. Und dann tauchten ein paar Häuser auf. Eine scharfe Rechtskurve führte in den Ort. Beinahe streiften sie einen Radfahrer, der wü­tend hinter ihnen herfluchte. Nach einer kleinen Steigung hatten sie den Ort wieder verlassen.

 
* * *
 

Lester Pyes trat aus Helens Inn und setzte sich seinen Sturzhelm auf. Er war seit fünf Jahren bei der Polizei und seit einem halben Jahr bei der motorisierten Streife eingesetzt.

Pyes ging gerade auf sein Motorrad zu, als der klapprige hellgrüne Morris an ihm vorbeiraste.

„Der ist wohl wahnsinnig geworden!“ knurrte er ungehalten.

Er startete das Motorrad und wollte losfahren, als ein zweiter Wagen in ihm vorbeischoß, ein schwarzer Bent­ley, der mit mehr als achtzig, Meilen dahinraste.

Pyes fuhr dem Wagen nach. Er löste das Mikrofon aus der Verankerung und meldete sich.

„Ich fahre den Zubringer zur B 54 ent­lang. Verfolge einen Morris und einen Bentley, die weit mehr als achtzig Mei­len fahren. Wahrscheinlich Teenager, die eine Verfolgungsjagd veranstal­ten.“

Er befestigte das Mikrofon und dreh­te stärker auf. Vor sich sah er die Stopp­lichter des Bentleys. Immer näher kam er, aber er konnte die Nummer nicht er­kennen. Sie war total verschmutzt.

Er schaltete die Sirene ein und schick­te sich eben an, den Wagen zu überho­len, als der Bentley nach rechts aus­scherte.

Pyes war so überrascht, daß er fast die Gewalt über seine schwere Maschi­ne verlor.

Der Bentley raste weiter.

Pyes fiel etwas zurück. Er setzte sich erneut mit der Zentrale in Verbindung.

„Das ist keine einfache Geschwindig­keitsüberschreitung“, sagte er grimmig. „Sie wollten mich in den Straßen­graben abdrängen. Ich empfehle, eine Straßensperre zu errichten.“

„Wo befinden Sie sich derzeit?“ frag­te eine harte Stimme.

„Ungefähr zwei Meilen nach Bloom­stown“, sagte Pyes. „Und zwei Meilen von der B 54 entfernt.“

„Verfolgen Sie die Wagen weiter. Wir werden den beiden den Weg abschnei­den.“

Der Bentley war jetzt ungefähr zwei­hundert Meter vor Pyes. Die Sirene heulte durchdringend durch die Nacht. Als Pyes wieder näher dran war, zog er seine Waffe und schoß auf die Reifen. Die erste Kugel fuhr in den Koffer­raum.

Er war nur noch zwanzig Meter hinter dem Wagen.

Ein Fenster des Bentley wurde her­untergekurbelt und der Lauf einer Maschinenpistole sichtbar.

Pyes sah den roten Feuerstrahl und spürte den Einschlag in seiner Brust.

Das Motorrad brach nach links aus, raste ziellos weiter, kam von der Straße ab und schoß eine Böschung hinauf. Die Maschine fiel zur Seite und begrub den Polizisten unter sich.
 

* * *
 

„Polizei!“ sagte das Mädchen. „Hinter uns ist ein Polizist. Hörst du die Sire­ne?“

Der Fahrer nickte.

„Hoffentlich knöpft er sich unsere Verfolger vor.“

Sie waren nur noch wenige hundert Meter von der B 54 entfernt. Immer wie­der sah sich das Mädchen um.

„Sie haben den Polizisten erschos­sen“, sagte sie plötzlich.

Sie hatte gesehen, wie sich die Maschi­nenpistole aus dem Fenster geschoben hatte. Ihr Gesicht war bleich, die Augen waren weit aufgerissen.

„Womit haben wir das verdient?“ fragte sie leise, doch der Fahrer gab keine Antwort.

Eine scharfe, leicht ansteigende Linkskurve lag vor ihnen. Der Fahrer stieg stärker aufs Gaspedal. Als er die zwei Streifenwagen vor sich sah, brem­ste er zwar sofort, doch es war zu spät. Der Wagen brach nach rechts aus, schlitterte auf die zwei Funkstreifenwa­gen zu, krachte gegen den Kühler des näher stehenden Wagens und drehte ihn zur Seite. Der Morris wurde herumgerissen und prallte mit dem Koffer­raum auf den zweiten Streifenwagen. Dann schleuderte er quer über die Stra­ße und gegen einen Markierungsstein. Wie im Zeitlupentempo überschlug er sich, legte sich auf die rechte Seite und kullerte schließlich den Abhang hinunter. Ein Baum stoppte ihn. Er blieb auf dem Dach liegen, nur die Räder drehten sich noch.

Inzwischen war auch der schwarze Bentley herangerast. Die Maschinenpi­stole ratterte los, und die Polizisten brachten sich hinter den Funkstreifen­wagen in Deckung. Die Kugelgarbe zer­fetzte die Reifen eines Wagens und eine der Motorhauben. Benzin rann heraus, und wenige Sekunden später stand der Wagen in Flammen.

Der Bentley hatte es geschafft.
 

* * *
 

Polizeileutnant Steve Barr schoß hinter dem Bentley her, traf jedoch nur die Rückscheibe.

„Verfluchter Mist!“ knurrte er, als er den einen Streifenwagen in Flammen aufgehen sah.

Ein Polizist holte einen Feuerlöscher hervor.

„Geben Sie sofort eine Meldung an die Zentrale durch!“ rief Barr einem Sergeanten zu. „Sie sollen auch einen Krankenwagen schicken. Ich kümmere mich mal um die Insassen des verun­glückten Wagens. Kommen Sie mit, Sergeant Collins!“

Ein magerer Polizist ging mit Barr über die Straße. Barr drehte seine Stab­lampe an. Aufmerksam leuchtete er die Böschung hinab und entdeckte die Spur, die der Wagen hinterlassen hatte.

Der Schein der Lampe fiel auf das Mädchen. Sie lag auf dem Rücken, ein Bein angewinkelt, Rock und Bluse zer­rissen.

Der Leutnant glitt weiter die Bö­schung hinab.

„Gehen Sie zum Wagen!“ rief er Ser­geant Collins zu.

Er selbst eilte auf das Mädchen zu und leuchtete ihr ins Gesicht. Es war bleich, und das blonde Haar in Blut ge­tränkt.

Barr ging in die Knie und griff nach dem rechten Handgelenk des Mädchens. Er spürte ganz schwach den Puls­schlag. Die Ernsthaftigkeit der Verlet­zungen konnte er nicht feststellen. Sie hatte Glück gehabt, daß sie aus dem Wa­gen geschleudert wurde, sonst hätte sie wohl kaum überlebt.

Das Mädchen atmete schwach. Wenn die Ambulanz bald eintraf, würde sie wohl noch eine Chance haben.

Der Leutnant wandte den Kopf. Das Feuer war gelöscht worden. Das beste war wohl, wenn er und Collins das Mäd­chen hinauf zur Straße trugen.

Als Barr Schritte näher kommen hörte, sah er auf, hob die Lampe und leuch­tete Sergeant Collins ins Gesicht.

„Was ist mit Ihnen?“ fragte er.

Collins' Gesicht war bleich wie ein frisch gewaschenes Bettuch.

„Da - ist“, stammelte er, „da - un­ten...“

„Reißen Sie sich zusammen, Mann!“ fauchte der Leutnant wütend.

Collins preßte hervor: „Kommen - Sie mit, Sir! Sie würden es mir ja doch nicht glauben.“

„Wenn es ein Blödsinn sein sollte, Sergeant, dann können Sie was erleben!“ schnauzte Barr wütend.

Collins ging vor, Barr folgte ihm.

Der Sergeant richtete seine Lampe auf den auf dem Dach liegenden Wagen. Der Lichtstrahl glitt über die hintere Tür, das zersplitterte Fenster und blieb zitternd stehen.

Barr schaltete nun auch seine Lampe ein und trat einen Schritt näher. Die vordere Tür war aufgesprungen und gab den Blick auf den Fahrersitz frei.

„Das kann es doch nicht geben!“ sagte Barr. „Da hat sich einer einen Scherz ge­macht.“

Er trat noch näher.

Hinter dem Lenkrad saß ein Affe.

„Ein Kostüm wahrscheinlich“, mein­te Barr schließlich.

Er griff nach dem Arm des Fahrers. Es war kein Kostüm. Am Steuer saß ein ausgewachsener Gorilla, fast zwei Me­ter groß.

Barr blieb wie erstarrt stehen. Das war gegen jede Vernunft. Wie war es möglich, daß ein Gorilla einen Wagen steuerte? Was hatte das zu bedeuten?

Er hörte die Sirene der Ambulanz und riß sich von dem ungewöhnlichen Anblick los.



* * *



Dave Merrick war den gurrenden Tauben am Trafalgar Square einen bösen Blick zu. Er war unausgeschlafen. Seine Augen waren stark gerötet, und sein Kopf dröhnte, als nistete ein Hor­nissenschwarrn darin.

Er war die Charing Cross Road ent­langgeschlendert, an der National Gallery vorbei. Vor einem der steinernen Löwen blieb er stehen und sah den Strand entlang. Dann überquerte er knurrend die Straße und bog in den Chandos Place ein, der eine schmale Gasse war und nicht ein Platz, wie der Name vermuten ließ. Vor dem Haus Nummer 45 blieb er angewidert stehen.

Er war sich noch immer nicht schlüs­sig, ob er nicht doch lieber nach Hause gehen und sich unter die Dusche stellen sollte. Aber sein Pflichtgefühl siegte.

Langsam stieg er die schmale Treppe hinauf. Im ersten Stock befand sich eine Presseagentur, im zweiten Stock lag sein Büro. Vor der braungestriche­nen Tür, auf der ein Messingschild ange­bracht war, auf dem Dave Merrick - Privatdetektiv stand, blieb er stehen. Er zog die Tür auf und trat ein.

Sandra war schon da. Er hörte sie flei­ßig auf der Schreibmaschine tippen.

In der Diele sah er kurz in den Spie­gel. Sein Anblick gefiel ihm gar nicht. Er zog den Schlips gerade und ging ins Büro.

Sandra hörte mit dem Schreiben auf und sah ihn an.

Dave blieb in der Tür stehen.

„Sagen Sie nichts, Sandra“, sagte er schwach. „Gar nichts.“

Sie stand auf und ging auf ihn zu.

Dave sah sie schwach lächelnd an. Sie war ein appetitlicher Anblick. Das war auch der Hauptgrund, warum er gerade sie engagiert hatte. Sie sah frisch wie der junge Morgen aus.

„Ihr Anblick erfreut mein müdes Herz“, sagte er.

„Kaffee?“ fragte sie.

Dave nickte und setzte sich hinter sei­nen Schreibtisch.

„Nicht viel reden“, sagte er und griff nach dem Telefonhörer und legte ihn ne­ben den Apparat. „Du schweigst!“ droh­te er dem Telefon.

Fünf Minuten später kam Sandra mit einer Kanne Kaffee zurück.

Nach der ersten Tasse fühlte sich Dave halbwegs wieder als Mensch.

„Sie müssen ja ganz schön getankt ha­ben“, sagte das Mädchen und setzte sich Dave gegenüber.

Ihr kurzer Rock ließ alles von ihren gutgewachsenen Beinen sehen.

„Das kann man wohl sagen“, knurrte Dave. „Heute wird Biermangel in Lon­don herrschen.“

Sandra lachte.

„Geben Sie mir mal die Zeitung!“ bat er.

„Das Mädchen griff nach dem Daily Express und hielt ihn Dave hin. Er schlug die Zeitung auf und legte sie vor sich auf den Schreibtisch.

„Haben Sie das gelesen, Sandra?“ fragte er und deutete auf eine Schlagzei­le.

„Ja. Lesen Sie den Bericht! Er wird Sie sehr interessieren.“

Dave sah sie mißtrauisch an. Kopf­schüttelnd las er den ersten Absatz.

„So ein Blödsinn“, murmelte er schließlich. „Ein Gorilla am Steuer. Den Zeitungen fällt auch nichts als Blöd­sinn ein. Dabei haben wir gar nicht den ersten April.“

Aber er las trotzdem weiter. Die Fort­setzung des Berichts stand auf Seite drei. Sein Blick fiel auf das Bild eines blonden Mädchens. Wer kennt dieses Mädchen? stand unter dem Foto.

Und plötzlich war sein Riesenkater wie weggeblasen, plötzlich war Dave hellwach. Das Mädchen kannte er. Es handelte sich um Vicky Fairland. Sie war eine Klientin von ihm. Vicky war eine schlechtbezahlte medizinisch-tech­nische Angestellte und mit einem jun­gen Arzt, der gerade mit dem Studium fertig war, verlobt. Sie wollten in drei Wochen heiraten, doch ihr Verlobter war auf einmal spurlos verschwunden. Deshalb hatte sie Dave beauftragt, ihn zu suchen. Doch Dave hatte keinen Er­folg gehabt.

Vor einigen Tagen hatte ihn dann Vic­ky atemlos aus ihrem Apartment ange­rufen und gesagt, sie sei in höchster Ge­fahr. Zwei Männer hantierten bereits an ihrer Tür herum. Das Gespräch war abrupt abgebrochen worden. Als Dave Merrick in ihre Wohnung kam, war Vic­ky weg gewesen. Die Wohnung war durchwühlt worden, Kästen und Schub­laden waren herausgerissen und alle persönlichen Papiere und Fotos von Vic­ky verschwunden.

Dave hatte den Behörden davon be­richtet, aber seitdem nichts mehr von dem Fall gehört.

Und nun las er, daß Vicky in einen Un­fall verwickelt war und daß ein Gorilla am Steuer des Unfallautos gesessen ha­ben sollte.

Gedankenverloren sah er auf den Tra­falgar Square hinaus. Das tat er immer, wenn er nachdachte. Dann fiel sein Blick auf den Kalender. Heute hätte Vic­kys Hochzeitstag sein sollen.

Dave las nochmals den Zeitungsbe­richt durch. Vicky war in ein Hospital in der Nähe von Basingstoke gebracht worden.

Dave angelte sich eine Zigarette aus einer Packung und zündete sie an, aber er bekam einen Hustenanfall und drückte die Zigarette nach zwei Zügen  wieder aus.

„Sandra, beschaffen Sie mir die Tele­fonnummer vom Hospital, in dem Vic­ky Fairland liegt!“

Dave stand auf und ging im Zimmer auf und ab.

Sandra schnappte sich das Telefon und rief die Auskunft an. Dave hörte nur mit halbem Ohr zu. Er überlegte, ob er der Polizei Bescheid sagen sollte, zu­erst brauchte er noch mehr Informa­tionen.

„Die Nummer habe ich“, sagte San­dra. „Soll ich Sie verbinden?“

Dave runzelte die Stirn. „Später“, sag­te er. „Zuerst werde ich mal John His­lop anrufen.“

John Hislop war einer der Kriminal­reporter des Daily Express und ein guter Freund.

Dave wählte die Nummer der Zei­tung und verlangte Hislop. Ein Mädchen meldete sich.

„Hier Dave Merrick. Ist John in der Nähe?“

„Tut mit leid, Mr. Merrick, er ist nicht da.“

„Wo kann ich ihn erreichen?“

„Er ist nach Basingstoke gefahren.“

„Hat er den Fall mit dem Gorilla über­nommen?“ fragte Dave.

„Genau“, sagte das Mädchen. „Soll ich Mr. Hislop etwas ausrichten?“

„Das ist nicht notwendig, ich werde ihn in Basingstoke treffen.“

Dave legte den Hörer auf.

„Sie fahren ins Spital?“ erkundigte sich Sandra.

„Das ist doch wohl meine Pflicht“, meinte Dave. „Sie ist schließlich noch immer meine Klientin.“

„Sollten Sie nicht die Polizei anrufen und sagen, daß Sie wissen, daß es sich bei dem unbekannten Mädchen um Vic­ky Fairland handelt?“

Dave grunzte. „Eigentlich schon, aber ich habe nicht besonders viel Lust dazu. Das kann ich noch immer von Basing­stoke aus tun. Verbinden Sie mich mal mit dem Hospital, Sandra!“

Das Mädchen am Telefon verweiger­te jede Antwort bezüglich der Unbekannten; sie sagte nicht einmal, ob das Mädchen noch im Spital war.

„Ich fahre los“, sagte Dave. „Ich melde mich später bei Ihnen. Sollte mich je­mand verlangen, dann sagen Sie, Sie hätten keine Ahnung, wo ich mich herumtreibe.“

Er nickte Sandra zu, als er hinaus­ging.

Fünf Minuten später war Dave unter­wegs. Er kämpfte sich durch den dich­ten Verkehr und fuhr The Mall entlang. Seine Gedanken kreisten immer wie­der um Vicky Fairland.

In seiner Laufbahn hatte er es schon mit einigen seltsamen Fällen zu tun ge­habt, aber ein Gorilla hinterm Steuer - das war neu. Allerdings hielt er das Ganze immer noch für einen Irrtum. Nur eines war ihm klar: Vicky Fairland  mußte in eine ganz üble Sache verwic­kelt sein. Ein Polizist war erschossen worden, ein Funkstreifenwagen in Flammen aufgegangen.

Endlich hatte er London hinter sich gelassen. Jetzt kam er rascher vorwärts. Der frische Luftzug, der durch die Fenster blies, machte ihn vollends nüchtern. Bald kam er an die Abzwei­gung nach Basingstoke, einer kleinen Stadt mit ungefähr 25 000 Einwohnern. Vor einiger Zeit hatte er einmal geschäftlich hier zu tun gehabt. Daher wußte er, wo das Victory Hospital lag. Er mußte quer durch die Stadt fahren.

Das Victory Hospital war ein uraltes Spital. Es mußte vor mehr als hundert­fünfzig Jahren gebaut worden sein und ähnelte einer Festung. Eine gut zwei Meter hohe Steinmauer schloß das Areal ein.

Dave schlenderte langsam auf den Haupteingang zu und sah gleich die Meute: Mehr als zwanzig Reporter und ein Dutzend Fotografen. Nach den fin­steren Mienen der Reporter zu schlie­ßen, war es ihnen verwehrt worden, das Spital zu betreten.

John Hislop unterhielt sich mit einer Kollegin. Hislop war Mitte dreißig und sah sehr englisch aus: hager, streng kon­servativ gekleidet, mit Melone und Re­genschirm. Hislop wußte, daß er lächer­lich wirkte, aber gerade deshalb zog er sich weiterhin so an.

„Hallo, John!“ sagte Dave.

Hislop drehte sich um und zog die lin­ke Braue überrascht hoch.

„Sieh mal einer an!“ sagte er. „Der Schnüffler vom Dienst ist auch da. Nun sag aber nicht, daß du rein zufällig hier bist.“

Dave schüttelte den Kopf.

John legte ihm die rechte Hand auf die Schulter. „Heraus mit der Sprache, alter Freund!“

„Gehen wir etwas trinken“, meinte Dave.

„Ums Eck ist ein Pub“, sagte John.

„Wer leitet die Untersuchung?“ frag­te Dave auf dem Weg ins Lokal.

„Inspektor Robert Crumb“, sagte John.

Dave verzog das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. „Das hat mir gerade noch gefehlt. Der bekloppte Crumb! wie hat es denn den nach hierher verschlagen?“

„Keine Ahnung.“ John lachte. „Wahr­scheinlich war er Scotland Yard in London zu dumm und da haben sie sich ge­dacht, für Basingstoke wird es schon rei­chen.“

Dave bestellte sich Schinken mit Ei­ern und ein kleines Bier.

„Heraus mit der Sprache!“ drängte der Reporter. „Was führt dich her?“

„Später“, sagte Dave. „Zuerst habe ich ein paar Fragen an dich. Was ist an der Sache wirklich dran? Stimmt das mit dem Gorilla?“

„Es stimmt“, sagte Hislop. „Ein ausge­wachsener Gorilla saß hinter dem Steuer. Sein Schädel wurde total zerquetscht. Er wurde so zusammenge...“

„Bitte, keine Details!“ bat Dave. „Wie erklärt sich die Polizei das Ganze?“

„Keine Ahnung“, meinte Hislop unge­halten. „Die Brüder hüllen sich in Schweigen. Keine Antwort. Sie haben eine große Suchaktion gestartet.“

„Wonach?“

John Hislop kicherte. „Sie fragen her­um, ob ein Gorilla aus einem Zoo ent­sprungen ist.“

„Das ist doch Unsinn! Die glauben doch nicht, daß ein Gorilla ausbricht, sich einen Wagen stiehlt und in eine Straßensperre fährt?“

„Wahrscheinlich eine Idee von Crumb. Der hat immer so tolle Einfälle. Aber jetzt Schluß mit dem Herumgerede! Sag, was du hier suchst?“

Dave bekam den gebratenen Schin­ken mit Eiern serviert.

„Das unbekannte Mädchen ist meine Klientin“, sagte er und griff nach dem Besteck.

„Name, Adresse?“ sagte Hislop und beugte sich interessiert vor.

Dave schüttelte den Kopf. „Das sage ich dir nicht. Ich kann mich noch immer irren. Ich muß das Mädchen erst sehen, dann sage ich dir alles.“

„Hm“, machte der Reporter. „Aber wie willst du hineinkommen? Die Poli­zei läßt niemanden ins Spital.“

„Streng mal ein bißchen dein Köpf­chen an, John, dann wirst du merken, daß es für mich keine Schwierigkeit ist, zu dem Mädchen zu kommen.“

Hislop runzelte unwillig die Stirn. Es war ihm wirklich nicht klar; wie Dave Merrick das schaffen wollte.

Genußvoll aß Dave weiter. „Nun, hat es noch immer nicht gefunkt, Dave?“

„Nein, ich kann mir...“

Dave seufzte: „Und so was nennt sich nun Reporter.“ Kopfschüttelnd griff er nach dem Bierglas. „Die Polizei weiß nicht, wer das Mädchen ist, ich kann es ihr aber sagen. Hat es jetzt Klick ge­macht?“

„Verstehe“, sagte Hislop. „Aber du kannst mir trotzdem etwas erzählen“, maulte er.

„Nein, geht nicht. Berufsethik. Meine Lippen sind versiegelt. Wenn ich das Mädchen gesehen habe, gebe ich dir Be­scheid.“

John Hislop wußte aus langjähriger Erfahrung, daß es vollkommen sinnlos war, weiter in Dave Merrick zu drin­gen.

„Iß rascher, alter Freund!“ sagte er.

„Nur mit der Ruhe! Hast ist schädlich. Davon bekommt man Magengeschwüre.“

Aber er aß dann doch rascher.

Sie zahlten und gingen zum Kranken­haus. Die Reporter standen noch immer vor dem Eingang.

Hislop unterhielt sich mit einem Mäd­chen und kam dann zu Dave zurück. „In­spektor Robert Crumb ist eben einge­troffen.“-

Dave grinste. „Den wird wahrschein­lich der Schlag treffen, wenn er mich so auf nüchternen Magen sehen muß.“

Zielstrebig steuerte Merrick auf den Eingang zu.

Ein Polizist in Uniform vertrat ihm den Weg.

„Wohin wollen Sie, Sir?“ fragte er höf­lich.

„Zu Inspektor Crumb.“

„Ihr Name, Sir?“

Dave zog seine Brieftasche hervor, fischte eine Visitenkarte heraus und drückte sie dem Polizisten in die Hand.

„Privatdetektiv“, sagte der Polizist, und alle Verachtung dieser Welt schwang in dem einen Wort. „Ich glau­be kaum, daß Inspektor Crumb mit Ihnen sprechen wird.“

„Mein Bester“, sagte Dave näselnd, „wie wäre es, wenn Sie Ihre Knochen zu­sammenreißen und den Inspektor fra­gen würden?“

Der Polizist sah ziemlich böse drein. „Sie haben mir überhaupt keine Vor­schriften zu machen. Sie sind...“

Dave sah den Inspektor. Er war ein mürrischer vierschrötiger Typ mit zu langen Armen und zu kurzen Beinen. Wenn man es recht bedachte, war Crumb eigentlich nur die Karikatur eines Menschen. Sein Schädel wirkte viereckig und war vollkommen kahl, im krassen Gegensatz zu den schwar­zen buschigen Brauen.

„Inspektor!“ rief Dave und winkte.

Crumb sah auf. Sein Gesicht war eine gleichgültige Maske gewesen, doch als er Merrick erblickte, ging eine erschrec­kende Veränderung damit vor. Plötz­lich sah das Gesicht diabolisch aus.

Er stürzte auf Merrick zu. „Was ma­chen Sie hier? Sie kommen nur über meine Leiche hier herein, Sie schäbiger, aufgeblasener Schnüffler!“

Dave lachte. „Denken Sie an Ihren Blutdruck, Inspektor! Und schwingen Sie keine großen Töne, das könnte mal ins Auge gehen.“

Crumb stellte sich in Positur. „Sie sind ein frecher Kerl, Merrick. Ich habe mich redlich bemüht, daß Ihnen die Li­zenz weggenommen wird, leider ist es mir nicht gelungen. Aber...“

„Dazu gehört ein Mann mit Niveau, aber Sie...“

Der Inspektor lief rot an.

„Hauen Sie ab“, sagte er gefährlich lei­se. „Aber rasch!“

Dave zündete sich eine Zigarette an und blies Crumb den Rauch ins Gesicht.

„Tut mir leid, Inspektor“, sagte er. „Sie müssen mich hinein lassen. Ich bin gekommen, um das Mädchen zu identifi­zieren.“

Crumb sah ihn durchdringend an. „Sie kennen das Mädchen?“

„Ja.“ Dave nickte. „Ich glaube, sie ist eine Klientin von mir. Miß Vicky Fair­land. Aber das Foto in der Zeitung war nicht besonders gut. Wenn ich sie sehen dürfte, dann...“

„Ich traue Ihnen nicht, Merrick“, sagte Crumb böse. „Sie haben immer eine Menge Tricks auf Lager.“

„Die braucht man, wenn man mit der Polizei zu tun hat.“

Der Inspektor wollte wieder aufbrau­sen, überlegte es sich aber anders.

„Kommen Sie mit! Aber Gott sei Ih­nen gnädig, wenn es sich als Irrtum her­ausstellt!“

Crurnb ging vor. Dave drehte sich kurz um. Die Reporter sahen ihm neid­erfüllt nach.

Sie gingen an der Aufnahme vorbei auf die breite Treppe zu. Dave war noch nie ein Freund von Krankenhäusern ge­wesen. Der Geruch schlug sich auf sei­nen Magen. Es dauerte immer einige Zeit, bis er sich daran gewöhnt hatte.

Der Inspektor ging ziemlich rasch. Er nahm zwei Stufen auf einmal. Endlich hatten sie das zweite Stockwerk er­reicht. Die rechte Wand war ganz mit Glas verbaut, eine kleine Tür stand halb offen.

Crumb trat ein. Ein Polizist sprang auf und nahm Haltung an. Er warf Mer­rick einen neugierigen Blick zu.

Dave sah kurz aus einem Fenster in den Hof hinunter.

„Ist jemand drinnen?“ fragte Crumb.

„Ja, Sir“, sagte der Cop. „Eine Schwe­ster und ein Arzt. Niemand darf jetzt hinein.“

Der Inspektor brummte unwillig. „Sind die schon lange drinnen?“

„Seit zehn Minuten, Sir.“

„Da kann es ja nicht mehr lange dau­ern.“

„Seit wann sind Sie in Basingstoke?“ erkundigte sich Dave.

„Seit einem halben Jahr. Warum fra­gen Sie?“

„Sie sind mir schon abgegangen.“ Dave grinste. „Es ist jetzt so ruhig in London. Sie sollten zurückkommen.“

„Mir gefällt es hier besser“, sagte Crumb.

Die Tür wurde geöffnet, und ein hage­rer Assistenzarzt trat heraus, gefolgt von einer dicken Krankenschwester.

„Was wollen Sie?“ fragte der Arzt in barschem Ton Crumb.

„Die Verletzte sehen.“

„Das wird nicht gehen. Niemand darf zu ihr.“

„Nur einen Augenblick!“ flehte Crumb. „Wir werfen nur einen Blick auf ihr Gesicht, dann gehen wir.“

„Es geht nicht“, sagte der Arzt unge­duldig. „Das Mädchen liegt unter einem Sauerstoffzelt. Niemand darf hinein.“

Crumb resignierte. „Wann dürfen wir sie dann sehen?“

„In zwei, drei .Stunden, nicht früher. Schwester Anne, Sie bleiben bei der Pa­tientin! Ich komme sofort wieder.“

Die Schwester nickte.

Der Arzt warf Crumb einen hochmü­tigen Blick zu, drehte sich um und stol­zierte den Gang entlang.

„Widerlicher Hammel!“ schnaufte Crumb und hob dann die Schultern. „Aber man kann nichts machen. Kom­men Sie um drei Uhr wieder her, Mer­rick! Und sehen Sie zu, daß Sie mir in der Zwischenzeit nicht über den Weg laufen. Ihr Anblick verursacht mir Ma­gendrücken.“

„Komisch“, sagte Dave näselnd, „da geht es Ihnen ja so wie mir. Habe gar nicht gewußt, daß wir etwas Gemein­sames haben.“

Dave sah, daß der Inspektor vor einer Explosion stand, und empfahl sich. Miß­mutig stieg er die Stufen hinunter.

„Hast du sie gesehen, Dave?“ erkun­digte sich Hislop.

„Nein, die haben uns nicht zu ihr gelassen. Um drei Uhr dürfen wir es noch­mals versuchen.“

„Da müssen wir eben warten.“

Kurz nach zwei Uhr fand eine Presse­konferenz statt. Sie wurde im Aufent­haltsraum im Erdgeschoß des Spitals abgehalten. Dave war ungeniert mit den Reportern mitgegangen. Er wußte genau, daß Inspektor Crurnb nichts dage­gen machen konnte, da er einen Presse­ausweis besaß und gelegentlich für eine Presseagentur arbeitete.

Inspektor Crumb hatte an der Stirn­wand des Saales Platz genommen. Ne­ben ihm saß ein korpulenter Mann mit eisengrauem Haar und einem traurig herabhängenden Schnurrbart. Dave Merrick setzte sich zu John Hislop.

Crumb stand auf und räusperte sich.

„Meine Herrschaften“, begann er stoc­kend und rieb nervös die Hände anein­ander. „Darf ich Ihnen Dr. Steve Norton vorstellen. Er ist der Gerichtsmedizi­ner.“

Dr. Norton nickte und sprang in die Höhe. „Ich kann Ihnen den Obduktions­befund bekanntgeben. Ich konnte meh­rere Brüche feststellen, die aber nicht tödlich waren. Doch der Schädel wurde bei dem Unfall vollkommen zertrüm­mert.“

„Von wem redet er eigentlich?“ fragte Dave.

„Von dem Gorilla“, sagte Hislop leise.

„Aber der spricht ja, als würde es sich um einen Menschen handeln.“

„Herz und Lungen“, sprach der Patho­loge weiter, „waren tadellos in Ordnung. Im Übrigen keine merkwürdigen Symptome. Wenn Sie Einzelheiten wis­sen wollen, stehe ich Ihnen gern zur Ver­fügung.“

Der Reporter stand auf.

„Auf Einzelheiten lege ich keinen ge­steigerten Wert“, sagte er. „War es nun ein Gorilla oder nicht?“

„Ja, es war ein Gorilla. Ich würde sa­gen, ungefähr acht Jahre alt. Ein Männ­chen, falls Sie das interessiert.“

„Sie müssen doch irgendetwas Unna­türliches festgestellt haben, Doktor. Es ist doch unmöglich, daß ein Affe einen Wagen steuert, noch dazu mit einem Tempo von hundert Meilen.“

„Ich sagte Ihnen schon, daß ich nichts Merkwürdiges feststellen konnte“, er­widerte der Pathologe.

„Eine Frage an Sie, Inspektor Crumb“, meldete sich eine junge Repor­terin zu Wort. „Suchen Sie noch immer nach einem entsprungenen Gorilla?“

Einige lachten, und Crumb lief rot an.

„Ja, wir suchen noch immer. Viele von Ihnen finden das lächerlich, aber von irgendwo muß doch der Affe herge­kommen sein. Allerdings wird nirgends ein Gorilla vermißt, weder in einem Zoo noch in einem Zirkus. Wir wandten uns auch an alle Tierhandlungen und Pri­vatbesitzer.“

John Hislop fragte: „Ist das verletzte Mädchen schon identifiziert worden? Welche Verletzungen hat sie? Wird sie hierbleiben oder nach London gebracht werden?“

„Sie ist noch nicht identifiziert“, sagte Crumb. „Wir haben einige Hinweise be­kommen, es wurden aber mehr als zehn verschiedene Namen genannt. Wie Ih­nen wahrscheinlich bekannt ist, be­hauptet Dave Merrick, das Mädchen zu kennen. Doch er hatte noch keine Gele­genheit, sie zu sehen. Verletzungen - na ja - einige Brüche, ein Schädelbasis­bruch - es steht ziemlich ernst um das Mädchen. Wahrscheinlich wird sie noch heute mit einem Hubschrauber nach London gebracht werden.“

„Wem hat der grüne Morris gehört?“ fragte Brubeck von der Times.

„Der Wagen wurde gestern gestoh­len.“

„Wo?“

„In der Nähe von Plymouth.“

„Und der zweite Wagen? Es war doch ein Bentley? Hat man da nähere Hin­weise?“

„Nein, leider noch nicht. Die Num­merntafeln waren mit Schmutz bedeckt und nicht zu erkennen.“

„Können Sie sich ein Bild über den Hintergrund dieses Falls machen oder tappen Sie vollkommen im dunkeln?“ erkundigte sich Warburton von den Evening News.

„Wir haben eine Spur, aber darüber darf ich nichts sagen.“

Schallendes Gelächter.

„Das sagen Sie uns doch immer, wenn Sie keinen Anhaltspunkt haben“, mein­te Warburton. „Geben Sie uns einen Tip!“

„Das darf ich nicht.“

Die Pressekonferenz hatte nichts Neues gebracht. Die Reporter wurden immer unruhiger. Ihre Zeitungen er­warteten von ihnen Berichte, aber was sie zu melden hatten, war recht dürftig.

Um drei Uhr stand Dave Merrick mit Inspektor Crumb wieder vor der wei­ßen Tür, hinter der das Mädchen lag. Der hagere Assistenzarzt ließ sie aber wieder nicht ein.

„Tut mir leid, Sie sind nochmals um­sonst gekommen“, sagte er. „Wir berei­ten eben alles für den Flug nach Lon­don vor. Ich kann Sie nicht zu ihr lassen.“

„Wann fliegen Sie los?“ fragte Crumb.

„In ein paar Minuten. Ich fliege mit. Bitte, halten Sie mich nicht mehr län­ger auf.“

Doch Dave dachte nicht daran, aufzu­geben. Er würde warten, bis sich eine Gelegenheit bot, das Mädchen zu sehen.

Der Inspektor sprach kurz mit dem Polizisten, und Dave verdrückte sich in­zwischen unauffällig. Als er an den Toi­letten vorbeikam, blieb er stehen. Ihm war eine Möglichkeit eingefallen, von wo aus er alles recht gut beobachten konnte. Er zog die Tür auf und sperrte sie hinter sich ab. Innen blickte er sich kurz um, stieg auf die Klosettmuschel und öffnete das Fenster, das sich in Kopfhöhe befand. Neugierig streckte er den Kopf hinaus.

Es war so, wie er es sich gedacht hat­te. Er sah auf den Gang und gleichzeitig auf den Hof. Crumb sprach noch immer auf den Polizisten ein, ging dann aber schließlich.

Nach einigen Sekunden hörte Dave das Geräusch eines Hubschraubers. Er blickte durch das andere Fenster. Der Hubschrauber war im Hof des Spitals gelandet. Ein weißgekleideter Mann stieg aus. Wahrscheinlich ein Arzt, vermutete Dave. Ihm folgte eine Frau in Schwesterntracht.

Sie kamen rasch näher.

Die Krankenschwester sah bild­hübsch aus. Glattes blondes Haar sah unter ihrem adretten Häubchen her­vor. Der Mann neben ihr wirkte düster. Er hatte eine ungesunde Gesichtsfarbe, schmale Lippen und einen stechenden Blick. Die beiden verschwanden im Ein­gang des Spitals. Dave sah wieder auf den Gang. Der Polizist ging langsam auf und ab. Nach einigen Minuten tra­fen der Mann und die Krankenschwe­ster aus dem Hubschrauber ein. Sie verschwanden im Zimmer des Mädchens. Wieder vergingen einige Minuten. Dann erschienen zwei Spitalshelfer mit je einer Bahre. Sie blieben vor dem Zim­mer stehen.

Was soll das? fragte sich Dave. Wieso zwei Bahren?

Die Tür öffnete sich und der Mann aus dem Hubschrauber sagte etwas zu den Helfern, die Pakistani waren. Einer der Farbigen nickte und schob seine Bahre ins Zimmer.

Zwei Minuten später schob er die Bah­re wieder raus. Darauf lag ein mensch­licher Körper, der mit einem Leintuch bedeckt war.

So bringt man nur Tote fort, schoß es Dave durch den Kopf. Da stimmt doch etwas nicht!

Der Helfer blieb kurz stehen und unterhielt sich mit seinem Kollegen. Dann wurde die zweite Bahre in den Raum gebracht, und die Tür schloß sich wieder.

Der Pakistani war sich nicht ganz schlüssig, was er tun sollte diesen Eindruck gewann zumindest Dave, der be­schloß, seinen Beobachtungsposten auf­zugeben und der Sache nachzugehen. Er trat aus der Toilette. Der Helfer mit der Bahre kam auf ihn zu. Der Pakista­ni schob die Bahre langsam vor sich her und warf Dave einen kurzen Blick zu.

Dave sah ihm nach. Das Leintuch war zur Seite gerutscht, und Dave konn­te einen schwarzen Herrenschuh erken­nen.

Es war doch sehr ungewöhnlich, daß ein Toter in einem Spital Schuhe trug. Rasch eilte er dem Helfer nach.

„Wen führen Sie da weg?“ fragte er scharf.

„Ich nicht wissen, Sir“, sagte der Far­bige erschrocken. „Ich nur Auftrag be­kommen. Ich nichts wissen.“

„Bleiben Sie stehen!“ sagte Dave hei­ser.

Er trat an das Kopfende der Bahre und griff nach dem Tuch. Es war unter dem Kopf des Toten verknotet worden. Mit einem einzigen Ruck zog er es weg und fuhr überrascht zurück.

Er sah das bleiche Gesicht des Assi­stenzarztes, der das Mädchen auf dem Transport nach London hätte begleiten sollen. Die Augen waren halb geöffnet, der Blick starr.

Seine Ahnungen hatten Dave nicht getäuscht.

„Ist was, Sir?“ fragte der Helfer.

Dave gab ihm keine Antwort. Er durf­te keine Sekunde mehr verlieren. Wie ein Irrer rannte er den Gang zurück, stieß fast eine Krankenschwester um, stammelte im Weiterlaufen eine Ent­schuldigung und erreichte atemlos die Tür, hinter der das Mädchen gelegen hatte. Er riß sie auf. Das Zimmer war leer. Auch der Polizist war verschwun­den.

Dave drehte sich um, stürzte ans Gangfenster und sah, wie eben ein Helfer eine Bahre aus dem Tor in den Hof schob. Der Mann und die Krankenschwester aus dem Flugzeug folgten ihm. Sie hatten den Aufzug genommen, der ganz am Ende des rechten Trakts lag.

Jetzt kam es auf jede Sekunde an. Dave flog geradezu die Treppe nach un­ten. Schweiß rann ihm übers Gesicht. Nur noch wenige Stufen, dann hatte er es geschafft. Er achtete nicht auf die verwunderten Blicke, die ihn trafen.

Endlich hatte er die große Eingangs­halle erreicht. Er durchquerte sie und riß die Tür zum Hof auf. Der Spitalhelfer kam mit der leeren Bahre zurück, der Polizist ging neben ihm.

Dave schrie ihnen etwas zu, doch sie schüttelten den Kopf, sie verstanden ihn nicht.

Der Hubschrauberpilot ließ den Mo­tor anlaufen.

Es gab nur eine Möglichkeit, das Mäd­chen zu retten. Dave mußte versuchen, den Helikopter aufzuhalten.

Er sprintete los.

Der Lärm wurde zu einem Tosen. Noch hundert Meter. Der Hubschrauber bewegte sich schon leicht und konn­te jeden Augenblick abheben.

Daves Atem kam rasselnd. Nur noch wenige Meter, da hob der Hubschrau­ber ab. Sekundenlang schien er einen halben Meter über dem Boden zu schwe­ben, dann stieg er langsam höher und kam etwas auf Dave zu.

Für Dave gab es kein Zögern. Als der Hubschrauber sich genau über ihm be­fand, schnellte er sich in die Höhe. Seine linke Hand glitt ab, doch die Rechte erwischte eine der Querverstrebungen. Er packte fest zu, dann wurde er ruck­artig in die Höhe gerissen. Er biß die Zähne zusammen. Der Hubschrauber stieg steil in die Höhe. Er brauste knapp über das Spital hinweg. Unwillkürlich zog Dave die Beine an.

Unter sich sah er immer kleiner wer­dend das Spital. Im Hof erkannte er den Polizisten und den Helfer. Doch die konnten ihm jetzt nicht helfen.

Er mußte sich mehr in die Höhe zie­hen, andernfalls würde er bald abstür­zen. Der Fahrtwind zerrte an seiner Jac­ke. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Er spürte, wie ihn langsam die Kräfte ver­ließen.


* * *
 

Inspektor Crumb trat in den Hof des Spitals. Mit weit aufgerissenen Augensah er dem Hubschrauber nach, kniff sie zusammen und öffnete sie dann wie­der.

„Das ist doch unmöglich!“ keuchte er.

Er sah Dave Merrick, der sich an den Verstrebungen der Bodenwand des Hubschraubers festgeklammert hatte.

Der Hubschrauber stieg immer höher und entfernte sich in Richtung Westen.

„Der Pilot fliegt nicht nach London“, stellte Crumb fest. „Geben Sie mir einen Bericht!“ wandte er sich an den Polizisten, der die Patientin zum Hubschrauber begleitet hatte.

Der Polizist gab stammelnd seinen Bericht.

„Warum haben Sie nicht eingegrif­fen?“ brüllte Crumb. „Sie konnten nur blöd zuschauen. Das wird Ihnen...“

„Entschuldigung, Sir“, hörte er hinter sich eine Stimme.

Crumb drehte sich unwillig um. Vor ihm stand ein zweiter Polizist.

„Was gibt es?“ fragte der Inspektor ungnädig.

„Wir haben einen Toten gefunden“, sagte er.

„Das soll in einem Spital vorkom­men“, sagte Crumb sarkastisch.

„Ja, Sir, aber der Tote wurde ermor­det.“

„Führen Sie mich hin!“ sagte Crumb. „Und Sie“ - er wandte sich an den ande­ren Polizisten - „verständigen sofort die Polizeistation! Man soll versuchen, den Hubschrauber zu erwischen.“

Crumbs Gedanken gingen im Kreis. Er konnte sich keinen Reim darauf ma­chen, wieso Merrick sich am Hubschrau­ber festgeklammert hatte.

Der Tote war in die Leichenkammer gebracht worden. Ein kleiner Mann in einem weißen Mantel stürzte sofort auf Crumb zu.

„Ich bin Dr. Holden“, stellte er sich vor. „Sehen Sie sich das an, Inspektor!“ Er trat auf eine Bahre zu.

„Das ist doch der Assistenzarzt, der…“

„Genau“, sagte Dr. Holden. „Es ist Dr. Delbourne. Er wurde ermordet. Sehen Sie selbst!“

Holden drehte den Toten etwas auf die Seite. Im Rücken steckte eine Hohl­sonde.

„Erstochen“, sagte der Arzt. „Die Hohl­sonde ist ungefähr fünfzehn Zentime­ter lang. Dr. Delbourne muß sofort tot gewesen sein. Meiner Meinung nach hat das ein Fachmann getan. Er traf au­genblicklich ins Herz.“

Crumb nickte.

„Verständigen Sie sofort die Mord­kommission!“ befahl er dem Polizisten, der ihn in die Leichenkammer geführt hatte. „Wann wurde der Tote ent­deckt?“

.Dr. Holden räusperte sich. „Vor eini­gen Minuten. Ein Helfer schob die Bah­re herein. Eine Krankenschwester, die zufällig vorbeigekommen war, erkann­te Delbourne und schlug Alarm.“

„Kann ich mit dem Helfer sprechen?“

„Dort steht er!“ sagte Holden.

Der Pakistani war ziemlich nervös.

„Ich nichts wissen“, sagte er. „Gar nichts wissen. Ich Auftrag bekommen, sonst nichts. Ich immer Auftrag gut er­füllen.“

„Das bestreitet niemand, Mann“, sag­te Crumb. „Wer gab Ihnen den Auftrag, den Toten in die Leichenhalle zubrin­gen?“

Es dauerte einige Zeit, ehe Crumb die notwendigen Informationen hatte. Der Arzt aus dem Hubschrauber mußte den Befehl gegeben haben. Und je länger Crumb nachdachte, je sicherer war er, daß jemand die Patientin entführt hat­te.


* * *


Der Fahrtwind wurde immer stär­ker. Verzweifelt versuchte Dave, sich zu dem Gestell emporzuarbeiten, daß an der Bodenplatte des Hubschraubers befestigt war.

Der Hubschrauber sah ungewöhnlich aus, wie eine Mischung aus zwei voll­kommen verschiedenen Typen. Auf der einen Seite erinnerte er Dave an einen Kaman H-43, auf der anderen Seite an eine Alouette II. Er hatte zwei weit aus­ladende Kufen, die an der Bodenplatte befestigt waren. Zusätzlich war ein git­terartiger Verschlag angebracht, der ihn etwas an die Raubtiergänge erinnerte, die man im Zirkus verwendete.

Er hatte schon einen ganzen Haufen von Hubschraubern gesehen, aber diese Konstruktion war ihm unbekannt.

Einen Augenblick lang sah er in die Tiefe. Sie flogen in etwa fünfhundert Meter Höhe, doch das störte Dave nicht besonders. Er war ein begeisterter Sportflieger. Nur hatte er sich bis jetzt immer im Inneren eines Flugzeuges befunden. Er mußte unbedingt in den git­terartigen Verschlag. Dann war er in re­lativer Sicherheit.

Es war ein ziemliches verzweifeltes Unternehmen.

Mehrmals verfehlte er die schmale Öffnung, doch schließlich gelang es ihm, sich hochzuziehen und beide Bei­ne so weit durchzuschieben, bis er bis zu den Knien im Gitter steckte.

Erschöpft untersuchte er, ob das Git­ter ihn auch tragen würde. Es schien recht stabil zu sein. Langsam arbeitete er sich weiter vor, bis seine Füße gegen eine Eisenplatte stießen. Dann wälzte er sich auf den Bauch.

Jetzt war er vorerst in Sicherheit. Er steckte beide Arme durch das Gitter und atmete schwer. Der Wind trieb ihm Tränen in die Augen. Es war entsetzlich kalt. Ein Schauer nach dem anderen jagte durch seinen Körper.

Er schloß die Augen; nur gelegentlich öffnete er sie, aber er konnte ohnehin al­les nur wie durch einen Schleier sehen, und der Fahrtwind verursachte ihm ra­sende Kopfschmerzen.

Nach einiger Zeit glaubte er, Bristol zu erkennen. Wie lange er in der Luft ge­hangen hatte, wußte er nicht. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren.

Der Flug wurde langsamer. Dave öff­nete die Augen. Es dauerte einige Zeit, ehe er sich orientiert hatte und feststell­te, daß sie über Plymouth schwebten. Unter ihnen mußte Dartmoor liegen. Er kannte diese Gegend recht gut. Er hatte sie schon oft selbst überflogen. Dart­moor erstreckte sich über zwanzig Mei­len, von Exeter bis fast nach Plymouth.

Der Hubschrauber ging tiefer. Jetzt konnte er die beiden Straßen erkennen, die das Moor durchschnitten, und Prin­cetown, das fast im Herzen des Moors lag. Dort befand sich ein berühmtes Ge­fängnis, das 1806 für französische Gefan­gene aus den Napoleonischen Kriegen erbaut worden war.

Sie flogen weiter. Die Höhe betrug jetzt kaum noch hundert Meter. Die Kopfschmerzen hatten etwas nachge­lassen. Dave versuchte sich über seine nächsten Schritte klarzuwerden. Das beste war wohl, wenn er absprang, doch dazu waren Geschwindigkeit und Höhe noch zu groß und zu hoch.

Dave war sicher, daß sie dem Ziel ziemlich nahe sein mußten. Der Hubschrauber ging immer tiefer und wurde immer langsamer.

Sie hatten das Moor fast hinter sich gelassen, als der Hubschrauber einen Kreis zog. Neben einer Baumgruppe stand ein schwarzer Wagen. Die Marke konnte Dave nicht erkennen, Der Hub­schrauber flog noch eine Runde und - dann genau auf den Wagen zu.

Es war ein schwarzer Cadillac. Die rechte vordere Tür stand offen, und ein Mann stieg aus. Er sah zum Hubschrau­ber hinauf. Als er Dave sah, begann er aufgeregt zu gestikulieren.

Ein zweiter Mann stieg aus.

Dave kroch aus dem Verschlag her­vor.

Einer der Männer holte ein Gewehr und legte es auf Dave an, ließ die Waffe aber gleich wieder sinken. Anschei­nend hatte er Angst, den Hubschrauber zu treffen.

Dave hatte sich fast aus dem Gestell befreit. Immer wieder blickte er zum Auto hinunter. Dort sah er jetzt drei Männer. Einer der Männer holte etwas aus dem Auto. Dave konnte nicht sehen, was es war.

Der Hubschrauber drehte noch eine Runde und stieg wieder etwas hoch.

Vom Auto löste sich ein dunkler Schatten. Es sah wie ein Vogel aus. Das Tier flatterte einmal unsicher um das Auto und stieg dann steil in die Höhe. Es flog direkt auf den Hubschrauber zu.

Es war eine unwahrscheinlich große Fledermaus. Sie kam immer näher.

Eine solche Fledermaus hatte Dave noch nie gesehen. Der Schädel war eine häßliche Fratze, der Körper mit einem rot schillernden kostbaren Pelz bedeckt. Das Tier gab keinen Laut von sich. Unbeirrt flog es auf Dave zu und zeigte seine spitzen Zähne. Es war nur noch einen halben Meter von Dave entfernt.

Dave klammerte sich mit der linken Hand am Gitter fest, und mit der rech­ten versuchte er die Fledermaus abzu­wehren. Er schlug auf den häßlichen Schädel ein. Das Tier taumelte etwas zurück, kam aber sofort wieder näher.

Der Hubschrauber stieg höher, und die Fledermaus folgte. Bis jetzt hatte Dave sie abwehren können. Seine Hand begann zu bluten.

Dann änderte das Tier seine Taktik. Es näherte sich Dave nicht mehr von vorn, sondern von unten.

Dave preßte seine rechte Hand gegen die Brust und beobachtete die Bestie aufmerksam. Als sie in Reichweite war, schoß seine rechte Hand blitzschnell vor und erwischte einen Flügel. Er machte die Hand zu. Das Tier drehte sich zur Seite und verbiß sich in seinen Handrücken, doch Dave lockerte seinen Griff nicht. Die Fledermaus flatterte wie verrückt. Dave stieß das Tier im­mer wieder gegen das Gitter. Seine Hand begann unerträglich zu schmer­zen. Die Bestie grub ihre spitzen Kral­len in seinen Rockärmel. Die Krallen waren so spitz, daß sie mühelos in sei­nen Arm eindrangen.

Dave keuchte vor Schmerz und Wut und schlug das Tier unaufhörlich gegen das Gitter, bis die Bewegungen der Fle­dermaus endlich langsamer wurden. Er hatte ihr das Genick gebrochen. Sie war tot.

Dave versuchte sich zu befreien, doch noch im Tod hatte die Fledermaus so fest zugebissen, daß er sie nicht abschüt­teln konnte.

Der Hubschrauber setzte erneut zur Landung an. Unweit des Cadillac woll­te er 'runtergehen. Dave mußte schnell­stens aus dem Gitter heraus. Trotzdem er im Augenblick nur eine Hand zur Verfügung hatte, schaffte er es.

Der Hubschrauber war nur noch vier Meter über dem Boden, als sich Dave fallen ließ. Er zog die Beine an. Unter ihm dehnte sich das Moor aus, und das war sein Glück.

Er prallte auf, drehte sich nach links und landete in einer Lache. Der Boden unter ihm gab nach, und glucksend überspülte ihn das Wasser. Sein Kopf steckte tief im Schlamm. Er richtete sich auf. Seine Beine versanken bis zu den Knien.

Der schwarze Cadillac stand etwa zweihundert Meter entfernt. Dave muß­te als erstes die tote Fledermaus loswer­den. Die Krallen hatte er bald gelöst, doch die scharfen Zähne hatten sich ziemlich fest in ihn verbissen.

Da hörte Dave den ersten Schuß. Er drehte sich um. Zwei Männer rannten auf ihn zu. Einer schoß mit einer Pisto­le, der andere mit einem Gewehr.

Dave ging in die Knie und hechtete weiter ins Moor. Die Fledermaus hatte er endlich los. Sekundenlang sah er die häßliche Wunde auf dem Handrücken an, doch zum Jammern hatte er jetzt keine Zeit. Die Verfolger waren hun­dertfünfzig Meter hinter ihm.

Der Boden war heimtückisch. Stellen­weise war er fest, doch das konnte sehr täuschen. Einmal versank er bis zu den Hüften im Morast. Sein einziger Trost war, daß es seinen Verfolgern auch nicht besserging. Sie kamen nicht näher. Der Abstand blieb immer gleich.

Vor ihm lag ein kleines Wäldchen. Dort war der Boden vermutlich fest. Ausgepumpt erreichte er die ersten Bäume und hastete los. Sein Arm be­gann, jetzt immer stärker zu schmerzen. Er konnte die Hand kaum noch bewe­gen. Sie schwoll stark an.

Hinter einem Steinblock suchte er Deckung, konnte seine Verfolger jedoch nicht sehen. Er fühlte sich unend­lich müde. Am liebsten hätte er sich nie­dergelegt, aber er mußte sich in Sicher­heit bringen und die Polizei verständi­gen.

Langsam stand Dave auf und sah zu­fällig hoch. Knapp über ihm flogen drei Fledermäuse.

Der Fall wurde immer mysteriöser. Zuerst der Affe am Steuer und jetzt dressierte Fledermäuse. Was das wohl alles zu bedeuten hatte?

Er holte seine Pistole hervor, eine Smith & Wesson, Modell 39, und entsicherte sie. Leider hatte er keine Reser­vemunition eingesteckt. Er hatte also nur acht Schuß.

Er ließ die Waffe sinken und durch­querte das Wäldchen. Vor ihm lag wie­der das Moor. Er war seit Jahren nicht hiergewesen, aber er wußte, daß zwei Straßen das Moor durchkreuzten. Eine führte von Exeter nach Plynn, die ande­re von Ashburton nach Tavistock. Und Dave war sicher, daß sich eine der Stra­ßen ganz in der Nähe befand.

Er mußte das Moor durchwaten. Es blieb ihm keine andere Möglichkeit. Und wenn er sich verlief?

Immer mehr Fledermäuse umkreis­ten ihn. Jetzt waren es schon acht. Dave konnte sich das nicht erklären. Fleder­mäuse mieden doch normalerweise das Tageslicht.

Er ging am Rand des Moors entlang.

Die ersten hundert Meter kam er flott vorwärts, doch bald wurde es schwie­riger. Er versank immer wieder bis zu den Knöcheln im Wasser. Unterdessen vermehrten sich die Fledermäuse.

Und je tiefer er ins Moor eindrang, umso unheimlicher wurde ihm alles.

Plötzlich glaubte er Schatten zu se­hen. Das Moor war voll geisterhafter Er­scheinungen. Sah er aber konzentriert auf einen Punkt, verschwanden die schemenhaften Gestalten wieder.

Über ihn zog jetzt kreischend ein Schwarm Sumpfenten hinweg. Die Fledermäuse hatten sich verstreut, nur zwei flogen noch genau über seinem Kopf.

Der Himmel war von schiefergrauer Farbe. Einige dunkle Wolken zogen von Osten heran.

Dave blieb stehen. Wieder bildete er sich ein, einen Schatten gesehen zu ha­ben. Unwillig schüttelte er den Kopf und wandte sich um, doch von den Verfolgern war nichts zu sehen.

Das Gehen durch den Morast ermüde­te ihn zusehends. Sein Arm schmerzte bis zur Schulter hinauf. Flüchtig unter­suchte er die Wunde. Der Handrücken war der Länge nach aufgerissen.

Dann sah er erneut einen Schatten. Diesmal hatte er sich nicht getäuscht. Der Schatten blieb. Er kam langsam nä­her, und dann tauchten weitere Schatten auf.

Unwillkürlich hob Dave die Pistole. Noch konnte er keine Einzelheiten er­kennen. Er hörte die Schatten nur la­chen. Es lief ihm kalt über den Rücken. So ein Lachen hatte er noch nie gehört. Es wurde lauter und durchdringender.

Dave drehte sich gehetzt um. Von al­len Richtungen kamen die Schatten auf ihn zu. Jetzt konnte er auch Einzelheiten ausnehmen. Eines der Wesen bewegte sich rascher als die anderen. Es war ungefähr einen Meter siebzig groß, menschenähnlich und doch unheimlich fremdartig. Dave konnte deutlich die Adern durchschimmern sehen. Der Schädel war vollkommen kahl; die Au­gen waren schmal, die Iris war purpur­rot, die Pupillen weiß, die Ohren waren spitz und nach oben hin zulaufend, der Mund war farblos:

Das Wesen schob die Lippen zurück und lachte. Es war ein heiseres Bellen, ähnlich dem eines Hundes. Die Zähne waren spitz zulaufende Kugel. Beson­ders die Eckzähne sahen bedrohlich aus.

Das Wesen schlich immer näher. Es schien über dem Boden zu schweben, denn es versank nicht einen Zentimeter im Morast.

Ohne zu denken, schoß Dave. Die er­ste Kugel traf das Wesen in den Bauch. Er sah, wie die Kugel ein Loch riß, das sich aber sofort wieder schloß.

Wieder zog Dave durch, diesmal traf er das Ungeheuer in die Stirn, doch auch diese Wunde schloß sich gleich wieder!

Dave schoß ein drittes Mal und dreh­te sich dann um und rannte los, kam je­doch nicht weit. Aus allen Richtungen stürzten Ungeheuer auf ihn zu. Es muß­ten mindestens zwanzig sein. Dave schoß immer wieder, aber die Wirkung war gleich Null.

Schließlich war das erste Wesen bei ihm angelangt. Dave spürte, wie eiskal­te Hände nach seinem Hals griffen. Er versetzte dem Ungeheuer einen kräfti­gen Faustschlag und traf es genau über den Augen. Es taumelte zurück, ging in die Knie, stand aber sofort wieder auf.

Alle lachten, und dieses Lachen trieb Dave fast in den Wahnsinn. Er schlug um sich, doch das nützte ihm nichts.

Die Wesen umringten ihn. Sie pack­ten seine Arme und rissen sie zurück. Dave wollte schreien, aber der Schrei er­stickte in seiner Kehle. Sie faßten jetzt nach seinen Beinen und zerrten ihn hoch. Er wurde so festgehalten, daß er sich nicht bewegen konnte. Überall an seinem Körper spürte er die eiskalten Hände der Ungeheuer.

Eines der Wesen blieb direkt vor ihm stehen. Die Augen begannen zu flac­kern, die Pupillen wurden immer klei­ner, bis sie nur mehr stecknadelkopfgroß waren. Die Nasenflügel bebten, und das Wesen beugte den Kopf vor.

Das Lachen war verstummt. Die Ruhe traf Dave wie ein Keulenschlag.

„Laßt mich los!“ brüllte er. „Laßt mich los!“

Das Ungeheuer öffnete den Mund, die Lippen glitten zurück, die Zähne beweg­ten sich, wurden nach vorn geschoben, und die Eckzähne begannen zu wach­sen.

Das Monster atmete keuchend. Eine übelriechende Wolke hüllte Dave ein. Das Wesen griff nach Daves Kopf, fuhr über seinen Hals, lockerte den Schlips und öffnete den obersten Knopf seines Hemdes.

Dave wollte sich losreißen, doch so sehr er sich auch anstrengte, es gelang ihm nicht.

Das Wesen sah ihm in die Augen. Die Iris wurde größer, immer größer, die Pu­pille war nicht mehr zu sehen. Blitz­schnell ließ das Ungeheuer den Kopf vorschnellen und riß den Mund weit auf. Dave spürte die Zähne an seinem Hals.

„Aufhören!“ hörte er eine Stimme.

Der Vampir zog erschreckt den Kopf zurück.

„Sofort aufhören!“

Ein riesenhafter Vampir war aufge­taucht.

„Ich kann dein Verlangen nach fri­schem Blut verstehen“, sagte der Neuan­kömmling, „aber wir dürfen ihn nicht anfassen, ehe der Doktor diesen Mann gesehen hat.“

Die Vampire begannen wütend zu heulen, fügten sich aber der Anordnung.

Dave wurde hochgehoben und durch das Moor geschleppt. Als die Vampire von seinem Strampeln endgültig genug hatten, drückten zwei kalte Hände sich auf seinen Hals. Dave wurde es rot vor den Augen. Verzweifelt rang er nach Luft, dann wurde er ohnmächtig.


* * *


Zuerst hörte Dave Stimmen. Sie schie­nen aus unendlicher Ferne zu kommen. Sein Hals schmerzte. Er fühlte sich voll­kommen zerschlagen. Vor seinen Au­gen tanzten rotblaue Kreise.

Dave drehte sich zur Seite und setzte sich auf. Er saß neben dem schwarzen Cadillac. Daneben stand ein hellgrauer Kombiwagen.

Einer der Männer richtete eine Ma­schinenpistole auf ihn.

„Keine Bewegung!“ sagte der Mann drohend.

Dave sah sich aufmerksam um. Im In­neren des Kombiwagens erkannte er die Bahre, auf der das Mädchen lag. Es gab keinen Zweifel, es war Vicky FairIand. Die Krankenschwester saß neben ihr. Der Arzt aus dem Hubschrauber stieg eben ein.

Vicky bewegte sich leicht. Sie hob den Kopf, schlug die Augen auf und ihr Blick fiel auf das Gesicht des Arztes.

„Nein!“ schrie sie auf. „Nein! Nicht noch mal! Nicht!“

So viel Entsetzen hatte Dave noch nie auf dem Gesicht eines Menschen gese­hen. Was mochte das Mädchen mitge­macht haben, welche grauenhaften Din­ge hatte sie gesehen?

Vicky begann haltlos zu schluchzen und fiel dann wieder in Ohnmacht.

Dave wußte, daß er dieses vor Entset­zen verzerrte Gesicht nie in seinem Le­ben vergessen würde. Immer wieder würde er an diese Augen denken müssen, die ohne jede Hoffnung gewesen waren, nur voll Furcht.

Der Mann mit der Maschinenpistole hatte sich überrascht umgedreht, und diese Gelegenheit wollte Dave nutzen. Mit einem Sprung war er hoch. Ein Handkantenschlag, und der Mann fiel in die Knie. Wie ein tobender Berserker warf sich Dave auf den Arzt, packte ihn an der Kehle und drückte zu. Unbeherrscht schüttelte er den Körper des Mannes. Dann bekam er einen Schlag auf den Hinterkopf, taumelte und fiel fast zu Boden. Noch ein Schlag folgte. Dave wurde nicht ohnmächtig, blieb aber ziemlich benommen sitzen.

„Geben Sie ihm eine Spritze, Doktor!“ sagte einer der Männer.

Dave konnte keinen klaren Gedan­ken fassen. Teilnahmslos blieb er am Boden sitzen. Sie schoben einen Ärmel hoch und der Arzt kam mit einer Spritze an. Da erwachte Daves Lebensgeist wieder. Er wollte den Arzt abwehren, doch er wurde festgehalten und mußte hilflos mit ansehen, wie er kampfunfä­hig gemacht wurde.

„Rasch! Wir müssen fort!“ schrie ein Mann. „Ein Polizeihubschrauber kommt!“

Dave konnte nur mit Mühe die Augen offenhalten. Nur noch sehr undeutlich spürte er, wie er hochgehoben wurde. Er versuchte gegen die Wirkung der Spritze anzukämpfen und es gelang ihm noch einmal, die Augen zu öffnen.

Der Mann mit der Maschinenpistole hatte seine Waffe in Anschlag gebracht. Sie hämmerte Ios.

Vor Dave verwischte sich alles zu ei­ner alptraumhaften, blutroten Szene, die von seltsam zerdehnten Schüssen zerrissen wurde.


* * *
 

Zuerst war der Schmerz da; ein dröh­nendes Pochen im Hinterkopf. Dann roch er die scharfe tierische Ausdün­stung.

Dave schlug die Augen auf. Es war dunkel um ihn herum. Sekundenlang blieb er ruhig liegen. Es dauerte einige Zeit, bis sich seine Augen an die Dunkel­heit gewöhnten. Viel konnte er nicht er­kennen. Er mußte sich in einem Käfig befinden. Vor sich sah er undeutlich Stä­be aufragen, die in der Decke ver­schwanden. Es war warm, und er hörte leise Bewegungen im Stroh und dann ein unwilliges Brüllen.

Dave stand auf und blieb schwan­kend stehen. Seine verletzte Hand war verbunden. Er machte einen Schritt, stolperte fast über einen Bottich, der mit Wasser gefüllt war, stieg rüber und nach weiteren drei Schritten hatte er das Gitter erreicht. Neugierig sah er hinaus.

Der ganze Raum bestand aus Käfi­gen. Einer stand neben dem anderen. Der Käfig links von ihm war leer, der rechts war besetzt.

Dave hielt den Atem an. Ein riesiger Affe sah neugierig zu ihm herüber.

Erschrocken trat Dave einen Schritt zurück.

Der Affe preßte den Schädel ans Git­ter, krächzte und schlug mit einer Faust gegen seinen riesigen Brustkorb. Es war ein Gorilla. Ein ausgewachsenes  Männchen. Die Farbe des Fells reichte von dunkelgrau bis schwarz. Der Affe stieß sein heiseres Bellen aus. Auch in den anderen Käfigen begannen die Tie­re sich jetzt zu regen. Mehr als zehn Go­rillas drängten sich an die Gitter und betrachteten Dave forschend.

Daves Gedanken gingen im Kreis. Er war gefangengenommen und in einen Käfig gesteckt worden. Und seine Lei­densgenossen waren lauter Affen.

Er war sicher, daß der Gorilla, der in die Straßensperre gefahren war, von hier entkommen sein mußte. Zwangs­läufig ergab sich die Frage: Waren es tatsächlich Tiere?

„Könnt ihr mich verstehen?“ fragte er.

Seine Stimme klang wie zerspringen­des Glas.

Im nächsten Moment ging die Decken­beleuchtung an, und Schritte näherten sich.

Die Gorillas zogen sich ins Innere der Käfige zurück.

Dave legte sich rasch auf den Boden, und zwar so, daß er alles sehen konnte. Er schloß die Augen halb und gab sich den Anschein, als wäre er noch immer ohnmächtig.

Ein stämmiger Mann, der selbst wie ein Affe aussah, kam die Stufen herunter. Er trug ein Bananenbüschel. Ei­nige Bananen riß er ab und warf sie in einen Käfig. Dieser Vorgang wiederhol­te sich, bis in allen Käfigen Bananen lagen. Vor Daves Käfig blieb der Mann stehen, sah kurz hinein, hob die Schultern und stieg die Stufen hinauf. Das Licht wurde abgedreht, dann war es wieder dunkel.

Dave wartete eine halbe Minute, ehe er aufstand. Er war entsetzlich durstig, packte den Wasserbottich und trank.

Die Affen waren wieder an die Gitter­stäbe getreten und starrten Dave an. Keiner gab einen Laut von sich.

Dave setzte den Bottich ab und wisch­te sich den Mund trocken. Er räusperte  sich, dann wiederholte er seine Frage von vorhin.

„Könnt ihr mich verstehen?“

Der Gorilla im Nebenkäfig nickte.

„Ihr könnt aber nicht sprechen?“

Verneinend schüttelte der Affe den Kopf.

„Mein -Name ist Dave Merrick“, sagte er laut. „Ich bin Privatdetektiv. Was seid ihr? Menschen in Affengestalt?“

Die Affen wiegten zweifelnd den Kopf.

„Menschen?“

Diesmal nickten alle.

Dave setzte sich erschüttert nieder. Der Gedanke war zu ungeheuerlich. Das konnte nicht wahr sein.

„Ich schlage folgendes Verständi­gungssystem vor“, sagte Dave. Kopfschütteln bedeutet nein. Nicken bedeu­tet ja. Und wenn die Frage nicht mit Ja oder Nein zu beantworten ist, dann zeigt es durch Kreisen des Kopfes an, Al­Ies verstanden?“

Eifriges Nicken folgte.

„Vielleicht könnt ihr auch manches durch Gesten ausdrücken.“

Es war ziemlich dunkel im Raum. Knapp unter der Decke befand sich ein Fenster, das geschlossen war. Ein sehwacher Lichtschein drang zwar her­ein, doch es war Dave trotzdem unmög­lich, Einzelheiten zu erkennen.

„Wenn ich es recht bedenke“, sagte er zögernd, „dann gibt es nur eine Erklä­rung. Jemand hat die Gehirne von Men­schen in Affenkörper verpflanzt. Stimmt das?“

Eifriges Nicken folgte, und Dave spür­te ein flaues Gefühl in der Magengegend.

„Habt ihr eine Ahnung, was mit mir geschehen wird?“ fragte er neugierig. Wieder Nicken.

Er hatte Angst, die nächste Frage zu stellen, aber es hatte keinen Sinn, vor dieser Antwort davonzulaufen. Dave war es lieber, wenn er genau wußte, was ihn erwartete.

„Wird mein Gehirn auch in einen Go­rillakörper verpflanzt werden?“

Die Affen zögerten mit der Antwort.

„Antwortet!“

Langsames Nicken folgte.

Dave schloß die Augen und setzte sich nieder. Es war so, wie er gedacht hatte. Er sah die Affen schweigend an. Die Vorstellung, daß er zu einem Affen ge­macht werden sollte, trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Er verbann­te den Gedanken rasch wieder.

„Was hattest du für einen Beruf?“ fragte er den Affen im Nebenkäfig. „Kannst du ihn durch Gesten beschrei­ben?“

Der Affe nickte.

Dave stand auf und trat ans Gitter, da­mit er besser sehen konnte.

Der Gorilla begann mit seiner Panto­mime. Er streckte einen Arm vor und hielt ihn Dave vors Gesicht, dann griff er sich an die Ohren und stopfte sich etwas Unsichtbares hinein. Mit beiden Händen hantierte er in Brusthöhe herum, dann legte er eine Hand an den Kör­per, die Rechte streckte er durch das Git­ter hindurch und tat so, als würde er die Herztöne von Dave abhören.

Unwillkürlich mußte Dave grinsen. „Du warst Arzt, stimmt's?“

Der Affe nickte begeistert. Er sprang in seinem Käfig herum und brüllte. Doch plötzlich blieb er stehen, trommel­te sich auf die Brust und knurrte durch­dringend. Die Stimmung des Gorillas war umgeschlagen; von einer Minute zur anderen war er wieder ein dummes Tier.

Dave stellte ihm einige Fragen, doch bekam keine Antwort. Der Gorilla sah ihn verständnislos an, dann schlich er auf allen vieren in eine Ecke seines Kä­figs, schob sich Stroh zusammen und legte sich nieder. Er stieß noch ein heise­res Bellen aus und schlief schließlich ein.

Die menschlichen Gehirne mußten bei der Operation sehr stark gelitten ha­ben und funktionierten nicht mehr nor­mal. Vielleicht konnten sich die Gehir­ne nur manchmal erinnern, vielleicht auch nur wenige Minuten lang. Die mei­sten Tiere - Dave beschloß, bei diesem Ausdruck zu bleiben - hatten die Bana­nen genommen und sich zurückgezo­gen.

Dave hatte noch immer Durst. Er trank wieder einen Schluck und nahm dann eine Banane und schälte sie. Heiß­hungrig verschlang er sie. Er aß sogar noch eine zweite.

Der Gorilla im Käfig gegenüber stand noch immer am Gitter. Dave beschloß, sich mit ihm zu unterhalten.

„Was hattest du für einen Beruf?“ fragte er.

Doch der Gorilla war nicht in der Stimmung, auf Daves Fragen zu antworten. Er sah verständnislos herüber, packte eine Banane und schälte sie ab.

Dave spürte die Verzweiflung hoch­kommen. Er war hier hilflos eingesperrt, und ein entsetzliches Schicksal drohte ihm.

„Antworte mir!“ brüllte er den Affen unbeherrscht an. „Antworte!“

Der Gorilla packte die Bananenscha­le, streckte seinen Arm durch die Gitter­stäbe und warf die Schalen in Daves Richtung, traf aber nicht.

Wieder flammte das Licht auf, und Dave legte sich rasch nieder.

Diesmal kam nicht ein einzelner Mann, sondern eine ganze Gruppe. Zuerst erschienen zwei Vampirwesen, die vor Daves Käfig stehenblieben.

Die Affen hatten sich auf ihre Plätze zurückgezogen. Sie verhielten sich nun mäuschenstill und zitterten erregt am ganzen Leib.

„Er ist wach“, sagte einer der Vampi­re. „Er hat zwei Bananen gegessen.“

Es war also sinnlos geworden, weiter­hin Versteck zu spielen.

Dave setzte sich auf.

Die Vampire sahen ihn uninteres­siert an. Hinter ihnen tauchte das häßliche Gesicht des Arztes auf. Er war noch ziemlich jung, hatte eine Halbglat­ze und ein Gesicht voll Pusteln.

„Stehen Sie auf!“ sagte er.

Aber Dave dachte nicht daran. Er blieb ruhig sitzen.

„Aufstehen!“ brüllte der Arzt.

„Scheren Sie sich zum Teufel!“ brummte Dave.

„Aufstehen!“ wiederholte der Arzt. „Dr. Ragor kommt.“

Von dieser Mitteilung war Dave nicht sonderlich beeindruckt.

Ein Mann stieg die Treppe herunter. Er war groß, eine stattliche Erscheinung., und trug einen makellos weißen Mantel. Auf der letzten Stufe blieb er stehen.

Der Arzt aus dem Hubschrauber trat servil zur Seite, die Vampire folgten sei­nem Beispiel.

„Ich bin Dr. Ragor“, sagte der Mann auf der Stufe.

Er hatte schmale, unwahrscheinlich weiße Hände und trug einen Ring, der wie, ein riesiges Schlangenauge aussah. Dr. Ragor war etwa fünfzig Jahre. Sein Gesicht war länglich, und hinter der Brille erkannte Dave graue Augen, die hart wie Stein waren.

-Neben Dr. Ragor stand die schönste Frau, die Dave je gesehen hatte. Sie war etwas größer als Ragor. Seidenweiches tizianrotes Haar fiel in weichen Wellen über ihre schmalen Schultern. Ihr Kör­per war perfekt. Er steckte in einem ein­fachen grünen Abendkleid, das ihre Schultern und die Ansätze ihrer hohen Brüste zeigte. Sie war so schön, daß Dave sie ungläubig anstarrte. Ein so perfektes, harmonisches Gesicht hatte er noch nie gesehen. Die Augen, die Nase, der Mund, alles paßte genau zu­sammen, Ihr Alter konnte Dave nicht schätzen. Sie konnte zwanzig sein, viel­leicht aber auch ein wenig älter.

Unwillkürlich stand Dave auf.

„Du gefällst unserem Gast, Elenore“, wandte sich Dr. Ragor an die Frau.

Besitzergreifend legte er seine rechte Hand auf ihre Hüfte, und die Frau sah ihn liebevoll an. Er ließ aber nur kurz seine Hand dort liegen. Langsam stieg er die letzen Stufen herunter und ging auf Dave zu.

„Es freut mich, Sie in meinem Haus begrüßen zu dürfen“, sagte Ragor spöt­tisch und verzog den Mund zu einem leichten Lächeln, doch der Ausdruck sei­ner Augen blieb kalt. „Ich freue mich über jeden Gast. Es wird Ihnen gut bei uns gefallen. Sie bekommen reichlich Wasser und Bananen. Und Sie werden Zeuge eines erregenden Experiments sein. Sagt Ihnen mein Name etwas?“

Dave schüttelte den Kopf. „Nie ge­hört.“

„Das ist Schade“, meinte Ragor. „Sehr schade.“

„Hören Sie mit dem blödsinnigen Ge­rede auf!“ fauchte Dave wütend. „Ich will hier raus.“

Ragor schüttelte den Kopf. „Das geht nicht, junger Freund. Sie bleiben hier. Mit Ihnen habe ich viel vor. Sehen Sie die Affen hier? Das waren einmal Men­schen. Einige waren Ärzte, Professoren, Künstler. Sie stellten sich für meine Ex­perimente zur Verfügung, so wie Sie sich zur Verfügung stellen werden.“

„Ich denke nicht daran“, sagte Dave.

Er stand nahe am Gitter und überleg­te, ob er den Arzt erwischen konnte, doch Ragor war zu weit entfernt.

„Es wird Ihnen nichts anderes übrig­bleiben. Ich werde Ihnen einiges über mich erzählen. Es freut mich, wenn ich mit jemandem über meine Arbeit sprechen kann. Ich bin Biologe, wahrschein­lich - was heißt wahrscheinlich - sicher der beste der ganzen Weit. Aber ich war auch ein bekannter Chirurg. Erinnert Sie das jetzt an etwas?“

Dave starrte in das Gesicht Ragors. Er hatte diesen Namen schon einmal ge­hört, aber das mußte ziemlich lange her sein.

„War da nicht etwas mit Experi­menten, die man Ihnen verbot?“

Ragor nickte zufrieden. „Ich sehe, Sie erinnern sich doch an mich. Ich experi­mentierte mit Tieren und mit mensch­lichen Embryos. Da entstand unter den Tierschutzvereinen Aufregung. Man verbot mir, meine Experimente weiter durchzuführen. Lauter Ignoranten, kümmerliche Wichte, denen nicht die Bedeutung meiner Versuche klar wur­de. Ich zog mich zurück und machte meine Experimente hier. Und ich hatte Erfolg. Zuerst verpflanzte ich nur Organe. Dann nahm ich mir das Gehirn vor. Ich verpflanzte Katzengehirne in Hun­de. Aber das befriedigte mich nicht auf die Dauer. Ich wollte mit Menschen ex­perimentieren. Ich legte meine For­schungsergebnisse Kollegen vor, doch sie lehnten es ab, sich damit zu beschäf­tigen. Auch die Regierung hatte kein Interesse. Ich bewarb mich um einen Forschungsauftrag, doch er wurde mir nicht gewährt. Niemand wollte etwas mit mir zu tun haben. Niemand.“

Seine Augen funkelten wütend. Der Mann ist wahnsinnig, stellte Dave fest, vollkommen wahnsinnig.

„Diese Affen sind nur ein erster Schritt“, fuhr Ragor fort. „Ein sehr unbefriedigender, muß ich leider zugeben. Es ist mir erst einmal gelungen, ein Ge­hirn zu verpflanzen, das bei der Opera­tion nicht wahnsinnig wurde. Aber jetzt habe ich alle Schwierigkeiten über­wunden. Jetzt wird es mir gelingen.“

„Was haben Sie mit mir vor?“ fragte Dave heiser.

„Ich mache Sie zu einem Affen“, sagte Ragor.. „Ich brauche noch einige we­nige, dann kann ich diese Serie abschlie­ßen und mich einem neuen Gebiet zu­wenden.“

„Lassen Sie mich heraus!“ sagte Dave wieder.

„Sie kommen nicht heraus. Hören Sie mit dem Jammern auf! Ertragen Sie Ihr Schicksal wie ein Mann.“

„Was haben Sie mit Vicky Fairland getan?“

„Noch nichts. Sie ist noch bewußtlos. Da macht es mir keinen Spaß. Ich habe etwas ganz besonders Schönes mit ihr vor.“

Er kicherte leise.

„Sie sind ein Ungeheuer“, sagte Dave. „Sie sind kein Mensch mehr.“

Ragor sah ihn böse an.

„Reizen Sie mich nicht!“ drohte er. „Ich kann Sie auch für ein anderes Experiment verwenden. Ich kann... Nein, das sage ich Ihnen, nicht. Es soll eine Überraschung werden. Sehen Sie die Vampire da? Sie gehorchen mir. Sie sind meine treuesten Diener. Ich versor­ge sie mit frischen Opfern, dafür dienen sie mir. Hier bei mir sind sie sicher.“

Die junge Frau sah Dave schon die ganze Zeit über merkwürdig an. Er konnte sich diesen Blick nicht erklären. Was wollte sie von ihm? Wollte sie ihm etwas mitteilen? Sie paßte so gar nicht zu Ragor, war ihm aber, so schien es, treu ergeben.

„Ich werde mir noch überlegen, was ich mit Ihnen machen soll“, sagte der Wissenschaftler abschließend. „Komm, Elenore!“

Das Mädchen ging vor. Sie wandte leicht den Kopf und warf Dave noch einen Blick zu.

Ragor blieb stehen.

„Schlafen Sie gut, junger Freund!“ sagte er höhnisch zu Dave. „Und angenehme Träume!“

„Gehen Sie zum Teufel!“ brüllte Dave ihm wütend nach.

Ragor kicherte nur leise.

Der Arzt aus dem Hubschrauber und die zwei Vampire standen noch immer vor Daves Käfig.

„Wir kommen jetzt zu Ihnen in den Käfig“, sagte er Arzt. „Sie brauchen aber auf keine dummen Gedanken zu kommen. Eine Flucht ist ausgeschlossen.“

„Dieser Ragor ist wahnsinnig“, sagte Dave.

„Sprechen Sie nicht so über Dr. Ragor!“ sagte der Arzt böse. „Er ist ein Ge­nie.“

Einer der Vampire sperrte die Käfig­tür auf und trat ein, der zweite folgte.

Der Anblick der Vampire verursach­te Dave ein Schaudern. Sie sahen ekelerregend aus -mit ihrer durchsichtigen Haut. Einer der beiden packte ihn am rechten Arm. Dave zuckte zusammen, wehrte die Hand ab und schlug sie zur  Seite. Er mußte hier heraus und wußte nicht, wann sich wieder so eine günsti­ge Gelegenheit bot. Entschlossen sprang er auf die Tür zu, bevor er sie aber erreichte, reagierte der Arzt. Er hatte versteckt in der Hand eine Spraydose getragen, die er jetzt auf Dave rich­tete.

Ein feiner Strahl traf Dave und plötz­lich war sein Körper wie gelähmt. Sei­ne Augen begannen zu tränen, und er hustete gequält.

Die Vampire packten ihn. Einer schob seinen rechten Rockärmel zurück, und wieder einmal bekam Dave eine Injektion.

Als seine Benommenheit verebbte, be­fand er sich wieder allein in seinem Kä­fig. Der Arzt stand draußen und beob­achtete ihn spöttisch.

„Damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben: Ich bin Dr. Stark.“

Dave wollte etwas sagen, doch seine Zunge war gelähmt, nur sinnloses Ge­stammel kam über seine Lippen. Er ver­suchte aufzustehen, doch seine Glieder gehorchten ihm nicht. Vor seinen Au­gen verschwamm erneut alles. Es war, als würde er durch eine Kamera sehen, die in rascher Folge das Objektiv wech­selte. Einmal sah er alles ganz nah, dann entfernten sich die Gegenstände wieder. Der Boden schien sich zu bewe­gen, die Käfigstangen verbogen sich und dann kam die Decke herunter.

Dave wollte schreien, konnte jedoch nicht. Er schloß die Augen. Grüne Krei­se zuckten vor ihm auf, dann Rechtec­ke, die sich langsam drehten, immer grö­ßer wurden und schließlich zerplatzten.

Er riß die Augen wieder auf. Es war dunkel. Sie hatten das Licht ausgeschal­tet.

Er hatte Durst, ganz entsetzlichen Durst. Schweiß rann über seine Stirn. Die Zunge fühlte sich geschwollen an.

Dave wollte aufstehen. Der Wasser­bottich war nur einem halben Meter ent­fernt. Doch Dave kam nicht hoch. Im Sitzen schlief er ein.

Sein Schlaf war unruhig. Immer wie­der schreckte er auf, doch die Wirkung der Droge hatte noch nicht nachgelas­sen; er konnte sich noch immer nicht be­wegen.

Dann hörte er die Schreie. Unmensch­liche Schreie, die ihm durch Mark und Bein gingen. Es war ihm, als wäre es Vickys Stimme gewesen.

Die Affen scharrten unruhig im Stroh, doch keiner gab einen Laut von sich.

Als Dave erneut wach wurde, war es heller im Raum. Eine Fledermaus hing an einem der Deckenbalken. Aufmerk­sam drehte sie den häßlichen Schädel.

Dave fühlte sich unendlich müde, doch die Lähmung war vorüber. Er kniete nieder und arbeitete sich auf den Wasserbottich zu. Alles in ihm lechzte nach Wasser. Endlich erreichten seine Hände das Gefäß. Er hob es hoch, setzte es an, knallte es aber gleich wieder wü­tend auf den Boden. Es war leer. Nicht ein einziger Tropfen Wasser befand sich darin.

Verbittert warf sich Dave auf den Bauch. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Alles drehte sich um ihn. Es war, als wäre er in einem Flugzeug ein­gesperrt, das immer wieder durchsack­te.

Dave stöhnte und wälzte sich er­schöpft auf die andere Seite. Das Ge­sicht Vicky Fairlands tauchte vor sei­nem geistigen Auge auf. Er sah den ge­öffneten Mund, und ihre Schreie hall­ten in seinen Ohren wider.

Verzweifelt krallte er seine Hände in das Stroh, und ein heiserer Laut kam über seine Lippen.

Dann wechselte das Bild. Jetzt sah er Elenore, die schöne Begleiterin Ragors. Sie lächelte ihm zu, doch gleich darauf löste sich ihr Gesicht auf und ent­schwand in einer blutroten Wolke.

Die Affen begannen sich zu bewegen. Einige standen auf. Einer knurrte laut.

Dave hob den Kopf. Er konnte wieder normal sehen.

Der Affe aus dem Nebenkäfig starrte ihn an.

Dave packte seinen Bottich, stand tor­kelnd auf, taumelte an das Gitter und hob das Gefäß an.

„Kannst du mir etwas Wasser ge­ben?“ bat er.

Der Affe schüttelte den Kopf, sprang zurück, rannte auf sein eigenes Gefäß zu, hockte sich nieder und legte einen Arm darum. Er sah Dave böse an und bellte leise.

„Ich gebe es dir später zurück“, ver­sprach Dave.

Seine Worte waren ein fast unver­ständliches Krächzen.

Doch der Affe wollte nicht. Er brüllte durchdringend. Es war zwecklos, stellte Dave fest. Er würde kein Wasser be­kommen.

Resigniert ging er im Käfig auf und ab. Er müßte in Form bleiben. Er durfte sich nicht von der Droge unterkriegen lassen, denn vielleicht würde sich doch noch eine Möglichkeit zur Flucht erge­ben.

Ein Mann kam die Treppe herunter. Er trug eine riesige Kanne und ein Bü­schel Bananen. Dave sah, wie die Affen ihre Bottiche neben das Gitter stellten.

Der Mann warf Dave einen kurzen Blick zu und begann mit der Fütterung. Jeder Affe bekam drei Bananen und et­was Wasser. Vor Daves Käfig blieb der Mann stehen.

„Sie bekommen nichts“, sagte er. „Sie müssen fasten.“

„Ich verdurste“, krächzte Dave. „Ge­ben Sie mir wenigstens etwas Wasser!“

Der Mann hörte nicht auf Dave. Er packte seine Kanne und stieg die Stufen hinauf.

„Wasser!“ lallte Dave. „Bitte!“

Der Mann drehte sich um. Ein böses Lächeln umspielte seine Lippen. Er stülpte die Kanne um und ließ das rest­liche Wasser die Stufen herabrinnen.

Dave ballte in ohnmächtiger Wut die Hände und streckte die Zunge heraus.

Der Mann lachte und verschwand.

Dave preßte den Kopf gegen die Git­terstäbe. Er mußte Fieber haben. Sein ganzer Körper glühte. Das kalte Eisen tat ihm gut. Er schloß die Augen und atmete schwer.

Du darfst dich nicht unterkriegen las­sen, sagte er sich. In der Droge war wahrscheinlich etwas gewesen, was sein Durstgefühl steigerte. Sie wollten ihn schwächen. Er sollte so schwach werden, daß er sich nicht mehr wehren konnte. Aber das sollte ihnen nicht so bald gelingen, schwor sich Dave.


* * *
 

Einige Stunden vergingen. Niemand kam zu den Affen herunter. Die Tiere waren ruhig. Dave hatte einige Fragen gestellt, doch die Affen hatten ihm kei­ne Antwort gegeben.

Er saß auf dem Boden und versuchte, nicht an seinen Durst zu denken. Immer wieder hatte Dave das Gefühl, am Rand eines Zusammenbruchs zu stehen. Sein Gehirn war die meiste Zeit umnebelt. Teilnahmslos sah er in den Nebenkäfig.

Der Gorilla, der früher ein Arzt gewe­sen war, verspeiste gerade eine Banane. Plötzlich stutzte er und griff sich ans Maul. Er holte einen Schlüssel hervor.

Dave sprang auf. Seine Müdigkeit war verschwunden. Er taumelte an das Gitter heran.

Der Affe sah den Schlüssel verwun­dert an und steckte ihn dann wieder in den Mund. Er biß darauf herum, doch nach wenigen Augenblicken holte er ihn wieder hervor, sah ihn nochmals an und ließ ihn in seiner rechten Hand verschwinden.

Dave war sicher, daß dieser Schlüssel für ihn bestimmt war. Irgendjemand hatte ihn in einer Banane verstecke Es mußte jemanden geben, der Interesse an seiner Flucht hatte. Er mußte den Schlüssel bekommen, koste es, was es wolle.

Der Affe begann, eine weitere Bana­ne zu fressen. Diesmal biß er in ein klei­nes silbernes Kreuz, das auch in seiner riesigen Pranke verschwand. Als er al­les verspeist hatte, hüpfte er in seinem Käfig herum. Immer wieder sah er den Schlüssel und das Kreuz an.

„He, du!“ krächzte Dave.

Der Gorilla blieb stehen und sah zu Dave herüber.

„Gib mir den Schlüssel und das Kreuz!“ bat er.

Der Affe schüttelte entschieden den Kopf und krampfte die Hand zusammen.

Dave mußte den Schlüssel bekom­men, aber wie sollte er den Affen dazu bewegen, die beiden Gegenstände her­auszugeben. Er durfte nichts überha­sten, sonst würde er den Affen nur miß­trauisch machen.

Wer hatte wohl die Gegenstände in den Bananen versteckt? Vielleicht Ele­nore, die Geliebte des wahnsinnigen Wissenschaftlers? Aber diese Mutmaßungen halfen ihm nicht weiter. Er mußte rasch an den Schlüssel kommen, bevor einer der Wärter zu den Affen kam.

Er setzte sich und sah dem Gorilla zu, der den Schlüssel hochwarf und dann wieder auffing. Dieses Spiel gefiel ihm offensichtlich sehr. Er wiederholte es immer wieder, während Dave sich sein Hirn zermarterte, um eine Möglichkeit zu finden, dem Affen den Schlüssel und das Kreuz abzuluchsen. Und plötzlich fiel ihm etwas ein.

Seine Uhr hatten sie ihm abgenom­men; auch seine Brieftasche, die Zigaretten und das Feuerzeug, aber sie hat­ten ihm seinen Schlüsselbund und ein Taschentuch gelassen.

Er holte den Schlüsselbund hervor, lö­ste zwei Schlüssel ab und steckte die an­deren in die Tasche zurück. Dann be­gann er wie der Affe im Nebenkäfig, die Schlüssel in die Höhe zu werfen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er den Gorilla. Er war neugierig näher gekom­men und sah Dave zu, doch Dave tat so, als würde er es nicht merken.

Der Gorilla bellte mehrmals bis Dave die Schlüssel in der Hand verschwin­den ließ und sich umdrehte. Der Affe gestikulierte wild und zeigte aufgeregt auf Daves Hand.

Dave schüttelte den Kopf.

Der Affe bellte wütend.

„Willst du tauschen?“ fragte Dave.

Der Gorilla wiegte zweifelnd den großen Schädel.

„Ich tausche einen meiner Schlüssel gegen deinen“, sagte er.

Der Affe schüttelte den Kopf und streckte Dave das Kreuz hin.

„Nein“, sagte Dave. Das Sprechen fiel ihm schwer. „Meine zwei Schlüssel für deinen und das Kreuz.“

Der Affe schüttelte wieder heftig den Kopf. Daraufhin wandte Dave ihm den Rücken zu und warf die Schlüssel er­neut hoch. Und nach einer Weile holte er aus der Rocktasche noch einen Schlüssel hervor. Wie ein Jongleur warf Dave die Schlüssel in die Luft.

Der Gorilla verfolgte jede seiner Be­wegungen ganz genau. Er war dicht ans Gitter herangetreten und streckte jetzt fordernd einen Arm durchs Gitter.

Dave holte noch einen Schlüssel her­vor.

Der Affe geriet vollends aus dem Häu­schen. Er kletterte das Gitter hoch, brüllte heiser, ließ sich dann auf den Bo­den fallen und schlug sich aufgeregt mit den Fäusten gegen die Brust.

„Ich gebe dir alle vier Schlüssel“, sagte Dave, „wenn ich deinen und das Kreuz bekomme.“

Der Affe zögerte und nickte schließ­lich rasch.

Dave schloß erleichtert die Augen. Als er sie wieder öffnete, hielt ihm der Gorilla das Kreuz und den Schlüssel hin. Blitzschnell griff Dave zu und ließ dann seine vier Schlüssel in die Hand des Affen fallen.

Es war aber gar nicht so einfach, an das Schloß zu kommen, da man er nicht von innen aufsperren konnte. Er schob den Arm durch das Gitter und verdreh­te die Hand, kam aber nicht ans Schlüs­selloch. Keuchend zog er die Hand zurück, betrachtete aufmerksam das Gitter und steckte dann die rechte Hand in die Höhe des Schlosses durch die Stäbe und drehte den Arm nach rechts. Diesmal erreichte er das Schlüs­selloch zwar, doch hielt, er den Schlüssel verkehrt. Als er ihn umdrehen wollte, fiel er ihm aus den Fingern. Er landete mit lautem Knall auf dem Steinboden und sprang mehr als einen halben Me­ter weit weg.

Fluchend kniete Dave nieder und streckte die rechte Hand durchs Gitter, aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte den Schlüssel nicht erreichen, Mit glühenden Augen starrte er ihn an. Dann sah er sich im Käfig um und fand unter dem Stroh ein kleines Holzplätt­chen, mit dessen Hilfe er den Schlüssel tatsächlich berühren konnte. Aber da hörte er Schritte. Der Schweiß rann ihm in Strömen übers Gesicht. Im aller­letzten Moment gelang es ihm, den Schlüssel näher heranzuziehen. Rasch steckte er ihn in die Tasche und ließ sich flach auf den Boden fallen.

Der Wärter stand auf der obersten Stufe und sah auf die Käfige herab.

„Wasser!“ stöhnte Dave. „Wasser!“

Der Mann schüttelte den Kopf und verschwand.

Aufatmend machte sich Dave wieder ans Schloß heran. Seine Hand zitterte. Nach einigen Versuchen mußte er eine kurze Pause erlegen, doch schließlich hatte er den Schlüssel in den Zylinder geschoben. Er drehte ihn einmal um, und da die Tür nicht nachgab, noch ein zweites MaI. Das Tor öffnete sich.

Erleichtert trat Dave auf den schma­len Korridor hinaus, drückte das Tor zu und sperrte ab. Den Schlüssel steckte er in seine rechte Hosentasche.

Die Affen bellten aufgeregt.

„Seid still!“ sagte Dave. „Ich hole Hil­fe. Keinen Laut!“

Sie gehorchten, drängten sich an die Gitterstäbe und sahen Dave an.

„Ich hole euch hier heraus“, ver­sprach er grimmig.

Er fischte das Kreuz aus seiner Rock­tasche und nahm es in die linke Hand. Die Wunde der rechten Hand war aufge­brochen, der Verband blutgetränkt.

Geduckt schlich Dave auf die Stufen zu. Sie führten zu einem schmalen Gang mit vielen Türen.

Seine Schuhe klapperten auf dem Steinboden. Erschrocken hielt er inne, zog sie aus und schlich dann weiter auf die erste Tür zu. Er preßte den Kopf gegen die Türfüllung, konnte aber nichts hören. Durch die zweite Tür drang Stimmengemurmel. Eine der Stimmen gehörte dem Wächter. Rasch lief Dave weiter. Er hielt den Atem so lange an, bis er glaubte seine Lungen würden platzen.

Vor einer Holztür am Ende des Gan­ges blieb er stehen. Er hatte keine ande­re Wahl, er mußte sie öffnen.

Die Tür knarrte, als er sie aufzog. Vor­sichtig steckte er den Kopf durch den Spalt.

Vor ihm lag ein großer Saal, vollgestopft mit alten Möbeln, Ritterrüstungen und Waffen. Die Wände waren mit riesigen Gobelins bedeckt, die Dec­ke kunstvoll geschnitzt. Durch ein ho­hes Fenster fiel Licht. Das Zimmer hat­te etwas Bedrückendes. Es wirkte kalt und unfreundlich, wie ein Raum in einem Museum. Nichts deutete darauf hin, daß dieser Raum bewohnt war.

Dave trat ein. Eine der zwei anderen Türen stand halb offen. Er blieb stehen und lauschte. Es war verdächtig ruhig. Als er die andere Tür erreicht hatte, hör­te er Schritte näher kommen. Hastig sah er sich nach einem Versteck um, und da er nichts Geeignetes fand, stürz­te er ins angrenzende Zimmer und zog rasch die Tür hinter sich zu.

Schweratmend sah er sich um und konnte nur mit Mühe einen Entsetzens­schrei unterdrücken.

Das Zimmer war klein. Ein Fenster stand offen; es war vergittert. Vor dem Fenster stand ein Bett, wie es in Irren­häusern verwendet wird. Und in diesem Bett lag ein kleiner Junge. Er konn­te nicht älter als fünf Jahre sein. Er war nackt, lag auf dem Rücken und sah Dave an. Der Körper des Jungen war normal, aber der Schädel war der eines Wolfes. Böse Augen starrten Dave an.

Das war sicherlich auch eines der ar­men Opfer, die Ragor zu seinen Experi­menten mißbraucht hatte. Wie tief konnte ein Mensch sinken? fragte sich Dave entsetzt.

Er konnte seinen Blick nicht von dem Jungen losreißen. Zögernd trat er nä­her. Der Junge verfolgte jede seiner Be­wegungen, rührte sich aber nicht.

Dave trat ans Fenster und sah hin­aus. Er befand sich im Erdgeschoß, und vor ihm dehnte sich ein undurchdring­licher Wald.

Wieder sah er den Jungen an; dann fiel sein Blick auf das Tischchen neben dem Bett. Darauf stand eine Wasserka­raffe. Gierig griff Dave danach und trank große Schlucke. Er fühlte sich au­genblicklich besser..

Durchs Fenster konnte er nicht ins Freie gelangen. Er versuchte kurz, das Gitter herauszureißen, mußte aber kapitulieren.

Also tappte er wieder zur Tür zurück, horchte und öffnete sie, da er nichts hö­ren konnte, rasch. In Windeseile durch­querte er den großen Raum und riß eine andere Tür auf. Wieder lag ein Gang vor ihm.

Wie sollte er hier nur herausfinden? Er hatte keine Zeit. Jeden Augenblick konnte seine Flucht entdeckt werden. Vielleicht suchten sie ihn schon überall.

Er öffnete nacheinander alle Türen, doch er fand nur leere Zimmer, in de­nen ein oder zwei Betten standen.

Alle Zimmer waren fensterlose düste­re Löcher mit dunklen Wänden. über­all roch es nach Lysol; alles wirkte ur­alt und deprimierend.

Hinter der letzten Tür lag ein größe­rer Raum. Nur einige Säcke Zement standen in einer Ecke, und ein Stapel Ziegelsteine lag daneben. Eine Wand war aufgerissen worden; die Lichtlei­tungen waren zu sehen.

Dave wich einem Kübel aus und stol­perte fast über liegengebliebenes Werk­zeug. Nachdenklich betrachtete er es. Möglicherweise eignete sich irgendet­was als Waffe?

Die Mauerkelle legte er zur Seite; sie war als Waffe nur bedingt geeignet. Kurz hob er den Schlegel hoch, legte ihn aber auch sofort wieder zurück. Und dann fiel sein Blick auf einen Maurer­hammer. Der war eine prächtige Waf­fe; damit konnte er einen Gegner erledi­gen.

Vor der zweiten Tür entdeckte er ei­nen mannshohen Holzstapel. Einige spitze Pflöcke lagen daneben. Dave war noch zwei Schritte von der Tür entfernt, als sie geöffnet wurde. Rasch duckte er sich und versteckte sich hinter den Brettern.

Ein Vampir trat in den Raum. Er schloß die Tür hinter sich und blieb vor den Zementsäcken stehen.

Dave hielt den Atem an. Seine Hand umklammerte den Griff des Hammers. Er spannte seine Muskeln und verfolg­te, wie der Vampir langsam den Kopf zu bewegen begann und sich dann blitz­schnell umdrehte. Blutrote Augen starr­ten ihn an.

Dave richtete sich halb auf, und da war der Vampir auch schon bei ihm, leg­te seine Hände um Daves Hals und drückte zu.

Dave schlug mit dem Hammer um sich. Er traf das Monster auf den Bauch, doch der Vampir zeigte keine Reaktion. Wieder schlug Dave zu. Der Vampir stieß einen hohen Stöhnlaut aus, und der Griff seiner Hände lockerte sich et­was.

Dave ließ sich zu Boden fallen und riß das Ungeheuer mit. Staub wirbelte auf, und Dave mußte niesen. Blitzschnell rollte er sich nach rechts und sprang hoch, doch der Vampir war gleich wie­der über ihm. Er fletschte die Zähne und verbreitete eine Wolke übelriechen­den Atems um sich.

Dave schlug abermals zu. Diesmal traf er den Schädel. Der Vampir schüttelte den Kopf und streckte die Hände nach Dave aus.

Dave wich einen Schritt zurück, griff rasch in seine Rocktasche und suchte nach dem kleinen silbernen Kreuz. Er versprach sich zwar nicht viel davon, aber ein Versuch konnte nicht schaden.

Er holte es hervor und hielt es dem Vampir vors Gesicht. Wütend und fau­chend sprang das Biest zurück. Dave ging auf den Vampir zu und drängte ihn in eine Ecke. Das Monster preßte sich gegen die Wand. Seine Augen flackerten unruhig. Schaum stand vor dem Maul des Ungeheuers.

Dave drückte das Kreuz gegen das eis­kalte Gesicht des Vampirs, und plötz­lich löste sich da, wo das Kreuz die Wan­ge berührt hatte, die Haut zischend auf.

Der Vampir öffnete den Mund, doch kein Laut kam hervor. Immer wieder drückte Dave das Kreuz gegen das Ge­sicht und den Körper des Monsters.

Wie erstarrt stand es in der Ecke. Es war ihm nicht möglich, sich zu wehren. Auf der anderen Seite waren die Ver­wundungen, die Dave ihm beibrachte, zu geringfügig. Allmählich begann es nach verbranntem Fleisch zu stinken.

Dave spürte, wie sein Magen zu rebel­lieren begann. So geht es nicht weiter, sagte er sich und rief sich ins Gedächt­nis, was er über Vampire alles gehört hatte. Der alte Aberglaube, daß Vampi­re Kreuze verabscheuten, stimmte; viel­leicht trafen auch die anderen Dinge zu, die man sich über sie erzählte: sie haßten Knoblauch, hieß es, und man konn­te sie töten, indem man ihnen einen Holzpfahl ins Herz bohrte.

Dave warf einen Blick auf den Holz­stapel, wo auch einige recht dicke Holz­pfähle lagen. Langsam ging er rück­wärts, ließ dabei aber den Vampir nicht aus den Augen. Nach ein paar Schritten fiel die Lähmung von dem Ungeheuer ab; es bewegte sich wieder.

Dave bückte sich und griff nach ei­nem Holzpfahl. Er lächelte grimmig, als er sich aufrichtete. Der Vampir starrte hypnotisiert auf den Pfahl und begann zu zittern. Er drückte sich noch tiefer in die Ecke, aber er konnte Dave nicht ent­kommen.

Dave packte den Pfahl am dickeren Ende und holte aus, mit voller Kraft rammte er ihn dem Vampir in die Brust. Das Monster bäumte sich auf und ging in die Knie. Es riß den Mund auf, doch kein Laut drang hervor.

Dave trat einen Schritt zurück.

Der Vampir umklammerte mit bei­den Händen den Pfahl, der aus seiner Brust ragte, und fiel zu Boden.

Dave versuchte, den Pfahl noch tiefer in dir Brust des Vampirs zu treiben. Er erinnerte sich des Hammers, kniete nie­der und schlug zu. Der Pfahl bohrte sich ins Fleisch. Nochmals schlug Dave zu. Nun hatte er das Herz des Vampirs und den ganzen Leib des Monsters durchbohrt. Blut rann aus der Wunde. Die Luft über dem Ungeheuer schien zu flimmern. Sein Gesicht verzerrte sich, dann zerfloß es wie Butter in der Sonne, und nach und nach löste sich der ganze Körper auf. Blut spritzte überall her­aus und die Haut platzte an mehreren Stellen.

Dave wandte sich ab. Zu entsetzlich waren der Anblick und der Gestank. Er ließ den Hammer fallen und rannte auf die Tür zu. Im letzten Moment wandte er sich noch einmal um;

Der Körper des Vampirs hatte sich aufgelöst. Eine pulsierende Blutlache verbreitete sich um den Holzpfahl, der noch immer im Boden steckte.

Dave sah sich wieder in einem brei­ten Korridor. Die Wände waren weiß ge­strichen. Am Ende des Ganges lag eine Milchglastür. Dave ging rasch darauf zu. über der Tür brannte eine rote Lampe. Dave war ziemlich sicher, daß er vor dem Operationssaal stand.

Er überlegte kurz, ob er eindringen sollte. Zwar war er waffenlos, aber er hatte die Überraschung auf seiner Sei­te. Das war ein Faktor, der sehr viel zählte.

Er öffnete rasch die Tür. Niemand achtete darauf. Zwei Männer waren in eine Operation vertieft. Sie wandten Dave die Rücken zu. Er sah auch eine Krankenschwester, wahrscheinlich die­selbe, die Vicky im Hubschrauber begleitet hatte. Das Mädchen und die Män­ner trugen Gummihandschuhe und Mundtücher.

Dave sah sich um. Sein Blick fiel auf ein aquariumartiges Gefäß, in dem in einer durchsichtigen Flüssigkeit ein Ge­hirn schwamm. Das Gefäß war mit ver­schiedenfarbigen Schläuchen an fünf Apparate angeschlossen.

Neben dem Gehirn stand eine fahrba­re Krankenbahre. Die hochgestellte Kopfstütze erlaubte es Dave nicht, zu er­kennen, wer darauf lag.

„Eine Lanzette!“ sagte Ragor zur Schwester.

Sie reichte ihm das Instrument.

Daves Blick fiel auf den Instrumen­tentisch. Dort lagen genügend Gegenstände, die sich als Waffen eigneten.

Geräuschlos glitt er näher.

Er kam am Gehirn vorbei und blieb schaudernd stehen. Dann streckte er die Hand nach den Instrumenten aus und hob langsam ein Skalpell hoch.

„Sehen Sie einen Augenblick nach dem Gehirn, Stark!“ sagte Ragor.

Der Assistenzarzt nickte, trat einen Schritt zur Seite und überprüfte alles genau.

„In Ordnung“, sagte er und drehte sich wieder um.

Und dann fiel sein Blick auf Dave. Sei­ne Augen wurden groß.

Dave handelte, ohne zu überlegen. Mit einem Sprung war er neben Stark, riß die Hand hoch und stieß mit dem Skalpell zu. Das Instrument bohrte sich tief in die Brust Starks, der lautlos zu­sammenbrach.

Dave konnte jetzt auf die Bahre se­hen, und sein Herz drohte, stehenzublei­ben.

Vicky Fairland lag vollkommen nackt auf der Bahre. Die Schädeldecke war abgeschnitten worden, der Kopf leer.

Dave stieß einen unmenschlichen Schrei aus, drehte sich um und stürzte sich auf Dr. Ragor. Sein Gesicht war verzerrt. Er hob das Skalpell und wollte zustoßen, doch irgendjemand packte seinen Arm.

Ragor brachte sich in Sicherheit. Und dann war der Teufel los.

Aus unsichtbaren Verstecken flogen Fledermäuse auf. Sie stürzten sich wü­tend auf Dave. Er schlug um sich, doch es wurden immer mehr.

Sie bissen in seine Hände und klam­merten sich an seinem Kopf fest. Dave konnte bald nichts mehr sehen. überall waren Fledermäuse. Sie hingen in dich­ten Trauben an seinem Körper.

Er schrie. Die Fledermäuse drückten ihn gegen den Boden.

Dann wurde er ohnmächtig.


* * *
 

Dave bewegte sich unruhig. Er lag auf dem Bauch, und das Stroh stach ihm ins Gesicht. Er hatte von Affen, von riesigen Gehirnen und furchterregenden Monstern geträumt.

Neben sich hörte er etwas rascheln. Er hielt die Augen geschlossen und blieb ruhig liegen. Sein Körper war eine einzige Wunde, und urplötzlich setzte die Erinnerung ein.

Er sprang hoch.

Sie hatten ihn wieder in den Käfig ge­steckt. Er war in den Operationssaal eingedrungen - das Gehirn im Gefäß - die Fledermäuse - seine Ohnmacht. Und Vicky war tot.

Dumpfe Verzweiflung packte Dave. Alles war vergeblich gewesen. Jetzt war er wieder gefangen.

Resigniert stand er auf und sah sich erst im Nebenkäfig und dann in seinem eigenen um.

Er war nicht mehr allein. Ein Gorilla war zu ihm in die Zelle gebracht wor­den, eine Äffin. Sie kauerte in der Ecke und starrte ihn an. Ihr Schädel war ver­bunden.

Daves Mund war trocken. Er ließ die Arme herunterbaumeln und stierte die Äffin verständnislos an; aber bald be­gann es in ihm zu dämmern.

„Verstehst du mich?“ fragte er die Äf­fin.

Sie nickte.

Es war ein kleines Gorillaweibchen, mit einem kurzhaarigen eisengrauen Fell. Sie unterschied sich nicht von den anderen Affen, nur eine Kleinigkeit war anders, die Augen. Dave bildete sich ein, daß sie intelligenter dreinblick­ten. Sie hatten nicht den stumpfen Aus­druck.

„Bist du...“ Er zögerte, aber er mußte Gewißheit haben. „Bist du Vicky?“

Sie nickte ganz leicht.

Dave preßte die Lippen aufeinander und knirschte böse mit den Zähnen. Er war also gerade in den Operationsraum gekommen, als Ragor Vickys Gehirn in den Affenkörper verpflanzt hatte.

Er wollte Vicky trösten, aber das Mäd­chen befand sich in einem Zustand, in dem es nichts mehr zu trösten gab. Für immer war ihr Gehirn mit dem Affen­leib verbunden.

Dave setzte sich neben Vicky auf den Boden und legte eine Hand auf ihre Schulter. Alles Leid der Welt stand in ih­ren Augen.

Das kann doch nicht wahr sein, sagte er sich. Ich muß träumen. Es ist ein Alp­traum, aus dem ich jederzeit erwachen kann.

Aber es war kein Traum, es war Reali­tät. Je länger er neben Vicky saß, je deutlicher wurde ihm das. Und je mehr er grübelte, je mehr näherte er sich den Grenzen des Wahnsinns.

Der seelische Schmerz war ärger als jeder körperliche. Seine Brust drohte zu zerspringen. Und er hatte Furcht wie nie zuvor. Am liebsten hätte er geschrien, doch er gab diesem Impuls nicht nach. Er versuchte, sich in die Lage des Mädchens zu versetzen, und begriff, daß sie noch viel mehr leiden mußte als er.

Dr. Ragor hatte gesagt, daß es ihm jetzt möglich war, Gehirne zu verpflan­zen, ohne daß die Tiere wahnsinnig wur­den. Bei Vicky war ihm dies anschei­nend gelungen.

Die anderen Affen hatten Glück im Unglück. Ihr Geist war meist verwirrt. Ihnen wurde das Entsetzliche ihrer Si­tuation nur selten bewußt. Meistens lebten sie in einer Dämmerwelt. Dave war sicher, daß diese Affen nach einiger Zeit vergessen würden, daß sie einmal Menschen waren.

Aber bei Vicky war es anders. Sie war Mensch geblieben.

Er wollte sie trösten, doch es gab kei­ne Worte, die ihr helfen konnten. Es war nichts zu sägen. Nichts.

Vor ihr lag ein Leben voll Entsetzen, voller Grauen.

Und was würde mit Dave geschehen? Welches Schicksal hatte Dr. Ragor ihm zugedacht?

Würde er auch als Gorilla enden?


* * *
 

Dr. Ragor saß allein im riesigen Spei­sezimmer des Hauses. Es war ein gro­ßer, fast quadratischer Raum. Auf dem funkelnden Parkettboden lagen kostba­re Teppiche. In einem offenen Kamin knisterten einige Holzscheite.

Der Wissenschaftler hatte an der Stirnseite des langen Tisches Platz genommen. Auf einem silbernen Teller schwammen einige Stücke Fleisch in einer dicken Brühe. Ragor nahm sich ein paar auf seinen Teller und kostete.

Nach wenigen Bissen legte er das Besteck nieder und tupfte sich die Lippen mit einer schneeweißen Serviette ab. Nachdenklich starrte er den Teller an. Und plötzlich begannen seine Augen böse zu leuchten und ein hartes Lächeln umspielte seinen Mund.

Spielerisch griff er nach einem hohen, kunstvoll verzierten Glas und setzte es an die Lippen. Er trank nicht mehr als einen Schluck und schob dann den Stuhl zurück.

Seine Gedanken waren bei Elenore. Sie hatte ihn verraten, das stand für ihn fest. Nur sie konnte den Schlüssel und das Kreuz in den Bananen versteckt ha­ben. Und dafür mußte sie büßen.

Ragor stand auf, streckte sich und klatschte in die Hände.

Die hohe Tür öffnete sich sofort; ein Vampir trat ein und verbeugte sich untertänig.

Der Wissenschaftler zeigte schwei­gend auf den Teller. Der Vampir stellte ihn auf ein Tablett und verschwand wieder.

Ragor war inzwischen zu einem Ent­schluß gekommen. Er nahm seine Brille ab, putzte sie, setzte sie wieder auf, strich sich kurz übers Haar und straffte dann seine hohe Gestalt. Würdevoll ging er durch den Saal und zog die Tür auf.

„Bringt Elenore in mein Arbeitszim­mer!“ sagte er zu einem Vampir und ging weiter.

Er sah sich nicht um. Zielstrebig steuerte er auf ein Zimmer am Ende des Ganges zu, trat ein und drehte das Lieht an.

Der Raum hatte keine Fenster. Die Wände waren mit Büchern vollgestopft. Nur ein hoher Stuhl und ein win­ziger Tisch bildeten das Mobiliar.

Ragor setzte sich, schlug die Beine übereinander, griff nach einer Zigarre, schnitt die Spitze ab und riß ein Streich­holz an. Genußvoll inhalierte er den blaugrauen Rauch.

Er hatte die Tür offen gelassen. Deut­lich hörte er, daß zwei Vampire Elenore durch den Gang führten. Sie gingen ne­ben der Frau.

Als Elenore Ragor erblickte, ging sie langsamer. Ihre Augen waren groß, und Ragor las Angst in ihnen.

Einige Meter vor Ragor blieben die Vampire stehen.

Ragor zog wieder an der Zigarre.

„Ihr bleibt hier!“ sagte er zu den Vam­piren.

Elenore trug einen weißen Hausan­zug. Ihr Haar war kunstvoll aufgesteckt. Sie sah schön wie eine Göttin aus.

Ragor starrte sie an. Sein Blick glitt von den Haaren über ihr Gesicht, glitt weiter nach unten, blieb an ihrem Bu­sen hängen, der sich immer rascher hob und senkte, und wanderte dann wieder zurück zum Gesicht.

„Du hast mich hintergangen, Eleno­re“, sagte er fast unhörbar.

Die Frau zuckte zusammen.

„Ich muß dich bestrafen“, fuhr er fort. „Ich bin mir aber noch nicht ganz klar, welche Strafe du verdienst.“

Elenores Lippen bebten. Sie spürte, wie die Angst in ihr hochkroch. Ragors Blick bereitete ihr körperliches Unbe­hagen. Sie haßte den Mann; sie haßte ihn, wie sie nie zuvor in ihrem Leben et­was gehaßt hatte.

Er hatte sie vor zwei Jahren auf einer Gesellschaft kennengelernt. Sie war der Mittelpunkt der Gesellschaft gewe­sen. Ragor hatte sie immer wieder angesehen. Sein Blick hatte ihr Angst einge­jagt.

Sie hatte ihn danach einige Tage nicht gesehen, doch plötzlich war er auf­getaucht und hatte sie gefragt, ob sie sei­ne Frau werden wolle. Sie hatte abge­lehnt, und er hatte die Ablehnung schweigend zur Kenntnis genommen.

Zwei Tage später war sie aus dem Haus ihrer Eltern entführt worden. Sie war in einem Zimmer hier im Haus auf­gewacht. Und seitdem hatte sie das Haus nicht mehr verlassen. Sie war zu Ragors Sklavin geworden.

Er hatte sie gefügig gemacht - mit Drogen. Sie hatte seinen Befehlen gehorcht, doch manchmal ließ die Wir­kung der Drogen nach.

Natürlich hatte sie sich nicht anmer­ken lassen, daß es auch helle Momente in ihrem armseligen Leben gab. Ge­stern war wieder so ein Augenblick ge­wesen. Die Wirkung der Droge hatte nachgelassen. Sie hatte Dave Merrick geholfen, weil sie einen Verbündeten brauchte, um aus dem Haus fliehen zu können.

Sie hatte die Gegenstände in die Bana­nen geschmuggelt. Dann hatte sie zu Dave gehen wollen, aber Ragor hatte ihr wieder eine Droge gegeben, und sie hatte den Schlüssel und das Kreuz ganz vergessen. Ihr Plan war ihr vollkommen entfallen.

Erst vor einer Stunde hatte sie wieder an alles gedacht, als die Wirkung des Mittels nachließ. Da war es aber schon zu spät gewesen. Dave war überwältigt und sie in ihr Zimmer eingesperrt wor­den.

„Es war mein Fehler“, sagte Ragor nachdenklich. „Ich habe die Wirkung der Droge überschätzt. Du bist immun geworden.“

„Du bist ein Unmensch!“ sprudelte Elenore heraus. „Ich hasse dich. Du hast mein Leben zerstört. Du hast mich zu deiner Sklavin gemacht. Mir ekelt vor dir, vor deinen Berührungen, vor dei­ner Gier. In dir ist keine menschliche Regung mehr. Du bist durch und durch böse.“

Erschöpft schwieg sie.

Ragor lachte. „Du bist mein Spiel­zeug, Elenore. Ein hübsches Spielzeug, nicht mehr. Aber auch ein hübsches Spielzeug wird langweilig, und ich habe dich satt. Doch ich will dich nicht ganz verlieren. Ich habe etwas sehr Net­tes mit dir vor.“

Wieder hallte Ragors Lachen durch den Raum.

Elenore schauderte.

„Interessiert dich gar nicht, was ich mit dir vorhabe?“

Sie schüttelte schwach den Kopf.

„Zieh dich aus!“ sagte er und lehnte sich zurück. Genußvoll zog er an der Zi­garre.

Elenore gehorchte ohne Widerrede. Sie zog erst die Bluse aus, dann streifte sie die Hose ab. Sie trug nichts dar­unter.

Sekundenlang starrte Ragor ihren fe­sten Busen an.

Er begehrte sie noch immer, das war ihm klar, aber der Reiz der Neuheit war verschwunden. Außerdem würde er sie ja nicht ganz verlieren. Sie würde eine noch treuere Sklavin werden.

„Da Dr. Stark tot ist, wirst du mir bei allen Operationen assistieren.“

Er sah das Entsetzen auf ihrem Ge­sicht.

„Nein, nur das nicht!“ stöhnte sie.

Der Wissenschaftler stand gleichmü­tig auf und ging auf sie zu. Ihre Lippen bebten. Er legte beide Hände auf ihre nackten Schultern. Sie zuckte zusam­men.

„Aber das beste weißt du noch nicht“, sagte er heiser, beugte sich vor und küß­te sie auf die Wange.

Seine Hände wanderten über ihren Körper. Bei den Brüsten verweilten sie einige Zeit.

Elenore schloß ekelerfüllt die Augen.

„Du haßt mich“, zischte er wütend. „Das werde ich dir austreiben. Ich ma­che dich zu einem Vampir!“

Elenore versuchte sich aus seiner Um­armung zu befreien, doch er drückte sie enger an sich. Tränen rannen über ihre Wangen. Dann ließ er sie plötzlich los.

Sie taumelte zurück.

„Packt sie!“ rief er den Vampiren zu.

Die Monster ergriffen ihre Arme und hielten sie fest.

„Bitte nicht!“ stöhnte Elenore. „Bitte nicht! Ich will dir weiter gehorchen, aber mach mich nicht zu einem Vam­pir!“

Ragors Gesicht war wie eine Maske.

„Nehmt sie mit!“ sagte er hart. „Bringt sie in den Operationssaal!“

Er setzte sich wieder und rauchte wei­ter. Einige Minuten später ging er in den Operationssaal.

Die Vampire hatten das Mädchen auf dem Operationstisch festgeschnallt. Sie konnte sich nicht bewegen.

Er zog eine Spritze hervor, füllte sie mit einer stahlblauen Flüssigkeit und injizierte ihr das Serum in den rechten Arm. Die Spritze war er in eine Schale.

Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Die Be­handlung hatte begonnen, die aus der schönen Frau einen Vampir machen sollte.

Zuerst veränderte sich die Haut. Nach fünfzehn Minuten wurde sie durchsichtig. Es sah entsetzlich aus. Überall waren die Adern deutlich zu sehen, doch nach wenigen Augenblicken war die Haut wieder normal.

Elenore atmete schwer. Ihre Augen hatten sich verändert, sie waren jetzt blutrot.

Ragor machte eine zweite Spritze fer­tig. Diesmal schimmerte die Flüssigkeit giftgrün. Zuerst spritzte er ein wenig in die Oberschenkel, dann in die Hüften. Den Rest injizierte er in den Nacken der Frau.

Ihr Körper wurde von Fieberschau­ern geschüttelt.

Der Wissenschaftler fühlte den Puls, dann nickte er.

Er mußte eine Stunde warten, dann erst konnte er mit der Behandlung fort­fahren.

Nachdenklich ging er im Operations­saal auf und ab. Er mußte sich einen As­sistenten besorgen. Allein konnte er nur sehr wenige Operationen durchführen, er hatte zwar die Krankenschwe­ster und bald auch Elenore, aber das war zuwenig; er brauchte einen ausge­bildeten Arzt, sonst würde seine Arbeit bald nicht weitergeführt werden kön­nen.

Dann dachte er an Dave Merrick, und ein böses Lächeln umspielte seinen Mund. Er beschloß die Zeit zu nützen. Er mußte Merrick noch eine Spritze geben.

Langsam stieg er die Stufen hin­unter. Vor Daves Käfig blieb er stehen. Dave hielt sich am Gitter fest.

„Nun, wie gefällt Ihnen Ihre Freun­din?“ fragte Ragor boshaft.

„Sie sind ein Teufel!“ keuchte Dave. „Mir tut es ewig leid, daß sich Sie nicht erwischt habe.“

Ragor lachte höhnisch.

Vicky drückte sich ängstlich in die Ecke des Käfigs. Sie zitterte am ganzen Leib.

„Ich habe eine besonders hübsche Äf­fin ausgesucht“, sagte Ragor. ,,Sie soll­ten zufrieden sein. Ich mache Sie auch zu einem Gorilla. Und dann werden Sie und Vicky Junge bekommen.“ Er ki­cherte. „Ich bin gespannt, ob das Junge etwas von Ihrer Intelligenz mitbe­kommt.“ Wieder kicherte er. „Es ist zwar unwahrscheinlich, aber es hat da einige ganz interessante Versuche gege­ben, nicht mit Affen, sondern...“

„Halten Sie Ihr verdammtes Maul!“ brüllte Dave wütend.

Er streckte eine Hand durchs Gitter. Der Wissenschaftler sprang einen Schritt zurück, und die Vampire ergrif­fen Daves Arm und schoben rasch den Rockärmel zurück.

Ragor holte eine Spritze hervor, und Dave mußte hilflos zusehen, wie ihm der Wissenschaftler eine wasserklare Flüssigkeit injizierte.

Als die Vampire ihn losließen, taumel­te er zurück. Rote Kreise begannen sich vor seinen Augen zu drehen. Er kämpf­te verzweifelt gegen die Wirkung der Droge an. Wie ein Betrunkener torkelte er im Kreis umher. Seine Beine waren aus Gummi, sein Kopf ein sich immer mehr füllender Ballon, der kurz vor dem Platzen stand. Unverständliche Laute kamen über seine Lippen.

Ragor sah einige Zeit zu. Dann nickte er, drehte sich um, stieg rasch die Trep­pe hoch und ging zurück in den Opera­tionssaal.

Elenore war noch immer ohnmäch­tig, atmete aber ruhig. Äußerlich war keine Veränderung zu sehen. Die Schweißausbrüche hatten aufgehört.

Diesmal bereitete Ragor eine riesige Spritze vor. Er mischte einige Flüssig­keiten und dosierte sie genau, denn er wollte nicht, daß Elenore durch die Um­wandlung häßlich wurde; sie sollte noch immer schön sein; er wollte sie nicht als Spielzeug verlieren.

Elenore schlug die Augen auf und sah sich verständnislos um.

Ragor beugte sich über sie. Seine Au­gen waren nur wenige Zentimeter von den ihren entfernt.

„Du gehorchst mir!“ sagte er hart. „Du gehorchst jedem meiner Befehle! Hast du verstanden?“

„Ja“, sagte sie.

„Ich bin dein Herr.“

„Du bist mein Herr“, wiederholte sie deutlich.

Ragor nickte zufrieden und griff nach der Spritze.


* * *
 

Dave wälzte sich unruhig auf dem Bo­den. Er konnte nicht richtig schlafen. Immer wieder schreckte er auf. Die Wir­kung der Droge steigerte sich. Er ver­suchte, gegen sie anzukämpfen, doch im­mer wieder mußte er kapitulieren.

Er wußte nicht, wie lange er geschla­fen hatte, als er eine Hand an seiner rechten Schulter spürte. Unwillig schlug er die Augen auf.

Es war Vicky, die ihn geweckt hatte. Im Käfig war es dunkel. Es dauerte eini­ge Zeit, ehe sich seine Augen daran ge­wöhnt hatten.

Vicky war aufgeregt. Wieder zupfte sie an seinen Schultern. Sie hatte das Stroh zur Seite geschoben, und Dave konnte nun einen eisernen Ring erkennen.

Neugierig kroch er näher.

Das könnte eine Falltür sein, dachte er, verwarf aber sofort diesen Gedanken. Man würde nicht in einem der Käfi­ge - oder doch?

Er stand auf, packte den Ring und zog daran, aber die Tür, falls es eine war, gab nicht nach. Er probierte es noch­mals, da hörte er ein leises Quietschen.

Erschöpft setzte er sich nieder. Er war zu schwach. Vicky stieß ihn mit einem Arm an und gab leise Geräusche von sich. Schließlich schob sie Dave zur Seite und zerrte selbst an dem Ring.

Wieder quietschte es, und dann be­wegte sich die Falltür etwas und kam in die Höhe.

Dave sprang auf und half Vicky. Sie schafften es. Die Tür klappte zurück, und vor ihnen lag ein schwarzes Loch.

„Kommst du mit?“ fragte Dave.

Die Äffin schüttelte den Kopf.

„Das ist ein Fluchtweg“, sagte Dave. „Komm doch mit!“

Wieder war nur ein heftiges Kopf­schütteln die Antwort. Vicky packte ihn am Arm und schob ihn auf das schwarze Loch zu.

„Ich soll gehen?“ fragte er sie.

Diesmal nickte sie.

Dave hob die Schultern und sah ins Loch hinab. Da er nichts erkennen konnte, legte er sich auf den Bauch und tastete sich mit der Hand vor, nicht sicher, ob er hinein steigen sollte. Es konn­te eine Falle sein. Aber auf der anderen Seite: was hatte er zu verlieren?

Seine Hand berührte eine feuchte Stu­fe. Er setzte sich auf und ging mit den Beinen voran. Es war tatsächlich eine Treppe, die da hinabführte.

Nochmals blieb er stehen und sah Vic­ky an. „Willst du nicht mitkommen?“

Sie schüttelte den Kopf.

Dave ging weiter. Bald war er ganz in der Finsternis verschwunden. Immer tiefer führten die Stufen. Er sah zurück und glaubte, den Affenschädel zu erken­nen.

Es war vollkommen still. Nur das Schlagen seines Herzens war zu hören. Die Luft war feucht und ein unangeneh­mer modriger Geruch stieg ihm in die Nase. Wasser tropfte auf ihn herab. Und je tiefer er stieg, je stärker wurde der Luftzug.

Plötzlich war die Treppe zu Ende. Er befand sich in einem schmalen Gang, der kaum einen halben Meter breit war. Vorsichtig tastete er sich weiter. Die Wände waren. kalt und glitschig. Der Gang führte in die Tiefe. Unter sich hör­te er Wasserrauschen.

Nach hundert Schritten bog der Gang nach links ab und wurde noch enger. Dave preßte sich gegen eine Wand und ging vorsichtig weiter. Seine Sinne wa­ren aufs äußerste angespannt. Wasser tropfte von der Decke auf den Steinbo­den. Die Wand war rauh. Dave riß sich die Hände blutig, doch er achtete nicht darauf.

Das Wasserrauschen wurde immer lauter. Plötzlich war der Gang zu Ende und Daves Hände griffen ins Leere. Er kam ins Torkeln und versuchte verzwei­felt, sich aufrecht zu halten, was ihm je­doch nicht gelang. Er kollerte einen stei­len Abhang hinab, schlug mit dem Ge­sicht an einen Steinbrocken, drehte sich um die eigene Achse und blieb dann ru­hig liegen. Nach einer Weile stand er auf und ging weiter. Ein Licht flammte auf. Es war ein Scheinwerfer, der an der Decke befestigt war und orangero­tes Licht verbreitete. Der Scheinwerfer drehte sich ziemlich rasch.

Dave hatte nun Gelegenheit, sich um­zusehen. Der Lichtkegel huschte über eine Reihe von Särgen. Die Sargdeckel waren heruntergeklappt. Die Wände waren aus rohen Steinquardern, grau und nicht verputzt. Überall hingen Was­sertropfen.

Es mußten mindestens zwanzig Sär­ge sein. Wahrscheinlich wurden hierher die bedauernswerten Geschöpfe ge­bracht, die Ragor bei seinen Experimenten tötete.

Er hörte einen Schrei und zuckte zu­sammen. Gleich darauf hörte er noch ei­nen Schrei. Es klang wie das Wimmern eines Kindes in Todesangst.

Einer der Särge begann sich zu bewe­gen.

Dave drückte sich entsetzt gegen die Wand.

Die Särge standen auf niederen Pode­sten, die mit schwarzem Stoff überzo­gen waren. Der Sarg bewegte sich wie­der, diesmal stärker, und die anderen Särge fingen ebenfalls zu schaukeln an.

Noch ein paarmal kreiste der Schein­werfer über der gespenstischen Szene, dann erlosch das Licht, und es herr­schte vollkommene Dunkelheit.

Dave hörte das Knarren der Holzsär­ge. Einer mußte umgefallen sein. Der Knall dröhnte in seinen Ohren. Dann fiel wieder etwas um. Schlürfende Schritte kamen näher.

Dave zitterte am ganzen Leib. Eine knochige Hand fuhr über sein Gesicht. Er taumelte zwei Schritte zurück, stieß gegen etwas und torkelte weiter. Un­willkürlich fühlte er sich in seine Kind­heit zurückversetzt an den Tag, als er das erste mal mit seinem Vater in einer Geisterbahn gefahren war und ein als Skelett verkleideter Mann ihm auf die Schulter geklopft hatte.

Das Licht flammte wieder auf. Vor sich sah er einen halbverwesten Mann stehen.

Dave schrie.

Der Schädel war fast vollkommen ohne Fleisch. In den leeren Augenhöhlen krochen schwarze Maden, über das Nasenbein krabbelte eine große Spin­ne. Ein halbverfaulter Rock hing um die Schultern des Toten; die Hose war zerfetzt. Eine knochige Hand griff nach ihm.

Dave schrie wieder und versetzte dem Skelett einen Fußtritt. Es taumelte gegen die Wand und krachte zu Boden. Der Totenschädel brach ab und kullerte auf Dave zu, Die Kinnladen klappten auf und schnappten nach Daves Fuß. Entsetzt sprang er zur Seite, doch der Schädel rollte ihm nach. Da versetzte Dave auch dem Schädel einen Fußtritt. Er knallte gegen die Wand und zer­barst, und hervor sprang laut quiekend eine graue Ratte, die hinter den Särgen verschwand.

Aus den Särgen krochen jetzt Gestal­ten. Einige waren nur noch Skelette. Dann sah Dave Dr. Stark, der langsam auf ihn zuschritt.

Der Arzt trug noch immer den wei­ßen Mantel. Um die Herzgegend herum war er rot. Dr. Stark kam gebückt nä­her. Sein Gesicht war ausdruckslos, die Augen glichen stumpfen Murmeln.

Nur von hier weg, war der einzige Ge­danke, der Dave beherrschte.

Er gab Dr. Stark einen Stoß vor die Brust und rannte an ihm vorbei. Ein Mädchen griff nach ihm, Sie war nackt, die Schädeldecke fehlte. Es war Vicky.

Dave glaubte, wahnsinnig zu werden. Von allen Seiten griffen Hände nach ihm. Er schlug wild um sich und endlich schaffte er es. Er brach durch die Masse der Leiber.

Dave gelangte in einen breiten Gang. Ein fluoreszierender Streifen leitete ihn. Er rannte, so rasch er konnte. Sein Atem kam keuchend, und er bekam Sei­tenstechen. Erschöpft blieb er kurz ste­hen.

Es war ruhig. Die Toten hatten ihn nicht verfolgt.

Der leuchtende Streifen wurde im­mer breiter, und nach einigen Minuten erkannte er, daß er einen niedrigen Gang entlangrannte, der wie ein Eisen­rohr aussah. Dann glitt plötzlich der Bo­den unter -ihm weg. Er krachte gegen eine feuchte Wand. Verzweifelt ver­suchte er, sich festzuklammern, doch er glitt immer wieder ab.

Er fiel in die Tiefe. Der Fall schien ihm endlos lang. Schließlich tauchte er ins Wasser ein und wurde nach unten gezogen. Er schluckte Wasser und schlug wie ein Wahnsinniger mit Armen und Beinen um sich. Keuchend erreichte er die Wasseroberfläche, schnappte gierig nach Luft, doch gleich verschlang ihn der Fluß wieder.

Eine starke Strömung zog ihn mit. Sein Körper schlug gegen Steine. Manchmal trieb er für Sekunden an der Oberfläche.

Es war wieder vollkommen dunkel. Der Fluß gurgelte wild, das Wasser war eiskalt.

Nach einigen Minuten fand die rasen­de Fahrt ein Ende. Er saß in einem Git­ter gefangen, das von der Decke bis tief ins Wasser hinabreichte.

Er klammerte sich fest, atmete tief durch, pumpte die Lungen voll und tauchte erneut in die Tiefe. Er glitt das Gitter entlang. Endlich hatte er das Ende erreicht. Seine Lungen drohten zu zerplatzen.

Es dauerte endlos lange, bis er wiederauftauchte. Er ließ sich vom Fluß wei­tertreiben.

Ihm war die Flucht gelungen. Er be­fand sich in Freiheit. Der Mond stand hoch am Himmel. Es war eine sternkla­re Nacht. Irgendwo hörte er ein Käuzchen schreien.

Langsam schwamm er auf das retten­de Ufer zu. Nur sein eiserner Wille trieb ihn weiter.

Als er das Ufer erreicht hatte, zog er sich den Abhang hinauf und blieb schwer atmend auf der Böschung lie­gen.

Die Nacht war lau. Es wehte ein sanf­ter Wind vom Süden her.

Dave zog seinen Rock und die Hose aus, riß einige Büschel Gras ab und rieb sich trocken. Ganz allmählich fühlte er sich wieder etwas besser. Nur die Mü­digkeit hing schwer wie Blei an ihm.

Ein schmaler Weg führte neben dem Fluß zu einem alten Haus. Vorsichtig näherte er sich. Er brauchte Hilfe, doch er hatte Angst, die Bewohner des Hau­ses zu wecken. Es stand zu nahe dem Haus Dr. Ragors. Deshalb beschloß er, weiterzugehen und erst später an ein anderes Tor zu klopfen. Doch da hörte er das aufgeregte Bellen, das ihm durch Mark und Bein ging.

Bluthunde! Sie hatten seine Spur auf­genommen. Achtlos ließ er Rock und Hose fallen und rannte weiter. Der schmale Weg führte vom Fluß weg. Das Bellen war dicht hinter ihm.

Der Mond spendete genügend Licht. Weidenzweige peitschten sein Gesicht. Er mobilisierte seine letzten Kräfte.

Wann würde dieser Schrecken enden, schoß es ihm durch den Kopf. Wann?

Vor sich sah er eine kleine Ansied­lung. Einige einstöckige Häuser gruppierten sich um einen rechteckigen Platz. Auf der Schmalseite des Platzes stand ein uraltes Gasthaus.

Er überquerte den Platz und blieb vor dem Lokal stehen. Mit beiden Fäusten trommelte er gegen die Tür.

„Aufmachen!“ rief er heiser. „Aufma­chen!“

In einem der Fenster flammte Licht auf. Dave trommelte weiter gegen die Türfüllung.

Das wütende Kläffen der Bluthunde kam immer näher.

„Rasch!“ rief Dave. „Aufmachen!“

Ein Guckloch wurde geöffnet, und ein blutunterlaufenes Auge sah Dave böse an.

„Verschwinden Sie!“ sagte eine tiefe Stimme.

„Ich brauche Hilfe“, flehte Dave. „Las­sen Sie mich ein!“

„Ich lasse Sie nicht ein“, sagte die Stimme kalt.

Das Guckloch wurde zugeschoben.

Dave ballte in ohnmächtiger Wut die Fäuste. Ein tiefes Stöhnen entrang sich seiner Brust. Er rannte am Wirtshaus vorbei. Eine schmale Gasse führte zwi­schen Gärten hindurch. Auf einer klei­nen Anhöhe sah er ein einsames Haus stehen. Es war hell erleuchtet, und die Eingangstür stand weit offen. Mit großen Sprüngen kam er näher. Während des Laufens drehte er sich mehrmals um. Er konnte seine Verfolger erken­nen. Es waren drei Vampire, die je zwei Bluthunde mit sich führten, die wütend an den Leinen zerrten.

Dave sprang durch die Tür und warf sie hinter sich zu. Mit zitternden Fin­gern sperrte er ab, legte einen breiten Riegel vor und atmete erleichtert auf.

Die Diele war spartanisch eingerich­tet. Er durchschritt sie und trat in ein dunkles Zimmer, suchte nach dem Lichtschalter, fand ihn jedoch nicht.

„Ist jemand hier?“ fragte Dave.

„Ja“, kam die Antwort. „Wer sind Sie?“

Die Stimme kam Dave bekannt vor.

„Mein Name ist Dave Merrick“, sagte er schwach. „Ich werde verfolgt. Ich brauche Schutz. Ich muß telefonieren.“

Ein lautes Lachen ertönte, und Daves Magen krampfte sich zusammen.

Eine Stehlampe spendete plötzlich sanftes Licht. In einem Sessel saß eine vermummte Gestalt. Sie stand auf, kam auf Dave zu, blieb vor ihm stehen und riß sich die Kapuze vom Kopf.

Dave sah in das höhnisch grinsende Gesicht Dr. Ragors.


* * *
 

Mit einem lauten Schrei schreckte er hoch. Um ihn war es dunkel. Er roch die scharfe tierische Ausdünstung. In seine Nase stach Stroh.

Er befand sich wieder in seinem Kä­fig. Vicky lag neben ihm.

Dave begann zu schluchzen. Hatte er das alles nur geträumt, oder war es tat­sächlich geschehen?

Er kroch über den Boden, schob das Stroh zur Seite und suchte nach der Falltür, doch er fand keine; er fand auch nicht den eisernen Ring.

Er hatte tatsächlich alles nur ge­träumt: seine Flucht aus dem Haus, sei­ne Begegnung mit den Toten, alles war nur ein Traum gewesen.

Die Droge begann wieder zu wirken.

Er wehrte sich, denn er hatte Angst vor weiteren Alpträumen, die ihn unweiger­lich zum Wahnsinn treiben würden.

Vielleicht war dies die Absicht des wahnsinnigen Wissenschaftlers?

Dave ging im Käfig auf und ab. Die Affen schliefen ruhig, nur manchmal stieß einer ein kurzes Bellen aus.

Dave hielt die Augen offen, doch das nützte nichts; die wilden Alpträume ka­men wieder, einer entsetzlicher als der andere. Sie dauerten alle nur wenige Mi­nuten, aber da Dave jeden als Realität empfand, wurde das Erwachen immer deprimierender.

Gegen Morgen ließ die Wirkung der Droge etwas nach. Für wenige Minuten fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.


* * *
 

Dave war so erschöpft, daß er keine Gegenwehr mehr leistete, als ihn zwei Vampire aus dem Käfig holten. Er war so schwach, daß er sich auf die ekelerre­genden Monster stützen mußte. Immer wieder blieb er stehen. Fieberschauer liefen über seinen Körper, und ein Schweißausbruch jagte den anderen.

Als er den Operationssaal auftau­chen sah, setzte er zu einer schwachen Gegenwehr an, erreichte damit jedoch nichts.

Die Vampire legten ihn auf den Ope­rationstisch, schnallten ihn fest und schraubten die Kopfstützen hoch. Sie banden ihm ein Stirnband um und hakten es an der Kopfstütze fest; ein weite­res Band kam um das Kinn. Der Geruch der Desinfektionsmittel brachte Daves Magen zum Rebellieren. Er versuchte, den Kopf zu bewegen, doch es ging nicht. Resigniert schloß er die Augen. Sein Lebenswille war erloschen. Er wollte nur noch schlafen, schlafen; Ta­gelang.

Nur undeutlich nahm er wahr, daß sein Haar abgeschnitten wurde. Sie ra­sierten seinen Schädel vollkommen kahl.

Er schlief.

„Guten Tag“, hörte er plötzlich die Stimme Ragors.

Er schlug die Augen auf. Vor sich sah er das harte Gesicht des Wissenschaft­lers, der ihn gleichgültig durch die Bril­le ansah.

Dave gab keine Antwort. Der An­blick Ragors brachte jedoch seine Lebensgeister wieder zum Erwachen. Er würde kämpfen; er würde gegen al­les ankämpfen, was Ragor mit ihm vor­hatte.

„Diesmal ist es kein Traum, Merrick“, sagte Ragor. „Sie halten mich für einen Unmenschen, aber das stimmt nicht. Ich werde Ihnen während der Opera­tion einiges erzählen.“

Hinter Ragor tauchte Elenore auf. Dave erschrak bei ihrem Anblick. Ihre Haut war bleich, die Augen schimmer­ten rosa. Ihr Gesicht war noch immer schön, aber es wirkte jetzt unmensch­lich. Als sie den Mund öffnete erkannte Dave die verformten Zähne. Sie war zu einem Vampir geworden.

„Was haben Sie mit Elenore gemacht, Sie Teufel?“ keuchte Dave.

Ragor lachte spöttisch, gab aber kei­ne Antwort. Er ließ sich von der Kran­kenschwester Gummihandschuhe an­ziehen und der Mundschutz anlegen.

„Sie bekommen jetzt eine Spritze“, sagte Ragor. „Sie werden keinerlei Schmerzen währen der Operation ha­ben. Einige Zeit werden Sie sprechen können, auch sehen und hören, aber nach und nach werden Ihre Sinne aus geschaltet. Ich hole Ihr Gehirn heraus und verpflanze es in einen Gorilla.“

Ragor wandte sich Elenore zu. „Stell den Sterilisator ein und lege einige Skal­pelle und zwei Bartos-Sägen hinein!“

Die Schwester stellte die Operations­leuchte an und zog sie tiefer herunter.

Dave vermochte nur sehr wenig zu se­hen, da er den Kopf nicht bewegen konn­te. Vor ihm war eine weiße Wand, dane­ben stand ein Schrank, der mit Instru­menten vollgefüllt war.

„Ein Skalpell!“ sagte Ragor. Er mach­te genau über dem rechten Ohr einen halbkreisförmigen Einschnitt in die Haut. „Spüren Sie etwas, Merrick?“ fragte er.

„Nein“, sagte Dave heiser.

Ragor schnitt weiter. Die Wunde blu­tete nur wenig. Der Wissenschaftler führte die Operation fast automatisch durch. Er besaß schon eine unwahrscheinliche Routine.

„Sie werden sich vielleicht schon ge­fragt haben“, sagte Ragor, und seine Stimme klang dumpf durch den Mund­schutz, „welche Beweggründe ich für meine Experimente habe.“

Dave gab keine Antwort. Sein Körper war angespannt.

„Alle halten mich für wahnsinnig, für einen Sadisten, für einen Unmenschen. Aber das bin ich nicht. Mich faszinieren Experimente. Das hier ist erst der An­fang. Später werde ich die Affen mit verschiedenen Drogen behandeln. Ich will einen Übermenschen produzieren, einen Übermenschen, der nur mir ge­horchen wird. Und dann werde ich die Menschheit beherrschen.“

Nacktes Grauen stieg in Dave hoch. Er durfte nicht resignieren, er mußte durchhalten, er wollte nicht wahnsin­nig werden.

Ragor hatte jetzt die Haut abgezogen.

„Einen Knochenbohrer!“ sagte er zu Elenore.

Er bohrte ein kleines Loch in die Schä­deldecke.

„Eine Bartas-Säge!“ war Ragors näch­ster Befehl.

Und dann hob er auf einmal den obe­ren Teil der Schädeldecke ab. Die harte äußere Hirnhaut lag vor ihm.

Ragor plauderte weiter. Die ganze Si­tuation kam Dave absurd vor. Ragor mußte vollkommen gefühllos sein. Während er eben dabei war, Daves Gehirn herauszuoperieren, unterhielt er sich mit ihm wie mit einem alten Bekann­ten.

„Bei Vicky ist die Gehirnverpflan­zung tadellos gelungen“, stellte Ragor stolz fest. „Mit Vickys Verlobtem hatte ich den ersten Erfolg. Er wurde nicht wahnsinnig.“

„Wie kamen Sie zu Vicky?“ fragte Dave.

Er wunderte sich, daß er noch spre­chen konnte.

Ragor schnitt jetzt in die äußere Ge­hirnhaut. Er arbeitete aufmerksam. Er durfte nicht zu tief schneiden. Zu leicht konnte er das Gehirn verletzen.

„Auf Umwegen“, sagte Ragor. „Vik­kys Verlobter, Dr. Cumberland, war ein gottbegnadeter Arzt. Ich wollte ihn für meine Experimente gewinnen, doch er lehnte ab. Da ließ ich ihn entführen, aber er weigerte sich weiterhin. So beschloß ich, auch Vicky zu entführen und ihn auf diese Weise gefügig zu machen. Doch alles half nichts. Ich konnte Vicky so quälen, wie ich wollte, er war von seinem Entschluß nicht abzubrin­gen. Ewig schade! Ich verpflanzte sein Gehirn in einen Gorilla. Seinen Körper präparierte ich und legte ihn auf Eis.

Ich hätte jederzeit Cumberlands Ge­hirn zurückverpflanzen können. Das war auch meine Absicht. Ich wollte ihn einige Zeit schwitzen lassen. Doch Vicky befreite Cumberland, und beide flo­hen. Wir nahmen sofort ihre Spur auf, aber es gelang den beiden, einen Wagen zu stehlen. Sie fuhren in Richtung Lon­don. Wir hefteten uns an ihre Fährte. Dann kam die Straßensperre. Wir durchbrachen sie, doch Cumberland starb, und Vicky wurde schwer ver­letzt. Ich mußte sie zurückbekommen. Sie durfte nichts aussagen. Deshalb ließ ich sie erneut entführen. Es war Ihr Pech, Merrick, daß Sie Ihre Nase da hineinstecken mußten.“

Jetzt wurde Dave einiges klar.

„Was werden Sie mit meinem Körper machen?“ erkundigte er sich.

„Ich präpariere alle Körper. Unter Umständen habe ich später dafür Verwendung.“

Ragor schwieg und konzentrierte sieh auf die Operation.

Er zog die Hirnhaut nach vorn, und dann lag Daves Gehirn frei.

Bis jetzt war alles nur einfache Spiele­rei gewesen, nun wurde es komplizier­ter. Ragor mußte die einzelnen Nerven­stränge lösen.

Er preßte die Säge an das Hinter­hauptbein. Alle schwiegen. Nur gelegentlich verlangte Ragor einen Gegen­stand von Elenore.

Elenore befestigte einen Gummi­schlauch an einer rotierenden Pumpe und schaltete das ultraviolette Licht ein.

Ragor hob schließlich das Gehirn aus der Hirnschale heraus und legte es in ein aquariumartiges Gefäß, das mit ei­ner durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt war.

Daves Körper war tot. Die Kranken­schwester schaltete den Herzschrittma­cher ein und führte Sauerstoff zu. Dann injizierte sie eine dunkelbraune Flüssig­keit in Daves Rückenmark und ergriff eine neue Spritze, mit der sie in alle Gliedmaßen von Dave stach. Den Schä­del füllte sie mit kleinen schwamm­artigen Gebilden, dann legte sie die Schädeldecke darauf und bandagierte den Kopf.

Ragor befestigte die Gummischläu­che an den Arterien und setzte die Pum­pe in Gang. Die Pumpe versorgte die Hauptpartien mit Blut.

Elenore schob den Enzephalographen an den Behälter und trat zurück.

Ragor warf einen flüchtigen Blick auf Daves Körper.

„Schaffen Sie den Körper fort!“ sagte er.

Dann wandte er sich wieder dem Ge­hirn zu. Er befestigte drei Elektroden am Gehirn und drehte einen Schalter um. Sofort begann der Apparat lautlos zu arbeiten. Aus einem schmalen Schlitz schob sich ein weißer Papier­streifen. Eine Feder schrieb eine schwa­che Linie auf das Papier. Ragor ver­stärkte die Stromzufuhr zum Gehirn und beobachtete den Streifen. Die Li­nien wurden deutlicher, stärker. Er nickte zufrieden. Wieder hatte er es ge­schafft.

Ragor hielt Elenore die Hände hin, und sie zog ihm die Handschuhe aus. Er wusch sich die Hände, trocknete sie an einem sterilisierten Handtuch ab und verließ den Operationssaal. Elenore folgte ihm schweigend.

„Du hast deine Sache gut gemacht“, sagte er freundlich.

Elenores Gesicht strahlte dankbar. Ragor war mit sich sehr zufrieden. Elenore gehorchte ihm bedingungslos. Sie würde sich nie mehr gegen ihn erheben.

Jetzt wollte er sich einige Zeit Ruhe gönnen. Er würde erst in einigen Stun­den Daves Gehirn in einen Affen ver­pflanzen. Zärtlich legte er eine Hand um Elenores Hüfte. Sie drängte sich eng an ihn und lächelte glücklich.

„Gefalle ich dir?“ fragte sie leise.

Er nickte und fuhr ihren Rücken ent­lang. Ja, sie gefiel ihm, beinahe noch mehr als früher.

Er zog ihr das Oberteil aus und weide­te sich an ihrem voll erblühten Körper.

„Komm!“ sagte er und tätschelte ihre Hüften.


* * *
 

Als Dave erwachte, fühlte er sich voll­kommen frisch und ausgeruht. Die An­strengungen und Aufregungen der letz­ten Tage waren überstanden. Er hatte sich noch nie in seinem Leben besser ge­fühlt.

Sein Blick fiel auf einige Bananen. Er verschlang sie gierig. Selten hatte ihm ein Essen besser geschmeckt.

Bis jetzt war ihm noch nicht bewußt geworden, daß er kein Mensch mehr war, daß sein Gehirn in einem Affenkör­per steckte; erst als er seine schwarzen Arme betrachtete, fiel ihm alles wieder ein.

Würgend erbrach er die Bananen. Und mit erschreckender Deutlichkeit wurde ihm klar, daß er alles verloren hatte, was ihm Spaß im Leben gemacht hatte.

Daves Lebenswille war aber zu stark. Er wollte und konnte nicht aufgeben. Noch war er in der Lage zu denken, und solange er denken kannte, bestand noch Hoffnung. Lodernder Haß brannte in ihm, und dieser Haß bestimmte sein Denken. Egal, wie alles enden mochte, eines mußte ihm gelingen: Ragor zu tö­ten.

Zuerst mußte er sich mit seinem neu­en Körper vertraut machen, mußte sei­ne neuen Fähigkeiten kennenlernen.

Er sah sich im Käfig um. Vicky war bei ihm. Sie stieß ein kurzes Bellen aus, das ihm nichts besagte. Er hatte noch immer keine Möglichkeit, sich mit den anderen Affen zu verständigen.

Vorsichtig ging er im Käfig auf und ab. Es bereitete ihm keine Schwierigkeit den neuen Körper zu beherrschen: In seinem Reaktionsvermögen merkte er keinen Unterschied zu früher. Auch seine Sinne waren in Ordnung. Er konn­te tadellos sehen; sein Geruchssinn schien ausgeprägter, ebenfalls sein Ge­schmacks-Tastsinn. Dave bildete sich aber ein, schlechter als früher zu hören.

Er blieb vor den Gitterstangen stehen und kletterte blitzschnell hinauf. Dann sprang er von Stange zu Stange und rutschte langsam wieder auf den Boden.

Ragor hat gute Arbeit geleistet, dach­te er sarkastisch.

„Er sieht häßlich aus.“

Überrascht drehte sich Dave um. Er hatte diesen Satz ganz deutlich gehört; es war aber kein Mensch in der Nähe.

Dave grübelte nach. Wenn er es recht bedachte, war es eigentlich kein gespro­chener Satz gewesen. Es war ihm, als wäre der Satz direkt in sein Gehirn ein­gedrungen. Telepathie?

Zweifelnd schüttelte er den Kopf. Das kam ihm zu unwahrscheinlich vor, aber ganz konnte er diese Möglichkeit nicht ausschließen. Vielleicht hatte sich sein Gehirn durch die Operation verän­dert, vielleicht hatte er neue Fähig­keiten dazubekommen.

Vor Vicky blieb er stehen. Er war zwar jetzt ein Affe, doch er sah Vicky weiterhin mit den Augen eines Men­schen an, und sie gefiel ihm nicht; sie war einfach eine Äffin.

„Ich kann seine Gedanken lesen“, hör­te er plötzlich.

Überrascht starrte er Vicky an.

„Du kannst meine Gedanken lesen?“

Sie nickte.

Ihre Antwort konnte er nicht empfangen. So sehr er sich auch bemühte, der Kontakt war abgerissen. Aber wenn die Verständigung einmal möglich gewesen war, mußte es wieder klappen. Er konzentrierte sich ganz auf sie.

„Kannst du jetzt meine Gedanken le­sen? Wenn ja, dann nicke mit dem Kopf.“

Doch sie nickte nicht.

Daves Gedanken rasten schnell wie Raketen dahin. Wenn es möglich war, Gedanken zu lesen, dann gab es eine Basis der Verständigung, von der Ragor nichts wußte. Und wenn er sich auch noch mit den anderen Affen würde ver­ständigen können, dann müßte es mög­lich sein, zu fliehen.

Immer wieder bemühte er sich, mit Vicky Kontakt aufzunehmen, doch ver­geblich. Er versuchte die Gedanken der anderen Affen aufzufangen, empfing aber nichts.

Wütende Verzweiflung überkam ihn. Er trank einen Schluck Wasser aus dem Bottich. Das Wasser schmeckte eigen­artig säuerlich, doch Dave hatte Durst und trank gierig weiter.

Als er den Bottich absetzte, war ihm plötzlich schwindelig. Alles begann sich vor seinen Augen zu drehen. Im Wasser befand sich anscheinend eine Droge. Doch das Schwindelgefühl ver­ging nach wenigen Minuten, und Daves Kopf war klar wie zuvor.

Und dann konnte er Vickys Gedan­ken wieder deutlich empfangen.

„Das Wasser ist verseucht“, hörte er. „Er hätte nicht davon trinken sollen.“

„Kannst du mich verstehen?“ dachte er ganz intensiv.

„Ja“, kam ihre erstaunte Antwort.

„Die im Wasser befindliche Droge steigert unsere Telepathischen Fähigkeiten. Trink!”

Vicky gehorchte.

„Wie geht es dir?“ fragte Dave.

„Jetzt geht es mir besser. Es war so fürchterlich, nur mit den eigenen Gedanken allein zu sein, mit niemandem sprechen zu können. Ich war am Rande des Wahnsinns. Nur gelegentlich konn­te ich Gedankenfetzen von dir auffan­gen. Was bezweckt Ragor damit, daß er uns eine Droge gibt, die eine Verständi­gung möglich macht?“

„Ich glaube, daß Ragor über die Wir­kung der Droge nicht informiert ist, und vielleicht - ich bin sogar ziemlich si­cher - hat sich unser Gehirn auch durch die Operation verändert. Aber alle Ge­danken darüber sind müßig. Wir müs­sen versuchen, hier herauszukommen.“

„Aber wie?“

„Wir müssen die anderen Affen zur Mitarbeit gewinnen. Dann haben wir vielleicht eine Chance.“

„Ich kann aber keine Gedanken von ihnen empfangen.“

„Wir sollten beide Gedanken aus­schicken.“

Gemeinsam konzentrierten sie sich auf die anderen Affen, doch das Ergeb­nis war entmutigend. Es war keine Re­aktion festzustellen.

„Nur nicht den Mut verlieren“, mein­te Dave. „Vielleicht dauert es bei den an­deren länger, ehe die Droge zu wirken beginnt.“

„Ich bin froh, daß ich mich mit dir unterhalten kann, Dave”, dachte Vicky zufrieden. „Jetzt ist alles nicht mehr so entsetzlich.“


* * *
 

Tage vergingen. Die telepathischen Fähigkeiten zwischen Dave und Vicky hatten sich immer mehr gesteigert. Sie konnten sich jetzt mühelos unterhal­ten, auch ohne die Droge. Nur mit den anderen Affen klappte es nicht so recht. Teilweise hatten sie jedoch Erfolg ge­habt. Dave war es zweimal gelungen, mit einem der Affen gedankliche Ver­bindung aufzunehmen, doch er hatte sich bald erschreckt zurückgezogen, denn die Gedanken des Affen waren nicht mehr die eines Menschen gewe­sen. Trotzdem wollte Dave nicht aufgeben. Der Haß brannte weiter in ihm. Er wollte Ragor erledigen und wußte, daß er es mit Vicky allein nicht schaffen würde.

Am fünften Tag änderte sich das Bild. Die Affen konnten seine Gedan­ken endlich empfangen; und was noch wichtiger war, sie gehorchten seinen Aufforderungen.

„Tretet ans Gitter“, dachte er.

Alle Affen traten gehorsam an die Gitterstäbe heran und sahen zu Dave hin.

„Wir müssen hier heraus“, fuhr er fort. „Und ich werde euer Anführer sein. Wir werden uns befreien.“

Eine Welle der Zustimmung erreich­te ihn.

Immer wieder hämmerte Dave ihnen ein, daß sie hier heraus mußten. Er merkte, daß die anderen Affen sich nicht lange konzentrieren konnten. Sie wurden zu leicht abgelenkt, eine Flie­ge oder ein Geräusch im Stroh, und sofort waren ihre Gedanken nicht mehr bei der Sache.

Dave impfte ihnen den Haß gegen Ragor ein, der in allen unbewußt vorhan­den war. Einige der Affen hatten die Zeit, da sie noch Menschen gewesen wa­ren, fast vollständig vergessen, andere konnten sich nur bruchstückhaft erin­nern. Wirklich normal waren nur Vic­ky und Dave geblieben.

Nach einigen Stunden war Dave tod­müde.

„Mach eine Pause“, bat Vicky. „Du überforderst sie.“

Dave gönnte sich eine Pause und setz­te seine Bemühungen erst gegen Abend fort. Er durfte nur einfache, unkompli­zierte Sätze denken, sonst verstanden ihn die Affen nicht. Es war eine lang­weilige, monotone Aufgabe, doch je län­ger er ihnen seine Kampfparolen ein­impfte, desto besser bekam er die ganze Horde in den Griff. Er merkte allmäh­lich, daß die Affen an Flucht dachten, auch wenn er es ihnen nicht vorsagte, und ihr Haß gegen Ragor wuchs immer mehr.


* * *
 

Zwei Tage später entlud sich dann der aufgestaute Haß in einer Explosion.

Es war dunkel geworden, Der tiefste­hende Mond sandte sein Licht durch das kleine Fenster. Der Raum mit den Käfigen sah gespenstisch aus. Die Af­fen standen angespannt an den Gittern. Dann hörten sie Schritte. Keiner gab ei­nen Laut von sich. Die Gedanken dage­gen dröhnten laut wie Trommelschläge.

Die Schritte kamen näher. Das Licht leuchtete auf, und der Wärter stieg mit Bananen die Treppe herunter. Vor einem der Käfige blieb er stehen.

„Scher dich weiter zurück, du Biest!“ sagte er.

Der Affe stieß ein wütendes Bellen aus. Blitzschnell fuhren seine Arme durch das Gitter, packten den rechten Arm des Wärters und rissen ihn an die Stäbe heran.

Daraufhin begannen alle anderen Af­fen zu toben. Dave versuchte, sie zu be­sänftigen, doch es war zu spät.

Der Wärter schrie, doch mehr als einen Schrei konnte er nicht ausstoßen. Der Gorilla hatte mit aller Kraft auf den Schädel des Mannes geschlagen. Der Schädel wurde förmlich zu Brei zer­drückt. Der Affe hatte sich so in den Blut­rausch gesteigert, daß er nicht mehr aufhören konnte. Mit wütendem Gebell begann er, den Wärter zu zerreißen.

Die anderen Affen tobten weiter. Sie rissen an den Gitterstäben und entwic­kelten übernatürliche Kräfte. Die Stä­be verbogen sich, und einem der Affen gelang es, auszubrechen. Er kam den an­deren zu Hilfe.

Dave versuchte Ordnung in das Wirr­warr zu bringen, doch er hatte keinen Erfolg. Die vierzehn Affen hörten nicht auf seine Beschwörungen. Sie machten sich selbstständig.

Mehr als die Hälfte war bereits aus den Käfigen, als plötzlich vier Vampire auf der Treppe auftauchten. Ein Goril­la sprang mit einem Satz auf die Stufen, packte zwei der Vampire und schleuder­te sie gegen die Käfige. Die beiden ande­ren wollten zurückweichen, doch auch sie wurden ergriffen, und eine Horde von fünf Affen stürzte sich auf sie.

Nun machten sich auch Vicky und Dave daran, aus ihrem Käfig auszubre­chen. Zwei andere Affen halfen ihnen dabei. Einer der Gitterstäbe krümmte sich, dann wurde er aus der Halterung gerissen und gleich darauf ein zweiter.

Dave gelangte ins Freie und Vicky folg­te ihm.

Die Affen kämpften indessen weiter­hin mit den Vampiren. Es gelang ihnen nicht, diese Ungeheuer vollständig aus­zuschalten. Immer wieder erwachten sie zu neuem Leben.

„Ihr könnt sie nur mit Holzpfählen tö­ten“, dachte Dave intensiv. „Die müßt ihr ihnen ins Herz rammen.“

Einige Affen liefen davon, und Dave folgte ihnen.

Zwei Menschen kamen ihnen ent­gegen. Sie trugen Pistolen und schossen sofort. Einer der Affen stöhnte auf, als ihn eine Kugel in die Schulter traf. Der Schmerz machte das Tier vollends ra­send. Mit zwei gewaltigen Sprüngen erreichte es die Männer. Den ersten schleuderte es gegen die Wand. Der Mann blieb mit gebrochenem Genick liegen. Den zweiten drückte der Gorilla gegen seine Brust, und während der Mann schrie, zermalmte der Affe mit beiden Händen den Oberkörper des Mannes.

Dave rannte weiter. Er war besorgt, weil er keine Gewalt mehr über die Af­fen besaß. Sie folgten seinen Befehlen nicht mehr. Alles in ihnen brannte nach Rache, nach unmenschlicher Rache. Kein Zimmer war vor den Gorillas sicher, sie rissen alle Türen auf, zertrüm­merten die Einrichtungsgegenstände, und was sich bewegte, wurde niederge­metzelt.

Dave kam in den Saal, in dem er schon einmal gewesen war. Aus einer Tür strömten ein halbes Dutzend Vampi­re. Hinter ihnen flogen Fledermäuse, die sich gierig auf die Affen stürzten. Doch Dave hatte keine Zeit, diesen Kampf zu verfolgen. Er mußte zu Ragor, denn er hatte Angst, daß es dem Wissenschaftler womöglich gelang, zu entfliehen.

Er packte einen Vampir, hob ihn hoch und warf ihn quer durch das Zimmer.

Die Affen waren seinem Rat gefolgt und hatten sich Holzpflöcke besorgt. Der Lärm und Gestank war unbe­schreiblich.

Dave rannte immer weiter, dicht ge­folgt von Vicky. Er kam zum Operationssaal, doch der war leer. So eilten sie in die große Halle, von der eine, kunstvoll verzierte Holztreppe in den ersten Stock führte. Dave kletterte einfach das Geländer empor. Das war für ihn einfacher. Vicky folgte seinem Bei­spiel. Ein breiter Gang - der Boden mit Marmor ausgelegt - lag vor ihnen. Eine schwarze Rauchwolke trieb auf sie zu. Aus einer Tür schoß eine meterhohe Flamme.

„Das Haus brennt“, dachte Vicky.

Dave starrte entsetzt die Flammen an. Wenn das Haus niederbrannte, hat­ten sie keine Chance mehr, ihre alten Körper zurückzubekommen, da diese mit verbrennen würden.

Vicky schnappte Daves Gedanken auf.

„Denke nicht daran“, sagte sie.

Die rechte Seite des Ganges war schon ein Flammenmeer. Das Feuer griff rasend schnell um sich. Die Decke bestand aus altem Eichenholz, das wie Zunder brannte. Immer mehr Flam­men zuckten auf.

„Wo mag Ragor sich wohl aufhal­ten?“ fragte Vicky, doch Dave wußte darauf keine Antwort.

Die Hitze wurde unerträglich. Ein Teil der Decke stürzte ein. Das Feuer hatte die Treppe erreicht, und die Flam­men leckten gierig nach Vicky und Dave.

„Rasch, wir müssen weiter“, dachte Dave und sprang den Gang entlang,

Da öffnete sich eine Tür, und Ragor und Elenore stürzten heraus. Ragor warf den zwei Affen nur einen kurzen Blick zu und rannte den Gang hinunter.

„Halte sie auf, Elenore!“ rief er der Frau zu.

Und Elenore gehorchte bedingungs­los.

Er schlug ihr gegen die Stirn und riß sie dann los und schleuderte sie mitten in das Inferno.

Das Feuer ergriff ihr weißes Kleid, das in wenigen Sekunden in Flammen  stand. Elenore begann zu schreien.

Dave warf ihr einen letzten Blick zu und hastete weiter. Ragor war verschwunden.

Die rechte Hälfte des Hauses brannte lichterloh. Im Erdgeschoß wüteten im­mer noch die Affen. Sie flohen vor dem Feuer, aber auf der Flucht zerstörten sie noch die Einrichtung, wäg vollkom­men sinnlos war, aber so weit reichte ihr Verstand nicht.

Immer seltener kamen ihnen jetzt Vampire entgegen, und mit den wenigen, die ihnen noch über den Weg lie­fen, wurde kurzer Prozess gemacht. Sie packten die Ungeheuer, drückten sie zu Boden und rammten ihnen die Holz­pfähle ins Herz.

Als das Feuer sich immer mehr aus­breitete, drängten die Gorillas ins Freie. Das Eingangstor stand weit offen.

Dann krachte ein Teil des Hauses zu­sammen. Funken stoben durch die Nacht und dicke Holzstämme, Stein­brocken und Glastrümmer flogen durch die Luft.

Die Affen rannten durch den Garten und überkletterten die drei Meter hohe Steinmauer. Sie blieben nicht beisam­men. Einige wandten sich gen Norden, die meisten gen Süden.

Die Nacht der Affen war angebro­chen. Eine Nacht, wie sie die Welt bis jetzt noch nie erlebt hatte.

Vicky und Dave suchten immer noch Ragor. Sie sahen in die noch vorhande­nen Zimmer, doch der verrückte Wis­senschaftler war spurlos verschwun­den.

Am Ende des Ganges entdeckten sie einen Raum mit einer schmalen Wen­deltreppe. Rasch sprangen sie die Eisen­stufen hinunter. Eine Tür stand offen und Dave stürmte hinein. Er kam in ein Fotolabor. Auf einem Tisch stand ein Vergrößerungsapparat, daneben lag ein Stapel Fotopapier. Doch er hatte kei­ne Zeit, sich näher umzusehen.

Im nächsten Zimmer erwartete sie Ragor. In der rechten Hand hielt er einen riesigen Revolver. Er schoß so­fort, doch er hatte nicht richtig gezielt, die Kugel schlug in die Wand ein.

Dave reagierte blitzschnell. Mit einem gewaltigen Sprung schmiß er den Tisch um. Ein Mikroskop krachte zu Boden.

Ragor schoß wieder. Diesmal streifte die Kugel Daves Kopf.

Mit einem Schlag auf Ragors Hand brachte Dave die Waffe aus dem Spiel. Sie fiel auf die Tischplatte und dann zu Boden.

Ragor drehte sich um und rannte auf die Tür zu. Dave setzte ihm nach, griff nach dem Lüster, schwang sich durch die Luft und landete auf Ragors Rüc­ken. Der Wissenschaftler kam ins Tau­meln lind stolperte, konnte aber das Gleichgewicht halten.

Da griff Vicky ein. Sie versperrte Ragor den Weg. Der Wissenschaftler wandte sich nach rechts.

Dave packte einen fahrbaren Instru­mententisch und versetzte ihm einen heftigen Stoß. Das Tischchen schoß auf Ragor zu und traf ihn in den Rücken. Wieder kam er ins Taumeln. Sein wei­ßer Kittel stand offen. Er wischte sich mit einem Ärmel den Schweiß vom Ge­sicht und drückte sich an die Wand. Sei­ne Augen weiteten sich. Nackte Angst stand darin geschrieben.

„Laßt mich!“ keuchte er verzweifelt.

Alles in Dave schrie nach Rache. Ne­ben Ragor stand eine meterhohe Wan­ne, davor eine Personenwaage. Auf der Wanne lag ein Stahldeckel. Dave ahnte, was sich in der Wanne befand. Er riß den Deckel herunter, der krachend auf dem Boden landete.

In der Wanne befand sich, wie Dave gedacht hatte, ein Säurebad.

Mit seinem rechten Arm zeigte Dave auf die Wanne, dann bellte er grimmig.

„Nein, das tue ich nicht!“ schrie Ragor.

Dave kam drohend näher. Nur noch zwei Schritte, dann hatte er Ragor er­reicht.

Ragor faßte wieder Mut. Er rannte rasch den Rand entlang, doch Dave dachte nicht daran, den Wissenschaftler entkommen zu lassen. Er sprang auf ihn zu.

Ragor wollte ausweichen und kam ins Wanken. Ein verzweifelter Schrei, dann fiel er ins Säurebad. Er tauchte vollständig darin unter. Nach wenigen Sekunden kam er laut brüllend wieder hoch. Seine Augen waren blind. Die Säure zerfraß langsam das Gesicht.

Er schrie ununterbrochen. Es war ein entsetzlicher Anblick. Aber Dave emp­fand kein Mitleid mit Ragor. Der Wissenschaftler hatte dieses Schicksal ver­dient. Kalt sah Dave zu, wie sich der ganze Körper Ragors nach und nach auflöste. Sein Schreien hatte aufgehört. Er rutschte immer weiter in die Flüssig­keit. Nur noch eine Hand ragte aus der glucksenden Säure heraus, doch auch sie war bald verschwunden.

Dave blieb eine Zeit stehen. Er konn­te den Blick nicht von der Wanne losrei­ßen. Vicky trat neben ihn und klopfte sanft auf seine Schulter.

„Wir müssen fort“.

Er drehte sich um. Schwarzer Rauch quoll durch die Tür, und irgendwo zer­sprang eine Flasche mit lautem Knall.

Fast das ganze Haus stand nun in Flammen.

Dave hörte eine Feuerwehrsirene.

Sie kommen zu spät, dachte er bitter. Ihre präparierten Körper würden längst verbrannt sein. Für immer wa­ren ihre Gehirne in den Affenkörpern gefangen.

Die Flammen breiteten sich jetzt un­wahrscheinlich schnell aus. Sie rannten beide durch die Tür. Der nächste Raum hatte noch nicht Feuer gefangen. Rasch durchquerten sie ihn, standen dann jedoch einem Flammenmeer ge­genüber.

Sie hatten sich zu viel Zeit gelassen. Jetzt hatten sie Mühe, diesem Inferno zu entkommen.

Knapp unter der Decke befand sich eine eiserne Stange. Dave sprang hinauf. Unter ihm loderte das Feuer. Ein­zelne Flammen züngelten hoch. Vicky folgte ihm.

Sie erreichten das Ende der Stange. Schwarzer, beißender Rauch trieb auf sie zu.

Da kommen wir nie durch, schoß es Dave durch den Kopf.


* * *
 

Ein knallrot gestrichenes Löschfahr­zeug hielt mit kreischenden Bremsen vor dem brennenden Haus. Einige Feu­erwehrmänner sprangen aus dem Wagen.

„Da kommen wir zu spät“, sagte der Meister leise und warf einen Blick auf das Haus, das lichterloh brannte.

Ein weiterer Löschzug blieb stehen. Die Feuerwehrmänner arbeiteten wie ein gut eingespieltes Team. Schläuche wurden entrollt und am Überflurhydrant angeschlossen. Es dauerte nur we­nige Minuten, bis der erste Wasser­strahl auf das Haus zuschoß. Immer mehr Löschfahrzeuge trafen ein.

Doch plötzlich entstand Unruhe unter den Feuerwehrmännern. Über die Gartenmauer sprangen zwei Goril­las. Sie stießen drohende Laute aus und stürzten sich sofort auf die Feuerwehr­leute.

Carter Burden, einer der Feuerwehr­männer, richtete den Wasserstrahl auf einen der Affen und spritzte genau in das Maul des Tieres, doch der Gorilla rea­gierte anders, als er erwartet hatte. Er ließ sich rasch zu Boden fallen und schnellte auf Carter Burden zu.

Der Feuerwehrmann fiel um. Der Schlauch entglitt seinen Händen und schlängelte wie eine Riesenschlange über den Boden. Das Wasser übersprüh­te die Löschfahrzeuge.

Die zwei Affen wüteten weiter. Zwei Feuerwehrmänner hatten sie bereits ge­tötet, ein halbes Dutzend schwer ver­letzt. Währenddessen stürzten immer wieder neue Teile des Hauses ein. Doch die Feuerwehrmänner konnten nicht ans Löschen denken. Vereint richteten sie alle Schläuche auf die Affen, und gegen diesen Ansturm konnten sich die Biester nicht wehren. Sie mußten fliehen.

Die Gorillas verschwanden in einem nahen Wald. Das Haus stand auf einer sanften Anhöhe und war ringsum von Wald umgeben. Die Feuerwehrleute versuchten, wenigstens ein Übergrei­fen der Flammen auf die Bäume zu ver­hindern.


* * *
 

Dave und Vicky hingen noch immer am. Ende der Eisenstange. Die Flammen züngelten nach ihren Beinen.

„Wir müssen durch“, meinte Dave. „Hoffentlich schaffen wir es.“

Er ließ sich fallen und sprang durch die Tür. Vicky folgte ihm. Der Türstock krachte hinter ihnen zusammen. Ein faustgroßer Stein traf Vicky am Kopf, doch sie achtete nicht darauf.

Dave kletterte eine Wand hoch, hielt sich an den Verzierungen fest und arbei­tete sich mühsam zur Ausgangstür. Ge­legentlich sah er sich um. Vicky folgte.

Der Rauch war nun so stark, daß Dave kaum noch etwas erkennen konnte. Er kämpfte sich voran, bis er nicht mehr weiter kam und zu Boden sprin­gen mußte. Die Flammen verbrannten seine Beine und versengten sein Fell. Er warf sich mit einem letzten Sprung durch die Ausgangstür, wälzte sich rasch im Sand und brachte die Flam­men zum Erlöschen.

Vicky landete neben ihm. Auch sie war ohne schwere Verletzungen davon­gekommen.

Sie rannten auf die Mauer zu und klet­terten hinüber. Als sie sich herunterfal­len ließen, schrien Feuerwehrleute wild auf, und sofort wurden einige Schläuche auf sie gerichtet.

Doch Dave und Vicky wollten die Feu­erwehrleute nicht angreifen; sie woll­ten nur möglichst rasch den Ort des Schreckens hinter sich lassen. Sie rasten an den Löschfahrzeugen vorbei und verschwanden im Wald, wo sie auf eine hohe Eiche kletterten und von dort aus auf das brennende Haus zurückblickten.

„Wie soll es nun weitergehen?“ fragte Vicky.

„Wir müssen hier weg, das ist klar. Aber was sollen wir tun? Wenn wir uns bei der Polizei melden, dann werden wir in einen Käfig gesteckt. Und wenn wir erklären, daß wir eigentlich Men­schen sind... Nicht auszudenken! Unse­re Käfige würden täglich von Tausen­den umlagert sein, und die Wissenschaftler würden keine Ruhe geben. Es wäre ein entsetzliches Leben. Das will ich nicht.“

„Was sollen wir dann tun?“

„Uns verstecken. Fliehen. Wir müs­sen von England fort.“

„Aber wie kommen wir fort? Wir kön­nen uns ja nicht sehen lassen.“

„Es gibt eine Möglichkeit“, meinte Dave. „Wir müssen ein Flugzeug stehlen. Ich war ein recht guter Pilot, und es sollte mir auch jetzt noch möglich sein, ein Flugzeug zu bedienen. In der Nähe von Okehampton liegt ein Flugplatz. Der Ort ist nur einige Meilen entfernt.“


* * *
 

Mike Newman bewohnte eine Farm, sieben Kilometer von Exeter entfernt. Er saß mit seiner Frau vor dem Fernseh­apparat und sah sich ein Europacup­match an. Er hatte das Fester offen ge­lassen.

„Hast du das gesehen, Mabel?“ fragte er böse seine Frau. „So ein Idiot! Der be­kommt nicht mal den Ball!“

Überrascht hörte er zu sprechen auf. Ein heiseres Bellen war zu hören gewe­sen.

„Was war das?“ fragte Mabel ängst­lich.

„Keine Ahnung“, sagte Mike und stand auf.

Wieder hörte man das Bellen, dann tauchte ein Affenschädel vor dem Fen­ster auf.

Erschrocken fuhr er zurück.

„Ein Gorilla!“ rief er seiner Frau zu. Der Affe kletterte aufs Fensterbrett. „Rasch!“ rief Mike. „Raus aus dem Zimmer!“

Mabel sprang auf und rannte auf die Tür zu. Sie rutschte aus und fiel zu Bo­den. Mike half ihr in die Höhe. Hinter sich hörte er rasches Atmen, dann  griff eine Hand nach ihm. Er wurde in die Höhe gehoben und gegen die Wand ge­schleudert. Ohnmächtig brach er zu­sammen.

Mabel stieß einen spitzen Schrei aus. Die Affenhände fuhren an ihren Hals. Gnadenlos drückten sie zu, bis sich Ma­bel nicht mehr bewegte.

Der Affe durchsuchte das Haus und zerstörte wütend die Einrichtung.

 
* * * 
 

In der Polizeizentrale von Plymouth war der Teufel los. Immer mehr Mel­dungen kamen herein, die von schreck­lichen Untaten einer Horde Gorillas be­richteten. Die Fernsehprogramme wa­ren unterbrochen und eine Warnung durchgegeben worden, daß sich alle Bewohner in der Umgebung von Plymouth und Exeter nicht auf die Straße begeben sollten.

Konstabler Jerry Farmer hob den Te­lefonhörer ab.

Eine erregte Stimme brüllte ihm ent­gegen: „Kommen Sie sofort ins Stadt-Theater! Drei Affen sind einge­drungen.“

Kurz nach Beginn des dritten Akts kletterten drei Affen die Fassade des Theaters empor und schwangen sich auf den Balkon, der ins Foyer führte. Die hohe Glastür stand offen. Nur ein Platzanweiser befand sich im Raum. Er  erblickte die Affen, blieb vor Schreck er­starrt stehen und wurde brutal niedergeschlagen. Dann riß einer der Affen die Tür zum Zuschauerraum auf. Er trommelte sich wütend gegen die Brust, und die Zuschauer sprangen entsetzt von den Plätzen. Panik brach aus. Jeder wollte den Ausgang erreichen. Dutzende von Menschen wurden niederge­trampelt. Ein Gorilla ließ sich auf die Bühne fallen, packte einen Schauspieler und schleuderte ihn in den Orchesterraum. Danach ergriff er einige Dekora­tionsgegenstände und schmiß sie hinter­her.

Das Durcheinander war perfekt. Die Gorillas hatten sich in einen Blutrausch hineingesteigert. Sie waren är­ger als Tiere, unmenschliche Bestien. Mit einer wahren Freude töteten sie Menschen.

Drei Polizisten hatten Dienst im Thea­ter gehabt. Einer war von der Masse der Drängenden zu Boden gestoßen worden. Ein zweiter wurde so einge­keilt, daß er nicht schießen konnte. Der dritte Polizist befand sich im zweiten Rang; er lehnte an der Brüstung und zielte auf einen der Affen. Er schoß und traf, doch der Affe zeigte keine Reak­tion; wieder und wieder schoß er, aber der Affe wurde nur wütender. Verzwei­felt lud der Polizist seine Waffe nach und schoß und schoß.

Einem Großteil der Zuschauer war es gelungen, ins Freie zu entkommen. Der Rest war den Affen hilflos ausgeliefert. Einige beherzte Männer stellten sich den Bestien entgegen, wurden aber nur niedergeschlagen.

Einer der Affen zertrümmerte eine Sitzreihe nach der anderen. Das machte ihm mehr Spaß, als Menschen zu jagen.


* * *


Dave und Vicky kamen rasch vor­wärts. Sie schwangen sich von Baum zu Baum. Anfangs hatten sie einige Schwierigkeiten mit dieser Fortbewe­gungsart, doch nach wenigen Minuten hatten sie sich daran gewöhnt.

Der Flughafen lag zwei Meilen von Okehampton entfernt. Dave war schon zweimal hier gelandet und kannte sich recht gut aus. Auf dem Flughafen be­fand sich eine Privatschule, und einige Leute hatten dort ihre Privatflugzeuge abgestellt. Es konnte eigentlich keine große Schwierigkeit sein, ein Flugzeug zu stehlen; es mußte nur aufgetankt sein.

„Wohin willst du fliehen?“ fragte Vic­ky.

„Nach Afrika“, antwortete Dave. „Afrika?“

„Ja. Dort fallen wir am wenigsten auf. Wir suchen uns eine kleine Insel, die kaum bewohnt ist. Dann haben wir genug. Zeit, um alles in Ruhe zu überdenken.“

Vicky war es recht. Sie wollte nur weg, denn sie hatte panische Angst, wie­der gefangengenommen zu werden.

Vor ihnen lag der Flughafen. Er war klein und hatte eine Landebahn, zwei Flugzeughallen und ein Verwaltungsge­bäude mit einer Kantine.

Eine funkelnagelneue Cherokee Two 750 Super stand zum Abflug bereit.

„Dieses Flugzeug müssen wir ka­pern“, dachte Dave. „Ich bin mit einem ähnlichen Modell schon einmal geflo­gen, und dieses Flugzeug kann uns bis nach Afrika bringen. Aber wie stellen wir es an?“

Zwei Mechaniker gingen auf das Ver­waltungsgebäude zu. Sonst war im Au­genblick niemand zu sehen.

„Schleichen wir uns näher heran“, for­derte Vicky ihn in Gedanken auf.

Sie umgingen eine Flughalle, schli­chen die Rückwand entlang, und dann lag die Landebahn vor ihnen.

„Die Gelegenheit ist günstig.“

Dave lief auf allen vieren auf das Flugzeug zu. Es war dunkel. Er kletter­te auf die Tragfläche und sah sich um. Noch immer war niemand zu sehen.

Die Kabinentür war offen, und Dave fiel ein Stein vom Herzen. Es wäre ihm unmöglich gewesen, das Flugzeug auf­zubrechen.

Er glitt in die Kabine. Aufmerksam sah er das Armaturenbrett an. Es würde ihm keinerlei Schwierigkeiten berei­ten, die Maschine zu fliegen.

Vicky setzte sich neben ihn und zog die Kabinentür zu.

„Wie haben keine Sekunde zu verlie­ren“, sagte er.

Das Flugzeug war vollgetankt. Dave startete und rollte auf die Startbahn. Zwei Männer stürzten aus dem Verwal­tungsgebäude und rannten winkend auf das Flugzeug zu. Doch Dave ließ sich davon nicht beirren. Stur steuerte er weiter auf die Startbahn zu und steigerte die Geschwindigkeit. Er war noch nie bei Nacht ohne Unterstützung der Bodenstelle abgeflogen, doch es mußte auch so gehen.

Dave hob ab und nahm Kurs auf Ply­mouth. Die kleine Maschine wurde ziemlich durchgeschüttelt. Sie hüpfte von einem Luftloch ins andere.

„Wir haben es geschafft“, stellte Vic­ky zufrieden fest.

Dave schüttelte den Kopf. Er war noch nicht sicher, daß sie es tatsächlich geschafft hatten. Sie flogen jetzt sieben­hundert Meter hoch. Unter sich erkann­te er bald die Lichter von Plymouth. Er steuerte aufs offene Meer hinaus.

Der lange Flug nach Afrika hatte be­gonnen.


* * *
 

Die Armee war verständigt worden. Die Polizei hatte sich nicht mehr allein zu helfen gewußt. Colonel Alan Harring­ton leitete die Operation. Er war ein hochgewachsener Mann mit fast wei­ßem Haar und schmalen Lippen.

Der Colonel hatte einen Ring von Sol­daten um die Städte Exeter und Ply­mouth gezogen. Er durchkämmte die Städte. Drei Affen hatten sie bis jetzt ge­tötet. Was die ganze Aktion besonders schwierig gestaltete, war, daß man nicht wußte, wie viele Affen herum­streiften.

Ein Gorilla hatte auf der Schnell­straße von Exeter nach Plymouth eine Barrikade aus Baumstämmen und Steintrümmern errichtet. Der Affe saß auf einem Baum und beobachtete das Schauspiel. Immer wieder raste ein Auto in die Barrikade. Die Menschen, die den Unfall überlebten, tötete der Affe.

Ein Jeep der Armee machte dem Spuk schließlich ein Ende. Die Soldaten fanden vierundzwanzig verunglückte Autos und fünfunddreißig Tote.

Das war nur ein Fall, herausgegrif­fen aus einer Unzahl anderer. Und einer war schrecklicher als der andere.

Langsam begann es hell zu werden.


* * *
 

Dave flog über dem Meer. Die Küste Afrikas war in Sichtweite. Sie waren schon an Marokko vorbeigeflogen.

Immer wieder warf Dave einen be­sorgten Blick auf den Treibstoffanzei­ger. Viel Sprit hatten sie nicht mehr zu Verfügung. Bald mußten sie landen. Doch weit und breit war keine Insel zu sehen. Und ins Innere getraute sich Dave nicht, aus Angst, zu leicht ent­deckt zu werden.

Er steuerte etwas näher ans Land her­an. Eine weite Wüste lag unter ihm. Rasch flog er erneut aufs Meer hinaus.

„Wie lange können wir noch fliegen?“ erkundigte sich Vicky.

„Eine Stunde, schätze ich, vielleicht auch etwas länger.“

Das Meer war dunkelblau. Sie sahen einige Schiffe, doch keine Insel war zu erkennen.

Nach einer weiteren halben Stunde war Dave besorgt. Er hatte Angst, doch auf dem Festland landen zu müssen. Da wäre es besser gewesen, gleich in Eng­land zu bleiben.

Sie erblickten eine Stadt. Vicky sah auf der Landkarte nach.

„Das muß Dakar sein“, meinte sie. „Und jetzt sollten bald Inseln auftau­chen. Vor Guinea gibt es eine ganze Menge. Schaffen wir es noch bis dort­hin?“

„Wir müssen es schaffen.“

Die Landung machte ihm große Sor­gen. Er mußte eine Lichtung finden, die lang genug war.

Nach einer weiteren halben Stunde sah er die Inseln vor sich. Er hatte noch Sprit für fünf Minuten Flug.

Dave zog einmal einen Kreis um die Inseln. Die meisten waren unbewohnt, aber sehr klein. Dort konnte er nicht landen. Auf den größeren Inseln er­kannte er indessen menschliche Behau­sungen. Auf einer Insel befanden sich sogar ganze Ansiedlungen. Doch dann erblickte er eine Insel, die etwa fünf­zehn Kilometer lang und zehn Kilome­ter breit war. Das Südende war nur we­nig bewaldet, der Norden mit undurchdringlichem Dschungel bedeckt.

„Diese Insel ist ideal für uns“, bedeute­te er. „Kein Mensch wohnt darauf.“ Er drosselte die Geschwindigkeit, zog einen Kreis und überflog die Insel noch­mals. Hier mußte ihm die Landung ge­lingen.

Er ging tiefer und untersuchte auf­merksam den Boden. Er war glatt. Die provisorische Landebahn war unge­fähr vierhundert Meter lang. Sie be­gann kurz nach dem Ufer.

Dave drehte nochmals ab, flog lang­sam über das Meer an, drückte die Ma­schine tiefer und drosselte die Ge­schwindigkeit noch mehr. Dann berühr­ten die Räder den Boden. Er hob erneut ab und setzte wieder auf. Das tat er drei­mal. Die Maschine drehte nach rechts durch und bockte. Nur mit größter Mühe konnte Dave verhindern, daß sie kopflastig wurde. Immer näher kam das Ende der provisorischen Lande­bahn. Der Dschungel raste auf sie zu.

Endlich wurde das Flugzeug lang­samer und rollte schließlich aus.

Dave riß die Kabinentür auf und sprang raus. Ein sanfter Wind wehte vom Meer her. Der Himmel war strah­lend blau; es war angenehm warm. Vom Dschungel her hörte er das wüten­de Kreischen einiger Vögel.

Dave gefiel es hier.

„Das ist unsere neue Heimat“, dachte er. „Schon als Junge habe ich mich im­mer nach einer Insel gesehnt. Jetzt habe ich eine, aber ich bin kein Mensch mehr, sondern ein Gorilla. Und das trübt meine Begeisterung ganz ent­schieden.“

„Mir geht es so wie dir.“ Vicky nickte. „Aber hier findet uns wenigsten nie­mand. Wir werden nicht mehr einge­sperrt, und kein Wissenschaftler wird uns mehr untersuchen. Wir sollten nicht unzufrieden sein. Wir hätten es noch schlechter treffen können.“

Da hatte sie allerdings recht. Sie hat­ten außerdem gar keine andere Wahl. Und Dave war sicher, daß er sich ziem­lich rasch an die neue Situation gewöh­nen würde. Sie hatten noch immer das Funkgerät und ein Radio. Der Kontakt mit der Außenwelt war nicht ganz abge­schnitten.

Dave legte einen Arm um Vickys Schultern. Langsam gingen sie auf den Dschungel zu, ihre neue Heimat.

E N D E

© by Kurt Luif 1973 & 2017

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