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Millionenspiel

StoryMillionenspiel

Wie immer vor Beginn einer Pres­sekonferenz war Ralf Mayer nervös. Das änderte sich aber sofort, als er ins Scheinwerferlicht trat. Einen Augenblick blieb er blinzelnd ste­hen, dann betrat er das Podium und verbeugte sich leicht. Der Zuschauer­raum lag im Halbdunkel, und nur die in den ersten Reihen sitzenden Journa­listen waren undeutlich zu erkennen.

„Meine Damen und Herren“, sagte der Saalsprecher, „wir stellen ihnen nun Ralf Mayer vor!“


Als Ralf sich setzte, war er beherrscht und zum leicht dümmlichen Naturburschen aus den Alpen geworden, genau­so, wie ihn die heimischen Medien auf­gebaut hatten. Und dieses Image war von den Public-Relations-Leuten seines Teams noch verstärkt worden.

„Raff Mayer ist dreiundzwanzig Jahre alt. Er hat neun Weltcuprennen gewonnen. Und vergangenes Jahr als Krönung seiner Amateurlaufbahn wurde er olym­pischer Abfahrtssieger!“

Der Monitor auf dem Tisch zeigte ihn bei seiner Siegesfahrt, die ihm olympisches Gold und einen lukrativen Profi-Vertrag eingebracht hatte.

Er lächelte leicht, als er sich in Sieges­pose dastehen sah, die Arme hochgerissen und den Mund zu einem Freuden­schrei geöffnet. Diese Bilder hatte er hundertmal gesehen, doch immer wie­der gefielen sie ihm.

„Diese Saison wechselte Ralf Mayer zu den Profis über. Er wurde vom ATT­Team engagiert. Seine ersten Profiren­nen waren nicht gerade erfolgreich für ihn.“

Das kann man wohl sagen, nickte Ralf zustimmend, als er einige seiner Stürze auf dem Bildschirm sah.

„Vor acht Wochen gewann er zwei Gruppe-11-Profiabfahrtsrennen- gegen mäßige Gegner, und vor vier Wochen schaffte er die Qualifikation für den WM-Lauf, als er den Aspen-Gold-Cup ge­wann.“

Nun war er wieder als strahlender Sie­ger zu sehen. Sein blutroter Anzug mit dem ATT-Wappen glänzte in der Sonne. Sein dunkelblondes Haar war zerrauft, und seine grünblauen Augen blitzten. Triumphierend hielt er den Goldpokal in der rechten Hand, und mit dem linken Arm umarmte er seinen Trainer.

„Ralf Mayer zog für den morgigen WM-Lauf die ungünstige Startnummer 8. Bei den englischen Buchmachern ran­giert er als letzter Außenseiter. Sein Trainer ist Peter Sullivan, der vor fünf Jahren der erste Profi-WM-Sieger war. Fra­gen Sie nun Ralf Mayer, liebe Freunde! Nehmen Sie ihn ins Kreuzverhör!“

Nun ist es wieder einmal so weit, dachte Ralf. Jetzt werden sie mich und die Millionen Zuschauer in aller Welt mit den üblichen idiotischen Fragen quälen. Und wie üblich würde er auch die däm­lichste Frage so beantworten, wie sie zu seinem Image paßte: sanft und beschei­den.

Die Scheinwerfer wechselten alle paar Sekunden die Farbe. Den Zuschauerraum konnte er nur mehr als undurchdringliche Schwärze wahrneh­men. Er wußte, daß zumindest eine Ka­mera auf ihn gerichtet war und sein Ge­sicht in Großaufnahme zeigte. Diese Pressekonferenz wurde live in 39 Länder übertragen.

„He, Ralf, glauben Sie, daß Sie den Zielrichter belästigen werden?“

Einige kicherten. Vergeblich ver­suchte Ralf den Frager zu erkennen.

„Ich denke schon“, antwortete er.

„Was war das längste Rennen, das Sie je fuhren?“

„Gröden. Vergangenes Jahr. Es war viertausend Meter lang.“

„Da gab es aber keine Hindernisse. Das morgige Rennen ist 9377 Meter lang; ich wiederhole: neuntausenddrei­hundertsiebenundsiebzig Meter. Und voll mit den heimtückischsten Fallen. Einige Buchmacher legen es fünfzig zu eins, daß Sie nicht einmal den ersten Teil des Rennens schaffen werden.“

„Ich habe mich gewissenhaft vorbe­reitet. Nie zuvor war ich so in Hoch­form.“

„Einige Ihrer Konkurrenten behaup­ten, daß Sie zu weich für den Profisport sind. Sie haben die Umstellung noch nicht verkraftet.“

„Dagegen spricht mein Sieg im Aspen-Gold-Cup.“

„Weshalb fahren Sie für das ATT-Team?“

„Sie machten mir das beste Ange­bot.“

„Was waren für Sie die größten Um­stellungen vom sogenannten Amateur zum Profi?“

Ralf überlegte kurz. „Amateurrennen sind mit Profirennen überhaupt nicht zu vergleichen. Bei den Profis ist alles an­ders. Der Massenstart aus den Startma­schinen, das gegenseitige Belauern und Behindern und natürlich die Hindernis.“

„Das wissen wir alle. Aber was war für Sie die größte Umstellung?“

„Die Taktik. Eine gute Position im Rennen zu suchen. Keinen Meter zu verschenken.“

Weitere Fragen prasselten auf ihn herab.

„Der Bursche macht seine Sache großartig“, sagte Bert Zinnemann zufrie­den. Er sah genauso aus, wie man sich einen erfolgreichen Manager eines großen Konzerns vorstellte.

Peter Sullivan antwortete nicht. Er starrte den Bildschirm an.

„Sie haben vorbildliche Arbeit gelei­stet, Peter. Unser Umsatz hat sich in den vergangenen Wochen um fast dreißig Prozent gesteigert. Das ist nur auf die Erfolge Ralfs zurückzuführen. Und wenn er nun die Weltmeisterschaft gewinnt, dann...“

„Er wird nicht gewinnen.“

„Ach ja“, wiegelte ihn Zinnemann ab, „jetzt kommen wieder Ihre langweili­gen Einwendungen: Er wird verheizt. Er ist noch nicht reif für so ein brutales Ren­nen. Der Start kommt um ein Jahr zu früh. Er hätte langsamer aufgebaut wer­den müssen. Das wollen Sie doch sa­gen?“

„Richtig.“

„Peter, Sie wissen, was gespielt wird. Unser Team braucht einen zugkräftigen Fahrer. Wir steckten ganz schön in den roten Zahlen.“

„Das weiß ich alles. Trotzdem kommt der Start für Ralf zu früh. Dieses Rennen ist zu schwer für ihn. Ich selbst fuhr drei Jahre als Profi, bevor ich die WM ge­wann.“

„Ach was, wenn er nicht gewinnt, ist es auch nicht tragisch. Wichtig ist, daß er überhaupt am WM-Lauf teilnimmt. Diese Reklame ist einfach unbezahlbar.

„Mit Ihrem Pessimismus gehen Sie mir auf die Nerven, Peter. Genug davon, unser Star kommt.“

Ralf kam auf sie zu. Sein Gesicht war ernst. Die Gelassenheit und Ruhe, die er vor der Reportermeute gezeigt hatte, war wie fortgeblasen. Er sah müde aus.

„Gut gemacht, Ralf“, lobte Zinnemann auf seineschleimige Art.

„Immer die gleichen blöden Fragen“, sagte Ralf und blickte Peter an.

„Und immer die gleichen blöden Ant­worten. Bert, bringen Sie Ralf auf sein Zimmer! Absolute Ruhe! Und keine Be­sucher! Verstanden?“

Um acht Uhr stand Ralf auf. An das bevorstehende Rennen versuchte er nicht zu denken.

Frühsport mit dem Konditionstrainer Heini Dönger. Dann ein kräftiges Frühstück. Anschließend eine Massage von Karl Holzer und danach eine kurze ärztliche Untersuchung.

Wieder ins Bett. Doch er konnte nicht schlafen. Nach einer halben Stunde stand er auf, setzte sich an den Tisch und spielte eine Partie gegen den Schach-Computer. Spanisch mit 3. ...a 6, die Gambitvariante. Nach fünfund­zwanzig Zügen war der Computer ge­schlagen.

Ein paar Minuten vor zwölf Uhr rasier­te er sich sorgfältig.

Fünf Minuten nach zwölf Uhr begann das Zerren in seinem Magen. Seine Hände wurden feucht. Nervös lief er im Zim­mer auf und ab. Er ging auf die Toilette und versuchte zu pissen, doch es ging nicht.

„Verdammte Scheiße“, flüsterte er und stapfte wieder hin und her.

Um halb ein Uhr holte ihn Peter Sullivan ab.

„Alles in Ordnung, Ralf?“

Er lächelte verkrampft. „In meinem Magen hat sich ein Ameisenvolk niedergelassen. Mir ist abwechselnd kalt und warm. Ich fühle mich hundsmiserabel.“

„Dann ist ja alles bestens in Ordnung“, freute sich Peter. „Zieh dir den Pelzmantel an. Und setz dir die Mütze auf. Es ist saukalt.“

Ralf gehorchte.

Mit dem Schnellaufzug fuhren sie zum Hoteldach, auf dem bereits der Hubschrauber auf sie wartete.

Es war grimmig kalt. Ein strahlend schöner Tag, aber von den Rocky Mountains her kam ein schneidend kalter Wind.

„Die anderen sind schon am Start ein­getroffen“, sagte Peter.

Ralf nickte und kletterte in den Heli­kopter. Peter folgte ihm. Sie schnallten sich an, und der Flieger hob sanft von der Plattform ab.

Mit jeder Minute wurde Ralf nervöser. Sein Gesicht war kreidebleich, und die Hände konnte er nicht eine Sekunde ruhig halten.

Gelegentlich warf er einen raschen Blick über Denver. Sie flogen am Stapleton International Airport vorbei, dann über die Innenstadt mit den un­zähligen Wolkenkratzern. Dann folgte der Hubschrauber der Interstate 70 schnurgerade nach Westen, genau auf die schneebedeckten Gipfel der Rockies zu.

Ralf schloß die Augen. Er vermied es, die rasch näherkommenden Berge anzusehen. Um sich abzulenken und seine angespannten Nerven zu beruhigen, konzentrierte er sich auf ein Schachpro­blem. Und innerhalb weniger Sekunden lagen seine Hände ruhig auf seinen Knien.

Peter kannte diesen Zustand nur zu gut, in dem sich Ralf befand. Dieses Startfieber war unerläßlich. Sie hatten es mit verschiedenen Medikamenten ver­sucht, die Nervenanspannung zu min­dern, doch die Ergebnisse waren nicht sehr erfolgreich gewesen. Außerdem gab es nichts zu besprechen. Vierzehn Tage lang hatten sie die WM-Strecke gründlichst studiert. Ralf wußte ganz ge­nau, wo die schwierigsten Stellen lagen. Alles war gesagt worden.

Der Hubschrauber landete unweit des Startgebäudes in dreitausend Meter Höhe, und sie stiegen aus.

Hier oben war es noch kälter. Rasch liefen sie auf das Startgebäude zu und betraten die für das ATT-Team reservier­ten Räume.

Ralf nickte dem rotgesichtigen Rolf Stadler, dem Leiter des technischen Teams, und seinen Leuten zu, dann ging er in den Massageraum, in dem Holzer und Mandel bereits auf ihn warteten.

Ein Einlaufen vor dem Rennen war allen Läufern verboten. Ralf machte einige Lockerungsübungen, dann ließ er sich massieren.

Nur undeutlich nahm er alles wahr, was so um ihn herum vorging. Er beschäftigte sich noch immer mit seinem Schachproblem.

Stadler brachte den blutroten Anzug, den er im Rennen tragen würde. Er bestand aus einem Kunststoffmaterial, das sich wie eine zweite Haut an den Körper schmiegte. In das hauchdünne Gewebe waren dünne Drähte eingearbeitet, die der medizinischen Überwachung wäh­rend des Rennens dienten. Mandel schlang ein netzartiges Gebilde um seinen Kopf, verknotete es ihm Nacken und befestigte zwei kleine Apparate hin­ter seinen Ohren.

Ralf schlüpfte mühsam in den Anzug, der eiskalt war, doch nach wenigen Sekunden paßte er sich seiner Körper­wärme an und schmiegte sich an seinen Körper.

Dann stülpten sie ihm den Rennhelm über den Kopf. Mit den normalen Helmen hatte er nur wenig Ähnlichkeit. Er sah eher wie ein Taucherhelm aus.

Langsam stapfte er aus dem Massa­geraum. Im Fernsehraum, der Kommandozentrale des ATT-Teams, ließ er sich auf einen Stuhl fallen.

Stadler klappte die Sichtklappe des Helmes herunter, und der Kunststoff paßte sich sofort an die Lichtverhältnis­se an. Der Helm hielt alle Geräusche von ihm fern.

„Sprechprobe“, sagte Peter Sullivan, der auf einem erhöhten Stuhl saß. Ihm gegenüber befanden sich acht Monito­ren, numeriert von 1-8, die während des Rennens die zu den Nummern gehören­den Läufer zeigen würden. Auf seinem Tisch befanden sich noch zwei Moni­toren, auf denen er den Lauf so zu sehen bekam, wie ihn Milliarden Menschen in sechzig Ländern vom US-Fernsehen ins Haus geliefert bekamen. Zwischen den Monitoren befand sich ein Mikrophon, mit dem er während des Rennens mit Ralf in Verbindung treten konnte.

„Ich verstehe dich gut, Peter.“

„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs“, sprach Peter weiter.

Ein Techniker regulierte die Lautstär­ke.

Dr. Mandel nahm neben Peter Sullivan Platz. Er hatte vor sich eine Art Schaltpult mit Skalen, Knöpfen und He­beln. Diese Geräte zeigten laufend Ralfs Pulsschlag, seine Körpertemperatur und alle möglichen anderen Dinge an. Von diesem Steuerpult aus konnte der Arzt Ralf ferngesteuert schmerzstillende, aufputschende und stärkende Mittel injizieren, die sich in den zwei Apparatu­ren befanden, die er hinter Ralfs Ohren angebracht hatte. Und natürlich konnte er auch jederzeit die Sauerstoffzufuhr er­höhen, ganz wie es die Situation erfor­derte. Ein Computer wertete ununter­brochen alle Daten aus, die er über das im Anzug befindliche Netz geliefert bekam.

„Alles O.K.“, sagte Mandel.

„Bei mir ist auch alles in Ordnung. Noch zehn Minuten bis zum Start.“

Ralf drehte sich nach rechts. Die Schmalseite des Raumes nahm ein riesi­ger Fernsehschirm ein, auf dem das Pro­gramm der vereinigten US-Stationen zu sehen war. Der Ton war abgeschaltet.

Während ihm Stadler die Schuhe an­zog, verfolgte Ralf die Geschehnisse auf dem Bildschirm.

Im Augenblick war die Strecke zu sehen. Gesamtlänge 9377 m.

Noch sechs Minuten bis zum Start. In einer Minute mußte er hinaus ins Freie.

„Wieviel Geld hast du bei dir, Peter?“

„An die tausend Dollar.“

„Setz sie für mich, auf Sieg!“

„Aber du hast...“ Peter brach ver­wirrt ab. Nie zuvor hatte Ralf sich selbst in einem Rennen gewettet. „Wie du meinst. Carsten, kommen Sie her. Da haben Sie tausend Dollar. Beeilen Sie sich.“

Carsten schnappte die tausend Dollar und lief aus dem Zimmer.

„Raus mit dir, Ralf.“

Gemächlich fuhr er auf die Startma­schine zu, die genauso aussah wie die bei Galopprennen übliche.

Die Scheibe seines Helmes hatte sich an die andersartigen Lichtverhältnisse in Sekundenbruchteilen angepaßt. Das grelle Schimmern der schneebedeckten Berge war nun nicht mehr zu bemerken.

Zwei Minuten bis zum Start.

Die Läufer 1-7 hatten die Boxen be­reits betreten, und die hinteren Klappen waren von den Starthelfern verriegelt worden.

„Hinein mit dir, Ralf“, hörte er Peters ruhige Stimme.

Er stapfte hinein und preßte sich ge­gen die geschlossenen Vorderklappen, die ihm bis zum Hals reichten. Dann spürte er den sanften Druck im Rücken, als die hinteren Klappen zugedrückt wur­den.

„Fünfzig Sekunden noch, Ralf. Ent­spanne dich.“

Verdammt, dachte Ralf, jetzt könnte ich pinkeln. Aber jetzt geht es nicht mehr.

„Fünfundzwanzig Sekunden. Laß dir mit dem Abspringen Zeit, Ralf.“

Üblicherweise sprang man wie ver­rückt ab, doch dieses Rennen war in je­der Beziehung anders. Normal stand die Startmaschine vor einem Steilhang, doch dieser Kurs fing harmlos an: mit einer Linkskurve. Da er die äußerste Startnummer hatte, war es für ihn un­möglich, sofort an die Innenseite der Bahn zu kommen. Und er wollte nicht in einen eventuellen Massensturz schon kurz nach dem Start verwickelt werden.

„Zehn Sekunden noch.“

Ralf blickte geradeaus auf die ver­schneiten Berggipfel, deren Namen er nicht kannte und die er auch gar nicht kennen wollte.

„Fünf, vier, drei, zwei, los!“

Die Boxentür sprang auf.

„Los, Ralf!“

Er duckte sich und sprang hinaus. Er­wartungsgemäß hatten die inneren Startnummern den besten Start er­wischt.

Die 9377-Meter-Qual begann.

Er ließ sich ruhig nach links treiben. Die Piste war ohne Buckel und Rillen, völlig glatt. Der Schnee flog hoch.

Vor sich sah er zwei Fahrer. Ein schwarzer Anzug mit roten Streifen und ein dottergelber. Paradise und Tardelli. Der bullige Amerikaner versuchte den Schweizer von der Piste abzudrängen.

Ralf fuhr die Kurve ganz präzise an. Die beiden vor ihm liegenden Fahrer kämpften noch immer miteinander.

Nun fiel die Strecke etwas steiler ab.

Etwa hundert Meter lang war sie schnur­gerade.

„Nach rechts, Ralf.“

Er gehorchte. Während des Rennens würde er blindlings den Anweisungen seines Trainers gehorchen, der ja einen viel besseren Überblick über das Rennen hatte.

„Tiefer, geh tiefer in die Hocke. Ver­suche, an fünf und sieben vor der Rechtskurve vorbeizukommen.“

Weit vorgebeugt raste er hinunter, fand die Ideallinie und fuhr wie auf Schienen, drückte alle Buckel durch und raste an den beiden Kämpfenden vorbei, die weiter nach links abgetragen wurden. Er war der Spitzengruppe nähergekommen.

„Gut gemacht, Ralf.“

Auch in der Rechtskurve fand er die Ideallinie. Bis jetzt war das Rennen ein Kinderspiel gewesen. Zwanzig Sekun­den würde noch die Spazierfahrt dauern, dann wurde es ernst.

Er blickte stur geradeaus. Vor ihm lag die Mauer, jene Stelle, von der man in einen Flachteil geschleudert wurde.

Den Absprung erwischte er mittelprächtig. Er sprang zu weit ins Flache, setzte aber bombensicher auf.

Einer seiner Konkurrenten hatte den Aufsprung schlecht erwischt. Der hellblaue Anzug wirbelte durch die Luft. Es war die Nummer 3 - Jean Kelly. Er überschlug sich und raste auf einen der Ab­fangzäune zu.

Das Flachstück war nur etwa vierhun­dert Meter lang, dann ging es einen vereisten Steilhang hinab, der voller Fallen war. Auf diesem Stück wurden Geschwindigkeiten bis zu 140 km/h er­reicht.

„Fünf und sieben sind dicht hinter dir, Ralf. Kelly hat den Sturz unverletzt über­standen. Er nimmt das Rennen wieder auf. Doch er hat einen Rückstand von neunundzwanzig Sekunden.“

Ralf raste das Steilstück hinunter. Hier konnte er Boden gutmachen. Weit vor sich sah er die Spitzengruppe.

Nun aber bremsten Buckel und Quer­rillen die rasende Fahrt.

Und schon tauchte die Todesspirale auf. Ein Betonturm, der aus zehn numerierten Eingangslöchern bestand. Niemand wußte im voraus, welches der Löcher seine Nummer tragen würde.

„Dein Loch ist das dritte von links, Ralf!“

„Danke“, keuchte er.

Er bremste weiter die Fahrt. Keines­falls durfte er zu rasch sein, denn sonst konnte es ihm passieren, daß er einen falschen Eingang erwischte. Das Herübernehmen nach links kostete Kraft.

Tardelli und David verschwanden fast gleichzeitig in den Öffnungen, dann folg­ten Lacombe und Dettori.

Ralf riß es die Skier auseinander. Er fi­xierte den Eingang Nummer 8.

Harper war nur mehr zwei Meter vor ihm. Er hatte den Eingang vom Compu­ter zugelost erhalten, der neben dem seinen lag.

„Sei vorsichtig, Ralf!“ schrie Peter.

Ralf wollte keinesfalls Harper über­holen. Der Amerikaner war für seine Brutalität bekannt.

Aber der Teil der Piste, auf dem sich Ralf befand, war ohne Buckel, völlig glatt, währenddessen Harper über eini­ge Buckel fahren mußte. Zwangsläufig kam Ralf seinem Gegner immer näher.

Und dann war er neben ihm und fuhr an ihm vorbei.

In diesem Augenblick handelte Harper Er besaß die Brutalität, die Ralf fehlte. Denn nach den ungeschriebenen Gesetzen der Profis hätte Ralf seinen Gegner behindern müssen, ihn aus der Bahn werfen müssen, aber er hatte es nicht getan.

Harper hatte keine Skrupel. Er riß den linken Stock hoch und stieß die Spitze tief in Ralfs rechten Oberschenkel. Blut floß aus der Wunde.

Ralf spürte den Schmerz, doch schon war der Eingang heran.

Er hatte ihn ganz genau erwischt. Sofort wurde er hochgerissen. Die Spira­le lief nach links. Fünf Sekunden später stand er auf dem Kopf, und die schwindelerregende Fahrt ging weiter. Auf und ab. Er schlug mit dem Kopf gegen die Decke, doch der Helm milderte den Stoß. Mit dem rechten Ellbogen schlug er gegen eine Wand, dann stand er wieder auf dem Kopf, wurde nach rechts in eine weitere Spirale gerissen. Alles drehte sich vor seinen Augen. Wieder ein Schlag gegen den rechten Arm.

„Was ist mit der Verletzung, Mandel?“ schrie Peter.

„Eine harmlose Fleischwunde. Ich habe die Blutung gestillt.“

„Gut, gut“, murmelte der Trainer.

Auf dem Bildschirm war nun in extre­mer Zeitlupe der Angriff Harpers auf Ralf zu sehen. Man sah ganz genau, wie sich die Stockspitze in den Oberschenkel bohrte und das Blut hervorquoll. Aber der Angriff hatte Harper kein Glück ge­bracht. Er war zu sehr mit seinem Kon­kurrenten beschäftigt gewesen und hatte sein Eingangsloch schlecht ange­fahren. Er war mit der linken Skispitze hängengeblieben. Die Bindung war auf­gegangen, und er war nur mit einem Ski in das Labyrinth hineingefahren, war zu Fall gekommen und hatte, sich endlos überschlagend, die Spirale durchrast. Bewußtlos kullerte er aus dem Labyrinth heraus und den Abhang hinunter, verfing sich in einem Fangzaun und blieb leblos liegen.

Ralf war wie eine Rakete aus dem Labyrinth geschossen und flog nun förmlich den vereisten Steilhang hinun­ter, der zum Höllengraben führte.

„Wie fühlst du dich, Ralf?“

„Die Knie schmerzen“, keuchte er. „Und die Wunde?“

„Spüre ich nicht.“

„Gut. Drück jetzt auf das Tempo.“

Peter hob den Kopf und blickte den Bildschirm an, auf dem Ralf zu sehen war. Links war seine Zeit eingeblendet und rechts die Geschwindigkeit, die er fuhr.

„Du bist mit 152 unterwegs. Tiefer in die Hocke. Du mußt 160 erreichen, sonst schaffst du den Graben nicht.“

Im Fernsehraum war es nun völlig ruhig. Alle starrten die sich ändernden Zahlen an.

155, 157, 159.

„Du schaffst es, Junge, du schaffst es!“

Erleichtert atmete Peter auf, als 162 angezeigt wurde.

Ralf wurde in die Luft geschleudert. Sein Flug war ruhig. Scheinbar schwerelos schwebte er über den Graben, der zehn Meter breit und siebzig Meter tief war. Es riß ihm etwas die Ski bei der Landung auseinander, doch sofort korri­gierte er.

„Gut, sehr gut, Junge.“

Das Keuchen Ralfs war im Raum zu hören.

„Du liegst gut im Rennen. Harper hat es erwischt.“

Er unterbrach die Verbindung.

„Harper ist tot“, sagte Holzer, der mit Kopfhörern das normale Programm verfolgte. „Er hat sich das Genick ge­brochen.“

Es ist nicht schade um ihn, dachte Pe­ter gefühllos.

Sieben Läufer waren noch im Rennen. Drei vor Ralf, drei hinter ihm.

„Pulsschlag 192“, sagte der Arzt. „Sonstiger Zustand normal. Ich erhöhe die Sauerstoffzufuhr.“

David kämpfte um die Führung. Etwa fünfzig Meter dahinter fuhren Lacombe und Dettori, die sich aufmerksam be­lauerten. Und zwanzig Meter dahinter lag Ralf.

Kelly war weiterhin ziemlich aus dem Rennen, doch das besagte nicht viel. Sicherlich würde noch der eine oder andere ausscheiden.

Über viertausend Meter der Strecke hatte er nun bewältigt. Nun ging es sanft in eine Rechtskurve. Am Ende der Kurve begann die achthundertzwanzig Meter lange Loipe, die steil aufwärts zum Sessellift führte, mit dem er zum zweiten Teil der Strecke gelangen wür­de.

Diese achthundertzwanzig Meter wa­ren für ihn höllisch. Langlauf war für ihn immer besonders schwierig gewesen. Und nicht einmal das Spezialtraining eines Langlaufstars hatte ihm besonders viel geholfen. Auf diesem Stück würde er vermutlich wertvolle Sekunden ein­büßen. Und seine Skier und natürlich auch die seiner Gegner waren für dieses Stück denkbar ungeeignet.

„Kleine schnelle Schritte, Ralf. Vollste Kraftanstrengung. Jetzt gilt es. Zeig, was dir Toni beigebracht hat.“

Für Ralf war es eine Schinderei. Der Schweiß rann ihm in Strömen übers Gesicht. Etwa hundert Meter bewältigte er mit dem Stampfschritt, da verstärkte er einfach den Druck der Skier, um eine bessere Haftung zu erreichen.

Seine Arme und Beine waren mit Blei gefüllt. Keuchend torkelte er weiter.

Aber Carlo Dettori schien es noch schlechter zu ergehen, denn er kam ihm immer näher.

„Grätenschritt, Ralf.“

Wieder gehorchte er willig. Seine Skier waren nach außen gewinkelt, auf die Innenkanten gestellt und die Knie nach innen gedrückt. Seine Stockschübe wurden immer kraftvoller.

Hat denn diese Qual noch immer kein Ende, dachte er verzweifelt. Ich kann nicht mehr, verdammt noch mal, ich bin am Ende.

„Paß auf, Ralf! Stehenbleiben!“

Er rang nach Luft.

Dettori war die Anstrengung zu groß geworden. Der Italiener fiel auf den Bauch und rutschte den Abhang hinun­ter - genau auf Ralf zu.

Raff wirbelte herum und fuhr ein Stück zurück. Dann nach rechts. „Treppenschritt nach rechts!“

Die Qual ging weiter. Im Grätenschritt stieg er weiter hoch. Vor seinen Augen drehte sich alles.

„Nur mehr ein kurzes Stück, Ralf, dann hast du es geschafft.“

Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, als er endlich das Flachstück erreichte, das zum Sessellift führte. Mit ein paar klassi­schen Langlaufschritten hatte er den Sessellift erreicht.

„Jetzt haben Sie einige Minuten Zeit, um Ralf wieder aufzubauen, Mandel.“

„Er ist total erschöpft“, brummte der Arzt und hantierte an seinen Geräten herum.

Ralf hatte sich angeschnallt. Seine Augen waren geschlossen. Langsam begannen die Mittel zu wirken, die Mandel injizierte. Sein Atem wurde ruhig, der Pulsschlag war innerhalb von einigen Minuten völlig normal.

Während das Fernsehen die aufre­gendsten Szenen des Rennens wieder­holte, verschaffte sich Peter einen Über­blick über Ralfs Konkurrenten.

Bob David führte überlegen mit einem Vorsprung von fast zehn Sekunden auf Gerard Lacombe, hinter dem Ralf mit etwa sechs Sekunden folgte. Nur wenige Sekunden trennten ihn von Steve Paradise und Jean Kelly, der fanta­stisch seinen enormen Rückstand wett­gemacht hatte. Eraldo Tardelli hatte noch immer nicht den Sessellift erreicht. Sein Rückstand betrug fast eine halbe Minute.

Sechs Läufer waren noch im Rennen. Harper war tot. Und Carlo Dettori hatte das Handtuch geworfen.

Ralfs Chancen auf einen Platz unter den ersten drei waren gar nicht übel, wie Peter feststellte. Der zweite Teil der Strecke lag ihm auch viel besser. Wenn alles glatt ging, dann war ein dritter Platz durchaus möglich.

Helga Gottwald, eine Mitarbeiterin des ATT-Teams, in dem sie als Ralfs Sekretärin fungierte, halte sich zusam­men mit Bert Zinnemann den ersten Teil der Abfahrt angesehen.

Die hysterischen Anfälle, die der Ma­nager aber während der Übertragung bekommen hatte, trieben sie zurück in ihr eigenes Zimmer. Sie wollte allein sein.

Helga steckte sich eine Zigarette an, drückte sie aber schon nach drei Zügen
aus. Sie schaltete den Fernseher an. Ihr wurde übel, als sie die Wiederholung von Harpers Todessturz sah. „Das hätte auch Ralf sein können“, flüsterte sie.

„Das Rennen geht weiter!“ brüllte der Sportreporter, der das Rennen kommentierte. „Bob David stürzt sich in die Tiefe!“

Sie wandte sich ab, sie wollte nicht hinsehen.

„Das ist der steilste Hang, der je in einem Abfahrtsrennen gefahren wurde. Dagegen ist die Streif eine Vergnü­gungsstrecke.“

Helga blickte doch wieder hin und hielt den Atem an.

Die vereiste Piste fiel fast senkrecht ab. Wer hier zum Sturz kam, war ein toter Mann.

„Im Augenblick ist David mit Tempo 170 unterwegs“, kreischte der Spre­cher. „Verfolgen Sie die Zahlen am unteren Ende des Bildschirms. Wird er 200 schaffen?“

  1. 190.

„Und nun hat auch Gerard Lacombe das Rennen aufgenommen!“

Der Bildschirm war nun in zwei Hälf­ten geteilt. Auf der linken Seite sah man Lacombe im violetten Anzug. Auf der rechten Seite den rosa Anzug Davids, der ein dahinrasender Blitz zu sein schien. 195. 196.

„Ja, David schafft es. Zweihundert!“ Helga setzte sich.

„Und nun greift auch Ralf Mayer ins Geschehen ein.“

Sie biß die Zähne zusammen. Ihre rechte Hand verkrallte sich im Polster.

Und da war er schon. Der Bildschirm nun dreigeteilt.

Ein blutroter Schemen, die Stöcke un­ter die Arme geklemmt, tief in der Hocke, immer schneller werdend.

Sie wollte nicht hinsehen, doch sie konnte den Blick nicht abwenden...

Ralf fühlte sich wie neugeboren. Fortgeblasen waren die Schmerzen und die Müdigkeit. Nichts mehr war von sei­ner Erschöpfung geblieben. Mandels Zaubermittel hatten wieder einmal ge­wirkt.

Der Steilhang kam seinen Fähigkeiten entgegen. Hier konnte er seine Furchtlosigkeit und sein technisches Können beweisen.

Weit vor sich sah er einen violetten Punkt, der langsam größer wurde. Er kam Lacombe immer näher. David konn­te er nicht sehen, der Amerikaner mußte bereits den Engpaß erreicht haben.

Ralf blieb in der Hocke. Voller Schuß!

Und der violette Punkt vor ihm wurde groß wie ein Tennisball, dann fußballgroß.

„Um Himmels willen, Ralf, nicht so rasch!“

Er war nur mehr etwa hundert Meter hinter Lacombe, als er mit Tempo 140 auf den Engpaß zuschoß. Die Piste wur­de schlechter und seine Fahrt langsa­mer.

Nun war schon die zwei Meter breite Durchfahrt zu erkennen, die zum Engpaß führte.

Lacombe schoß zwischen den Stan­gen hindurch, und Ralf hatte dicht aufgeschlossen.

„Nicht so nahe! Du rammst ihn ja.“ Ralf richtete sich etwas auf und hielt den Abstand zu Lacombe gleich.

„Er kann es schaffen“, sagte Peter. „Er kann es schaffen.“

Fünf Läufer hatten den Steilhang ge­schafft und fuhren den Engpaß entlang. Eraldo Tardelli schaffte es nicht.

Peter hatte schon viele Stürze ge­sehen, aber so einen noch nie. Tardelli überschlug sich zehnmal, wurde auf ein Flachstück geschleudert und sprang noch zweimal wie ein Gummiball auf.

„Den hat es zerrissen“, flüsterte Hol­zer.

„Nur mehr fünf sind im Rennen, Ralf. Eben ist Tardelli gestürzt. Laß dich weiter zurückfallen, verdammt noch mal. Jetzt kommt gleich die Schanze!“

Bob David hatte bereits die Anlauf­spur erreicht. Er ging in die Hocke und raste die achtzig Meter hinab, die zum Schanzentisch führten. Es war eine Nor­malschanze, auf der ein guter Skisprin­ger etwa achtzig Meter weit springen konnte. Aber hier sprangen Abfahrts­läufer, die diese Disziplin natürlich alle geübt hatten. Hier kam es darauf an, möglichst weit zu springen, da es nach dem Auslauf sofort in einen Steilhang ging.

David kam zu früh ab. Sein Flug war alles andere als schön. Er mußte korrigieren, ruderte herum, landete ziem­lich unsanft und kam zu Sturz.

„Wieder einer weniger“, sagte Peter.

Aber David war ein zäher Bursche. Er stand sofort auf und stapfte unverdrossen den Auslauf hoch.

Und da war auch schon Lacombe heran. Auch sein Absprung war nicht perfekt und seine Haltung alles andere als schön. Aber mit Abfahrtsskier und Stöcken sprang es sich nun einmal nicht besonders gut. Er zischte den Auslauf hoch, und er schaffte es, den dahinterlie­genden Steilhang zu erreichen.

Diese verdammten Stöcke, dachte Ralf, als er die Anlaufspur herunterschoß.

Aber an viel mehr konnte er nicht den­ken, denn da war schon der Schanzentisch heran.

Als die Skispitzen den Schanzentisch verließen, drückte er sich weg und schnellte den Körper aus dem Kniege­lenk in die Luft. Die Skier lagen eng nebeneinander. Die Stöcke hatte er eng mit den Armen an seinen Körper ge­drückt.

Der Flug war ruhig und weit.

Aber nun kam das Schwierigste: der Aufsprung.

Er hielt die weite Vorlage bei. Die Knie zog er etwas hoch. Skier und Knie hielt er fest zusammen. Er landete ohne Schwierigkeiten und schoß den Auslauf hoch, und Sekunden später ging es wieder einen Steilhang hinunter.

„Gut, gut, sehr gut, Ralf.“

Ralf grinste. Skispringen hatte ihm schon immer Spaß gemacht.

Jetzt ging es durch Tiefschnee. Er folgte der Spur, die Lacombe in die Schneemassen gezogen hatte.

Nur mehr der Tunnel, der relativ harmlos war, dann das heimtückische Labyrinth, bei dem man leicht die lang­samste Spur erwischen konnte, und dann der Zielschuß. Dann hatte er es ge­schafft. Aber es waren noch fast zwei­tausend Meter bis zum Ziel, da konnte noch vieles geschehen.

„Er liegt gut im Rennen“, murmelte Peter. Viel besser, als ich es je geglaubt hätte, setzte er in Gedanken hinzu.

„Das kann nicht gut gehen“, schrie Stadler.

Peter hob den Kopf.

Steve Paradise hetzte den Anlauf hin­unter, und nur wenige Meter hinter ihm war Jean Kelly.

„Kelly ist total übergeschnappt“, knurrte Holzer. „Er will Paradise in der Luft erledigen!“

Paradise schoß in die Luft. Kelly dicht hinter ihm. Doch der Franzose hatte den Absprung viel besser erwischt.

Die beiden hingen nebeneinander in der Luft. Paradise war der schlechtere Skispringer, und das nützte Kelly brutal aus.

Kelly stieß mit seinem Skistock nach der Bindung von Paradises rechtem Ski, einmal, zweimal, dreimal.

„Wahnsinn, Wahnsinn“, keuchte Peter.

Die Bindung öffnete sich. Der Ski fiel in die Tiefe. Da griff Paradise zu. Er erwischte Kellys linken Skistock und klam­merte sich daran fest.

Verzweifelt versuchte sich Kelly zu befreien, doch es gelang ihm nicht. Er versuchte seine Flughaltung zu korrigie­ren, doch auch da hatte er kein Glück.

Paradise wußte ganz genau, daß seine Chancen vorbei waren, doch er wollte Kelly mit ins Unglück reißen. Und damit hatte er Erfolg.

Die beiden fielen trudelnd zu Boden. Paradise krachte auf den Rücken, kippte zur Seite, und in diesem Augenblick landete Kelly. Sein linker Skistock bohrte sich in Paradises Bauch.

Paradises Ski stellte sich auf, und die Spitze knallte mit voller Wucht zwischen Kellys Beine.

„Verdammt, verdammt“, sagte Peter und blickte den Bildschirm an, auf dem Ralf zu sehen war.

Bob David hatte sich an die Ver­folgung gemacht. Sein Rückstand auf Ralf betrug genau 41 Sekunden.

„Nur mehr drei sind im Rennen, Ralf. Lacombe ist fünf Sekunden vor dir. Da­vid einundvierzig hinter dir. Kein Risiko eingehen, verstanden? Der zweite Platz ist dir ziemlich sicher. Fahr locker.“

Das werde ich auch tun, dachte Ralf.

Da war auch schon die vereiste Rechtskurve da, die zum Tunnel führte, in dem bequem drei Läufer nebenein­ander fahren konnten.

Nun waren auch die ersten Zuschauer zu sehen. Die anderen Teile der Strecke waren hermetisch abgeschirmt worden.

Ralf hörte das Brüllen der Massen nicht. Er nahm sie nur undeutlich als verwaschene Farbflecken war. Zwischen den Zuschauern Bäume.

Die Piste war miserabel. Wenig Schnee. Viele Wurzeln, Buckel, alles sehr kräfteraubend.

„Lacombe hat den Vorsprung auf sieben Sekunden ausgebaut. David ist neunundreißig Sekunden hinter dir.“

Zum Teufel damit. Wenn ich nicht ge­winne, dann bekomme ich für den zweiten Platz noch fünfhunderttausend Dol­lar. Auch nicht schlecht.

Der Tunnel war zu sehen.

Ralf ließ die Skier ruhig laufen.

Er fuhr in den Tunnel ein, der steil in die Tiefe führte. Vom Training her wußte er, daß die rechte Spur die schnellste war. Die nahm er auch.

Lichter blitzten auf, wurden greller, änderten die Farbe und schläferten seine Aufmerksamkeit ein.

Der Tunnel lag hinter ihm. Zu beiden Seiten tobten die Zuschauer.

Ich schaffe es, ich schaffe es, ich schaffe es.

Nur daran dachte er.

Mechanisch wie ein Roboter legte er sich in die sanfte Rechtskurve, die zum Labyrinth führte. Dort konnte er, falls er die richtige Einfahrt wählte, viel Zeit gutmachen.

Das Labyrinth war wie die Todesspira­le aus Beton gebaut. Es gab fünf Eingänge, die in einer hallenartigen Kuppel zusammenliefen. Und dort gab es zwanzig Öffnungen, von denen er eine wählen konnte. Einige dieser Öffnungen führten in schmale Gänge, die ins Freie führten, doch einige endeten plötzlich. Erwischte man so einen Gang, dann mußte man zurückgehen und war hoff­nungslos abgeschlagen. Einige der Gänge waren schneller, gerader.

„Zum Teufel, Ralf. Fahr schneller. Lacombe ist elf Sekunden vor dir! Und David fünfunddreißig hinter dir. Drück aufs Tempo!“

Gut gesagt, Peter. Drück aufs Tempo. Ich bin froh, daß ich überhaupt noch im Rennen bin. Froh, daß diese Schinderei bald ein Ende hat.

Nun konnten ihm auch Mandels Wun­dermittel nicht mehr viel helfen. Sein Körper war ausgepumpt. Er war völlig groggy.

Den flachgestreckten Labyrinthbau sah er, doch Lacombe war nicht zu sehen.

Er fuhr auf die mittlere Labyrinth­öffnung zu. Hier gab es wieder Buckel und Bodenwellen, die ihm die Ski auseinanderschlugen.

Endlich hatte er die Öffnung erreicht. Ein paar Sekunden war es dunkel, dann wurde es hell. Die Halle war rot erleuch­tet. Zwanzig mannshohe, kreisrunde Öffnungen lagen vor ihm. Welche sollte erwählen?

Der Boden war funkelndes Eis. Spiegelglatt und steil abfallend.

Er preßte die Skier mehr zusammen und richtete sich auf.

Er ließ sich einfach auf die Eingänge zutreiben. Noch immer hatte er sich nicht entschieden, welchen Weg er nehmen sollte. Zum Teufel damit, ich lasse mich weiter treiben...

Er wurde nach rechts abgetrieben, und seine Fahrt wurde schneller.

Seine Skier trieben ihn auf den vierten Eingang zu, und willig fuhr er hindurch.

„Lacombe hat einen schlechten Gang gewählt“, freute sich Peter. „Er wird einige Sekunden Zeit verlieren.“

Der funkelnde Gang wurde niedriger. Ralf ging in die Hocke. Sein rechter Knö­chel begann zu schmerzen. Seine Arme und Beine waren gefühllos.

„Bursche, du hast ein verdammtes Glück!“ schrie Peter. „Dein Gang ist schnurgerade. Jetzt gilt es. Du kannst Lacombe noch einholen!“

Ralf war bereits so abgestumpft, daß er sich über diese Nachricht nicht freuen konnte.

Die Quälerei hat bald ein Ende, dachte er. Bald ist alles vorbei.

Lacombe verlor immer mehr Zeit. Sein Gang verlief in Zick-Zack-Kurven.

„Sein Vorsprung beträgt nur mehr drei Sekunden!“ jubelte Peter.

„Sie müssen das Labyrinth fast gleichzeitig verlassen“, sagte Stadler er­regt.

„Zwei Sekunden Vorsprung.“

Ein Blick zu Bob David. Er war langsa­mer geworden. Fünfundvierzig Sekun­den lag er hinter Ralf.

„Eine Sekunde. Ralf und Gerard sind nur mehr eine Sekunde auseinander.“

„Ralf, du hast fast Lacombe einge­holt. Rascher, fahr rascher, du schaffst es, Junge. Denk an die Million. Denk an deine Wette. Zweihundertfünfzigtau­send noch dazu. Mach schon. Komm.“

„Sie sind zeitgleich!“

Peter massierte sich das Kinn. Seine Augen brannten. Vor ihm die beiden Bildschirme. Auf dem einen Ralf, auf dem anderen Gerard Lacombe.

Und darüber ein dritter Bildschirm, auf dem die Ausfahrt des Labyrinths zu sehen war.

Jeden Augenblick mußten die beiden herauskommen. Dann war nur mehr der Zielschuß zu überwinden.

Die beiden wurden fast gleichzeitig aus dem Labyrinth geschleudert.

Lacombe landete auf dem linken Ski, während Ralf auf beiden fast im selben Augenblick landete.

„Nein!“ schrie Peter und sprang hoch.

Die beiden rasten aufeinander zu!

Ralf versuchte auszuweichen. Lacom­be kämpfte noch immer mit dem Gleichgewicht.

Und da prallten sie zusammen!

Peter schloß die Augen, stöhnte auf und ließ sich auf den Stuhl fallen.

„Scheiße, Scheiße“, fauchte Stadler.

Ralfs Augen waren weit aufgerissen, als er auf Lacombe zuraste. Er versuchte zu bremsen, eine andere Spur zu finden, doch eine Bodenwelle schob ihn weiter an Lacombe heran.

Der Zusmmenstoß war unvermeid­lich.

Er rammte den Franzosen, der zur Sei­te flog, stürzte und sich einmal überschlug.

Ralf kam in Rückenlage, sein rechter Ski wurde hochgerissen.

Dann sah er alles nur mehr wie durch einen Schleier hindurch.

Er krachte auf eine Eisplatte. Sein rechter Fuß verdrehte sich. Schmerz. Schock. Einmal war er in der Luft, dann wieder auf der Piste. Die Schmerzen wurden unerträglich. Sein Bein verdreht. Das Schienbein ein feuriges Schwert. Blut im Mund. Schmerz in der linken Schulter. Wieder ein Aufschlag, brutal und durch nichts gemildert.

Schwärze. Stimmen. Bewußtlosig­keit.

Zwei Sekunden lang starrte Peter den Bildschirm Nummer 8 an. Ralf lag auf dem Bauch. Die Bindungen seiner Skier waren nicht aufgegangen, doch sie wa­ren so eingestellt gewesen, daß sie nicht aufgehen konnten. Ralf war den Zielschuß hinuntergeflogen, sich unzäh­lige Male überschlagend, und war genau zweiundzwanzig Meter vor dem Ziel be­wußtlos liegengeblieben.

„Zweiundzwanzig Meter!“ brüllte Pe­ter auf. „Wie schwer ist er verletzt, Mandel?“

„Innere Verletzungen unbestimmten Grades. Schwerste Prellungen, und das rechte Bein ist dreimal gebrochen. To­tale Zertrümmerung des Schienbeins, der Ferse. Der Oberschenkel ist ge­brochen. Aus, es ist aus. Ich verständige die Sanität.“

„Warten Sie Mandel, warten Sie. Geben Sie Ralf eine schmerzstillende Injektion.“

„Schon geschehen.“

Peter blickte zu Bildschirm sechs. La­combe hing bewußtlos in einem Fang­netz. Dann sah er zu Bildschirm Nummer zwei. Bob David war noch immer fünfunddreißig Sekunden hinter Ralf.

„Keine Sanität, Mandel.“

„Sie sind übergeschnappt, Sullivan.“

„Wir haben dreißig Sekunden Zeit, Mandel. Dreißig Sekunden. Wecken Sie Ralf auf.“

„Nein, das werde ich nicht tun.“

„Zweiundzwanzig Meter, Mandel. Wecken Sie ihn auf. Er soll selbst entscheiden.“

„Auf Ihre Verantwortung, Sullivan.“

„Auf meine Verantwortung!“

Fünfundzwanzig Sekunden noch. Lacombe bewegte sich. David war im Labyrinth verschwunden.

Druck auf den Mikrophonknopf.

„Hörst du mich, Ralf?“

Keine Antwort.

„Verflucht, hörst du mich, Scheißer?“

Keine Antwort.

Helga war zusammengesackt. Ihre Augen waren leer. Wie eine Verrückte starrte sie den Bildschirm an.

Er ist tot, er ist tot. Tot. TOT.

Die Tür wurde aufgerissen, und Zinnemann stürzte herein. Er sah wie eine wandelnde Leiche aus.

Das Fernsehen wiederholte gerade in Zeitlupe den Zusammenstoß zwischen Ralf und Gerard.

„Unfaßbar, einfach unfaßbar.“

Und wieder sah sie es. Aufprall, hoch­gerissen, Aufprall, hochgerissen, und immer weiter, und immer weiter...

„So kurz vor dem Ziel mußte das ge­schehen. Ralf wäre sicher Zweiter geworden...

„Halten Sie den Mund!“

Helga sprang auf und sprang ihn wie eine Furie an.

„Halten Sie Ihren gottverdammten Mund!“

„Ralf Mayer bewegt sich!“ schrie der Kommentator.

Helga wirbelte herum.

Tatsächlich. Ralf hatte sich bewegt.

„Er lebt. Er ist nicht tot.“

Sie rannte auf den Fernseher zu und fiel auf die Knie.

„Er lebt, er lebt. Zinnemann, er lebt!“

Stimmen. Weit entfernt.

„Hörst du, du verdammtes Arsch­loch?“

„Ich höre dich.“

Ralf schlug die Augen auf. Er spürte nichts. Er war nur müde, unendlich mü­de.

„Dein rechtes Bein ist kaputt. Du wirst nie mehr Ski fahren können. La­combe ist eben aufgewacht. Du hast noch einen Vorsprung von zwanzig Se­kunden auf David. Du liegst genau zwei­undzwanzig Meter vor der Ziellinie. Steh auf, belaste dein rechtes Bein nicht und fahr auf dem linken Ski durchs Ziel!“

„Ich kann nicht aufstehen.“

„Verdammt, Ralf. Denk an die Million. Denk an die zweihundertfünzigtausend. Du kannst es schaffen. Beweise es dir, beweise es uns allen, daß du kein dummer Junge bist. Bewei­se, daß du ein Mann bist, ein Profi. Beweise es!“

Ralf drehte den Kopf zur Seite. Deut­lich konnte er das Ziel erkennen. Es war ganz nahe.

Zweiundzwanzig Meter.

„Du hast noch fünfzehn Sekunden Zeit, Ralf. Los, steh auf.“

Mein rechtes Bein ist total kaputt? Ich spüre keine Schmerzen. Mandels Mittel..

Die Pferde, die er züchten wollte. Die Million. Helga. Ruhm. Er würde ein Krüp­pel sein.

„Zehn Sekunden noch.“

Ralf zog das linke Bein an. Die Ent­scheidung war gefallen.

„Laß dir Zeit, Ralf, laß dir Zeit. David ist in einen toten Gang gefahren. Er verliert dadurch mindestens eine Mi­nute. Nur ruhig.“

Er winkelte das linke Bein ab. Dann verlagerte er das Schwergewicht auf das gesunde Bein.

„Verdammt, Ralf, du hast doch nicht viel Zeit. Lacombe hat das Rennen wieder aufgenommen. Er hat nur beide Arme gebrochen. Zehn Sekunden bleiben dir noch.“

Zehn Sekunden.

Den rechten Skistock rammte er in die Piste, dann den linken.

„Mach schon, beeile dich.“

Er stemmte sich hoch. Unendlich langsam. Wie in Zeitlupe.

Nur nicht das rechte Bein belasten. Ruhig bleiben.

„Sieben Sekunden noch!“

Ich weiß, ich weiß. Ruhig bleiben.

Er stand auf dem linken Bein, das rechte war seltsam verdreht. Ralf klam­merte sich an den Stöcken fest. Dann hob er das linke Bein und brachte den Ski in die richtige Stellung. Er wies ge­nau auf das Ziel.

„Gut, prächtig, du bist ein Held.“

Ich bin kein Held. Eine Million. Der Werbevertrag.

Langsam fuhr er los.

Nur mehr fünfzehn Meter.

„Fünf Sekunden noch.“ Peters Stimme zitterte.

Fünf Sekunden für fünfzehn Meter. Zehn Meter.

Fünf Meter.

Noch einmal mit den Stöcken stoßen. Alle Kraft in diesen Stoß legen. Alle Kraft.

Zwei Meter.

Das linke Bein will nicht. Das Knie gibt nach.

Neunzig Zentimeter.

„Er ist hinter dir, Ralf!“

Er sieht nichts. Schwärze. Sein Gehirn ist leer.

Fünfzehn Zentimeter.

Nein, es geht nicht.

Stimmen, undeutlich, weit fort.

Gedanken, verwischt und undeutlich. Jeder Zentimeter eine Ewigkeit. 9376,87-Meter-Qual.

Aber die letzten Zentimeter waren die grauenvollsten.

Wieder wurde Ralf bewußtlos.

Er flog durch das Ziel...

...und wurde als erster gewertet.

„Du bist Weltmeister, Ralf. Du bist Weltmeister. Hörst du mich?“ Schweigen. Nur röchelndes Atmen, seltsam flach und erstickt.

„Ralf, hörst du mich?“

Vier Tage lang war er bewußtlos. Vier Tage, an denen sie an ihm herumoperierten.

Als er erwachte, roch es nach Spital, und er wagte nicht, die Augen zu öffnen.

Nur ein paar Sekunden war er wach, dann schlief er wieder.

Es war Nacht, als er wieder erwachte.

Diesmal schlug er die Augen auf.

Die Schwester hatte mal auf die Toilette gehen müssen. Drei Minuten und dreiunddreißig Sekunden war er un­beaufsichtigt.

Er schlug die Decke zur Seite.

Dann schrie er.

Er starrte das verbundene Stück an, das von seinem rechten Bein übriggeblieben war.

Und wieder schrie er.

„Eine Million und zweihundertfünfzigtausend Dollar für ein Bein!“

Kommentare  

#1 Hermes 2016-04-21 10:16
Eigenartigerweise liest sich diese Fassung besser. Hier beschränkt sich das Ganze auf das Wesentliche, obwohl Kurt Luif das wohl anders gesehen hat.
#2 Andreas Decker 2016-04-21 11:35
Also das Ende dieser Fassung ist besser. Effektiver. Das kitschige Happy End des Originals ist was dick aufgetragen.

Andererseits verleihen die gestrichenen Nebenhandlungen dieser Millionenspiel-Variante - ein zielsicherer neuer Titel mit einem hohen Erkennungswert, 9377-Meter-Qual ist ein furchtbar sperriger Titel - der Story Tiefe, die hier völlig fehlt. Die Streichungen verfälschen den Inhalt schon sehr.

Und man sieht deutlich Luifs Begeisterung für Evan Hunter. Kurze, prägnante Dialoge, und der Leser weiß immer, wer redet, auch ohne überflüssiges Gelaber.
#3 Schnabel 2016-04-21 19:49
Mir haben beide Versionen gefallen und deshalb habe ich beide gebracht.

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