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Das Spiegelkabinett - eine Story von James R. Burcette alias Kurt Luif

StoryDas Spiegelkabinett

Es ist ja bekannt, daß Kurt Luif neben seiner Tätigkeit als Dämonenkiller-Autor auch sechs Anthologien (vier Grusel-, eine SF- und eine Western-Anthologie) herausgegeben hat. Eine dieser Anthologie erschien als Vampir-Taschenbuch Nr. 18 unter dem Titel "Grüße aus der Totengruft" und darin war die folgende Story von ihm selbst enthalten. Er hat sie damals unter seinem Pseudonym James R. Burcette veröffentlicht.

Viel Spaß beim Lesen....


Das Spiegelkabinett
Es wartete.

Es konnte nicht denken. Es konnte sich nicht erinnern Es existierte.

Es wartete.

Manchmal war es nicht größer als ein Staubkorn Manchmal war es flach wie ein Pfannkuchen. Manchmal war es rund und prall wie eine Apfelsine.

Es wartete.

Der Regen war stärker geworden, und wir wichen einer Pfütze aus. Karin ging einen halben Schritt vor mir, ich hielt den Schirm über sie.

Ich kannte ihren Gesichtausdruck, und ich haßte ihn. Dieser starre Blick, der nichts sah; die schmollender kleinen Lippen, ein roter Fleck in ihrem bleichen Gesicht.

„Ich weiß“, sagte ich versöhnlich, „ich hätte beim letzten Rennen nicht soviel setzen sollen.“

Ihr Ausdruck änderte sich nicht.

Ich sah zu den Buden hinüber und überlegte, ob ich ihr eine der Spielhallen gehen sollte; dann verwarf ich der Gedanken, weil ich Karin damit nur noch mehr aufgebracht hätte. Ich wußte, wie sehr sie den Prater und die Vergnügungen verabscheute, die er bot.

„Haydn hatte mit Stardust eine gute Chance“, sagte ich aggressiv. „Deshalb setzte ich tausend Schilling!“

„Darum geht es nicht“, sagte sie, und der Atem hing ihr wie ein Nebelfetzen vor dem Mund. Sie hatte den Kragen ihres weißen Mantels aufgestellt und die Hände in den Taschen vergraben.

„Worum denn?“ fragte ich spöttisch.

„Es ist zwecklos, mit dir darüber zu sprechen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Zwecklos.“

„Was hätte ich denn tun sollen?“ fauchte ich sie an. „Ich bekam die Wette acht zu eins, setzte auf den verdammten Gaul, und dann verliert er um einen kurzen Kopf.“

Sie antwortete nicht. Der Regen prasselte auf den Schirm, und die Pfützen schimmerten wie bunte Glasziegel.

Zu deutlich sah ich noch das Bild vor mir, wie der Pulk der zwölf Pferde in die Einlaufgerade kam, am Wasserturm vorbeiraste und die Distanz erreichte.

Die Bahn war tief und feucht, der Himmel grau, und der Regen fiel seit drei Tagen. Das Wasser spritzte hoch, als die Pferde näher kamen. Meine Hände waren schwer geworden, das Fernglas wog wie eine Zentnerlast. Bei diesem diffusen Licht konnte ich kaum die Rennfarben ausnehmen. Endlich erkannte ich Stardust, der langsam aufholte und ganz außen aufgebracht worden war. Er überholte zwei Pferde und schob sich bis auf eine halbe Länge an den Führenden heran; dann waren sie durchs Ziel, und ich wußte nicht, wer gewonnen hatte.

„Das war der kürzeste Kopf, um den ein Pferd je verloren hatte“, sagte ich bitter.

Karin blieb stehen und sah mich an. Aus einer der Spielhallen fiel rotes Licht und brachte ihr Gesicht zum Glühen.

„Du hast nur noch Pferde im Kopf“, sagte sie heftig. „Du denkst nur daran, und es ist dein einziges Gesprächsthema. Ich habe genug davon, Peter. Ich kann es nicht mehr hören.“

„Aber, du selbst...“

„Und du weißt, daß ich nicht gern in den Prater gehe, aber du führst mich her - entweder willst du mir weh tun, oder du bist einfach gedankenlos.“

Ihre Lippen bebten. Sie hatte recht; in den drei Jahren unserer Ehe war unsere Liebe schal und kalt geworden. In mir war keine Zuneigung mehr, sie war eine Fremde, mit der ich verheiratet war. Eine schöne Fremde, die mir außer gelegentlicher sexueller Entspannung nichts mehr gab.

Ich ging weiter. Sie folgte mir.

„So geht es nicht weiter“, sagte sie. „So nicht. Ich habe genug, Peter, endgültig genug.“

Meine Hand krampfte sich fester um den Schirmgriff, mir sollte es recht sein, wir konnten genausogut hier zu einem Ende kommen. Jeder Ort war mir recht.

Vor einer Bude blieb ich stehen und klappte den Schirm zusammen.

„Treten Sie ein, meine Herrschaften“, sagte der Mann an der Kasse. Ich sah ihn an. Lachen Sie mal wieder richtig, stand auf einem Schild. Mir war im Augenblick nicht nach Lachen zumute.

Aus einem Impuls heraus kaufte ich zwei Karten. Karin sah mich resigniert an, als ich ihren rechten Arm nahm und auf den Eingang des Lachkabinetts zuging.

„Ich möchte mal wieder ein Lächeln auf deinen Lippen sehen“, sagte ich böse und stieß die Tür auf. Sie kam unwillig mit.

Vor uns lag ein schmaler Gang, links und rechts verschieden große Spiegel, rund, oval, eckig, konkav oder konvex.

Ich starrte in einen, und mein Gesicht grinste mir als teuflische Fratze entgegen.

„Laß mich los“, sagte Karin wütend. Sie ging rasch den Gang entlang, ich blieb stehen und sah ihr grinsend nach. Sie bog nach rechts ab, und ich folgte ihr. Als ich die Biegung erreicht hatte, war sie nicht mehr zu sehen.

„Karin“, rief ich. „Karin, wo steckst du?“

Keine Antwort. Meine Stimme hallte seltsam in den schmalen Gängen. Ich sah mich um, doch sie war nicht zu sehen. Das Spiegelkabinett war leer. Ich ging zum Ausgang und trat auf die Straße. Kein Mensch war zu sehen; gegenüber an einem Wurststand lehnten zwei Männer, die sich unter das Vordach drängten, um nicht naß zu werden.

Ich spannte den Schirm auf und überquerte die Straße. Von meiner Frau war nichts zu sehen. Sie konnte einen Vorsprung von höchstens zehn Sekunden gehabt haben, da konnte sie nicht weit gekommen sein. Doch sie war nicht zu sehen.

Ich stellte mich zu den beiden Männern am Wurststand.

„Sagen Sie“, wandte ich mich an den jüngeren. „Haben Sie eben eine blonde Frau aus dem Spiegelkabinett kommen sehen?“

Der Mann schüttelte den Kopf und biß in das Würstchen. Mit vollem Mund sagte er: „Nein, nicht gesehen.“

Ich sah den zweiten Mann fragend an, doch auch er schüttelte den Kopf.

Ich warf einen Blick auf das Spiegelkabinett, der Mann saß noch immer hinter der Kasse. Ein Auto fuhr vorbei.

Es sah Karin gar nicht ähnlich, davonzulaufen, sie haßte den Regen, und den Schirm hatte ich. Wo steckte sie nur?

Ich ging zurück und stellte mich vor die Kasse.

„Erinnern Sie sich an mich?“ fragte ich den dicken Mann, der mich gleichgültig ansah.

Er nickte.

„Ist meine Frau an Ihnen vorbeigekommen?“

Er schüttelte den Kopf, die Kaubewegungen seines feisten Kinns wurden rascher, für den Bruchteil einer Sekunde sah ich seine rosige Zungenspitze und den flach gedrückten Kaugummi.

„Nein, mein Herr, sie ist nicht an mir vorbeigekommen.“

„Hat das Kabinett vielleicht einen zweiten Ausgang?“

„Nein, nur einen.“

Nachdenklich ging ich zum Ausgang. Ich blieb stehen. Plötzlich öffnete sich die Tür, und Karin trat heraus. Ihr Gesicht war bleich und die Augen leblos wie zwei dunkle Murmeln. Ihr Blick fiel auf mich, doch sie sah mich nicht, sie ging an mir vorbei, ihre Bewegungen waren eckig und ruckhaft wie die einer Marionette, die ein schlechter Puppenspieler handhabt.

„Karin!“ rief ich und packte sie an der Schulter. Sie ging unbeirrt weiter. „Karin!“

Der Regen fiel auf ihr Gesicht, und innerhalb weniger Sekunden waren ihre Haare eine klebrige Masse.

„Karin“, sagte ich wieder und griff fester zu. Doch sie reagierte nicht. Mechanisch ging sie weiter. Die beiden Männer am Wurststand sahen interessiert zu.

„Bleib doch stehen, Karin“, sägte ich. Ihr Gesicht war eine Totenmaske, die Haut spannte sich wie Pergament über den hohen Backenknochen, und die dunklen Augen lagen leblos tief in den Höhlen.

Ich konnte mir nicht erklären, was in sie gefahren war, so hatte ich sie noch nie gesehen. Ihre Schritte wurden immer ungelenker, sie ging bei jedem Schritt tief in die Knie, als hätte sie Schwierigkeiten, sich aufrecht zu halten.

Ich ging weiter neben ihr. Die Erstarrung war noch immer nicht von ihr abgefallen. Plötzlich bekam ich Angst, ihr lebloses Gesicht wirkte unmenschlich, wie das einer Wachspuppe.

Ich ging mehr als hundert Meter neben ihr her, immer wieder versuchte ich, sie aufzuhalten und sprach sie an, doch ich erkannte keine Reaktion.

Als wir den Parkplatz vor der Wieselburger Bierinsel erreicht hatten, blieb sie stehen, und ihr Gesicht erwachte zum Leben.

Sie wandte den Kopf und sah mich an. Ihre Augen flackerten wie Flammen im Wind.

„Was ist mit dir?“ fragte ich sie.

„Ich fühle mich benommen. Schwach. Stütze mich.“

Sie klammerte sich an mich, und ich trug sie zum Auto. Als ich sie auf den Sitz hob, zitterte sie. Ihre Hände lagen im Schoß und bewegten sich unruhig, sie wanden sich, als hätten sie ein Eigenleben, als wären sie von ihrem Körper unabhängig. Die Bewegungen der Hände wurden immer rascher.

Sie öffnete den Mund und keuchte. Und dann schrie sie.

Ich sah sie entsetzt an. Schaum stand plötzlich vor ihrem Mund. Ihre Hände fuhren krampfartig hoch und die spitzen Fingernägel vergruben sich in ihren Wangen. Sie schrie wieder.

Dann brach sie ohnmächtig zusammen. Ihr Kopf fiel nach vorn, und ich konnte gerade noch verhindern, daß er gegen die Windschutzscheibe prallte.

Sie atmete unregelmäßig, und ihr Pulsschlag war kaum zu spüren. Ich riß ihren Mantel auf und griff unter die linke Brust, doch ihr Herz schlug halbwegs normal.

Ich überlegte, ob ich die Ambulanz verständigen sollte, verwarf aber den Gedanken und beschloß, Karin selbst ins Krankenhaus zu bringen.

Ich startete, bog in die Ausstellungsstraße ein und fuhr in Richtung Praterstern. Ich überquerte den Donaukanal und wollte das Rudolfhospital erreichen.

Plötzlich erwachte Karin aus ihrer Ohnmacht und richtete sich auf. Sie warf mir einen Blick zu. Jetzt wirkte sie wieder ganz normal.

„Wohin fährst du?“ fragte sie.

„Ich bringe dich ins Krankenhaus“, sagte ich. „Du bist ohnmächtig gewesen, ich...“

„Nein“, sagte sie. „Ich will nicht ins Krankenhaus; ich fühle mich ganz gut. Wahrscheinlich ein Schwächeanfall.“

Ich wollte sie trotzdem ins Spital bringen, doch sie ließ es nicht zu, sie wollte auch nicht, daß ich einen Arzt rief.

Ich fuhr in unsere Wohnung in der Fasangasse, parkte den Wagen vor dem Haustor und brachte Karin hinauf. Sie fühlte sich noch immer schwach, eine Schwäche, die sie nicht beschreiben konnte.

Sie setzte sich im Wohnzimmer auf die Couch und starrte stumm vor sich hin.

„Du warst verschwunden“, sagte ich. Sie hob den Blick und sah mich an. Ihre Augen waren wieder ausdruckslos. „Ich suchte dich im Spiegelkabinett, doch dort warst du nicht, und auf der Straße auch nicht. Wo hast du dich versteckt?“

Sie schüttelte den Kopf; es dauerte lange, bis sie den Sinn meiner Frage verstanden hatte.

„Ich weiß es nicht“, sagte sie langsam; das Sprechen schien ihr schwerzufallen. „Ich kann mich nicht erinnern. Ich sah in einen Spiegel... mehr weiß ich nicht.“

„Das ist doch nicht möglich“, rief ich. „Du mußt dich doch erinnern können. Versuch es!“

Es kam mir vor, als lausche sie einer unsichtbaren Stimme, sie drehte den Kopf ein wenig und hielt ihn schief. Sie schloß die Augen, und ihr hübsches Gesicht verzerrte sich. Entsetzt starrte ich sie an. Die Wangen fielen ein. Falten bildeten sich um ihren Mund und unter den Lidern. Sie schlug die Augen auf, und sie flackerten schwach. Die Verwandlung des Gesichtes ging weiter, es wurde immer faltiger. So plötzlich, wie die Verwandlung gekommen war, verschwand sie wieder.

Sie stöhnte leise auf. Ich setzte mich neben sie und nahm ihre Hände in die meinen. Sie waren eiskalt. Schweiß stand auf ihrer Stirn, und ihr Körper wurde wie im Fieber geschüttelt.

Sie fiel auf die Couch zurück, ihre Beine zuckten, und ihr Atem kam rascher.

Ich griff nach dem Telefon und wählte die Nummer unseres Hausarztes. Er versprach, in wenigen Minuten vorbeizusehen.

Karin krümmte sich zusammen. Ihre Lippen bebten, und meine Angst wuchs. Ich stand vor ihr und sah sie ununterbrochen an. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was mit ihr los war. Seit sie aus dem Spiegelkabinett gekommen war, hatte sie sich verändert.

Als ich so vor ihr stand, wurde mir bewußt, wie sehr wir aneinander vorbeigelebt hatten, wie wenig ich mich um sie gekümmert hatte, wie lästig sie mir geworden war.

Und ich erkannte, wie wenig das ihre Schuld war, wie sehr sie sich immer wieder bemüht hatte, die Situation zu ändern, und wie ich sie zurückgestoßen hatte.

Ihr Körper war nun völlig zusammengekrümmt, und sie stöhnte. Ihre Lider zuckten, und der Schweiß rann über ihre Stirn, sie mußte entsetzliche Schmerzen haben. Ich nahm ein Taschentuch und wischte den Schweiß von ihrer Stirn. Wo bleibt der Arzt? fragte ich mich ängstlich. Wo bleibt Dr. Bartos?

„Karin“, sagte ich leise. „Karin.“

Meine Kehle war wie zugeschnürt, entsetzt starrte ich sie an. Ich habe mich immer hilflos gefühlt, wenn ein anderer Mensch litt. Ich konnte es einfach nicht ertragen, daneben zu stehen und sie leiden zu sehen.

Endlich hörte ich die Glocke anschlagen. Ich drückte auf den Türöffner. Eine halbe Minute später trat Dr. Bartos aus dem Aufzug; ein kleiner Mann mit einer Halbglatze und Froschaugen.

Er nickte mir kurz zu; wahrscheinlich war er verärgert, daß ich ihn um diese Zeit geholt hatte. Er trat ins Wohnzimmer und blieb überrascht stehen.

Karin war von der Couch gefallen und wälzte sich stöhnend am Boden.

Dr. Bartos kniete neben ihr. „Frau Hermann“, sagte er und griff nach ihrer rechten Hand. „Frau Hermann!“

Doch sie hörte ihn nicht. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, sie sah unendlich alt und müde aus.

„Frau Hermann“, sagte er wieder. Sie schüttelte seine Hand ab, drehte sich zur Seite und brüllte auf.

Dr. Bartos sah mich an. „Was ist geschehen?“

Ich erzählte es ihm. Er ließ Karin nicht aus den Augen. Sie tobte weiter. Die Bluse hatte sie in Fetzen gerissen, der kurze Rock war verrutscht und ihre Strumpfhose zerrissen, auf ihren Schenkeln waren rote Striemen zu sehen, die sie sich mit den Fingernägeln gerissen hatte.

Der Arzt beugte sich wieder zu ihr hinunter, und sie verlor das Bewußtsein, doch ihre Glieder zuckten weiter, als stünden sie unter elektrischer Spannung.

Er gab ihr eine Beruhigungsspritze und verständigte die Ambulanz. Zehn Minuten später wurde sie abgeholt und ins Rudolfskrankenhaus gebracht.

Ich saß im Korridor und wartete.

Ich rauchte eine Zigarette nach der anderen. Meine Gedanken gingen im Kreis. Sie fuhren wie mit einem Karussell hin und her. Ich hörte Karin schreien.

Ich sprang auf und riß die Tür zu ihrem Zimmer auf, doch eine Schwester schob mich zurück.

„Sie dürfen jetzt nicht hinein, Herr Herrmann“, sagte sie.

„Was ist mit meiner Frau los?“ fragte ich. „Ich will sie sehen!“

„Das geht nicht“, sagte sie.

Ich hörte Karin noch immer schreien und ballte die Fäuste. „Lassen Sie mich zu ihr“, bat ich.

Doch die Krankenschwester blieb hart. Sie ging wieder ins Zimmer, und ich war allein auf dem weißen Korridor. Ich konnte nicht sitzen bleiben. Ich ging auf und ab. Das Warten wurde unerträglich. Hinter einem Fenster wurde es hell.

Ich stellte mich ans Fenster und öffnete es. Kühle Morgenluft drang in den Gang.

Ich hatte Angst um Karin und wußte, daß ich mich ändern würde, sobald sie aus dem Krankenhaus war. Ich würde mich ändern, das schwor ich mir. Ich würde alles gutmachen, was ich ihr in den letzten Jahren angetan hatte. Das nahm ich mir vor.

Ich drehte mich um und ging den langen Gang entlang, bis ich vor ihrem Zimmer stand. Sie schrie nicht mehr. Ich setzte mich auf die Bank und zündete eine Zigarette an.

Die Tür öffnete sich langsam, und ich sprang auf.

Ein junger Arzt trat heraus und blieb vor mir stehen.

Sein Gesicht war ernst.

„Wie geht es meiner Frau?“ f ragte ich ihn.

Er preßte die Lippen zusammen.

„Reden Sie!“ keuchte ich. „Reden Sie!“

Er holte tief Atem. „Ihre Frau ist tot“, sagte er leise.

„Tot?“ Ich packte ihn am Mantel über der Brust. „Sie ist tot?“

Er nickte. „Ja, sie ist tot.“

„Das kann nicht sein“, sagte ich. „Das ist unmöglich! Sie kann nicht tot sein. Sie kann nicht...“

Der Arzt war in meinem Alter, höchstens dreißig. Er war noch nicht an den Tod gewöhnt, genau wie ich.

„Sie ist tot“, sagte ich. „Sie ist tot.“ Immer wieder, nur diesen einen Satz. Die Zigarette fiel mir aus der Hand, ich ließ den Arzt los und trat an ihm vorbei.

„Gehen Sie nicht hinein“, sagte er.

„Ich will Karin noch einmal sehen“, sagte ich.

„Bleiben Sie hier”, sagte er scharf und zog Mich zurück. „Der Anblick ist nichts für Sie.“

„Woran ist sie gestorben?“ f ragte ich.

„Das kann ich Ihnen nicht sagen“, meinte er. „Wir stehen vor einem Rätsel.“

Niemand gab mir Auskunft über die Todesursache. Nach dem Begräbnis ging ich zu Dr. Bartos. Seine Praxis war voll mit Patienten, doch er bat mich sofort herein.

Ich setzte mich ihm gegenüber.

„Woran ist meine Frau gestorben, Doktor?“

Seine Froschaugen starrten mich durch die dicke Brille mitleidig ab.

„Ich habe den Obduktionsbefund gesehen“, sagte er und nahm die Brille ab. „Ihre Frau starb an Altersschwäche!“

Ich schluckte. „An Altersschwäche?“ Dann begann ich hysterisch zu lachen. „Sie war fünfundzwanzig, Doktor, da stirbt man nicht an Altersschwäche!“

Er setzte wieder die Brille auf und rückte sie zurecht.. „Es klingt unglaublich“, sagte er. „Doch es stimmt. Sie starb an Altersschwäche. Herz, Lungen und Nieren waren die einer Siebzigjährigen.“

„Das gibt es doch nicht“, sagte ich heiser. „Das ist unmöglich, Doktor. Sagen Sie es selbst. Meine Frau war seit vielen Jahren Ihre Patientin. Stellten Sie irgendwann etwas fest, das auf eine Abnützung ihrer Organe hin wies?“

Dr. Bartos schüttelte den Kopf. „Wir stehen vor einem Rätsel“, sagte er. „Niemand kann es sich erklären, es ist unfaßbar. Doch die Todesursache ist eindeutig Altersschwäche.“

„Ist Ihnen schon einmal so ein Fall bekanntgeworden?“ fragte ich.

„Mir nicht“, sagte er nachdenklich. „Aber in den vergangenen fünf Jahren starben einige Menschen hier in Wien an Altersschwäche, obwohl sie nicht einmal dreißig waren. Und mir sind einige Fälle bekannt, die ähnlich lagen, die sich in Graz und Budapest ereignet haben - das liegt aber schon Jahre zurück. Ein Kollege berichtete mir davon. Völlig unerklärliche Fälle. Vor Jahren las ich einmal einen Bericht in einer amerikanischen Fachzeitschrift, da traten einige solche Fälle in New York und Baltimore auf.“

„Aber es muß doch eine Erklärung dafür geben“, sagte ich drängend. „Eine fünfundzwanzigjährige Frau kann doch nicht plötzlich an Altersschwäche sterben!“

Er nickte. „Sie haben recht, Herr Hermann, wir wissen dafür keine Erklärung.“

Ich hielt es in der Wohnung nicht aus. Schließlich beschloß ich das Polizeikommissariat in der Juchgasse aufzusuchen. Einer der Polizeikommissare war ein alter Freund von mir.

Er hörte schweigend zu, als ich zögernd meine Geschichte zu erzählen begann.

Ich kannte Dieter seit vielen Jahren, wir hatten uns in einem Literaturklub kennengelernt und waren seither befreundet. Er und seine Frau waren oft bei uns zu Besuch, und er hatte Karin sehr gemocht.

„Ich weiß“, sagte ich unsicher, „meine Geschichte hört sich wie das Gestammel eines Wahnsinnigen an, aber ich kann mir nicht helfen, irgend etwas muß mit dem Spiegelkabinett nicht in Ordnung sein. Seit Karin es verlassen hatte, war sie verändert.“

Dieter nickte. Eigentlich hatte ich angenommen, daß er mich für verrückt halten würde, doch er reagierte anders, als ich erwartet hatte. Er versprach mir, sich der Sache anzunehmen.

Ich ging nach Hause und lief unruhig in der Wohnung auf und ab.

Jetzt erst wurde mir bewußt, wieviel mir Karin bedeutet hatte; aber so war es mir mit Frauen immer gegangen, ich hatte sie als etwas Selbstverständliches betrachtet und mir immer erst Gedanken zu machen begonnen, wenn es vorbei war. Und dann war es zu spät gewesen.

Ich schreckte zusammen, als das Telefon läutete. Es war Dieter.

„Ich habe mir den Krankheitsbericht vorlegen lassen“, sagte er. „Karin ist tatsächlich an Altersschwäche gestorben, und die Ärzte stehen vor einem Rätsel. Und es trifft tatsächlich zu, was dir Dr. Bartos erzählte, es hat in den vergangenen Jahren mehrmals solche merkwürdigen Fälle gegeben. Der erste Fall trat vor vier Jahren in Wien auf; es handelte sich um einen zehnjährigen Jungen. Im letzten Jahr häuften sich die 'Vorkommnisse. Mindestens zehn Personen starben an Altersschwäche, die unter dreißig Jahre alt waren. Wir nehmen uns jetzt den Besitzer des Spiegelkabinetts vor. Ich gebe dir später Bescheid.“

Ich schlief kaum in dieser Nacht. Doch Dieter rief erst am späten Vormittag an. Ich hatte Urlaub genommen, da ich es hinter meinem Schreibtisch einfach nicht ausgehalten hätte.

„Tja“, sagte Dieter. „Wir haben den Besitzer des Spiegelkabinetts verhört. Doch es kam nichts dabei heraus. Wir untersuchten das Kabinett ganz genau. Es gibt nur einen Eingang und einen Ausgang, keine versteckten Türen, nichts. Der Fall ist völlig rätselhaft. Wir konnten feststellen, daß mindestens die Hälfte der Personen, die an Altersschwäche starben und unter dreißig waren, am Vorabend im Prater gewesen waren. Doch wir konnten nichts feststellen.“

Ich atmete schwer. „Und was wirst du weiter unternehmen?“ fragte ich.

Dieter seufzte. „Ich kann nicht viel machen“, sagte er.

„Eigentlich gar nichts. Wir haben zwar diese mysteriösen Todesursachen, aber niemand kann sich erklären, worauf sie zurückzuführen sind. Wir haben jetzt auch Berichte von Interpol und vom FBI.“

„Und was ergeben die?“ fragte ich.

„Das ist recht seltsam“, sagte Dieter. „Wir konnten anhand der Berichte feststellen, daß die rätselhaften Todesfälle sich immer weiter ausbreiten, aber nie länger als fünf Jahre in einer Stadt geschahen.“

„Wie meinst du das?“ fragte ich.

„Der erste dieser seltsamen Todesfälle ereignete sich vor über siebzig Jahren in Kalifornien, später wurden einige Fälle in Baltimore, Chicago und New York festgestellt. Dann in Istanbul, das war aber erst Mitte der dreißiger Jahre, schließlich in Rumänien, Bulgarien und Ungarn. Dann in Jugoslawien, vor ein paar Jahren einige Fälle in Graz und nun in Wien. Das Merkwürdige daran ist aber, daß diese Fälle nie mehr in den Vereinigten Staaten oder in einem der erwähnten Länder auftauchten. Es kommt mir so vor, als wäre es eine Seuche, die immer weiter wandert. Jetzt ist sie in Wien. Wo tritt sie dann auf? In Linz, Salzburg - oder noch weiter im Westen?“

„Aber es muß sich doch feststellen lassen, was diese Altersschwäche hervorruft?“ rief ich in den Hörer.

„Leider nicht“, sagte Dieter. „Die Ärzte stehen vor einem Rätsel. Es wurde keine Gewaltanwendung festgestellt, auch kein Gift. Es ist eindeutig Altersschwäche, doch wodurch sie hervorgerufen wird, ist unbekannt.“

Ich starrte den Hörer an. Des Rätsels Lösung mußte im Spiegelkabinett im Prater liegen. Ich würde auf eigene Faust zu ergründen suchen, was dahinter steckte.

Gegenüber dem Spiegelkabinett befand sich ein Gasthaus, das bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet hatte. Ich wurde dort Stammgast und saß täglich an einem Fenster, das einen guten Blick auf das Spiegelkabinett bot. Ich saß dort und beobachtete die Leute, die in das Kabinett gingen, doch bei keinem konnte ich eine Veränderung wie bei meiner Frau feststellen.

Täglich besuchte ich selbst das Kabinett, wanderte stundenlang durch die schmalen Gänge, griff nach den Spiegeln, versuchte sie von der Wand zu lösen, suchte nach verborgenen Geheimtüren, doch ich fand nichts.

Ich ließ nicht locker. Täglich kam ich wieder. Am achten Tag, kurz bevor das Lokal zusperrt, bemerkte ich ein junges Mädchen, das aus dem Kabinett kam. Sie hatte den gleichen starren Ausdruck wie meine Frau. Ich warf einen Geldschein auf den Tisch und rannte aus der Gaststube auf die Straße.

Die Frau ging wie eine mechanische Puppe die Straße entlang. Keuchend blieb ich neben ihr stehen und hielt sie am Arm fest, doch sie reagierte überhaupt nicht. Sie konnte kaum älter als zwanzig sein, ein kleines, zierliches Mädchen mit schulterlangem pechschwarzem Haar.

„Fräulein“, sagte ich. „Fräulein.“

Doch sie reagierte nicht. Einige Leute kamen uns entgegen, die uns verwunderte Blicke zuwarfen.

Ich blieb neben dem Mädchen; sie ging wie meine Frau die Straße entlang, die direkt zum Parkplatz vor der Wieselburger führte.

Plötzlich fiel die Erstarrung von ihr ab.

„Fräulein“, sagte ich. „Sie waren...“

Sie sah mich an. „Lassen Sie mich los“, fauchte sie.

„Hören Sie mir zu“, sagte ich. „Hören Sie mir gut zu.“

Sie sah mich entsetzt an, mein Gesicht mußte eine Fratze gewesen sein, sie riß sich los und rannte über die Straße. Ich folgte ihr. Ein Taxi kam vorbei, und sie winkte.

„Fräulein“, rief ich ihr nach. „Hören Sie mir bitte zu.“ Das Taxi hielt, und sie stieg rasch ein. Ich erreichte den Wagen, als sie die Tür zuschlug. Der Wagen fuhr an, und ich sah sekundenlang ihr erschrecktes Gesicht durch die Scheibe.

Erschöpft blieb ich stehen und sah dem Taxi nach. Die Nummer merkte ich mir.

Langsam kehrte ich zum Spiegelkabinett zurück und löste eine Karte. Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr.

Wie oft ich im Kabinett gewesen war, konnte ich nicht mehr sagen, Dutzende Male sicherlich. Ich kannte jeden Spiegel, wußte genau, was mich erwartete, in dem ersten sah ich wie ein Teufel aus, im zweiten war meine Gestalt unendlich dünn, der Kopf klein wie eine Mandarine.

Ich kannte alles ganz genau. Langsam ging ich weiter. Ich hatte es wieder gesehen, das Mädchen war so verändert gewesen wie meine Frau. Genauso.

Ich war allein mit den Spiegeln. Überall sah ich mich, doch kein einziger Spiegel reflektierte mich so wie ich tatsächlich aussah. Ich hatte mich an diese vielfältigen Spiegelbilder gewöhnt.

Hier mußte die Lösung des Rätsels liegen, dessen war ich sicher.

Meine Frau war nach der ersten Biegung verschwunden, dort sah ich mir die Spiegel ganz genau an; ich wußte nicht, was ich suchte, und niemand konnte es mir sagen.

Ich blieb vor einem gekrümmten Spiegel stehen und erstarrte. Normalerweise sah mich da mein grinsendes aufgedunsenes Gesicht an, doch diesmal erblickte ich etwas anderes: Mein Gesicht war eingefallen, es war, als sähe ich einen Totenschädel. Ich trat einen Schritt näher und spürte den Sog, ich stemmte mich dagegen und wurde doch weitergerissen.

Das Spiegelbild zerrann, und Dunkelheit umfing mich. Ich war im Maul eines Wesens gefangen, das mich schluckte, ich kämpfte dagegen an, wurde immerschwächer, wurde immer mehr verschlungen, dann erlosch meine Erinnerung.

Ich schlug die Augen auf und sah mich verwundert um. Ich stand auf dem Parkplatz vor der Wieselburger Bierinsel und fühlte mich unendlich müde. Meine Knochen schmerzten.

Der Schein der Lampen kam mir schwächer vor. Ich drehte mich um und schüttelte den Kopf.

Ich war doch in das Spiegelkabinett gegangen... das schwarzhaarige Mädchen... der Spiegel... Was war mit mir geschehen?

Meine Hände zitterten. Sie bewegten sich, als hätten sie ein Eigenleben. Der Spiegel... der Spiegel... hämmerte es in meinem Kopf. Der Spiegel, das war des Rätsels Lösung.

Einige Leute stiegen in ihre Autos und fuhren los. Ich stand da, und niemand beachtete mich. Meine Hände zitterten stärker. Ich sah schlecht, ich mußte die Augen zusammendrücken, doch noch immer sah ich alles wie durch einen Schleier.

Ich keuchte. Ich ging die Straße zurück. Jeder Schritt bereitete mir Anstrengung. Jeder Schritt war eine Qual, ich hatte Schmerzen, ein Brennen, das tief aus dem Körper kam und meine Glieder überflutete.

Das Spiegelkabinett war noch geöffnet. Ich löste eine Karte, und der gummikauende Mann hinter der Kasse sah mich verwundert an. Er war meinen Anblick schon gewöhnt, deshalb wunderte ich mich, daß er mich so seltsam ansah.

Ich stieß die Tür auf und taumelte den Gang entlang. Ich achtete nicht auf die Spiegelbilder, sondern hastete weiter, erreichte die Krümmung des Ganges und bog ein. Dann stand ich vor dem Spiegel, er war es, das wußte ich genau. Ich schloß die Augen und trat mit dem rechten Fuß dagegen. Immer wieder. Ich hörte das Krachen des Glases, die Scherben fielen zu Boden. Mein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt, doch plötzlich war es vorüber, ich konnte mich aufrichten und starrte die Wand an. Der Spiegel war in Tausende Stücke zerbrochen. Noch immer sah ich alles wie durch einen Schleier. Ich bückte mich, und da sah ich die Bewegung.

Etwas kroch aus den Scherben hervor. Ich beugte den Kopf tiefer: das Etwas war eine schemenhafte, gestaltlose Masse, die sich rasch fortbewegte.

Ich folgte ihr. Sie glitt den Gang entlang und änderte dabei ihre Form.

Ich begriff nicht, wieso ich plötzlich so schlecht sah. Die Masse änderte sich, sie wurde immer dünner und länger, ich trat mit dem Fuß danach, doch ich verfehlte sie.

Das Gebilde war nun dünn und lang wie eine Schlange, es kroch rasch weiter, wurde platter und schob sich durch den schmalen Schlitz unter der Tür hindurch; wieder trat ich nach dem Ding, nach diesem undefinierbaren Etwas. Ich erwischte es und preßte den Absatz nieder, doch das seltsame Gebilde glitt unter meinem Schuh weg und kroch weiter. Ich riß die Tür auf und folgte ihm.

Es kroch die Straße entlang, ein dünner Wurm, unglaublich rasch. Ich mußte laufen, um ihm folgen zu können. Es kroch hinter einen Wagen, und ich wartete, doch es tauchte nicht auf. Es war verschwunden.

Ich kniete nieder und blickte unter das Auto, doch ich sah das seltsame Ding nicht mehr. Es war verschwunden. Ich ging um den Wagen herum, und da bemerkte ich eine Bewegung: Das Ding schob sich in den Wagen hinein.

Es kroch durch den Türspalt und rollte sich auf dem Fahrersitz zusammen. Ich preßte mein Gesicht gegen die Scheibe, doch ich konnte nicht viel erkennen.

Meine Sehkraft war immer schlechter geworden. Nach einer Minute erkannte ich wieder die Bewegung, das Ding war nun flach und grau, kroch über die Windschutzscheibe und preßte sich über den Rückblickspiegel. Dann war es verschwunden. Es war nicht mehr zu sehen.

Ich wartete einige Minuten, doch es rührte sich nicht. Es hatte sich mit dem Spiegel verbunden.

Ich sah die Wagennummer an. Sie verschwamm vor meinen Augen. Ich erkannte die weiße Fläche und die schwarzen Ziffern und Buchstaben. Es war eine deutsche Nummer. Eine Münchener Nummer. Ich prägte sie mir ein, dann ging ich torkelnd weiter. So schwach hatte ich mich noch nie gefühlt.

Ich erreichte meinen Wagen und sperrte auf. Meine Finger zitterten, und die Wagenschlüssel fielen zu Boden; ich bückte mich und suchte nach ihnen.

Ein Pärchen kam vorbei.

„Was suchen Sie denn, Alter?“ fragte mich der Junge freundlich. Ich sah ihn erstaunt an. Sein Gesicht war ein weißer Fleck, Einzelheiten konnte ich nicht erkennen.

„Meine Autoschlüssel“, sagte ich. „Sie sind mir hinuntergefallen.“

„Da liegen sie ja, Opa“, sagte der Junge, hob sie auf und drückte sie mir in die Hand.

„Danke“, sagte ich.

„Sind Sie nicht schon ein wenig zu alt zum Auto fahren?“ fragte er mich und kam näher. Noch immer konnte ich sein Gesicht nicht erkennen.

„Zu alt?“ fragte ich mit zittriger Stimme. „Hören Sie mal, ich werde in einigen Wochen dreißig!“

Er lachte gutmütig. „Das können Sie jemand anderem erzählen. Sie sind doch mindestens achtzig!“

Das Pärchen ging weiter. Ich sah ihnen nach, dann klemmte ich mich hinters Steuer. Vor meinen Augen verschwamm alles. Ich knipste die Wagenbeleuchtung an und griff nach dem Rückblickspiegel. Doch ich konnte nichts sehen. Ich rückte näher und hob mein Gesicht.

Es war meines, da gab es keinen Zweifel: Aber mein Haar war weiß, die Augen matt und das Gesicht von tiefen Falten durchzogen. Es war das Gesicht eines uralten Mannes.

Mit beiden Händen fuhr ich über die welke Haut, dann schrie ich auf.

Ich schrie und schrie.

Es wartete.

Es liebte glatte Flächen, besonders Glasflächen. Es konnte nicht denken. Es konnte sich an nichts erinnern.

Es existierte.

Es wartete.

Das Rütteln des Wagens gefiel ihm. Es lauerte hinter dem Rückspiegel und wartete.

Es merkte nicht, als der Wagen in München stoppte.

Es wartete.

Manchmal war es nicht größer als ein Staubkorn.

Manchmal war es flach wie ein Pfannkuchen. Manchmal war es rund und prall wie eine Apfelsine.

Es wartete

© by Kurt Luif 1974 & 2015

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