Schiff des Schweigens (Ship of Silence) - Teil 2
Schiff des Schweigens
(Ship of Silence) Teil 2 von Albert R. Wetjen
Aber ich schüttelte meine unguten Gefühle bald ab. Ich war jung, gesund, hatte ein fröhliches Naturell, und es dauerte nicht lange, da pfiff ich vor mich hin. Mathews kam und stand im Türrahmen, während ich meine Koje zurechtmachte, und sein Gesicht wirkte sehr ernst, ernster als ich es je gesehen hatte. Ich glaube, ich habe erwähnt, dass er ein ziemlich nervöser Typ war.
„Ich verstehe nicht, wie zum Teufel du pfeifen kannst!“ brach es wütend aus ihm heraus. „Großer Gott, Mann, macht es dir gar nichts aus? Die Crew – vierzehn Mann, wenn die Papiere stimmen – alle weg!“
Ich hörte auf zu pfeifen und sah ihn an. „Ja, schon komisch“, gab ich zu. „Aber es bringt doch nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.“
Mathews schauderte und blickte über seine Schulter. „Bloß – wo sind sie hin?“ - raunte er, seine Stimme dämpfend. „Wohin sind sie und warum? Ist ja schön und gut vom Käpten, von einem dritten Boot zu schwafeln, aber hier gab es kein drittes Boot. Ich hab noch mal alles gecheckt. Kein Anzeichen, dass es je eins gegeben hat.“ Er ließ mich stehen, ich konnte ihn mit sich selbst brummeln hören, als er die Kabine für sich zurechtmachte, die dem Kapitän gehört hatte.
Eine verrückte Angelegenheit, oder? Naja, wir hätten die Sache einfach durchziehen und die Dinge so akzeptieren können, wie sie nun mal waren, wäre Mathews nicht gewesen – und noch etwas anderes. Als ich wieder an Deck kam, fand ich Mathews, wie er auf den schwarzen Fleck Fell und trockenes Fleisch hinunterstarrte, der einst eine Katze gewesen sein mußte.
„Man kann es sich eigentlich gut vorstellen“ teilte er mir seine Überlegungen mit angespannter Stimme mit. „Das das arme kleine Vieh rannte vor etwas weg wie der Teufel – und dann wurde es gekillt. Stell dir vor, wie schnell das Ding gewesen sein muß, das die Mieze erwischt hat. Du weißt ja, wie schnell die Biester rennen können, wenn sie in Panik sind.“
„Wie kommst du darauf, dass sie panisch war?“ fragte ich ihn. Doch er schüttelte nur seinen Kopf. Ich hab mal gesehen, wie eine Python einen rennenden Hund plattgemacht hat. Ganz wörtlich platt! Mit einem Kopf-Hieb. Das war schnelle Arbeit! Aber Hunde sind nicht so behände wie Katzen, und dieser Hund war nur am Rücken platt, da, wo die Schlange ihn erwischt hatte. Dieses Ding, was da an den Planken klebte, war überall flach, Kopf, Körper, Schwanz. Und es gab einen leichten, aber gut wahrnehmbaren Eindruck im Teakholz rundherum, eine Art Kreis von schätzungsweise anderthalb Metern Durchmesser.
„Dann wär da noch die Kanone“ fuhr Mathews etwas später fort, als er wieder auf das Thema zu sprechen kam. Er hielt den nickelbeschichteten Revolver in seiner Hand, den wir im Speigatt gefunden hatten. „Jeder Schuß abgefeuert. Auf was? Warum?“
Ich versuchte, ihn aus seiner düsteren Stimmung herauszureißen, doch jedesmal schüttelte er nur seinen Kopf und stellte weitere Fragen, bis er – ich schwör's – die gesamte Crew angesteckt hatte mit seiner Nervosität. Sonst hätten wir die ganze Sache vielleicht vergessen, oder doch irgendwo in unserem Hinterkopf verstaut. Jedenfalls so lange, bis die nächste Sache passierte.
Das war spät am selben Nachmittag, eigentlich schon früh am Abend. Die Männer waren unter Deck, außer dem Steuermann natürlich, und uns beiden. Mathew und ich spazierten auf und ab und warteten, bis der Seemann, den wir zum Koch abdelegiert hatten, das Abendessen servierte. Das Wetter war immer noch prächtig, die See ruhig und glatt. Wir fuhren mit vollen Segeln und machten etwa sechs Knoten, bis der Wind mit Herannahen der Nacht etwas auffrischte. Und dann, wie aus dem Nichts, kam ein entsetzlicher Schrei. Deutlich hörbar kreischte jemand: „Mein Gott! Collins!“
Ich kann kaum beschreiben, wie elektrisierend das war. Dieser Schrei kühlte unser Rückenmark auf Minusgrade herunter, fror das Blut in unseren Adern ein. Und was für eine Stimme! In ihr schwang etwas mit, das von absolutem Grauen zeugte. Mehr noch – es war eine seltsam unmenschliche Stimme... sie gehörte keinem von uns.
Mathews und ich waren waren wie an die Planken festgenagelt stehengeblieben. „Himmel!“ krächzte Mathews endlich mit brüchiger Stimme, „wer...was war das?“
Bevor ich auch nur daran denken konnte zu antworten, kam eine ganze Serie von Schreien, schier unsere Trommelfelle zerreißend. Und dann hörten wir eine andere Stimme, völlig verschieden von der ersten: „Es kommt achtern! Es kommt achtern!“ Und wenn es je einen jämmerlichen und verzweifelten Tonfall in einer menschlichen Stimme gegeben hat – dann diesen.
Die Crew kam aus dem Unterdeck geschossen, der Koch stolperte aus der Kombüse mit offenem Mund, sah verwirrt in die Gegend, mit einer Hand eine Schürze umklammernd, mit der andern ein Hackebeil.
Mathews fluchte und stolperte die Treppe runter zum Hauptdeck. Er war völlig fertig und rannte mitschiffs in die Männer. Ich war dicht hinter ihm.
„Wer zum Teufel macht diesen Spektakel?“ schrie er hysterisch.
Niemand antwortete ihm. Die Männer waren stehengeblieben und sahen sich unbehaglich um. Und wieder kamen diese gräßlichen Schreie, gellten über das gesamte Schiff, eine seltsame Stimme, heiser und voller Todesangst: „Es kommt achtern! Es kommt achtern!“
Mathews wirbelte herum und schaute hinter sich. „Mein Gott!“ flüsterte er mir zu, „werd ich verrückt?“ Und dann sahen wir beide die Männer auf etwas zeigen, und plötzlich rief der Koch erleichtert aus: „Mensch, das ist nur der Papagei, Sir!“
Ich kann mich noch gut an die Welle der Erleichterung erinnern, die mich daraufhin überrollte. Ich hörte auf zu bibbern, seufzte tief auf und sah, dass sich auch Mathews deutlich entspannte. „Ich hab den Papagei total vergessen!“ rief er mit schrill auflachender Stimmer, und wir wanderten alle zum Vorderteil des Kombüsenhäuschens, wo der Vogelkäfig hing. Auch die Männer fingen sich wieder, einige lachten sogar, obwohl nichts wirklich Fröhliches in diesem Lachen war und keine Spur von Beruhigung. Mathews linste in den Käfig, und ich spähte über seine Schulter. Seit wir das arme Vieh am Morgen mit Wasser versorgt hatten, hatte es sich offensichtlich etwas erholt, denn nun saß es auf seiner Schaukelstange – allerdings seltsam geduckt. Und ich sage Ihnen, es benahm sich so, wie ich es noch bei keinen andern Papagei der Welt gesehen habe.
Jede einzelne seiner noch übriggebliebenen Federn stand vom Körper ab. Seine Augen blickten starr vor sich hin, ohne zu blinzeln. Ein Schauder ging in regelmäßigen Abständen durch seinen gesamten Körper, und es reagierte nicht, als Mathews vorsichtig und einen Finger durch die Stäbe schob und beruhigend auf es einredete. Und als wir da so standen und gafften, duckte sich der Vogel noch tiefer auf seiner Stange und gab einen dieser grauenhaften Schreie von sich. Diesmal gellte die Stimme eines Mannes mit schrecklichen Qualen auf, Welle auf Welle, um dann abrupt abzureißen. Dann, für Sekunden, eine fast schmerzende Stille. Und dann krächzte das Vieh deutlich, mit bebendem Diskant: „Du kannst es nicht erschießen! So ein Ding kannst du nicht erschießen!“ Das war wieder eine andere Stimme, deutlich unterscheidbar von den vorigen, die wir gehört hatten. Die Stimmen von drei verschiedenen Männern!
Ich kann mich erinnern, dass mindestens eine Minute lang ein angespanntes und eisiges Schweigen herrschte. Ich konnte mein Herz klopfen hören, und der kalte Schweiß lief mir den Hals hinunter. Mathews hatte seinen Finger hastig aus dem Käfig zurückgezogen, so als hätte er sich verbrannt. Er sprach als erster wieder. „Hab nie drüber nachgedacht“, sagte er, und seine Worte klangen matt und seltsam, ohne jeden Ausdruck, „Hab nie drüber nachgedacht, dabei ist es sonnenklar! Er weiß Bescheid! Er weiß, was hier passiert ist! Er hat es – gesehen!“ Er sprach wie ein Mann im Schlaf, mit aufgerissenen Augen den geduckten, zitternden Papagei anstarrend. Die Crewmitglieder begannen sich unbehaglich zu regen, einige sahen verstohlen über ihre Schultern.
Ich stupste Mathews in den Rücken. „Reiß dich zusammen!“ flüsterte ich. „Oder willst du, das die ganze Mannschaft durchdreht?“
Aber ich konnte ihn dort nicht wegbewegen. Ich konnte keinen der Leute dort wegbewegen, sie schienen am Boden festgenagelt zu sein und starrten den armen Teufel von Papagei an. Der murmelte fast die ganze Zeit leise vor sich hin. Aber auch die Fetzen, die etwas lauter gekrächzt wurden, konnten wir nicht verstehen – es war kein Englisch. Mathews konnte ein bißchen spanisch und schwor, das das Tier oft in dieser Sprache redete. Ich bin sicher, das eine oder andere deutsche Wort aufgeschnappt zu haben – und gewisse Phrasen in polynesisch, die mir untergekommen waren, als ich dort auf einem Handelsschiff zwischen den Inseln umhersegelte.
Sie müssen wissen – dieser Papagei war alt. Unvorstellbar alt, würde ich behaupten. Das Vieh war fast federlos und mußte viele Herrchen gekannt haben. Sie haben bestimmt davon gehört, das diese Biester über hundert Jahre und älter werden. Und Gott weiß, wo dieser Vogel überall gewesen war und was er alles gesehen hatte. Die Dinge, die er murmelte, mußten aus den Tiefen seines Gedächtnisses heraufgekommen sein – abgelauscht unzähligen Besitzern verschiedenster Nationalitäten. Und zwischen dem Gemurmel ließ er immer wieder diese entsetzlichen Schreie hören, unverkennbar unterschiedliche Schreie, Schreie verschiedener Männer in Agonie und Schrecken. Und unmittelbar nach jedem Schrei würgte er irgendeine Phrase heraus, nicht immer in englisch, wie gesagt, sondern auch in anderen Sprachen.
Ich weiß nicht genau, ob ein Vogel wahnsinnig werden kann, aber wenn ja – dieser Papagei war verdammt nahe dran. Es gab eigentlich nur eine Sache, die wir mit Sicherheit aus seinem Verhalten schließen konnten. Er war so sehr erschreckt worden, dass er fast daran krepiert wäre, und die Schreie hatten sich in sein kleines Vogelhirn eingebrannt. Die gemurmelten Sachen stammten aus längst vergangenen Tagen, die gekreischten Dinge aus seinem Kurzzeitgedächtnis.
Es war grauenhaft. Er schien zu versuchen, uns etwas mitzuteilen. Vor seinen starren, niemals blinzelnden Augen schien ein düsterer Schatten zu schweben. Ihn ihnen funkelte ein unheimlich flehender Ausdruck. Er wollte, das wir verstanden, dass er etwas erblickt hatte, das noch kein lebendes Wesen vorher je erblickt hatte, etwas so Monströses und Abscheuliches, das es sogar sein zynisches und kaltblütiges Hirn im Handumdrehen und für immer zerfressen hatte.
Wie lange wir alle vor dem Käfig herumlungerten, still und schaudernd, weiß ich nicht mehr. Aber es war wohl der kalte Nachtwind, der uns aufscheuchte – das und der Geruch des Abendessens, das auf dem Herd verbrannte. Wir hatten uns alle unbewußt zusammengedrängt, so als ob jeder von uns fürchtete, allein zu sein. Der Mann am Steuer fing an, mit furchtsamer Stimme nach uns zu rufen. Er wollte wissen, was los war und abgelöst werden. Ich befahl einem aus der Gruppe, rüberzugehen, doch er gehorchte nur mit größtem Widerwillen, eine Hand am Knauf seines Dolches, und sein Kopf ständig in Bewegung, um über seine Schultern zu sehen und in die dunkle See zu spähen. Und die ganze Zeit über, in unregelmäßigen Abständen, kreischte dieser verrückte Papagei und schrie uns blindlings zu: „Mein Gott! Collins!“ oder dieses heisere, verzweifelte: „Du kannst es nicht erschießen! So ein Ding kannst du nicht erschießen!“
Ich schüttelte Mathews schließlich und sagte ihm, dass wir wieder zur Tagesordnung übergehen sollten. Wir hatten noch nichts gegessen, und es wurde immer finsterer. „Essen?“ hauchte er, und er wankte wirklich und wahrhaftig wie ein Betrunkener hin und her, als er mir folgte. „Wie kannst du jetzt bloß ans essen denken?“ Er stolperte aufs Achterdeck, lehnte sich gegen das Hauptkabinenfenster, und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Was was das, was da achtern kam?“ flüsterte er unstet, schauderte und versuchte, sich aufzuraffen. „Der Maat dieses Schiffes hieß Collins. Das steht in den Papieren, die wir gefunden haben.“ krächzte er. „Und wahrscheinlich würde nur der Kapitän den Maat Collins nennen. Also war es der Kapitän, der gerufen hat: 'Mein Gott, Collins!' Und was war das, was da achtern kam?“
„Du benimmst dich wie ein verdammter Idiot!“ fuhr ich ihn an, aber ich war selbst ziemlich fertig, das können Sie mir glauben. Das wären Sie wahrscheinlich auch, wenn Ihnen auf dem gesamten Schiff ungefähr jede Minute dieses Gekreisch in den Ohren gegellt hätte – stellen Sie sich vor, die seltsamen Stimmen dieser verschollenen Männer, die immer wieder ihre angstgepeinigten Ausrufe wiederholten! Aber ich hatte immer noch genug Verstand um zu realisieren, dass da nur ein Papagei vor sich hinquakte und wir die ROBERT SUTTER heil in den Hafen zu bringen hatten.
Ich brachte Mathews unter Deck, und da genehmigten wir uns erstmal zusammen einen steifen Drink; danach aßen wir ein bißchen Dosenfleisch und Schiffszwieback, denn das Essen, das in der Kombüse vorbereitet worden war, konnten Sie komplett vergessen.
Wir wußten nun ganz sicher, dass es kein drittes Boot gegeben hatte.
Tja, in dieser Nacht mußten wir einem weiteren Problem ins Auge sehen – keiner der Männer wollte in den Kabinen unter Deck schlafen, sie bestanden darauf, ihre Matratzen hochzubringen und sich auf Deck zusammenzudrängeln. Der Steuermann weigerte sich, alleine gelassen zu werden, und wir mußten während der Nachtstunden das Steuer doppelt besetzen. Weder Mathews noch ich konnten schlafen – nicht mit diesen Schreien, die durch das Schiff hallten – wir liefen die ganze Nacht den beleuchteten Teil des Decks auf und ab. Es war unheimlich an Deck. Wir hatten das Gefühl, dass drüben in der See etwas auf uns lauerte, um sich auf uns zu stürzen.
Wenn Sie denken, dass das Papageienviech irgendwann müde wurde oder heiser, dann haben Sie sich geschnitten. Es hörte nie auf mit dem Krakeelen. Stunde um Stunde fuhr es fort, uns einzuhämmern, welche Qualen die Crew der ROBERT SUTTER in ihren letzten Stunden oder Minuten durchlebt hatte. Und zwischen den Schreien durchflüsterte das Gemurmel längst verstorbener Papageienbesitzer die Stille und vermischte sich auf unheimliche Weise mit den ächzenden Geräuschen des dahinfliegenden Schiffs. Können Sie's uns verdenken, dass wir Angst hatten – die Angst, die Kinder im Dunklen empfinden, eine Dunkelheit, die bevölkert ist mit Drachen und Monstern mit glühenden Augen? Ich hatte mich bis dahin immer für einen einigermaßen mutigen Kerl gehalten – aber ich sage Ihnen, damals, auf der ROBERT SUTTER, lernte ich, was echte Furcht ist, die Sorte Todesfurcht, die dich bei der Gurgel packt und dir den Magen umdreht und deine Knie zu Wasser schmilzt.
Was Mathews angeht - der war halb wahnsinnig; er ging dauernd runter, um zu saufen, und schließlich brachte er die Flasche einfach mit rauf. „Wir sollten dem verdammten Vieh den Hals zudrücken!“ sagte er wieder und wieder. „Wir sollten ihm den Garaus machen!“ Aber keiner wollte rübergehen und es tun. Ich selbst wäre in dieser Nacht um keinen Preis der Welt durch die Finsternis zum Käfig gelaufen. Als die Morgendämmerung heraufzog, legte sich die Panik von Mathews wieder ein wenig, und er kam einigermaßen zur Vernunft; vielleicht lags auch am Whisky, den er konsumiert hatte, auf jeden Fall hatte er wieder die Kontrolle über sich, als die Tropensonne den Horizont rotgolden färbte. Und immer noch, vergessen Sie das nicht, ließ das Vogelvieh sein Kreischen und Schreien auf uns los, ohne eine einzige Pause! Ich hätte nie gedacht, dass irgendeine Kreatur so etwas überlebt – die schiere Erschöpfung hätte das Tier doch eigentlich komplett auszehren müssen.
„Du hast recht, wir können das verdammte Ding nicht umbringen“ stimmte Mathews mir zu, nachdem wir die Sache ausgiebig diskutiert hatten. „Der Papagei ist der einzige Anhaltspunkt, den wir haben. Wir müssen ihn den Behörden übergeben, und die sollen zusehen, was sie aus der Sache machen.“ Er fluchte furchtbar vor sich hin. „Aber ich werd verrückt, wenn er nicht aufhört!“ Er probierte etwas mit Werg herum, das er in seine Ohren stopfte, doch anscheinend konnte er die Schreie damit kaum dämpfen. Er wirkte sehr erschöpft und ausgelaugt im frühen Dämmerlicht. Schätze, wir sahen alle ausgelaugt aus. Ich verteilte eine Portion Whisky an alle Männer und schickte sie unter Deck.
Glauben Sie mir, wir haben alles Erdenkliche versucht, um den verfluchten Papagei zum Schweigen zu bringen. Wir hängten ein Tuch über den Käfig, was ihn erst recht in Raserei versetzte, und wir versuchten, ihn in den Frachtraum zu sperren, aber von da aus klangen die hohlen Schreie noch schauriger. Er wollte nichts essen und nahm nur gelegentlich einen Schnabel voll Wasser. Und die ganze Zeit, verstehen Sie, die ganze Zeit schwellte das Gekreisch an und wieder ab, an und wieder ab, und marterte das Schiff mit dem Gewimmer toter Männer. Mathews ging schließlich unter Deck, halb besoffen und mit angetrunkenem Mut, die Ohren bis zum Rand mit Werg verpropft, und fand tatsächlich etwas Schlaf. Mit dem Fortschreiten des Morgens gewöhnte ich mich so recht und schlecht an den Lärm, und auch meine Nerven beruhigten sich etwas.
Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass wir inzwischen volle hundert Seemeilen weit von der Stelle entfernt waren, an der wir die ROBERT SUTTER aufgegabelt hatten, und was immer die Crew außer Rand und Band gebracht hatte, mußte inzwischen weit weg sein.
Ich ging schaudernd mitschiffs, um dem Papagei mit derselben Morbidität zuzuhören, die einen Mörder umtreibt, wenn er zum Ort seines Verbrechens zurückkehrt, und versuchte, etwas Neues aus seinen Schreien herauszuhören. Nur drei davon waren in englisch, wie gesagt, aber es gab mehrere in spanisch, und ein Seemann, der jahrelang auf deutschen Schiffen gefahren war, versicherte mir, das der Vogel mindestens ein Dutzend Worte in dieser Sprache schrie. Ich dachte, ich hätte auch ein paar Fetzen französisch gehört, aber ich bin mir nicht sicher. Ich rede jetzt nur über die deutlich erkennbaren Phrasen, die sich das Tier im Augenblick tödlicher Angst gemerkt hatte.
Ich warf einen Blick auf das Mannschaftsregister und stellte fest, dass, den Namen der Leute nach zu urteilen, eine national gemischte Truppe an Bord gewesen war – wie auf den meisten Schiffen üblich. Es gab einen Koch namens José Alvarez, offensichtlich ein Spanier. Dann waren da zwei Männer mit teutonisch klingenden Namen, und einer hörte sich französisch an. Ich vermute, dass die Offiziere Amerikaner gewesen waren, doch es scheint mir plausibel, dass die Crewmitglieder im Moment größter Panik zu ihrer jeweiligen Muttersprache Zuflucht genommen hatten.
Je länger ich im tröstenden Licht der hellen Sonne über die Sache nachdachte, desto klarer begann ich die Möglichkeiten zu sehen, die in dem Papagei steckten. Irgendwo in all dem seltsamen Jargon, den das verrückte Vieh von sich gab, mußte ein Hinweis stecken, mußte ein Wort verborgen sein, das uns verraten könnte, was da genau „achtern kam“. Es war nicht unvernünftig anzunehmen, dass, während die Männer panisch über das Schiff rannten, ein paar von ihnen etwas gerufen hatten, einen Satz oder ein Satzfragment, das und einen dafür Anhaltspunkt gab, was auf Deck erschienen war. Und wenn es solch einen Satz oder Satzfragment gab, hätte das verquere Vogelhirn es aufschnappen können, um es schließlich nachzuplappern. Ich dachte mir, wenn wir es schafften, den gottverdammten Papagei lebend nach Callao zu bringen, könnten Linguisten alles aufschreiben, was er herausschrie. Und dann – wären wir im Bilde...
Denn wissen Sie, es war ja auch faszinierend, das Ganze, mal abgesehen von all dem Schrecken und Entsetzen, das diese Schreie auslösten – sie kamen quasi aus dem Nichts... Wir waren auf der Spur eines echten Geheimnisses! Wir könnten vielleicht einen Zipfel davon lüften, und das würde eventuell erklären, was mit all den anders Schiffen passiert war, die im ähnlichen Zustand gefunden wurden wie die ROBERT SUTTER. Wir könnten vielleicht sogar enthüllen, warum manche Schiffe einfach verschwunden waren, ohne Spur. Wir könnten so einen flüchtigen Blick werfen auf ein Ding, das hätte verrecken sollen, als die Welt noch jung war. Der Papagei wußte es! Warum waren diese Männer verschwunden? Was was das, das da der ruhigen See entstiegen war und sie in abgrundtiefe Schrecken versetzte? Was brachte einen von ihnen dazu - höchstwahrscheinlich den Kapitän - einen vernickelten Revolver auf ES zu entleeren, ein Ding, das, wie jemand anderes erklärte, sich überhaupt nicht erschießen ließ?
Der Papagei wußte es – und er versuchte, es uns zu sagen.
Mathews kam am späten Mittag an Deck, total besoffen, sein ganzer Körper schwankend, seinen Augen brennend wie Kohlen. Der Vogel hatte sich natürlich nicht beruhigt und krähte immer noch weiter seine entsetzlichen Dinge heraus – schon den ganzen Tag lang. Ich konnte Mathews mit den Zähnen knirschen hören, als er auf- und abtigerte, mit zuckenden Fingern, und er fuhr fort, mit sich selbst zu sprechen: „Wenn er bloß still sein würde, bis wir im Hafen sind! Wenn er bloß seinen Schnabel halten würde!“ Bloß er hielt seinen Schnabel nicht, und ich begann mittlerweile selbst, nervöse Ticks zu entwickeln – fing auch an mit den Zähnen zu knirschen und an den Fingern zu zupfen und so. Und ich wußte, dass Mathews nicht mehr lange durchhalten würde.
Am späten Nachmittag hielt er im Marschieren inne und stieß einen furchtbaren Fluch aus. „Ich halt das nicht mehr aus!“ brüllte er plötzlich, sprang die Gangway hinunter zum Hauptdeck und raste zum Kombüsenhaus. „Es kommt achtern! Es kommt achtern!“ schrie der Papagei, und ich sah, wie Mathews eine der Feueräxte aus der Metallhalterung riß, die an der Kombüsenwand hing. Er verschwand um die Ecke des Häuschens, und dann ertönte das infernalische Geräusch von Metall, das heftig auf Metall trifft. Die Schreie hielten an: „Es kommt achtern! Es kommt achtern!“ Und dann plötzlich neue Worte, Worte in Englisch, die wir bisher noch nicht gehört hatten, guttural, würgend und übelkeiterregend real: „Collins! Collins! Es hat mich erwischt!“ Falls sonst noch etwas Neues dazukam, wurde es ausgelöscht von Mathews hysterischen Flüchen in hohem Diskant und den aggressiven Schlägen der geschwungenen Axt. Und dann – Stille, plötzlich, fast bedrohlich. Mathews wankte zurück ins Blickfeld, torkelnd, so als ob er kaum noch auf den Beinen stehen konnte, und suchte rechts an der Reeling Halt, an die er sich schwer atmend lehnte, die Feueraxt immer noch schlaff in der zitternden Hand.
„Schmeißt das verdammte Ding über Bord!“ keuchte er, und ich sah, wie einer der Männer zögernd hinüberging, sehr langsam, um den völlig verbogenen Vogelkäfig aus dem Schatten zu ziehen, in dem nur noch ein blutiger Matsch von dem zeugte, was einst ein Pagagei gewesen war.
Wir alle verfolgten in grimmigem Schweigen, wie der Käfig durch die Luft segelte und dann ins Meer fiel. Und es schien uns, als wäre mit dem Platschen auch die bedrückende Atmosphäre auf dem Schiff wie eine Seifenblase zerplatzt. Es schien direkt aufzuleben und fröhlicher voranzufliegen.
Vermutlich war ich der einzige an Bord der ROBERT SUTTER, der so etwas wie einen Anflug von Bedauern empfand, ein morbider Zug von mir, ich gebe es zu. Doch ich konnte nicht aufhören darüber nachzudenken, dass wir vielleicht die einmalige Chance vertan hatten, einen echten Hinweis zu ergattern, einen Hinweis, der uns eines der vielen Mysterien der See enthüllt hätte – wenn es uns gelungen wäre, den Papagei nach Callao zu bringen und ihn Sprachexperten zu übergeben. Tja, aber was soll man machen – der Vogel war futsch.
Wir brachten die Barkentine sicher in den Hafen ohne weitere Zwischenfälle.
Ich erinnere mich, dass ich die Geschichte dem Konsul dort erzählte, und auch erwähnte, was ich mir erträumt und erhofft hatte – aber er lachte mich einfach aus. Mathews erwähnte die Angelegenheit nie wieder. Er war, vermute ich, einfach beschämt. Er wollte nur noch vergessen. Und so bleibt das, was auch immer die ROBERT SUTTER heimgesucht hatte, ein Geheimnis bis zum heutigen Tag. Was genau ist da passiert? Ich habe wirklich keine Ahnung. Ich habe es aufgegeben, mir darüber das Hirn zu zermartern... Niemand wird es je erfahren. Aber der Papagei wußte es. Und es gibt Zeiten, da wache ich auf, mitten in der Nacht, in kalten Schweiß gebadet, und kann ihn hören, und dann sehe ich wieder seinen geduckten, zitternden Körper. Und ich höre seine wilden verrückten Worte in meinen Ohren gellen. Worte von Männern, die seit Tagen tot gewesen waren. Männer, die schrien, als ES achtern kam, und die versuchten, etwas zu erschießen, das man nicht erschießen konnte.
Zu Teil 1
Schiff des Schweigens
(Ship of Silence)
The Blue Book Magazine 1932/7
Erstübersetzung, alle Rechte beim Übersetzer (Mattthias Käther)
Anmerkungen: Amazing Pulps – Pulp Treasures 11 - Albert R. Wetjen Ship of Silence (1932)