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Minotaurus - Eine Kurzgeschichte

StoryDer erste Mensch
Eine Geschichte

Ich weiß nicht, was geschehen ist. Mir fehlt jede Erinnerung. Wie ich hierher gelangte, weiß ich nicht. Ich befinde mich in einem Irrgarten aus Stein, den man Labyrinth nennt. Ich muss den Ausgang finden. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich ihn schon suche. Es hat aber auch einen Vorteil, keine Vergangenheit zu haben – man ist unbelastet, man macht sich keine Gedanken, die einen nicht weiterbringen.

 Es gibt für denjenigen nur die Gegenwart und die Zukunft. Ich scheine mich auf einer Insel zu befinden, ich vermeine, das Salz des Meeres zu riechen. Deswegen müsste es eigentlich keine Insel, es könnte einfach an einer Küste sein, aber ich bin überzeugt davon, dass es eben eine Insel ist, kann jedoch nicht erklären, wieso. Es ist warm. Es wird sich wohl um eine schöne Gegend handeln, aber solange ich mich in diesem Labyrinth befinde, habe ich davon nichts. Es sind hellgraue Steinwände, die mich einschließen, ungefähr drei Meter hoch. Der Boden des Labyrinths ist aus Gras, verstreut wachsen Hartlaubgewächse, dicke Blätter, sie kommen mit wenig Wasser aus, ihre Farbe ist grün, man bezeichnet sie als Macchia. Ich rufe laut: „Hallo, hallo.“ Meine Sprache klingt nach Brüllen. Ich habe halt schon lange nichts mehr von mir gegeben. Es kommt keine Antwort. Merkwürdig eigentlich, ich werde hier doch nicht der einzige Mensch sein, vielleicht im Labyrinth, aber doch sicher nicht außerhalb. Wahrscheinlich darf mir niemand zu Hilfe eilen. Es fragt sich, ob das überhaupt jemand könnte, denn er müsste mich ja im Labyrinth aufspüren, und dafür müsste er wohl schon einige Abzweigungen auf die gleiche Art wie ich nehmen. Ich rufe nochmals: „Hallo, ist hier jemand?“, um Gewissheit zu haben. Wieder dieses mein eigenartiges Brüllen. Niemand meldet sich. Jetzt habe ich Gewissheit, jene, dass ich völlig auf mich alleine gestellt bin.

Warum nur bin ich hierher verfrachtet worden? Was muss jemand falsch machen, dass man ihn in ein Labyrinth steckt? Eine Lösung wäre, dass ich tot bin, aber wenn ich mich kneife, spüre ich Schmerz, ich fühle meinen Puls, ich habe welchen, auch atme ich, dass ich denke hingegen, ist nicht unbedingt ein Indiz dafür, dass ich lebe, es wäre auch möglich, dass man im Tod denkt, wie sollte man sonst Himmel oder Hölle wahrnehmen? Ich bin also definitiv am Leben. Ich muss das Labyrinth besiegen und seinen Ausgang finden. Da fällt mir gerade auf, dass ich weder etwas zu essen, noch etwas zu trinken habe. Besonders gefährlich für mich ist das Fehlen von Flüssigkeit. Ich sehe in den Himmel, eine einzige Miniwolke streicht ihn entlang, sonst ist er so blau, wie es der Himmel auf einer Postkarte ist. Da ist weit und breit kein Regen in Sicht. Habe ich früher vielleicht etwas „Verwinkeltes“ getan, dass ich jetzt in diesem Irrgarten den einzigen Weg suche, der mich aus ihm hinausführt? War ich etwa „Wertpapierberater“, jemand, der unbedarften Leuten das Geld aus der Tasche zieht? Ich kann auch ein reiner Betrüger gewesen sein, bei dem hundert Prozent vom Geld seiner Klienten gelandet ist, wo keinerlei Rückzahlung vorgesehen war, ich Bankbelege fälschte, und sich meine Klienten über ihren vermeintlichen Reichtum freuten. Gegen den ist der Wertpapierberater ja noch ein frommes Lämmchen, er will ja nur seine Provision kassieren, das Geld seiner Klienten wird schlecht veranlagt, aber es ist noch vorhanden, oft schrumpft es allerdings wie Butter in der Sonne. Möglicherweise war ich auch Automatenaufsteller mit eigener Firma, einer, der das „Kleine Glücksspiel“ erst möglich macht, und damit die Spieler in den Ruin treibt. Anders ist es gar nicht möglich, denn sie spielen solange, bis sie kein Geld mehr haben. Ob Zuhälter für mich infrage kommt?, eine der schäbigsten Tätigkeiten, nein, wenn ich meine Arme, Beine und den Oberkörper so betrachte, sehe ich dort zu wenige Muskeln für einen Gewaltverbrecher, der auch ohne Waffen seine Gegner brutalstens niedermacht. Ja, aber trotzdem, ich muss Schuld auf mich geladen haben, die ich jetzt hier wiedergutmachen soll. Bleibe ich im Labyrinth gefangen, werde ich wohl darin sterben, finde ich seinen Ausgang, bin ich ein freier Mann. Zumindest wünsche ich mir das, ich kann mich auch irren, in jedem Fall muss ich das Labyrinth verlassen, sonst gibt es gar keine Hoffnung, bin ich erst einmal draußen, hoffe ich, wird es sich für mich schon zum Guten wenden.

Ich habe hier überhaupt nichts, außer mich selbst. Auch keinen Faden habe ich, den ich abgewickelt hätte bei meinem Gang durch diesen Irrgarten. Durch ihn hätte ich wieder zurück zum Eingang gefunden, ich hätte ihn bloß immer auf den Boden legen müssen. Aber ich habe keinen, meine Hände sind leer. Hilfsmittel sind wohl nicht gestattet. Für jedes Spiel gibt es Spielregeln, aber in diesem Fall sind sie alle gegen mich gerichtet.

Jetzt habe ich aber wirklich lange genug in mich hineingehört, mich selbst bemitleidet, was mich überhaupt nicht weiterbringt. Ich gehe, ich gehe jetzt, und so schnell werde ich auch keine Pause machen, nehme ich mir vor. Ich gehe geradeaus, dann stehe ich vor einer Verzweigung, links oder rechts?, rechts, ich gehe weiter, wieder eine Verzweigung, diesmal gehe ich nach links. Außer Gras, ein wenig Macchia und selten Blumen ist da gar nichts. Ich habe vermutet, auf ein paar Skelette zu stoßen, aber Fehlanzeige. Nicht dass hier niemand gestorben ist, das war sicher der Fall, aber offensichtlich wurden nach jedem gescheiterten Durchgang die sterblichen Überreste des Unglücklichen beseitigt.

Nun steigt schon so etwas wie Panik in mir hoch. Ich rufe „Lasst mich hier raus!“, ohne groß nachzudenken, ganz automatisch. Wieder höre ich dieses Brüllen in meiner eigenen Stimme, die Laute scheinen weit hinten im Rachen gebildet worden zu sein. Natürlich meldet sich niemand. Ich gehe weiter, geradeaus, links, rechts, geradeaus, rechts, links. Je weiter ich gehe, desto mehr Möglichkeiten, in eine falsche Richtung zu gehen, gibt es. Ich wüsste aber nicht, was ich anders machen sollte. Da sehe ich in der linken Wand des Labyrinths eine eingelassene spiegelnde Fläche. Ich sehe hinein. Von ihr wird ein Stierkopf zurückgeworfen. Dieser Stierkopf gehört zu mir. Ich habe den Körper eines Menschen und den Kopf eines Stieres. Ich bin der Minotaurus. Meine Aufgabe ist es, die Wanderer in diesem Labyrinth zu töten. Das werde ich auch tun.

Gerüstbauer
Zum Autor

Bright Angel (Pseudonym) wurde Mitte der 1960er Jahre in Kärnten geboren. Er ist ein unsteter Geist und ein rollender Stein. Er schreibt Lyrik, Prosa und Hörspiele und fotografiert. Er veröffentlichte Lyrik, Kurzprosa und Fotos in Zeitschriften und Anthologien und bei „Erozuna“, „Zukunftia“, „Gangway“ und „zugetextet.com“ im Internet.

Veröffentlichungen:

  • Gedichte in „Driesch“, Nr. 5  im Jahr 2011.
  • Kurzgeschichte in „Brückenschlag“, Band 27 im Jahr 2011.
  • Kurzgeschichte in „TrokkenPresse“, Nr. 5 im Jahr 2011.
  • Prosatext in „TrokkenPresse“, Nr. 2 im Jahr 2012.
  • Gedichte in und Gedicht auf „Brückenschlag“, Band 28 im Jahr 2012.
  • Miniaturen in „WORTSCHAU“, Nr. 17 im November des Jahres 2012.
  • Gedichte in „Spring ins Feld“, 13. Ausgabe, Dezember des Jahres 2012.
  • Kurzgeschichte in „Brückenschlag“, Band 29 im Jahr 2013.
  • Prosatext in „TrokkenPresse“, Nr. 3 im Jahr 2013.
  • Gedicht in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 59, 09/2013.
  • Kurzgeschichte in der Anthologie „Mein heimliches Auge, Das Jahrbuch der Erotik XXVIII“ vom konkursbuch Verlag
  • Claudia Gehrke im Jahr 2013.
  • Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 60, 12/2013.
  • Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 61, 04/2014.
  • Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 62, 08/2014.
  • Kurzgeschichte und Gedicht in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 63, 11/2014.
  • Gedichte in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 64, 04/2015.
  • Kurzgeschichte und Gedicht in „DATT IS IRRE !“, Ausgabe 67, 04/2016.

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