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Das Flimmern (Teil 4)

StoryDas Flimmern (Teil 4)

Howard
Während er den Wohnort der Zielperson recht schnell hatte ausfindig machen können, war es schon etwas zeitaufwändiger gewesen, die genaue Adresse herauszufinden.

Dass es sich schließlich um ein großes Mehrfamilienhaus mit fast zwanzig Parteien handelte, war ihm dann natürlich entgegengekommen, ebenso wie die Tatsache, dass in dem Haus gerade eine Wohnung frei geworden war.

Da Howard zu diesem Zeitpunkt bereits ein paar hundert Dollar als Tagelöhner bei einem Bauunternehmen verdient hatte, das zum Glück mehr Wert auf Zuverlässigkeit als auf Papiere legte, konnte er die erste Miete sogar im Voraus bezahlen. Der Typ von der Wohnungsgesellschaft war darüber so glücklich (natürlich auch darüber, dass er die Wohnung nicht entrümpeln oder renovieren musste), dass er Howard ohne großes Brimborium einen Mietvertrag in die Hand drückte.

Den Kontakt zu der Zielperson herzustellen hatte sich dann schon als schwieriger erwiesen, vor allem, weil er sich dem Jungen natürlich nicht einfach so nähern konnte, sondern warten musste, bis dieser sich ihm näherte. Nachdem Howard hatte beobachten können, dass der Junge offenbar ein Einzelgänger war, der nur selten das Haus verließ (was ihn in keinster Weise überraschte), hatte er ihn ein paar mal mit einer zerfledderten Ausgabe von Jack Londons “Ruf der Wildnis” im Garten sitzen sehen, also hatte er sich irgendwann mit einer ebenfalls zerfledderten Ausgabe von “Herr der Fliegen” auf die Nachbarbank gesetzt. Dabei hatte er den Zeitpunkt abgepasst, an dem der Junge meistens draußen saß, nämlich etwa eine Viertelstunde, bevor seine Mutter ein Fenster öffnete und ihn zum Essen rein rief. Der Junge war ohne ein Wort des Grußes an ihm vorbeigeschlendert, hatte aber einen kurzen Blick auf sein Buch geworfen. Als Howard zu ihm aufsah, hatte er schnell weggesehen, sich auf die freie Bank gesetzt und zu lesen angefangen. Als seine Mutter ihn reinrief, war er wieder an Howard vorbeigeschlendert, aber diesmal hatte Howard nicht aufgesehen. Am nächsten Tag wiederholte sich das Spiel, mit dem Unterschied, dass Howard diesmal die Taschenbuchausgabe von Stephen Kings “Cujo” in der Hand hielt. Als der Junge das bemerkte, blieb er stehen, legte den Kopf schief und fragte Howard dann ganz schüchtern und leise, ob er den “Herrn der Fliegen” schon durchgelesen hätte.

Howard tat zunächst überrascht, dann lachte er und erzählte dem Jungen, dass er das Buch schon etwa fünfmal gelesen hätte, und dass er nun vorhatte, “Cujo” eine zweite Chance zu geben, obwohl er glaubte, dass es einer der schlechtesten Romane Kings sei. Der Junge hatte zuerst nur genickt, dann hatte er kurz zum geschlossenen Küchenfenster hinaufgesehen und ihm erzählt, dass er noch nie einen Roman von King gelesen hätte, weil seine Mom glaubte, das sei Schund. Howard hatte ebenfalls genickt und ihm gesagt, dass seine Mutter eine kluge Frau sei und er da auf keinen Fall widersprechen wolle, dass man aber hin und wieder ruhig Schund lesen dürfe, solange man auch noch andere Sachen las. Der Junge hatte ihn nur angesehen und ihn dann nach dem Herrn der Fliegen gefragt, worauf Howard ihm erzählt hatte, worum es in dem Buch ging. Als irgendwann das Fenster über ihnen geöffnet wurde, hatte er dem Jungen bereits versprochen, ihm das Buch unter der Voraussetzung, dass er zuerst seine Mutter um Erlaubnis fragte, auszuleihen. Diese war erwartungsgemäß wenig begeistert, als sie hörte, dass ihr Sohn sich mit dem “Neuen” unterhalten hatte und sich ein Buch von ihm ausleihen wollte, aber letzten Endes verhält es sich mit Büchern wie mit Musik: Sie haben ihre ganz eigene Magie. Niemand würde einem Kerl über den Weg trauen, der ein Kind auf der Straße oder aus einem Auto heraus anspricht, aber ein Kerl der stundenlang unter einem Baum auf einer Bank sitzt und ein Buch liest, scheint niemand zu sein, der etwas Böses im Schilde führt. Und im Grunde führte Howard ja auch nichts Böses im Schilde, selbst wenn er nur vorgab, ein Buch zu lesen. Tatsächlich hatte er sogar die Absicht, etwas Gutes zu tun. Allerdings wusste er noch nicht, wie viele Opfer diese gute Tat letztlich fordern würde.

Jeremy
Etwa eine Woche nachdem Howard ihm das dicke Buch mit dem komischen Titel in die Hand gedrückt hatte, beschränkten sich Jerrys Fortschritte noch immer darauf, es einmal durchgeblättert und ein paar Seiten überflogen zu haben. Er wusste immer noch nicht, warum er dieses ganz sicher todlangweilige und für ihn völlig uninteressante Buch unbedingt lesen sollte, aber immerhin wusste er nun in etwa, worum es ging und worum es sich bei dem Fehler handelte, den die beiden Teenager in dem Buch machten. Aber soweit er es nach seiner halbherzigen Inspektion beurteilen konnte, schien es ziemlich lange zu dauern, bis es zu diesem Fehler kam. Zu lange für seinen Geschmack. Eigentlich ging es auf den Seiten, die er quergelesen hatte nur um die Hauptfigur, die in der Ichform aus ihrem Leben erzählte, und obwohl Jerry die Ichform eigentlich mochte, fand er das sterbenslangweilig. Da er nicht glaubte, dass Howard ihm böse wäre, wenn er ihm das Buch zurückgab und ihn um ein anderes, besser für ihn geeignetes bitten würde, nahm er es eines abends aus der Schublade heraus, stellte sich damit vor die Wohnungstür seines Nachbarn und klingelte. Während er auf das vertraute “Moment, ich komme!” wartete, dachte er daran, dass er ihn die ganze letzte Woche über nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatte. Er war nach dem Abendessen ein paar mal rübergegangen und hatte geklingelt aber Howard schien nicht da gewesen zu sein, denn sonst hätte er ihm auf jeden Fall aufgemacht. Und da er auch heute anscheinend nicht zu hause war, zuckte Jerry nach dem fünften Klingeln die Schultern, legte das Buch vor die Wohnungstür (er glaubte nicht, dass jemand ein Buch mit einem so langweilig klingenden Titel klauen würde) und ging nach hause zurück.

Als das Buch am Abend des nächsten Tages noch immer auf der Fußmatte vor der Tür lag, nahm er es seufzend wieder mit und legte es in die Schublade seines Nachttischs zurück, mit der festen Absicht, es irgendwann nochmal damit zu versuchen. Nicht weil er glaubte, dass ihn die Handlung dann vielleicht interessieren würde, sondern weil er es Howard versprochen hatte. Andererseits fragte er sich so langsam, warum sein Nachbar so lange wegblieb und vor allem, weshalb er sich nicht von ihm verabschiedet hatte. War ihm am Ende vielleicht etwas passiert? Hatte er die Wohnung etwa gar nicht verlassen, sondern lag schon seit Tagen bewusstlos oder gar tot auf dem stinkenden alten Schlafzimmerteppich? Je länger Jerry darüber nachdachte, desto mulmiger wurde ihm zumute. Dann fiel ihm plötzlich ein, dass seine Mom noch einen Schlüssel für die Wohnung hatte und er nahm sich vor, sie darum zu bitten oder selbst nach dem rechten zu sehen, sollte Howard am nächsten Tag noch immer nicht auf sein Klingeln reagieren. Doch als er dann abends in seinem Bett lag, war das mulmige Gefühl in seinem Magen noch so stark, dass er erst nach einer halben Ewigkeit einschlafen konnte. Am nächsten Tag fragte er seine Mom direkt nach der Schule und noch vor dem Abendessen nach dem Schlüssel und erzählte ihr von seiner Befürchtung. Zu seiner Überraschung überlegte seine Mutter gar nicht lange, sondern kramte sofort den Schlüssel aus einer Küchenschublade heraus und verließ in ihren Pantoffeln und mit bereits umgebundener Schürze die Wohnung. Jerry lief nach kurzem Zögern hinter ihr her, blieb vor Howards Haustür kurz stehen und folgte ihr, als sie keine Anstalten machte, ihn davon abzuhalten in den schmalen Flur. Schon dort schlug ihnen ein widerlicher Gestank entgegen, so dass Jerry beinahe auf dem Absatz kehrt gemacht hätte, aber dann meinte seine Mom, das wäre immer noch der alte Gestank von früher, nur dass anscheinend schon länger nicht gelüftet worden wäre. Sie schauten im Eiltempo in alle Räume hinein, auch ins Bad und sogar in die Abstellkammer, aber von Howard fehlte jede Spur.

Wohin auch immer er verschwunden war, immerhin lag er nicht tot im Bett oder in der Badewanne. Jerry atmete erleichtert auf und wollte die Wohnung so schnell wie möglich wieder verlassen, aber seine Mom bestand darauf, “wenigstens einmal kurz durchzulüften” und den Müll aus der Küche zu entsorgen, der ihrer Meinung nach mitverantwortlich für den Gestank war. Letzteres wurde natürlich Jerry übertragen, dem es überhaupt nicht behagte, dass sie sich während Howards Abwesenheit länger hier aufhielten als unbedingt nötig. Mit äußerstem Widerwillen trat er auf das kleine Pedal des Mülleimers neben der Spüle und verzog angewidert das Gesicht, als der Deckel sich öffnete, wie das Maul eines stinkenden kleinen Kobolds. Er bückte sich, um den Beutel herauszufischen und so schnell wie möglich zuzubinden, doch als sein Blick dann unweigerlich auf den Inhalt fiel, sah er zwischen den verschimmelten Kaffeefiltern, Apfelschalen und Essensresten etwas liegen, das ihm irgendwie bekannt vorkam. Es war ein halb zusammengeknülltes Stück Papier, das von der Form und Größe her wie eine Taschenbuchseite aussah. Mit spitzen Fingern zog er es an einer Ecke aus dem Müllbeutel heraus und faltete es vorsichtig auseinander. Da das Papier völlig durchweicht und mit zahlreichen Flecken übersät war, dauerte es einen Moment, bis er erkannte, worum es sich handelte, aber dann bestand kein Zweifel mehr. Es war das Impressum aus dem Buch, das er lesen sollte. Die fehlende Seite, die “irgendjemand” herausgerissen haben musste, wie Howard gesagt hatte. Offenbar war er selbst dieser Jemand gewesen, aber warum hatte er das getan und vor allem, warum hatte er ihn angelogen?

Trotz des Gestanks wollte Jerry einen näheren Blick auf die Seite werfen, vielleicht stand da ja irgendetwas, das er nicht wissen oder lesen sollte, aber was hätte das schon sein können? Im nächsten Moment stieß hinter ihm jemand einen spitzen Schrei aus. Jerry ließ die Seite vor Schreck fallen und drehte sich zu seiner Mutter um, die ihn fragte, was um alles in der Welt mit ihm los sei, dass er in einem zwei Wochen alten Müllbeutel herumwühlte. Da Jerry nicht glaubte, dass sie eine Antwort erwartete, warf er die ohnehin unleserliche Seite in den Beutel zurück, knotete ihn zu und lief damit an seiner den Kopf schüttelnden Mutter vorbei in Richtung Wohnungstür. Nachdem er den Müll entsorgt und sich gründlich die Hände gewaschen hatte, war auch seine Mom  wieder zu hause angekommen. “Er kommt bestimmt bald wieder”, sagte sie, als sie sein betrübtes Gesicht sah. “Vielleicht musste er aus irgendeinem Grund plötzlich verreisen.” Jerry nickte nur, dabei beschäftigte ihn natürlich etwas ganz anderes.

Noch am selben Abend kramte er das Taschenbuch aus der Schublade heraus und begann zu lesen. Jetzt, wo er wusste, dass Howard ihm irgendetwas verheimlichte, was mit diesem Buch zu tun hatte, war es plötzlich wieder interessant geworden. Es war auf einmal mehr als nur ein Buch, es war ein Rätsel. Eines das er womöglich nur würde lösen können, wenn er das Buch Seite für Seite las. Da er am nächsten Tag schulfrei hatte, las er so lange bis ihm die Augen wehtaten und er gerade noch imstande war, die Nachttischlampe auszuschalten. Er war ein bisschen stolz auf sich, weil er fast dreißig Seiten geschafft hatte, obwohl ihm bis jetzt nichts außergewöhnliches oder seltsames aufgefallen war. Abgesehen von dieser einen fehlenden Seite.

© by Stefan Robijn

 

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