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Das Krankenhaus

Das Krankenhaus


Die Krankheit lag in der Luft. Wortwörtlich. Ihre Keime schwebten in der Atmosphäre, über die Atmung wurden sie aufgenommen und begannen nach einer Inkubationszeit von durchschnittlich drei Tagen, die Lunge zu zerstören. Die Lunge konnte immer weniger Sauerstoff aufnehmen, am Schluss gar keinen mehr. Nach längstens zwei Wochen war dieser Schluss erreicht. Die Patienten erstickten langsam. Niemand blieb von einer Ansteckung verschont. Es gab keine Heilung, für eine Impfung blieb zu wenig Zeit – die Krankheit war plötzlich aufgetreten.

Sie wurde nach ihrer Wirkung Lungs Destroying Disease genannt. Sie breitete sich weltweit aus. Sie übertraf die Pest und Aids, die die Menschheit nur dezimieren sollten, Lungs Destroying Disease sollte die Menschheit ausrotten.

Die einzige Möglichkeit, sich vor ihr im Freien zu schützen, war, luftdicht abgeschlossene Anzüge mit eigener Sauerstoffversorgung zu tragen. Im kleinen Krankenhaus der Bezirksstadt, das über rund dreihundertfünfzig Betten verfügte, hatten sie diese speziellen Anzüge und Sauerstoffflaschen, aber nach knapp fünf Monaten waren die Sauerstoffflaschen leer. Wer nun an die frische Luft gehen würde, würde erkranken und sterben.
Der Grund, warum die Patienten und das Personal im Krankenhaus überhaupt noch am Leben waren, war, dass das Gebäude hermetisch abgeschlossen war – nichts konnte von draußen hinein dringen, und nichts konnte vom Krankenhaus nach außen dringen. Man hatte Angst vor einem biologischen oder chemischen Angriff gehabt, darum diese Maßnahme des luftdichten Abschlusses.

Die Menschen waren immer zivilisierter geworden, Kriege waren immer seltener, große Kriege fanden gar nicht mehr statt. Aber von zivilisiert zu degeneriert war es nur eine kurze Strecke, und war ein Volk erst degeneriert, würde es unweigerlich untergehen. Natürlich wollte das niemand, also fingen die Vertreter der verschiedenen Staaten wieder an, sich zu beflegeln und zu bedrohen, und schließlich sich anzugreifen.

Man weiß ja nicht, vielleicht war auch das schlagartige Auftreten dieser Krankheit ein biologischer Angriff gewesen, von wem gegen wen auch immer, mittlerweile gab es viele Krisenherde auf der Welt. Die Luft verteilt sich ja überall, die Atmosphäre ist ja praktisch eine riesengroße Klimaanlage. Dann wäre diese neue Krankheit keine Strafe Gottes, sondern eine von den Menschen selbstgemachte.

Auch das Rathaus dieser Stadt war zur Debatte gestanden, luftdicht gegen außen abgeschlossen zu werden, aber der Bürgermeister wollte Sparwillen zeigen, und so blieb das Rathaus, wie es war – und alle, die darin gearbeitet hatten, waren nun tot. In der Landeshauptstadt hatten sie besser vorgesorgt, in der Bundeshauptstadt erst recht – dort waren die meisten Politiker noch am Leben.

In diesem Krankenhaus musste aber bald etwas geschehen, denn der Sauerstoff für die Luftumwälzung würde längstens noch für einen Monat reichen. Was musste getan werden, damit die Krankenhausinsassen überleben könnten? Das Problem harrte seiner Lösung, während die Uhr lief. Tick – tack – tick – tack. Was war die Lösung? Was war die Lösung? Was war die Lösung?

Auf den Straßen und Plätzen lagen überall tote Menschen und Tiere, in den Gebäuden ebenfalls tote Menschen und ihre Haustiere. Die Vögel waren vom Himmel gefallen und verwesten dort, wo sie aufgeprallt waren. Alle Leichname von Lebewesen verfaulten. Dieser spezielle Geruch von sich zersetzenden Leichen erfüllte die Luft – was im Krankenhaus aber niemand roch, sonst wäre er schon tot gewesen. Was Lungen hatte, war gestorben. Unbeeindruckt von der Krankheit blieben die Fische, die Pflanzen gediehen wie eh und je, und die Steine blieben unverändert an ihren Plätzen – aber Steine können ja auch gar nicht sterben, weil sie nicht leben.
Im Krankenhaus bildete sich eine Gruppe aus dem Direktor, den Primarien und manchen Oberärzten sowie einigen Krankenschwestern, mit denen sie ein Verhältnis hatten. Sie plante, dass ausschließlich ihre Mitglieder nur bestimmte zusammenhängende Räume bewohnen sollen, die sie gegen den Rest des Krankenhauses luftdicht abttrennen würden – um Zeit zu gewinnen natürlich, um deutlich länger als diesen einen Monat zu überleben, und um sich zu überlegen, was man tun müsste, um darüber hinaus wesentlich länger zu überleben.

Es dauerte aber nicht lange, bis diese Gruppe enttarnt wurde, weil sich ihre Mitglieder sichtbar konspirativ verhielten. Robust gebaute Pfleger kamen ihnen auf die Schliche, weil sie über einen gesunden Hausverstand verfügten, sowieso konnten sie all die „Chefleute“ nicht leiden, da sie sich von ihnen zurückgesetzt fühlen. Am liebsten hätten sie alle von der Gruppe ins Freie geschickt, aber dann wäre die Versiegelung aufgebrochen, sie wäre auch nicht erneuerbar gewesen. Da das eben nicht durchführbar war, sperrten sie diese Leute in einen großen Kellerraum, in dem sie blieben, bis die Pfleger überlegt hatten, wie sie sie töteten.

Sie taten es mit Äxten, Messern und Spaten. Und da es keine Möglichkeit gab, die Leichen dann einzugraben, hoben sie die Leichen in Metallsärge, die sie mit flüssigem Stickstoff füllten und so gut es ging von der Luft abtrennten. Wichtig war, dass niemand aus der Gruppe überlebte. Das war auch der Fall.

Eines Vormittags dann kam ein übergroßer Muldenkipper in die Stadt, in der Fahrerkabine saßen zwei Menschen, die Fahrerkabine war mit Folien, die innen angebracht waren, gegen die Außenluft abgeschottet. Auf der Ladefläche saßen verschiedene Roboter. Der Fahrer parkte den Muldenkipper in der Nähe des Krankenhauses. Viele Krankenhausinsassen schlugen gleich gegen die Fenster. Der Fahrer und der Co-Pilot taten, als hörten sie das nicht. Die Roboter waren offensichtlich nicht darauf programmiert, dieses Geklopfe zu registrieren.

Die zwei Männer gaben den Robotern Befehl, von der Ladefläche abzusteigen. Vom Krankenhaus konnte man nicht sehen, wie sie diesen Befehl übermittelten, denn sie sahen die Roboter nicht einmal, sie anzugreifen war ihnen völlig unmöglich. Dann bewegten sich jeweils zwei Roboter auf einen menschlichen Leichnam zu, hoben ihn hoch und warfen ihn auf die Ladefläche des Muldenkippers. Die Roboter schienen dies autark zu machen – es war ihre Aufgabe, und die führten sie aus. Die Roboter luden auch Leichen von Hunden, Katzen, Vögeln, Mäusen, Eichhörnchen, ein, alles, was hier tot auf dem Boden lag, luden sie ein.

Als die Kippmulde voll von Leichen war, kletterten die Roboter oben drauf, verhakten ihre Fingereinheiten am Rand der Kippmulde. Als alle Roboter fertig waren, startete der Fahrer den Muldenkipper und bewegte ihn in nördliche Richtung.

Eine zweite Fahrt gab es nicht mehr. Die Gründe dafür könnten sehr vielfältig sein, aber da sie den Krankenhausinsassen nicht direkt weiterhalfen, schoben sie die Frage nach dem Warum nicht? beiseite.

Aber etwas war geblieben: Ein verwirrter alter Mann, der in einer offenen Abteilung der Psychiatrie untergebracht war, hatte bei der Entsorgung der Leichen zugesehen, und als der beladene Muldenkipper weg war, sagte er: „Wir müssen alle Roboter werden, sonst werden wir sterben.“ Eine Krankenschwester hörte diesen Satz und trug ihn zum Oberarzt dieser Station weiter. Der Oberarzt besprach sich mit manchen seiner Kollegen aus seiner Hierarchieebene. Dann beriefen sie ein Meeting für alle verbliebenden Führungskräfte ein:
„Jedes lebendige Wesen mit Lungen, das das Krankenhaus verlässt, wird sterben. Hier im Krankenhaus haben wir noch Sauerstoff für zirka vierundzwanzig Tage, danach werden wir ersticken. Robotern, wie wir gesehen haben, macht diese Krankheit nichts aus, was ja logisch ist. Die Roboter, die mit dem Muldenkipper gekommen waren, gingen wie Tiere auf vier Gliedmaßen, die sich auch auf zweien aufrichten konnten, oder bewegten sich mittels eines Kettenantriebes vorwärts, das waren die Schnelleren.

Wir hier setzen auch Roboter ein, hüfthohe, die auf Rollen laufen und saubermachen, Trageroboter, die Patienten ins Bett und aus dem Bett heben, Aufmerksamkeitsroboter, die eineinhalb Meter groß sind und mit einem menschenähnlichen Gesicht versehen, die Kranke in der Intensivstation überwachen.

Man kann nicht sagen, dass die Roboter intelligent sind, sie tun, was ihnen gesagt wird, aber sie lernen auch und verändern dadurch ihre Aktionen zum Besseren, sie kommunizieren auch miteinander, ein Roboter weist einen anderen an, etwas Bestimmtes zu tun.

Das ist normal, State of the Art, aber mittlerweile gibt hier eine viel weiterreichende Entwicklung: Man nimmt das gesunde Gehirn eines Menschen und setzt es in einen Roboter. Das erste Mal wurde solch eine Transplantation vor etwas mehr als einem Jahr in Boston durchgeführt. Das Gehirn ist natürlich der Master, und der Roboter ist der Sklave. Für den Träger des Gehirns war es die einzige Möglichkeit zu überleben. Und er lebte heute noch.

Das Ergebnis ist in diesem Fall eine Mensch-Maschine-Einheit. Es ist kein Roboter, der über künstliche Intelligenz verfügt. Es ist ein Mensch mit seiner echten und eigenen Intelligenz, der auf den Körper eines Roboters zurückgreift. Das menschliche Gehirn kann den Roboter ganz anders steuern, als das zuvor möglich gewesen war.

„Wer macht das freiwillig?“, kam als Frage. „Niemand macht das freiwillig. Jeder hat das Recht, sich auszusuchen, ob er eingeschränkt leben oder sterben will“, antwortete der Oberarzt der offenen Psychiatrie-Station.“

Das Meeting war nun zu Ende. Krankenschwestern und Pfleger schwärmten mit Evaluationsbögen aus, mit der Frage, wer sich, von allen Leuten im Krankenhaus, zu einer Mensch-Maschine-Einheit umbauen lassen würde. Es waren 98,5 %. In Summe wurden 1278 Menschen befragt. Also wollten 1259 einen Roboterkörper.

Bei dem nächsten Meeting, bei dem alle Chirurgen und Haustechniker dabei waren, brachten sie die Summe aller im Krankenhaus verfügbaren Roboter vor: Es waren 398.

1259 Krankenhausinsassen werden um die 398 Roboterkörper spielen. Die Regeln werden noch festgelegt

 

(Bild: Krankenhaus, Stadt Wien, im Dunst von Bright Angel)

 

Bright Angel (Pseudonym) wurde Mitte der 1960er Jahre in Kärnten geboren. Er ist ein unsteter Geist und ein rollender Stein. Er schreibt Lyrik, Prosa und Hörspiele und fotografiert. Er veröffentlichte Texte und Fotos in Zeitschriften und Anthologien und bei „Erozuna“, „Zukunftia“, „Gangway“, „zugetextet.com“, „Zauberspiegel“ und dem „Verein Fit for Life“ im Internet.

 

 

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