Vice versa
Vice versa
Die Kirche des Dorfes steht auf einem Hügel. Sein Friedhof beherbergt seine ehemaligen Bewohner. Das ist nichts Besonderes, das Besondere an dem Friedhof ist, dass es keine Grabsteine gibt, sondern nur Holzkreuze, und dass alle verkehrt herum stehen. Auf den Kreuzen stehen der Name des Begrabenen und sein Geburtsdatum – aber kein Todesdatum, weil es kein Todesdatum gibt. Auf diesem Friedhof in diesem speziellen Dorf sind die Lebenden begraben. Sie liegen auf dem Rücken in abgedeckten Särgen in offenen Gräbern.
Dafür halten sich die Toten in den Häusern auf. Sie sind bleich und haben keine Bedürfnisse. Ihre Beschäftigung ist fernzusehen. Alle sitzen sie vor Fernseher und zappen von Programm zu Programm, sie haben fünfhundert davon und mehr. Immer sitzen sie vor dem Fernseher, vierundzwanzig Stunden am Tag, hundertachtundsechzig Stunden in der Woche, sie sehen ständig fern.
Kommt ein Lebender in ein Haus auf der Suche nach Essbarem und öffnet er dort einen Kühlschrank, ist der leer, gänzlich leer, keine Literpackung Milch oder ein Hundertachtzig-Gramm-Joghurt ist darin, gar nichts ist darin. Da sieht der Mensch die Toten und ihm fällt ein, dass sie ja nichts essen und nichts trinken, sie müssen auch nicht schlafen, denn sie sind ja tot.
(Bild: Die Frau mit den beiden Engeln auf dem Prunkgrab der FAMILIE HEYROWSKY auf dem Wolfsberger Friedhof.jpg von Bright Angel)