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Bartón

StoryBartón

Noch lange, nachdem sich der Mann vor seinen Verfolgern versteckt hatte, raste sein Puls. Auch jetzt, als er in Sicherheit war, konnte er seinen Herzschlag kaum zügeln.

Mit zögerlichen Bewegungen wagte er es, aus seiner Deckung hervorzuschauen. Sie hatten schon häufig seine Spur aufgenommen und ihn gejagt, aber er konnte ein ums andere Mal entkommen.


„Warum verfolgen sie mich nur? Was habe ich ihnen denn getan?“, fragte er sich, denn er konnte sich die Antwort nicht zusammenreimen. Über seinem Gedächtnis lag ein Schleier des Vergessens. Er konnte sich nicht einmal an seinen eigenen Namen erinnern.

Michael WeberMichael Weber,
geboren 1975, lebt und arbeitet als Physiotherapeut im niedersächsischen Harsefeld.

Schon immer von Märchen und Verschwörungstheorien fasziniert, beginnt er selbst zu schreiben. Es entstehen in den Neunzigern die ersten Fantasy-Kurzgeschichten, die in der von ihm erdachten Welt Askyria spielen.

2004 beginnt er mit den ersten Romanen, die bislang noch unveröffentlicht sind.

Anfang 2009 beschließt er, sich an die Öffentlichkeit zu wenden; der erste Schritt dazu ist seine Homepage Askyria.org.

Ende 2009 beginnt er mit dem Erstellen von Hörspielen nach seinen eigenen Kurzgeschichten, welche im Juni, September und Dezember 2010 von verschiedenen Internetradios aufgeführt werden.

Bisherige Werke:
Hörspiele:
Barton (2009)
Zur falschen Zeit (2010)
Holprid, der Meisterdieb (2010)
Die Hexenmühle (2011)


Interview mit dem Zauberspiegel

Mittlerweile mussten nun schon ein paar Wochen vergangen sein, die er in den verwunschenen Wäldern verbracht hatte, zumindest kam es ihm so vor.

Die unheimliche Stille, die sich des Nachts über die Bäume legte, machte die Einsamkeit noch viel schwerer zu ertragen. Mit der Dunkelheit schienen sich alle Tiere aus dem Dickicht zu flüchten. Selbst der Wind legte sich dann und das Rascheln der Blätter verstummte. Lediglich das Tropfen des einsetzenden Regens auf dem Waldboden erklang jetzt und war in der Ruhe fast schon ohrenbetäubend. Zum Glück währte der Guss nicht lange und der Mann konnte sich aus seinem Versteck wagen. Jetzt war wohl niemand mehr in der Nähe, der ihn suchen würde. Durch die Hitze der letzten Tage erwärmt, stieg das gefallene Wasser schon bald wieder als Nebel vom Erdboden auf. Dunstschwaden zogen durch die hohen Bäume und hüllten die Umgebung in einen weißen Schleier.

Gedankenverloren blickte der Mann umher. Er erinnerte sich nicht mehr daran, wie er hierher gekommen war und warum. Frierend, und trotz seines Unterschlupfes durchnässt, stapfte er leise über den matschigen Boden. Sein leerer Magen knurrte lauter, als es ihm lieb war, denn er schien ihn meilenweit zu verraten.

„Hier muss es doch irgendetwas zu essen geben!“, murmelte der Mann und schaute sich um. Er wankte beim Gehen etwas, als hätte er zu viel Alkohol getrunken. Seine nassen, langen, schwarzen Haare klebten ihm im Gesicht und fühlten sich kalt an, als er sie zur Seite schob. Auf einmal hörte er ein Geräusch hinter sich.

War er entdeckt worden?

Zusammenzuckend nahm er das gleiche Geräusch noch einmal wahr und musste schwer schlucken. Der Nebel nahm ihm die Sicht. Er durfte sich nicht schnell bewegen. Vielleicht würde, wer auch immer sich durch den Wald schlug, ihn und seine Spuren nicht finden, wenn er sich ruhig verhielt. Seine Fährte war noch recht deutlich im Boden zu erkennen, trotz der Dunkelheit und des Nebels. Der Mann verabscheute die absolute Finsternis im tieferen Dickicht, aber notgedrungen zog er sich dorthin zurück. Nur leider war dies die falsche Richtung, denn er ging direkt auf den Verursacher der Geräusche zu und stieß fast mit ihm zusammen.

„Halt, wer da?“, fragte eine Stimme in Flüsterlautstärke.

„Ich werde Euch nicht gefährlich, wenn Ihr das meint!“, antwortete der Mann unsicher. Auf einmal tauchte ein dunkler Umriss auf. Aus dem Nebel schälte sich ein Gesicht, das durch den Mondschein milchig blass erschien. Mit scharfen Augen wurde der Mann gemustert: „Ich bin Ferril von Farnhejm. Der Landherr Borislav von Kirkusch hat mich für diese Gegend zum Jäger berufen. Wie ist Euer Name und was habt Ihr hier zu suchen? Seid Ihr gar ein Wilderer?“

„Ich bin geflohen! Aber ich weiß nicht, wovor ... Ich kann Euch weder meinen Namen sagen, noch wie lange ich schon hier bin! Verzeiht mir, dass ich Euch belästige, aber hättet Ihr etwas zu essen für mich?“, bettelte der verirrte Mann. Sein Gegenüber schaute in den Nebel hinter ihm. Dabei traten seine spitz zulaufenden Ohren ins Mondlicht, die in ihm einen Elfen erkennen ließen.

„Er sagt die Wahrheit. Zumindest glaubt er es ...“, erklärte eine raue Stimme hinter dem Verlaufenen. Mit einem erneuten erschreckten Zusammenzucken bemerkte der Mann einen weiteren Fremden hinter sich.

„Bei Fehdahn! Ihr seid ein guter Schleicher, mein Herr …“, sagte der Durchnässte und schaute auf den zweiten Jäger, der sich jetzt zu erkennen gab. Es war einer der Fuchskrieger, die hier im Süden häufiger anzutreffen waren. Sie nannten sich Vixanten und waren hervorragende Fährtensucher. Der Fuchsmann blickte den Verirrten an und musterte ihn scharf: „Ihr erscheint mir nicht gerade als ein Mann, der hierher in den Wald gehört. Ihr habt keine Spitzohren wie die Elfen und zu dem Volk der Amazonenkriegerinnen gehört Ihr ebenso wenig. Offensichtlich!“

„Ich weiß nur, dass Männer hinter mir her waren und ich in den Wald geflüchtet bin ...“, erklärte der Verirrte.

„Habt Ihr Euch vor lauter Hunger vielleicht an diesen Früchten gelabt?“, fragte der Vixant und deutete auf einen Strauch mit großen, saftig roten Beeren daran.

„Ich glaube schon ...“, erwiderte der frierende Mann, der sich in der Wildnis überhaupt nicht auskannte.

„Banshuckbeeren! Sie lösen Rauschzustände aus und wirken schmerzstillend. Übertreibt man allerdings ihren Konsum, können sie gefährliche Nebenwirkungen haben“, erklärte der Vixant fachmännisch und schüttelte seinen Kopf.

„Ne... Nebenwirkungen?“, stotterte der Verirrte entsetzt.

„Gedächtnisverlust ... manchmal auch den Tod!“, grinste der Fuchsmann hämisch; seine grünen Augen blitzten dabei.

„Vielleicht sollten wir Euch erst einmal zu unserem Lager bringen, wo Ihr Euch aufwärmen könnt. Dort haben wir auch etwas zum Essen für Euch. Kommt, es ist nicht weit!“, erklärte der elfische Jäger und ging voran.

„Ist es Euch recht, wenn ich Euch Bartón nenne? Irgendeinen Namen braucht Ihr doch ...“, sagte der Elf Ferril von Farnhejm. Dabei kam ein zischender Laut von hinten. Der Vixant schien mit der Idee nicht sehr einverstanden zu sein.

„Ja, das ist in Ordnung ... Warum gerade diesen Namen? Verbindet Ihr etwas damit?“ Der von jetzt an Bartón genannte Verirrte freute sich, endlich wieder mit jemanden sprechen zu können.

„Es ist der Name eines guten Freundes, der bei dem Anschlag eines gemeinen Mörders ums Leben kam!“, erklärte Ferril, in dessen Stimme eine gewisse Trauer mitschwang.

„Er war unser Gefährte! Also macht dem Namen Ehre!“, grunzte der Vixant von hinten.

„Darcían, bitte, gib ihm eine Chance ...“, mahnte der Elf an der Spitze des kleinen Zuges.

„Kumat vilia ma patron! Kiske lo tinka abruna!“, sagte der Vixant, der noch immer hinter dem frierenden Bartón ging. Ich verstehe, dass er dir unheimlich ist. Er hat wohl nur Glück gehabt, dass er hier ohne Waffe überleben konnte!, sandte Ferril telepathisch zu seinem Kameraden.

„Juvan wa´shamja kurida“, sagte der Vixant Darcían jetzt. Bartón war verwirrt; er hatte diese Sprache noch nie zuvor gehört, das glaubte er zumindest. Es musste eine Art Geheimsprache der Jäger sein. Oder vielleicht doch einfach nur ein schwer verständlicher Akzent? Oder sogar ein ihm bekannter Dialekt? Bartón schlug sich sanft mit der Hand vor die Stirn. Er hatte wirklich alles vergessen!



Die Nacht mit seinen neuen Gefährten war für Bartón die erste seit langem, die nicht von Alpträumen und Schlaflosigkeit bestimmt war. Kaum hatte er die getrockneten Fleischstreifen verschlungen, die ihm gereicht wurden, da zog ihm die Müdigkeit seine Augenlider herunter. Jetzt war es schon weit nach Sonnenaufgang und die zwei Jäger brachen ihre Zelte ab. Ein heruntergefallener Topfdeckel weckte Bartón aus seiner Ruhe. Erschreckt riss er die Augen auf und schaute nach der Ursache des Lärms.

Darcían hob gerade den Deckel auf und schaute zu dem neuen Gefährten herüber: „Wie ich sehe, seid Ihr auch wieder unter den Lebenden. Ihr könnt ziemlich gefährlich schnarchen, mein Herr!“

„Das tut mir leid. Habe ich Euch beide wachgehalten?“ Es war dem gerade Erwachten äußerst peinlich, dass er sich gleich so unfein in die Gruppe eingebracht hatte.

„Ist schon gut, Bartón. Wir sind kurze Nächte gewöhnt. In einer halben Stunde wollen wir aufbrechen. Wollt Ihr noch einen Bittertee? Es liegt ein weiter Weg vor uns. Besonders für Euch. In Eurem schwächlichen Zustand ...“, sagte Ferril freundlich.
 
Dankend nahm Bartón das Angebot an. Er hasste dieses Getränk, aber er kannte seine belebende Wirkung. Diesmal war der Bittertee noch schlimmer als sonst. Wahrscheinlich waren die zwei Jäger gewohnt, dieses Aufputschmittel zu sich zu nehmen. Sie tranken es ohne die Miene zu verziehen und schenkten sich auch gleich die nächste Tasse ein. Beide grinsten einander an, als sie das verzogene Gesicht von Bartón sahen.

Darcían zog schließlich eine Karte hervor, die er studierte und Ferril etwas zeigte. Nickend blickte der Elf den Vixanten an.

„Wo soll uns der Weg hinführen? In eine Stadt?“, fragte Bartón neugierig.

Endlich wieder unter Leute kommen, ein Bad und vielleicht eine Rasur!, dachte der Mann, dessen Äußeres darauf schließen ließ, dass er all seinen Wünschen schon seit längerer Zeit nicht mehr nachgekommen war.

„Es sind einige Stunden Fußmarsch. Unser Ziel ist ein kleines Dorf an der Küste. Sein Name ist Brima Verch und es ist unser Wohnort“, sagte der Elf Ferril.

„Lasst Euch nicht davon täuschen! Diese Stunden werden ziemlich hart, denn wir gehen über Stock und Stein und unser Tempo ist nicht gerade langsam!“, stichelte Darcían. Der Vixant hatte offensichtlich ein Problem damit, dass Bartón sie jetzt begleitete. Wahrscheinlich hätte der Fuchskrieger am liebsten seine Armbrust auf ihn angelegt und einfach abgedrückt. Sobald sie in Brima Verch angelangt waren, würde sich Bartón bemühen, sich von den Jägern zu trennen.

Als sie schließlich aufbrachen, ging Darcían diesmal neben Ferril. Sie unterhielten sich wieder in der fremdartigen Sprache, aber diesmal konnte Bartón einige Wortfetzen verstehen.
 
Kehrte seine Erinnerung zurück? Oder war es nur Zufall, der ihn verstehen ließ?

Je länger er lauschte, desto besser verstand er die Worte, bis er schließlich alles verstehen konnte. Seine Begleiter sprachen über ihn, und es war unmissverständlich, dass sich Darcían tatsächlich unwohl fühlte. Er sprach von einem Mörder, der sich in die Wälder geflüchtet hatte und traute Bartón zu, dieser zu sein. Immer wieder bestätigte sein Blick aus den Augenwinkeln sein Misstrauen.

„Ich bin kein Mörder! Viel weiß ich zwar nicht über meine Vergangenheit, aber ich könnte keiner Fliege etwas zuleide tun!“, bestand Bartón darauf.

„Es ist nicht gerade fein, die Gespräche Anderer zu belauschen!“, knurrte der Fuchskrieger zurück.

„Auch nicht besonders nett, sich in einer fremden Sprache in Anwesenheit von Außenstehenden zu unterhalten!“, fuhr Bartón ihn ebenfalls an.

„Mir scheint, dass Euch diese Sprache keineswegs so unbekannt ist, wie Ihr es glaubt!“, erwiderte Darcían leise.

„Entschuldigt ... Aber ich weiß doch wirklich nichts über meine Vergangenheit!“, erklärte Bartón.

„Ihr dürft den Fuchs hier nicht falsch verstehen. Er hat ein natürliches Misstrauen gegen Fremde. Ich will nicht leugnen, dass uns dies wohl schon das eine oder andere Mal gerettet hat“, erklärte der Elf.

„Aber bei mir ist es vollkommen unangebracht!“, sagte der Neue in der Gruppe.

„Ferril, ist dir eigentlich mal aufgefallen, dass sich sein Gesichtsausdruck seit heute Nacht verändert hat? Auch der Tonfall in seiner Stimme! Ich glaube, dass er uns nicht die ganze Wahrheit gesagt hat. Vielleicht ist er doch der Mörder.“ Darcían sprach seine Gedanken sehr deutlich aus. Wenn Bartón sie verstehen wollte, dann sollte er es auch - und zwar schonungslos.

„Ihr seid wahrlich ungerecht!“, klagte Bartón die immer härter werdende Kritik an, die seine Anwesenheit betraf.

„Das sagt jeder Schuldige zu seinem Richter! Ich werde von jetzt an hinten gehen, um Euch im Auge zu behalten, Bartón!“ Darcían betonte den Namen schon recht abwertend. Er blieb stehen und schaute zuerst zu dem vorangehenden Elfen und dann zu dem Aufgegriffenen, der sich jetzt auf seiner Höhe befand. Dann fügte er leise hinzu: „Vergesst nicht, dass ich hinter Euch gehe, und meine Armbrust hat noch nie ihr Ziel verfehlt!“

„Was erdreistet Ihr Euch, mir zu drohen? Vielleicht sollte ich Euch zu einem Faustkampf herausfordern?“ Auf einmal hatte sich ein enormer Mut Bartóns bemächtigt, doch ehe er wirklich bedrohlich wirken konnte, musste er sich übergeben. Auf die Knie sinkend, wendete er sich von Darcían ab, der frech schmunzelte.

Vielleicht war es der Bittertee, der ihn dazu brachte, sich seiner Gifte zu entledigen, die er mit der letzten Banshuckbeerenmahlzeit aufgenommen hatte.

Die Früchte hatten die Angewohnheit, eine unangenehm lange Zeit im Magen zu bleiben. Zwar sättigten sie auf diese Art, aber das Gift in den Beeren wurde nur langsam im Körper abgebaut.

In der letzten Zeit war Bartón schon öfter übel gewesen; es schien ihm fast wie ein Segen, sich jetzt endlich übergeben zu können.

„Bartón, bei Fehdahn! Ich habe noch nie jemanden so heftig speien sehen wie Euch ... Es scheint, als wäre Euer Magen voller Banshuckbeeren gewesen. Kein Wunder, dass Ihr Euch an nichts mehr erinnert.“ Ferril stand über den neuen Kameraden gebeugt und tupfte ihm die Stirn mit einem nassen Tuch ab.

„Was ist geschehen? Mir war auf einmal mächtig übel ...“ Bartón versuchte sich aufzusetzen, aber die Hand des Elfen drückte ihn wieder zurück auf den Boden.

„Ihr seid regelrecht vor Darcían zusammengebrochen und ward sogar einige Zeit lang ohne Bewusstsein. Dafür scheint sich der Grund für Eure Vergiftung aus Euch zurückgezogen zu haben. Ihr habt einige der Beeren noch nicht einmal gekaut!“, sagte Ferril und deutete auf einen feuchten Haufen vor seinen Füßen, den Bartón gerade noch aus seiner Lage erkennen konnte.

Der Fuchsjäger Darcían stand ein paar Schritte von ihnen entfernt und schaute teilnahmslos in den Wald, der sie umgab. Besonders stolz war er nicht auf das, was er getan hatte. Als Bartón ihn zum Faustkampf herausgefordert hatte, wirkte der Vixant einen Zauber, der üble Magenkrämpfe und ein sofortiges Übergeben mit sich brachte. Er hatte noch ein „Leg dich nicht mit mir an!“ geknurrt, aber das hatte sein würgender Kontrahent schon nicht mehr mitbekommen. Wahrscheinlich hatte ihm der Zauber noch üblere Folgen erspart, denn die Banshuckbeeren wirkten bei dauerhafter Überdosierung tödlich, und die Anzahl der Beeren, die Bartón ausgespuckt hatte, war bedenklich hoch.

Darcían lenkte sich mit Gedanken an seine Familie ab, die er schon bald wiedersehen würde. Es waren nur noch wenige Meilen, die sie voneinander trennten. Diese Gedanken lenkten ihn von der Sorge ab, dass sie vielleicht einen Mörder mit in ihr Dorf brachten. Er schalt sich selbst für seine Gedanken, weil er eigentlich sehr hilfsbereit war. Aber der Fremde war ihm unheimlich. Viel lieber hätte er den richtigen Freund Bartón bei sich gehabt. Aber dieser war tot! Er starb durch die Hand des Mörders, der hier in den Wäldern verschwunden war.

„Warum tue ich mir das eigentlich an? Seine Verfolger werden die Skagen gewesen sein! Diese Kopfgeldjäger haben sich doch schon oft in diese Gegend vorgewagt!“, knurrte Darcían leise vor sich hin. Immer wieder flohen Männer und Frauen vor den kleinwüchsigen Sklavenfängern in die Wälder, wo sie sich verirrten und meist vor Erschöpfung tot zusammenbrachen oder einfach verhungerten.

Bartón hat einfach nur Glück gehabt, gestand sich der Vixant mit einem Blick zu seinen Kameraden ein. Zumindest war es das, was er glauben wollte. Aber sollte es denn diese ausgehungerte und schwächliche Gestalt tatsächlich geschafft haben, den großen, starken Bartón zu töten? Dieser Gedanke war doch lächerlich!

Darcían beschloss, von jetzt an freundlicher zu seinem neuen Gefährten zu sein und ging näher zu ihnen.

„Wir haben vielleicht noch acht Meilen vor uns. Wird es gehen?“ Die Stimme des Vixanten war aufrichtig besorgt.

In Bartóns Gesicht war wieder Farbe zurückgekehrt und er fühlte sich schon besser. Auch die zur Freundlichkeit gewandelte Art des Fuchsjägers brachte ihren Teil zur Besserung seines Befindens ein.

„Ja, ich werde es schon schaffen. Mir geht es besser. Ehrlich gesagt, scheint es mir, als sei etwas von meiner Erinnerung zurückgekehrt. Ich erinnere mich an einen Mann. Er verfolgte mich. Ich lief so schnell ich konnte aus einer Stadt in den Wald ...“, sagte Bartón, der auf einmal ziemlich in Gedanken zu sein schien.

„Wisst Ihr den Namen der Stadt? Ist sie hier in Paerleyen? Oder ward Ihr gar in Skaramant?“, stürmte Ferril jetzt mit Fragen auf ihn ein.

„Mich interessiert eher, warum jemand ihn verfolgt hat!“ Darcían hatte es nicht gerade leicht, seinem freundlichen Auftreten Bartón gegenüber standzuhalten.

„Ich weiß es nicht ... Aber vielleicht kommt auch diese Erinnerung wieder! Nur, ob ich mich darauf freuen soll, weiß ich nicht, denn ich fürchte, dass es eine sehr böse Geschichte war“, antwortete der neue Kamerad geheimnisvoll. Der Vixant und der Elf sahen einander besorgt an.

„Wir sollten aus dem Wald raus sein, bevor die Sonne sich hinter den Bergen verzieht!“, erklärte der Fuchskrieger. Er wusste, dass sich in der Gegend, in der sie jetzt waren, die Sonne schon sehr früh am Tag hinter den westlichen Bergen verschwand.

Die drei Kameraden hatten seit ihrem Aufbruch schon ein ganzes Stück geschafft und befanden sich jetzt in einem gefährlichen Terrain.

„Zumindest sollten wir die Nymphenseen hinter uns lassen, und zwar so schnell es geht“, pflichtete Ferril seinem Freund bei.

„Was ist hier denn so gefährlich? Nymphen sind doch gutartige Wesen?!“, wunderte sich Bartón.

„Außer, wenn sie einen verführen. Dann lieben sie ihn zu Tode!“, grinste Darcían.

„Ich möchte die Seen nicht der Nymphen wegen verlassen. Wenn keine Sonnenstrahlen mehr diesen Boden berühren, kommen die Schatten. Es sind Wesen, die verhindern, dass die Nymphen nachts aus ihren Wassern steigen, um sich in den Dörfern und Städten Opfer zu suchen. Diese Wächter springen von einem Schatten zum Nächsten und fallen über einen Eindringling her, ehe man sich bewusst wird, was geschieht“, sagte Ferril ehrfürchtig.

„Ja, man sagt sogar, dass derjenige, der nur einen der Schatten sieht, schon so gut wie tot ist. Denn sie kommen niemals alleine ...“, fügte Darcían hinzu. Seine Stimme klang schon wieder bedrohlich dabei.

„Ich will Euch nicht ängstigen, Bartón! Ich halte Euch nur zur Vorsicht an“, sagte der Vixant, als er sah, dass der Mensch zitterte. Wie viel Angst musste er haben?

Die vielen Nächte allein in diesem Wald hätten auch dem Fuchsjäger zugesetzt. Er merkte in diesem Augenblick, wie sehr er den wirklichen Bartón vermisste. Selbst der Elf Ferril konnte ihn nicht ersetzen. Jetzt war seit dem Mord an seinem Freund schon ein halbes Jahr vergangen, aber noch immer trauerte Darcían ihm nach. Und er ließ seine Trauer auch an Bartón aus.
 
„Ihr Vixanten habt eure eigene Art, so wie wir Menschen auch. Ich bin nur froh, dass ich nicht mehr alleine bin!“, sagte Bartón. Auch er wollte keinen Ärger. Wenn die beiden Jäger ihm den Weg aus der Vergessenheit oder zumindest aus dem Wald heraus weisen würden, wäre das schon mehr, als er sich in den letzten Wochen erträumt hatte.

Das war es tatsächlich, denn die Beeren hatten ihn selbst sein Heimweh vergessen lassen. Aber das war jetzt umso heftiger zurückgekehrt. Auch wenn Bartón noch immer seinen wirklichen Namen nicht wusste und ebenso wenig, woher er stammte, war er sich doch sicher, dass ihm beides schon bald wieder einfiele. Der Gedanke an die Rückkehr in seine Heimat trieb ihn an, weiterzugehen.

In seinen Gedanken bildete sich der Duft von blühenden Balbé-Eschen und der Geruch der nächtlichen Lagerfeuer in den Straßen. Für einen Moment war es ihm, als stünde er auf dem belebten Marktplatz, wahrscheinlich dem seines Heimatdorfes. Verschwommene Gesichter schwebten um ihn herum, blieben dabei aber gänzlich unerkannt.

Bartón hatte gar nicht mitbekommen, dass er schon mit den Jägern seinen Weg fortgesetzt hatte. Alle schwiegen und gingen einfach nur ihren Weg. Die Sonne war schon dabei, hinter den Bergen zu verschwinden, das konnten die Gefährten durch die lichten Baumwipfel erkennen. Sie waren den steinernen Riesen sehr nah, so dass ihre Schatten bald den Weg der drei Wanderer bedecken würden.

„Wie weit ist es noch, bis wir das Gebiet der Nymphenseen verlassen?“, fragte Bartón auf einmal. „Wir können es schaffen, bevor der Schatten kommt. Aber es wird knapp ...“, sagte Ferril, der sie jetzt zur Eile antrieb. Wenn er mit Darcían allein auf ihren Jagdzügen diesen Weg ging, schafften sie es viel früher aus dem Reich der Nymphen und Schattenwesen. So liefen sie nie Gefahr, von den Kreaturen erwischt zu werden, aber durch die kurze Nacht und dem späten Aufbruch gerieten sie doch langsam in Zeitnot. Der Regen der letzten Tage hatte die Flüsse anschwellen lassen, und diese zwangen die Kameraden dazu, einen Umweg zu machen. Auch die ungeplante Pause war viel länger gewesen, als sie es sich hätten leisten dürfen.

„Habt ihr etwas zu trinken? Wasser vielleicht?“, bat Bartón, dessen Kehle wie ausgetrocknet erschien. Ferril warf ihm eine Wasserblase zu, die noch einen guten Schluck enthielt. Es war für Bartón, als kläre die Flüssigkeit seine Sinne. Auf einmal blieb er abrupt stehen und starrte ins Leere vor sich: „Ich heiße Barríer ... Ich komme aus Skaramant, aber die letzten Jahre habe ich an Bord eines Flussschiffes verbracht. Ich war in Brima Verch ... Von dort hat man mich weggejagt!“

„Man hat Euch aus Brima Verch gejagt? Aus unserem Dorf? Wann mag das denn wohl gewesen sein?“ Auf einmal war Darcían misstrauischer als je zuvor. Dass jemand aus dem Dorf gejagt wurde, kam nur sehr selten vor. Normalerweise sprach sich so etwas schnell herum. Von einem Verjagten, auf den Bartóns, oder besser gesagt, Barríers Beschreibung passte, hatten weder der Elf noch der Vixant etwas gehört.

„Was wisst Ihr noch? Sprecht!“ Darcían klang bedrohlich, als er eine Antwort forderte.

„Ich ... Ich weiß nicht mehr! Gebt mir Zeit! Ein Mann mit einer Narbe im Gesicht ... Fünf Krieger mit Speeren! Rot! So viel rot!“ Barríer war auf einmal panisch und nicht mehr Herr seiner Sinne. Er brabbelte irgendeinen Kauderwelsch, der aus Wortfetzen bestand.

„Er war es! Er hat Bartón ermordet!“, zischte Darcían dem Elfen zu.

„Was? Spinnst du? Das hängt doch alles nicht zusammen! Als der Mörder damals geflüchtet ist, wurde nach einem kurzhaarigen Mann ohne Bart gesucht. Sieh ihn dir an, diese langen Haare können ihm nicht in dem halben Jahr gewachsen sein!“ Kopfschüttelnd musterte Ferril ihren Begleiter.

„Die Banshuckbeeren! Sie lassen Haare schneller wachsen! Überleg doch mal: Die Stadtwache hat damals fünf Krieger hinter ihm hergeschickt! Fünf! Und keiner kam je wieder! Der Mann mit der Narbe im Gesicht! Bartón hatte solch eine! Was brauchst du noch mehr an Beweisen?“, fragte Darcían verzweifelt. „Der verschweigt doch etwas!"
 
"Ich will ein Geständnis von ihm! Pass eine halbe Stunde auf ihn auf! Ich werde in der Zeit die Kräuter sammeln, die ich für einen Wahrheitstrank benötige. Wenn er uns etwas verschweigt, dann werden wir es genau wissen!“, schlug Ferril leise vor.

„Meinst du, wir schaffen es dann noch aus dem Wald heraus? Mit dem Mörder dort? Der wird sich wehren!“, befürchtete der Vixant.

„Wenn er der Mörder ist, binden wir ihn an einen der Bäume und lassen die Schattenwesen den Rest erledigen. Pass auf ihn auf! Eine halbe Stunde, mehr brauche ich nicht. Alle Kräuter und Wurzeln finde ich hier!“, bekräftigte Ferril. Es war das erste Mal, dass er sich eingestand, dass ihr Gefährte vielleicht doch ein Mörder war.

Sollte das Schicksal sie zu dem feigen Attentäter geführt haben?

„Lass mir dein Schwert hier; ich gebe dir meine Armbrust!“, sagte der Vixant, der sich einbildete, mit der Klinge besser umgehen zu können.

„Behalte beides. Noch sind die Schattenwesen nicht gefährlich, und selbst wenn, dann würden mir die Waffen auch nicht mehr helfen. Wenn ich in einer halben Stunde nicht zurück bin, gehst du los! Was dann mit Bartón - entschuldige - mit Barríer geschieht, werde ich nicht mehr verhindern können!“ Damit zog der Elf sein Schwert aus dem Gürtel, gab es Darcían und drehte sich um.

„Pass auf dich auf, mein Freund, ich will dich nicht auch noch zu Grabe tragen“, sagte der Vixant und warf einen besorgten Blick zuerst auf Ferril und dann auf Barríer, der noch immer sehr teilnahmslos vor sich hinbrabbelte. Zum Abschluss schaute Darcían noch einmal auf den Elfen: „Ich kann auf mich aufpassen, bis gleich!“

Mit wenigen Schritten war Ferril im Dickicht verschwunden. Noch ein paar Momente lang lauschte der Vixant den Geräuschen um sich herum.

„Schatten ... Kälte in meinen Gliedern!“, brabbelte Barríer immer wieder.

„Halt die Klappe!“, fauchte Darcían über seine Schulter, ohne sich umzudrehen.

„Schatten ... Kälte in - deinen Gliedern!“, drang es von Barríer zu dem Vixanten. Diesmal klang es sehr nah. Seine Hand umfasste den Schwertgriff fester.



Ferril hatte länger gebraucht, als er für das Zutaten sammeln eingerechnet hatte. Gerade wollte er zurückkehren, als er ein Geräusch hörte, das ihn erschreckt zusammenfahren ließ. Der Elf schaute sich um. Jetzt erst merkte er, wie sehr er sich in der Zeit verschätzt hatte. Es war schon recht dunkel geworden und die Sonne war hinter den Bergen verschwunden.

„Ach du Schande! Schnell zurück! Hoffentlich ist er noch da!“, murmelte er und beeilte sich, zu Darcían zurückzugelangen, der bestimmt nicht mehr lange warten würde, bevor er den Weg nach Hause einschlug.

Wieder ließ ihn ein Geräusch zusammenfahren. Ein Ast hatte geknackt. Woher kam der Laut?

Ferril drehte sich um. Vor ihm im Halbdunkel der Baumschatten stand Barríer, der etwas in der Hand hielt, das er jetzt hochriss. Der nächste Ton riss den Elfen von den Beinen. Wie eine gewaltige Faust hatte sich ein Armbrustbolzen in seinen Unterleib gebohrt.

„Es tut mir leid, Ferril. Ich wollte Euch nicht verletzen ... Wo habe ich Euch erwischt?“, fragte Barríer mit einem manischen Tonfall. Er hatte sich erschreckt und aus Versehen den Abzug betätigt. Dabei wollte er den Elfen doch auf keinen Fall verletzen. Schließlich sollte er ihn aus dem Wald hinausführen.

„Hol - Darcían! Einen Heiler!“, stöhnte Ferril mit knapper Luft.

„Das geht leider nicht ... Er ist tot! Und so wie es aussieht, werdet Ihr ihm bald folgen. Bevor es soweit ist, werdet Ihr mir aber noch den Weg aus dem Wald deuten! In welcher Richtung liegt Brima Verch?“, fragte Barríer eindringlich.

„Warum?“, murmelte der Elf mit schmerzverzerrtem Gesicht.

Mit einem wahnsinnigen Blick erklärte der Mörder Ferril: „Ich erinnere mich wieder an alles! Ich habe tatsächlich euren Freund Bartón getötet ... Und mir ist auch wieder eingefallen, warum ich es tat: Ich mochte ihn nicht! Aber Euch, Ferril, Euch mag ich! Ich wollte Euch nichts antun ... In welche Richtung muss ich gehen?“

Barríer zog sein Schwert, das dem langsam verblutenden Elfen ein schnelles Ende versprach. Mit einem kühlen Blick auf die Klinge sprach der Mörder in unheimlich ruhigem Ton: „Du musst nicht länger leiden, wenn du es mir sagst!“

„Dort entlang ...“, hauchte Ferril mit schmerzverzerrtem Gesicht.

„Ich danke Euch. Es tut mir leid um Euch ... Ihr seid ein guter Mann ... glaube ich!“ Mit diesen letzten Worten stieß er das Schwert in Ferrils Brust. Ein kurzes Zucken durchfuhr den Elfen, dann erschlaffte der Körper und sein Gesicht nahm entspannte Züge an.

Langsam drehte Barríer sich um und ging tiefer in die Richtung, die ihm der Elf gedeutet hatte. Irgendwie kam ihm diese Gegend bekannt vor. Erst heute Mittag war er hier gewesen. Wie hatte der Elf diesen Ort noch genannt?

Nymphensee?

Die Dunkelheit um ihn herum nahm Barríer mehr und mehr die Sicht. In diesem Teil des Waldes war es nicht so ruhig wie dort, wo er die letzten Wochen verbracht hatte. Um ihn herum waren Geräusche ... Und da! Da war etwas im Schatten! Noch während er sich langsam zurücktastend in die Richtung begab, aus der er gekommen war, spürte er, wie etwas nach seinen Beinen griff.

Dann überkamen ihn gewaltige Schmerzen.

Barríer verlor die Kontrolle über seine Glieder und fiel der Länge nach hin. Den Aufprall aber bemerkte er schon nicht mehr. Die Schatten hatten ihn sich geholt ...
Ende

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