# 75: Der Vorleser
# 75: Der Vorleser
Voller Begeisterung sammelte ich zunächst nur die
Romane Dan Shockers. Traditionell nervte ich Bekannte und Verwandte, mir Romane
zu beschaffen. Verwandte und Bekannte hören aber nicht immer zu. So fielen mir
nicht nur Larry Brent und Macabros in die gierigen Hände, sondern auch
Vampir-Horror-Romane, Gespenster-Krimi, Geister-Krimi und anderes Zeug. Mir war
es letztlich recht. Ich nahm alles was ich kriegen konnte. Immerhin schaffte
ich ein Heft in etwas über einer Stunde. Ich trainierte mich dann so gut, dass
ich letztlich die Zeit noch ein wenig drücken konnte.
Ein Roman eine Stunde.
So musste Lesestoff in großer Menge her. In jeder
Qualität. Jeder neue Shocker war ein Fest!
In der Schule, der seligen alten Grundschule in
Dornbusch, gab es am Sonnabend ein Ritual. In den letzten beiden Schulstunden
der Woche (oh ja, damals ging der Schüler noch am Samstag mehr oder weniger
willig in den Unterricht), durfte ein Schüler bzw. eine Schülerin etwas aus
einem Buch vorlesen. Das war dann zumeist ein Lieblingsbuch.
In der Rückschau weiß ich, dass zumeist die
Leseschwächeren ein wenig öfter drankamen. Ich war ein guter Leser und musste einige
Zeit auf meine Chance warten, meine Lieblingslektüre meinen Mitschülern und Mitschülerinnen
zu Gehör zu bringen.
Was quälten mich in der Zwischenzeit die anderen
mit Ereignissen aus Mädcheninternaten, Ponyhöfen, Tierschicksalen und was der
Kinderbuchmarkt noch an aus meiner (damaligen) Sicht völlig langweiligen Druckerzeugnissen
hergab.
Im dritten Schuljahr kam ich überhaupt nicht dran.
Mein Fehler! Warum habe ich auch so viel und so schnell und so flüssig gelesen.
In der vierten Klasse wurde ich quengelig, aber es
half nichts. Das erste Schulhalbjahr ging vorbei und ich musste immer nur
zuhören. Baah.
Im Frühjahr 1974 nervte ich heftigst rum. Und
endlich wurde mir signalisiert, dass ich am nächsten Tag lesen dürfe.
Riesig!
Klar war: Es musste ein Shocker sein. Ich war
seiner Zeit der festen Überzeugung, dass ihm niemand (aber auch wirklich
niemand) ihm auch nur annähernd das Wasser reichen konnte. Das hat sich zwar im
Laufe der letzten drei Jahrzehnte relativiert. Aber: Er gehört immer noch zu meinen
Favoriten.
Ich ging an mein Regal und blätterte sorgsam in
meiner Sammlung.
Satanas? Nee, das würden sie nicht verstehen,
diese Laien, die mein Publikum sein würden. Satanas war nichts für Anfänger.
Der Größenwahn packte mich. Die Klassenkameraden hatten ja noch nicht mal
Christopher Lee gesehen.
Macabros? Nee, der Doppelkörper verwirrte das
Volk nur.
Draculas Liebesbiss? Nee besser nicht. Wer Lee
nicht kannte, hatte den nicht verdient.
Nach einigem Herumgesuche und Zweifeln, stieß ich
auf einen Roman, der es werden würde. Satans Mörderuhr. Der war perfekt. Der
Roman hatte diese geniale Eröffnungssequenz...
Am nächsten Morgen, konnte ich nicht erwarten, dass
die ersten beiden Stunden und die große Pause vorbei gingen.
Die Zeit schien überhaupt nicht zu vergehen. Sie
tröpfelte dahin. Sekunden schienen Minuten zu sein, Minuten, Stunden und
Stunden Tage.
War das grausam!
Dann endlich waren die ersten beiden Stunden rum,
auch die Pause ging vorbei.
Dann sammelten sich die Schüler, nebst Lehrer, in
der Klasse. Ich griff in meine Tasche und zog, begleitet vom Stirnrunzeln des
Lehrers, den Heftroman hervor.
Ich begann zu lesen, brachte die unsterblichen
Worte Dan Shockers zu Gehör. Der Meister schilderte unnachahmlich, wie ein Mann
eine Standuhr untersuchte. Als er seinen Kopf in das Gehäuse steckte, löste er
eine Guillotine aus und sein kopfloser Leib zuckte...
Das war der Moment, wo ich unterbrochen wurde.
Ich durfte nie wieder lesen und Mädchen berichteten
von Alpträumen.
Wat für Weicheier!
Der Lehrer führte ein Gespräch mit meiner Mutter,
die ihm aber bedeutete, ich dürfe das und sie würde mir das Lesen von
Horrorromanen nicht verbieten.
Ich bin meiner Mutter dafür (und vieles andere)
immer noch dankbar.