Heilige Nacht
You got to cry without weeping
Talk without speaking
Scream without rasing your voice, you know
I took the poison from the poison stream
Then I floated out of here
U2 (Running to stand still)
Michel
Wuethrich
Heilige Nacht
Es war ein hoher, schriller
Schrei, der mich aus dem Schlaf katapultierte. Ich fuhr im Bett hoch und musste
sofort an Christine denken. Noch bevor ich wirklich all meine Sinne beisammen
hatte und aufstehen konnte, schlug mir eine Faust ans Kinn, dass ich zurück in
das Kissen fiel.
Er ist wach!, schrie eine Stimme über mir, die unweigerlich zu dem
Mann gehören musste, der mit seinem gesammten Gewicht auf mir lag und mich zu
würgen versuchte. Jedenfalls grapschten seine Hände immer wieder nach meinem
Hals. Zum Glück konnte ich sie einigermassen abwehren, da ich meine
hochgerissen hatte. Während wir uns gegenseitig zu fassen versuchten, hörte
ich, wie rennende Schritte die Treppe hochkamen.
Er wehrt sich wie wild!
Natürlich, du Idiot, dachte ich grimmig. Und besten
Dank für die Standortbestimmung. Jetzt wusste ich wo zuschlagen! Ich schlug ihm
einen rechten Hacken unters Kinn. Da wo es richtig weh tat. Er versuchte nach
Luft zu schnappen, aber da war kein Platz, wo Luft durchkommen konnte.
Jedenfalls verschaffte mir sein Zögern die nötigen Sekunden, um ihm vollends
einen gewaltigen rechten Hacken ins Gesicht zu werfen, dass er von mir weg nach
hinten kippte, um dann in einer gleitenden Bewegung vom Bett zu fallen. Das
nahm ich aber nur noch aus dem Augenwinkel heraus wahr, da ich aufgesprungen war.
Wie angewurzelt blieb ich stehen, als ich die Tür vor mir sah. Blickte mich
verdutzt um. Obwohl nur vom Gang her Licht hereinfiel, sah ich es
augenblicklich: Das war nicht mein Schlafzimmer! Und als ich an mir runtersah
fiel mir auf, dass ich vollkommen angezogen war. Jeans, Turnschuhe und ein
schwarzes T-Shirt unter einer dunklen Lederjacke, mit der Aufschrift Public
Enemy. Mir war aber nicht nach Grinsen zumute.
Was zum Teufel ist passiert?
Zu mehr wurde mir keine Zeit gegeben. Vorne im Gang
sah ich einen Typen um die Ecke biegen. Da musste wohl die Treppe sein, die er
genommen hatte. Als er mich sah, zeigte sich nur für einen Sekundenbruchteil
Erstaunen in seinen Gesichtszügen, und schon griff er in sein Jacket. Das
konnte ja nichts gutes bedeuten.
Ohne gross zu überlegen spurtete ich auf ihn zu.
Wie zwei Ritter an einem Turnier. Nur an Stelle von Lanzen hatten wir Kanonen.
Jedenfalls einer von uns. Ich fuhr ihm mit meinem ganzen Gewicht in den Bauch,
noch bevor er seine Kanone ganz aus dem Halfter hatte. Nahm ihm schon dieses
Manöver die Luft zum atmen, dann machte es der Fall nach hinten, mit mir oben
drauf, noch schlimmer. Er schlug hart auf dem Fussboden auf, und mein Gewicht
drückte ihm die Luft vollkommen aus den Lungen. Das Brechen seines Armes, den
er immer noch seitlich im Jacket hatte, nahm ich nur nebenbei wahr.
Es gab einen Knall und ich schrie auf. Mehr vor
Schreck, als vor Angst getroffen worden zu sein. Ich blickte dem Mann direkt in
die Augen, als das Leben aus ihm wich. Es war kein schöner Anblick, wie seine
Augen brachen und ihren Glanz verloren. Sein Körper zuckte noch kurz und blieb
dann reglos und still liegen.
Als ich mich halbwegs von ihm erhob, zog Rauch von
der abgefeuerten Kanone hoch.
Armer Hund ...
Neben mir wurde eine Tür aufgerissen. Erschrocken
blickte ich hoch. Eine Frau schaute mit entsetzten Augen zu mir runter. Sie
besass kornweizenblondes Haar und hohe Wangenknochen, die ihr Aussehen speziell
erscheinen liess, jedoch auf eine schöne und spezielle Art. Hervorstechend
waren in dieser Hinsicht vor allem ihre himmelblauen Augen, die mich fixierten,
wie der sprichwörtliche Hirsch im Scheinwerferlicht eines heranrasenden Autos,
der wusste, dass er sich bewegen musste, es aber nicht fertigbrachte. Es sah so
aus, als sähe sie nur mich, aber nicht wirklich die Umgebung. Als nähme sie die
Ereignisse gar nicht wahr, die um sie herum vorgingen. Sie stand bewegungslos
im Türrahmen, als wäre gerade Gottes Fluch über sie ergangen, wie dazumal bei
Lots Frau, beim Untergan Gomorrahs. Eine Hand hatte sie an der Brust liegen,
während sie sich mit der anderen am Knauf der Tür aufrecht hielt, als würde ihr
Leben davon abhängen.
Mein Baby, schluchzte sie mit Tränen in der
Stimme, und der Bann war aufeinmal gebrochen.
Lady, was für ein Baby?, fragte ich sie.
Mittlerweile hatte ich mich von dem Typen erhoben
und wollte auf die Frau zugehen, aber sie nötigte mich mit einer Geste, ihr
fern zu bleiben.
Mein Baby!, rief sie erneut. Dieses Mal drohte
mir die Stimme fast das Herz zu brechen, so ergreifend war ihr Ton.
Was ist damit?, wollte ich eindringlicher wissen.
Ich versuchte sie mit meiner Stimme zu beruhigen.
Meine Gesten waren langsam und so zu verstehen, dass ich ihr kein Leid zufügen
wollte. Jedenfalls hoffte ich, dass sie das auch so auffasste.
Retten sie mein Baby!
Okey! Wo ist denn ihr Baby?, versuchte ich die
Sache anders anzugehen.
Sie haben sie mir genommen ...
Diesen Part hatte ich mir schon selber
zusammengereimt.
Wo ihr Baby ist?, sagte ich etwas schärfer als
geplant. Es brachte jedoch den nötigen Erfolg. Sie zeigte nach unten, zur
Treppe hin. Meine Augen folgten der Geste.
Genau das, was ich befürchtet hatte.
Hören sie, Lady. Sie können nun gehen ... begann
ich und wandte mich wieder ihr zu, als ich sah, dass sie aus dem Türrahmen
verschwunden war. Ich hatte keinen Laut gehört. Mann, war die Frau gut. Und so
was wie mich nennt sich Hüter!
Langsam ging ich auf die Tür zu und stiess sie auf.
Dabei versuchte ich so harmlos zu wirken, wie mir das möglich war, mit Blut am
Anzug, und einem hässlichen, schwarzen Loch auf Brusthöhe, wo zuvor die Kanone
des Typen losgegangen war, der ausgestreckt und bewegunslos am Boden des Flurs
lag.
Mam, ich komme jetzt zu Ihnen rein. Haben sie
bitte keine Angst.
Ich gab der Tür einen Stoss. Sie quietschte leise
in den Angeln. Ein Geräusch, das zur unwirklichkeit der Situation beitrug.
Ich bin es, Mark. Und ich werde dafür sorgen, dass
Sie ihr Baby ...
Mit einem dumpfen Ton schlug die Tür gegen die
dahinterliegende Wand. Ich hatte einen freien Blick in das Zimmer. Es war leer!
Zwei kleine Fenster liessen das helle Licht eines Mondes herein, der
seinesgleichen suchte. So gross und scharf, dass ich mit blossem Auge die
Krater darauf ausmachen konnte.
Verstört blickte ich hinter die Tür nur um sicher
zu gehen aber da versteckte sich die Frau auch nicht. Sie hatte meine Aussage
aber sehr wörtlich genommen!
Was war hier los? Und wo war ich? Ich erinnerte
mich nur noch an ein heftiges Streitgespräch, das ich mit Hinnerk geführt
hatte. Ein weiteres Mal hatte er mich den Aufgaben eines Hüters
gegenübergestellt. Und wohl auch nicht zum letzten Mal hörte ich, dass ich der
prophezeite Hüter sei! Keine Ahnung, ob ihm jemand seinen Tabak vergiftet
hatte, den er zu rauchen pflegte, oder ob es daran lag, dass eines der tausend
Schweine, die zu seiner Leibesfülle beigetragen hatten, zum Leben erwacht war
und ihn zu piecksen anfing.
Du musst deine Aufgabe leben, Mark. Es ist nicht
einfach ein Job, den du ausübst. Es ist eine Einstellung!
Jajaja ...
Es ist diese
Einstellung, Gottverdammt ...
Den Rest des Satzes konnte er schon nicht mehr
beenden, sosehr hatte sich seine Gesichtsfarbe von einem normalen Hautton zu
dem eines Cholerikers verändert. Jedenfalls kam ein Wort zum anderen und wir
standen uns wenig später schreiend gegenüber, dass selbst der Butler in den
Aufenthaltsraum kam, um festzustellen, was geschehen war. Es hätte nicht viel
gefehlt, und wir wären uns an die Kehle gegangen. Um dem auszuweichen, machte
ich einen Abgang. Ich war nun schon so lange Hüter des Schatzes, dass ich mir
diese Kinderei nicht bieten lassen musste.
Es ist diese Einstellung, Mark, die die Sache so
erschwert. Du arbeitest für die Sache Gottes, Anstelle von dem, dass du dich
ihr total hingibst, schrie er mir noch durch das Haus nach.
Hatte mich die Sache bislang innerlich
einigermassen ruhig gelassen, war es der letzte Satz, den er noch anhing, der
mich am meisten erschütterte: Du bist der Hüter, aber ein Verdammt
ungläubiger!
So fest beschäftigte mich das, dass ich die Aussage
noch mit in den Schlaf nahm. Ich hatte mich entschlossen schlafen zu gehen,
anstelle das Glückshaus zu verlassen, mich in den BMW zu setzen und einfach nur
so rumzufahren, darauf hoffend, dass etwas passieren würde, an dem ich meine
Laune aufbessern und mich abreagieren konnte. Ich war stinkesauer, als ich
meine Toilette beendete, das Fenster öffnete und mich zu Bett begab.
Und entgegen meiner Erwartung musste ich gleich
eingenickt sein. Nur wusste ich damit immer noch nicht, wie ich hierher
gekommen war? Wenn ich mich nämlich pieckste, spürte ich das. Auch wenn es eine
idiotische Art war sich davon zu überzeugen, ob man noch im Land der Träume
weilte. Ich war hellwach!
Es
gab nur einen Weg herauszufinden, wo ich war! Das war der Weg nach vorne. Keine
Ahnung, was mich im unteren Stockwerk erwartete, aber wenn ich hier blieb,
würde ich dies auch nie herausfinden. So schnappte ich mir die Knarre des Toten
und stieg langsam die Stufen hinunter. Eine um die andere. Es gab keine
knarrenden Geräusche, und da war ich doch recht dankbar. Unten angekommen,
erwartete mich eine helle Küche. Die Vorhänge waren gezogen und auf dem
Tischbank, der in die Ecke gedrängt war, lagen diverse Teller und Tassen, die
mir doch eine ungefähre Zahl zeigten, mit denen ich es hier zu tun hatte:
Sechs! Na bravo. Das liess noch vier Leute offen, wenn ich mal davon ausging,
dass die Frau und das Baby nicht am Tisch zugegen waren, als es Essen gab.
Hatte denn niemand die Schüsse gehört? Oder lagen
alle auf der Lauer und warteten ab, was ich tun würde?
Ich ging vorsichtig links an der Küche vorbei ins
Wohnzimmer. Die Pistole hielt ich immer schussbereit vor mir. So war es egal
was geschah. Ich war auf jeden Fall bereit. Auch dieser Raum war erleuchtet.
Eine aus der Mode gekommene Lampe verteilte gleichmässig träges Licht aus einer
Ecke heraus. Nach dem grellen Neonlicht der Küche war es angenehm, sich hier
aufzuhalten. Grosse Wandschränke liessen beinahe keinen Blick auf die verholzte
Wand offen, doch das wenige, was ich sehen konnte, reichte mir vollkommen aus.
Sie sah weiss aus und war voller Furchen. Beinahe wie Birkenholz. Nur, welcher
Idiot suchte sich denn ausgerechnet Birkenholz aus, um damit sein Heim zu
dekorieren? Es sah scheusslich und irgendwie krank aus. Wohl auch desshalb,
weil die Muster sich zu bewegen schienen, wenn man sie zu lange betrachtete.
Ich wandte mich ab und drang weiter vor. Plötzlich
sah ich einen Schatten durchs Wohnzimmer huschen. Ich wirbelte herum, und sah
zwei Mann den selben Weg herkommen, den ich hinter mir hatte. Der eine stand im
Eingang zur Küche, darum auch der Schatten, während der andere gerade erst das
Treppenende erreicht hatte.
So viel Dummheit musste bestraft werden! Ich begann
zu schiessen, mich fallen zu lassen und zu schreien, wobei die Reihenfolge
nicht unbedingt stimmen musste
Unsere Knarren gingen alle fast gleichzeitig los,
aber im Gegensatz zu den anderen zwei, erhob ich mich anschliessend wieder.
Jedoch nur, um gleich darauf ein anderes Eisen ins Gesicht gedrückt zu
bekommen. Ich erstarrte. Jederzeit konnte sich eine Kugel in meinen Dickschädel
graben. Ich wagte fast nicht zu atmen.
Fallen lassen. Aber dalli!, gab mir stattdessen
eine eiskalte Stimme einen Befehl. Ich schluckte schwer. Obwohl ich seinem
Wunsch bedienungslos nachkam und die Pistole fallen liess, musste ich ihn
irgendwie verärgert haben, da er mir anschliessend eines über die Rübe zog. Ich
bemerkte nur kurz einen heftigen Schmerz am Hinterkopf und sah dann, wie der
Fussboden auf mich zukam. Den Aufprall nahm ich schon nicht mehr wahr ...
Wach
auf. Geh nicht dahin, wo ich herkomme. Es ist zu dunkel dort. Wach auf!
Die Stimme eines Mädchens führte mich aus der
Dunkelheit heraus, in der ich haltlos trieb und führte mich dem Licht zu.
Vorsichtig öffnete ich die Augen. Einher mit dem Erwachen kam auch der Schmerz
am Hinterkopf zurück. Ich fuhr mit der einen Hand dahin, während mich die
Kleine an der anderen in eine sitzende Position brachte. Ein Gefühl von
Schwindel und Übelkeit überfiel mich kurz, verschwand aber gleich wieder.
Besten Dank für diese kleinen Gaben!
Bist du nun wach?
Ich verkniff mir eine ätzende Antwort, schliesslich
war ich ja hier um sie zu retten, oder so. Nur hatte ich mir die Art und Weise
irgendwie anders vorgestellt. Ich blickte hoch und sah sie mir an. Grosse,
offene Augen betrachteten mich erwartungsvoll unter langen, blonden Haaren, die
schulterlang waren. Wenn ich es nicht anders gewusst hätte, dann wäre meine
Meinung gefasst, es hier mit einem kleinen Engel zu tun zu haben.
Sie musste ungefähr zehn Jahre alt sein. Um also
als Baby durchzugehen, war sie doch ein paar Jährchen zu alt. Wobei ich die
Mutter verstehen konnte, wenn sie diese Behauptung von sich gab. Schliesslich
waren Kinder in den Augen der Eltern immer Babys. Und das würde sich auch in
zunehmendem Alter nicht ändern.
Mit dem Zeigefinger stupste sie mich am Kopf an,
dass ich beinahe wieder das Gleichgewicht verloren hätte, und fragte erneut, ob
ich denn nun wach sei?
Aber klar, murrte ich
Und wie heisst du?, wollte sie wissen.
Mein Name ist Mark. Und du?
Gwendolyn. Aber eigentlich nur, wenn ich Mist
gebaut habe. Sonst nennt mich alles nur Gweny.
Und sie lächelte mich mit einem Grinsen an, das so
intensiv war, dass man damit die dunkelsten Täler für mehrere Monate mit Strom
hätte versorgen können.
Also, Gweny, was tust du hier?, wollte ich nun
von ihr wissen.
Ein unbekümmerter Ausdruck erschien auf ihrem
Gesicht, als mache sie sich keine Gedanken darüber, was die Zukunft ihr bringen
würde. So, wie sie da vor mir sass und mit den Schultern zuckte, sah sie wie
das sprichwörtliche Glückskind aus. Es würde alles Gut werden und sich zu ihrem
Besten einfinden, was das auch immer war.
Bist du gekommen um mich zu retten?
Ich weiss nicht ganz, Gweny. Bin ich das?
Ich blickte sie ganz genau an, als ich ihr diese
Antwort gab. Sie erwiederte den Blick, musterte mich eindringlich, während ihre
Unterlippe hinter den etwas zu gross geratenen Vorderzähnen verschwand. Dann
grinste sie wieder, packte mich an den Armen und riss mich auf die Beine.
Ja, das bist du. Komm, gehen wir nach Hause.
Mir stockte der Atem, als ich an ihrem Haar vorbei
sah, was sich auf ihrem Hals befand: Zahnabdrücke mit verkrustetem Blut! Ein
Vampirbiss?
Nicht so schnell, Gweny. Nicht so schnell!
Ich kniete mich neben sie und schob das blonde Haar
beiseite, das zuvor diese Wunde verborgen hatte. Sie liess es ohne Widerspurch
über sich ergehen.
Was ist das?, fragte ich, obwohl ich mir die
Tragweite der Antwort bereits bewusst war.
Weiss nicht, meinte sie so lapidarisch, als hätte
ich sie nach dem Wetter gefragt.
Wo hast du das her?
Ich packte sie etwas energischer, so dass sie mich
ansehen musste: Wer hat dir das angetan?
Plötzlich mischte sich Misstrauen in ihre Augen,
als ob sie mir zu früh ihr Vertrauen geschenkt hatte.
Es ist wichtig. Bitte!, drängte ich nach.
Der Mann da, kam es schliesslich zögernd aus
ihrem Mund. Sie hatte das Kinn ganz fest auf die Brust gedrückt, als sie dies
sagte und nur den linken Arm leicht erhoben.
Ich fuhr erschrocken herum, in der Erwartung, dass
jener besagte Mann gerade hinter uns stand oder so, aber da war niemand. Puh,
ich wischte mir mit der Hand durchs Haar und fixierte wieder das Mädchen.
Der Mann da, der mich hierher geholt hat, fuhr
sie fort.
Wann ist das geschehen?
In der Nacht.
Diese Nacht?, hackte ich nach.
Sie nickte, ohne mich anzublicken.
Schau mich an, Mädchen. Bitte.
Sie kam meiner Aufforderung erst nach, als ich sie
bewusst streng Gwendolyn nannte. In ihren Augen konnte ich Schmerz auftauchen
sehen, den ich ihr gerne erspart hätte, aber es galt keine Zeit zu verlieren.
Ihre blauen himmelblauen und unbekümmerten Augen verschwanden hinter einem
Schleier von Tränen, die jedoch nicht fliessen wollten.
Wie sah der Mann aus? Kannst du mir das erzählen?
Wie ein Clown?, kam die Antwort als Frage zurück,
als wüsste ich mehr als sie und würde sie auf die Probe stellen.
Ich weiss es nicht, Gweny. Sah der Mann wirklich
wie ein Clown aus?
Sie nickte ein paar Mal mit dem Kopf.
Weisst du, was diese Male an deinem Hals
bedeuten?
Damit werde ich bald zu ihnen gehören.
Shit, dachte ich und drückte mich nun endgültig aus
der Hocke hoch.
Komm, wir müssen hier raus.
Meine Stimme klang belegt. Tonlos und ohne Kraft.
Ich betrachtete zum ersten Mal die Umgebung. Wir hielten uns in einem Keller
auf, der ausser zwei Stühlen mit Fesseln nichts anderes aufwies. Über den
Stühlen hing eine Lampe, die ein grelles Licht verstrahlte und die Schnüre wie
Schlangen erscheinen liess, die sich entweder tot stellten oder es auch waren.
Auf jeden Fall machte ich einen Bogen darum, als ich mit der Kleinen an der
Hand zu der Treppe ging, die mir vorher gar nicht aufgefallen war.
Langsam und leise gingen wir sie hoch. Nur ein
einziges Mal wandte ich mich dem Mädchen zu, als sie mich etwas fragen wollte
und dazu am Hosenbein rupfend, meine Aufmerksmkeit auf sich zog. Ich bedeutete
ihr still zu sein, indem ich die Hand an den Mund führte und Schhhh! machte.
Sie verstand es sofort. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass sie das Ganze zu
locker nahm und für einen Traum hielt, aus dem sie jederzeit wieder
wohlbehalten erwachen konnte. Falls es einer war, dann handelte es sich um
einen Albtraum!
Keine
Ahnung, wie ich hier hineingeraten war! Und soweit es mich betraff, hatte ich
auch keinen blassen Schimmer, wie ich hier auch wieder herauskam. Es war nur
so, dass sich das Ganze von einer relativ normalen Entführung von der Art und
Weise her mal abgesehen zu einer Sache geändert hatte, die mir doch etwas
mehr lag, als in einem Mafiastück mitzumachen. Ich hatte keinen Bock auf Krimi!
Abgesehen davon, dass ich nicht wusste, wie ich mich in einer solchen Situation
zu verhalten hatte. Wenn es um Vampire ging, dann war das schon eher mein
Spezialgebiet. Das Dumme war dann nur, dass mich diese Überlegung an den Anfang
zurückbrachte: Wie zur Hölle war ich da hineingeraten?!
In
der Küche lagen immer noch die zwei Mann, die mir vom oberen Stockwerk her
gefolgt waren. Beide lagen in Pfützen von Blut, doch die Kleine schien das
nicht unbedingt zu stören. Noch nicht, ging es mir durch den Kopf. Es würde
nicht lange dauern, und sie würde das rote Elixier trinken wollen, wie ein Hund
das Wasser aus einer Quelle, nach einem ausdauernden Spiel, an einem schönen
Sommertag.
Vielleicht nicht gerade von Toten, aber ich war ja
auch noch in der Nähe. Es war ein Anflug von Galgenhumor, der nicht so zünden
wollte. Schliesslich hatte ich keine Ahnung, wie sie sich verändern würde. Und
vorallem wann.
Ich schnappte mir die beiden Revolver, die die
Männer bei sich trugen, und auch etwas der Reservekugeln, die jeder von ihnen
in den Taschen der Jackets hatten. Im Wohnzimmer befand sich ein Telefon, das
ich mit klopfendem Herzen abnahm, den Finger bereits über der Tastatur, bereit
zum wählen: Tot! Na super.
Obwohl ich mit Hinnerk aneinandergeraten war, hätte
er mir in dieser Situation sicher helfen können. Gab es einen Weg die Kleine zu
retten, wenn sie noch kein Vampir war? Vielleicht ein Bluttransfusion? Oder
sollte ich ihr hier und jetzt gleich eine Kugel durch den Kopf schiessen, damit
ihr unnötiges Leid und Schmerz erspart blieb?
Letzteres konnte ich mir jedoch nicht vorstellen,
dass ich die Kraft dazu aufbieten konnte!
Werde ich jemals wieder ein Mensch sein?
Ich erschrack ob dieser Frage. Sie hielt meine Hand
und blickte mich so unschuldig an, dass ich den Kloss im Hals zuerst
hinunterschlucken musste, bevor ich zu einer Antwort fähig war.
Du bist doch jetzt ein Mensch, oder?, fragte ich
betont gleichgültig. Innerlich verkrampfte sich mein Magen und auch die Hand am
Revolver begann gefährlich zu schwitzen, als ich mich erneut zu ihr
hinunterbeugte.
Ja schon, gab sie mir nach Sekunden des
Überlegens zur Antwort. Der Clown hat nur gemeint, dass sich das dann ändern
wird, wenn ich einer von ihnen werde.
Was hat er noch gesagt?
Ich würde fliegen können, wie eine Fledermaus.
Dabei hatte sich ihr Gesicht vor Freude erhellt,
nur um sogleich wieder in Enttäuschung zu versinken.
Was ist?
Ich würde die Sonne nie mehr sehen können. Keine
Sonnenauf- und untergänge mehr.
Über ihr Gesicht war ein Schatten gefallen, als
würde ihr erst jetzt bewusst werden, was sie erwartete, wenn sie zu einem
Vampir wurde. Sie begann zu schlucken.
Was ist?, wollte ich wissen.
Und Mami darf ich dann auch nicht mehr sehen.
Die letzten Worte waren kaum mehr verständlich, so
fest begann sie zu weinen. Ich nahm sie in die Arme und versuchte sie zu
beruhigen. Ihr ganzer Körper wurde dabei durchgeschüttelt. Meine ganze rechte
Schulter wurde Nass, aber das war mir im Augenblick egal.
Mister Larson! erklang plötzlich eine tiefe
Stimme von einer Stelle her, deren ich gerade den Rücken zuwandte: Der Küche.
Ich zuckte zusammen und warf mich mit der Kleinen im Arm, hinter eine Deckung,
in die andere Richtung. Nur weg! Dummerweise war es nur eine Wand, die nach
allen Seiten hin offen war. Nur zum Sprecher hin, gebot sie mir Deckung.
Vorsichtig lugte ich schnell um die Ecke. Da stand eine unheimlich fette
Kreatur, die wohl zum schlechtest angezogenen Mann des Jahres gewählt werden
konnte. Gross karierte Muster zierten seine grüne Hose und dessen rote Jacke.
Zudem war in seinem Gesicht ein riesiger Zinken angebracht, dass mir sofort
klar wurde, warum Gweny den Mann als Clown bezeichnet hatte. Das schüttere Haar
unterstrich den Eindruck noch mehr.
Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, Mister
Larson. Ich werde Ihnen nichts tun.
So wie Sie dem Mädchen nichts getan habe?, schrie
ich hinter der Deckung hervor.
Das war eine der Delikatessen, derer ich mich
nicht verschliessen konnte.
Ein schmatzendes Geräusch folgte diesen Worten. Es
brachte das Blut in mir zum wallen.
Soll das vielleicht auch noch lustig sein?
Aber ich bitte Sie, Mister Larson. Wir sind doch
Männer, die sich hinter ihrer Fassade nicht zu verstecken brauchen, oder? Kommen
Sie hervor.
Das tat ich dann auch. Äusserst vorsichtig und mit
allem rechnend. Obwohl dem so war, hatte ich den Revolver auf den Boden
gerichtet. Wenn er wirklich das war, wofür ich ihn hielt, dann waren Patronen
gewöhnlicher Art sowieso nutzlos. Gweny hielt ich durch meinen Körper vor den
lüsternen Blicken des scheusslichen Typen verborgen.
Ein wohlwollendes Grinsen verzog sein Gesicht in
die Breite. Es sah gruselig aus. Ecklig auch, aber vor allem gruselig, da es
unnatürlich wirkte.
Erst jetzt sah ich, dass der Mann abstehende Ohren
hatte. Und als ich nähertrat, fielen mir dessen Füsse auf, die mit den Latschen
eines Goofy durchaus mithalten konnten. Die Person, die diesen Mann zum Vampir
gemacht hatte, hatte nicht wirklich viel von einem Schönheitsideal gehalten.
Was wollen Sie?, fragte ich scharf.
Das Mädchen.
Eine ruhig gesprochene Antwort, die trotzdem klang,
als würde er sie mir mit einem Megaphon entgegenbrüllen. Vielleicht kam es mir
aber auch nur so vor, da meine Nerven zum zerreissen gespannt waren. Jedenfalls
verliess das fette Grinsen auch bei diesen Worten das Gesicht nicht.
Niemals.
Mit der selben Wucht und Überzeugung versuchte ich
ihm meine Antwort entgegenzuwerfen, was ihn aber nur zu einem gelassenen
Schütteln des Körpers veranlasste. Der Kerl fand es auch noch lustig, wie ich
mich ihm gegenüber benahm.
Mister Larson, das war weniger eine Bitte als
vielmehr ein Befehl.
Von mir aus können Sie auch vor mir auf die Knie
gehen und darum bitten. Die Kleine gehört zu mir!
Da dürften Sie sich aber täuschen, mein Herr. Sie
gehört zu mir. Sie weiss es nur noch nicht.
Dabei legte er seine dicken Hände auf den riesigen
Bauch und begann diesen zwei, drei Mal zu tätscheln.
Das reichte! Mir riss entgültig der Faden. Ich nahm
den Revolver hoch, hielt ihn vor sein Gesicht und zog durch. Sein zuerst
erstauntes, dann durchlöchertes Gesicht zerplatzte vor mir, aber ich hatte
gerade erst begonnen zu schiessen! Ich nahm den anderen Revolver aus dem
Hosenbund, und leerte auch diesen in den Oberkörper des Clowns. Er war nach den
ersten Schüssen und durch deren Wucht nach hinten gefallen und lag nun röchelnd
am Boden. Ich begann nachzuladen, während mich die Kleine immer noch wie ein
Schraubstock an den Beinen festhielt. Jeder Schuss liess sie zusammenzucken,
aber je mehr Kugeln verschossen wurde, umso ruhiger wurde sie.
Röchelnd lag der fette Clown am Boden. Ich wusste,
dass ich mit meiner Handlung keinen permanenten Schaden anrichten konnte, aber
gleichzeitig war ich mir bewusst, dass er Schmerz spürte. Und den wollte ich
ihn spüren lassen. Zur Genüge!
Dann war ich mit dem Mädchen auf der Strasse
draussen. Vom inneren des Hauses hörte ich nur ein Brüllen und Toben, das
keineswegs nach Spass klang. Der Clown war alles andere als über unseren Abgang
erfreut. Damit hatte er wohl nicht gerechnet, dass ich mich wehren würde. Ich
setzte die Kleine vor mich hin, schaute ihr tief in die Augen und sagte:
Lauf.
Als ich sie an der Hand nahm, folgte sie mir ohne
zu zögern.
Es
war immer noch Dunkel, obwohl sich am Horizont bereits ein leichter
Lichtschimmer erkennen liess. Jedenfalls hoffte ich, dass dies das Anzeichen
von Tag war, und nicht die anbrechende Nacht, die das letzte Glimmern des Tages
zum verglühen brachte.
Unsere Flucht führte uns über Stock und Stein, quer
durch einen Wald, durch den wir geradewegs mit geschlossenen Augen hätten
laufen können, so viel bekam ich von der Umgebung mit. Es dünkte mich nur
angebracht die offene Strasse zu meiden. So viel hatte ich noch ausmachen
können. Falls der Clown uns folgte oder seine Schergen nachhetzte, würden die
uns zuerst da suchen, wo sie uns auch sehen konnten. Jedenfalls hoffte ich
auf meine spontane, geniale Überlegung, dass dies auch zutraff.
Meine leisen Gebete wurden erhöht, und als wir nach
einer endlosen Zeit aus dem Wald kamen und die Bäume hinter uns liessen, fiel
mir als erstes auf, dass sich der Schimmer am Horizont verbreitert hatte. Es
wurde also doch Tag, stellte ich erleichtert fest.
Gweny zeigte auf das Licht und meinte zu mir
gewandt: Sieh mal, Mark. Nun bekomme ich doch noch einen Sonnenaufgang zu
sehen.
Anstelle einer Antwort zog ich sie weiter, um dann
gleich wieder abrupt stehenzubleiben. Vor uns, den Hang hinunter, lagen die
ersten Ausläufer eines kleinen Städtchens. Vereinzelte Häuser, die die
Hauptstrasse hoch noch näher zusammenkamen und sich aneinanderdrückten, als
gäbe es hier draussen etwas zu fürchten. Shit, das war ja auch so ...
Ein leiser Pfiff entwich meinen Lippen, der das
Mädchen zum Glucksen brachte. Ich zog sie weiter in Richtung der Häuser. Ein
Zitat vom Film Der Zauberer von Oz kam mir in den Sinn: Wir befanden uns
nicht mehr ihn Kansas!
Das sah nicht nach Deutschland aus, was uns da
näherkam. Das sah eher nach einer amerikanischen Kleinstadt aus, was ich von
der kleinen Anhöhe ausmachen konnte. Jedenfalls hinterliessen die Tanksäulen
diesen Eindruck, die mit Exxon angeschrieben waren, wobei ich die Lettern
kaum mehr entziffern konnte.
Ein Blick zurück die Anhöhe hinauf, zeigte mir
keine Verfolger. Was nicht hiess, dass es nicht doch welche gab!
Unsere schnellen Schritte waren die einzigen
Geräusche, die es zu hören gab. Es war, als würde sogar der Wind den Atem
anhalten.
Hinter
dem ersten Haus stand eine offene Telefonzelle. Natürlich war nicht
festzustellen, ob diese noch ging, da der Hörer am Boden lag. Ich kickte das
Standbein der Anlage, dass mir die nächsten paar Schritte der Fuss weh tat. Und
dem Arsch, der das Kabel durchgeschnitten hatte, wünschte ich die Pest an den
Hals.
Wir gingen weiter.
Über uns hingen Kabel, die von einem Haus zum
nächsten gingen, zu Holzposten rüberwechselten und da in Generatoren endeten,
um dann erneut über die Strasse zu wechseln, und da in den Häusern zu
verschwinden. Das deutete doch darauf hin, dass es hier irgendwo ein funktionierendes
Telefon geben musste!
Zwanzig
Meter nach der Tankstelle gab es einen Drugstore. Ich deutete der Kleinen an zu
warten, und schaute ins Innere. Es war alles unbeleuchtet und dadurch nichts zu
sehen. Ein Blick die Strasse hinauf zeigte, dass auch der Rest des Städtchens
im Dunkeln lag. Dass mir das erst jetzt auffiel?!
Mit der Jacke über dem rechten Arm zerschlug ich
eine kleine Scheibe, in einem Viereck von mehreren, schlug alles Glas raus und
fingerte dann mit der anderen Hand im Inneren nach einem Öffnungsmechanismus.
Als hätte ich das schon tausend Mal gemacht.
Bevor ich durch das Fenster einstieg, blickte ich
mich noch einmal um, ob sich mittlerweile etwas am Zustand der Stadt geändert
hatte. Kein verräterisches Heulen eines aufgewachten Hundes oder sonst einer
bissigen Tölle, die sich wichtig machen wollte. Dem Mädchen gebot ich zu
warten. Ich hatte nur im Sinn, etwas zu trinken zu holen. Vielleicht hätte es
ein Telefon drin gehabt, aber der Besuch sollte so kurz wie möglich werden.
Schliesslich wollte ich nicht vor eine Schrottflinte laufen, die ein
aufgebrachter Inhaber auf mich entlud.
Ihr erfreuter, fast schon hinterlistiger Blick von
zuvor, als das Glas auf den Sandboden fiel, wich nun dem einer Person, deren
Träume ich mutwillig zerstört hatte. Nicht jetzt, sagte ich mir.
Es dauerte keine zwei Minuten und ich war wieder
draussen mit ein paar Dosen zu trinken. Für sie gab es eine Cola, und ich hatte
mir ein Miller geschnappt. Wasser wäre mir zwar lieber gewesen, konnte jedoch
keines finden, bzw. keinen Behälter, in den ich es hätte abfüllen können, ohne
dass ich bei der Suche nach einem solchen zuviel Krach veranstaltet hätte.
Ich nahm ein paar hastige Schlucke. Sie schenkte
mir jedoch keine Aufmerksamkeit, als ich ihr die Dose hinhielt. Sie war
vielmehr damit beschäftigt einem Sack vor dem Haus Fusstritte zu verabreichen.
Das tat sie in schöner Regelmässigkeit, bis ich hörte, dass er aufbrach und
sich sein Inhalt daraus ergoss. Die Kleine bückte sich, griff danach und liess
ihn anschliessend langsam durch die Finger gleiten. Wie Sand in einer Uhr.
Ich trat dazu und kniete mich neben ihr nieder. Im
Licht des anbrechenden Tages konnte ich Reis ausmachen.
Werde ich wieder zu einem Mensch werden, Mark?
Ihre Frage kam erneut überraschend, und im ersten
Augenblick wusste ich nicht wie antworten. Die Lüge bereits auf der Zunge,
schluckte ich sie wieder runter. Es wäre so einfach gewesen, ihr das Blaue vom
Himmel zu versprechen.
Schliesslich schüttelte ich den Kopf, ohne in ihre
Richtung zu sehen.
Du hast mir meine Frage noch nicht beantwortet!
Ich griff nach dem Reis, ballte ihn in einer Hand
zusammen, nahm anschliessend ihre Linke, und bat sie, den Zeigefinger senkrecht
auszustrecken. Sie tat es. Dann liess ich den Reis ganz langsam aus meiner Faust
rieseln.
Wenn ein Korn auf deinem Finger zu stehen kommt,
wirst du wieder ein Mensch werden.
Ja?
Hoffnung klang in ihrer Stimme auf. Fasziniert
betrachtete sie den Reis, wie er ihr über die Hand lief, wobei sie die Augen
nicht von ihrem Finger nehmen konnte. Als der Reisstrom versiegte, griff sie
selber nach neuem Korn und tat es mir nach. Obwohl sie konzentriert der Aufgabe
nachkam, bemerkte ich doch, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete.
Und sie kam auch früh genug auf die Lösung:
Das geht ja gar nicht!
Sie schleuderte den restlichen Reis von sich und
wandte sich schmollend zur Seite. Meine Hand schlug sie stürmisch weg. Beim
zweiten Mal etwas weniger heftig, und beim dritten Mal kriegte ich sie an der
Schulter zu fassen. Sie liess es über sich ergehen.
Hättest du mir auch gleich sagen können!
Du wirst nie wieder Mensch werden. Das stimmt.
Meine Stimme klang leise und belegt, als ich ihr
dies sagen musste.
Was werde ich dann?, fragte sie kleinlaut, den
Kopf in meine Richtung gewandt.
Eine von ihnen.
Den Fledermäusen?
Den Vampiren, verbesserte ich.
Obwohl es immer noch nicht hell genug war, sah ich
doch, wie ihre Augen einen glänzenden Schimmer bekommen hatten.
Wirklich?
Ich nickte. Ein kleines und zaghaftes Bächlein zog
über ihre Wange. Ich musste an mir halten, um nicht selber loszuheulen.
Wenn du willst, werden wir uns jetzt einen schönen
Sonnenaufgang ansehen. So wird dir wenigstens alles der negativen Dinge
erspart, die diese Vampire tun. Du magst doch Sonnenaufgänge, oder?
Sie schniefte kurz und nickte ebenso lang mit
geschlossenen Augen. Dann stand sie auf und wischte sich dabei über die Wangen.
Ein tapferes Mädchen!
Wir
befanden uns fast am Ende der Kleinstadt, als ich eine Bewegung aus den
Augenwinkeln sah. Direkt unter der Vitrine, bei einem der Häuser. Ein
verkrümmter, alter Mann stand ungefähr zwanzig Meter von uns entfehrnt. Die
Hose kam ihm fast bis an die Brust hoch, die von grellfarbigen Trägern gehalten
wurden. Er selber war barfuss und trug auch kein Hemd, wie ich erkennen konnte.
Er begann zu kichern, sichtlich erfreut über unseren Schrecken. Dann liess er
sich nach vorne fallen und erhob sich, in der Form eines Vogels, in die Lüfte.
Gweny und ich zuckten zusammen. Für mich hatte die Zeit nicht einmal gereicht
den Revolver hochzureissen. Was war ich bloss für ein Beschützer?
Sein Kichern verwandelte sich in ein Krächzen, das
immer leiser wurde. Genau die Richtung entschwindend, aus der wir gerade
gekommen waren.
Wirr, das Ganze!
Ich beschloss unseren Aufenthalt in diesem
Städtchen sofort abzubrechen.
War das auch einer von ihnen?, wollte sie wissen
Mir war klar, was sie damit erfragen wollte, darum
schüttelte ich den Kopf.
Wohl eher so was wie ein Späher. Ein
Kundschafter., meinte ich sinnend.
Aha.
Dann verliessen wir die Stadt. Es war ein komisches
Gefühl nach hinten zu blicken und dabei den Staub zu sehen, den wir
aufgewirbelt hatten. Ich hatte nicht gewusst, dass es noch so etwas wie
ungeteerte Ort gab.
Als
die Sonne das Bergmasiv in der Ferne zum ersten Mal an diesem neuen Tag zum
erglühen brachte, fiel die Kleine ohne ein Wort zu sagen um. Obwohl ich damit
hatte rechnen müssen, erschrack ich doch.
Jetzt war es also eingetreten! Das Mädchen war tot.
Der Keim, der in ihr wirkte, tat nun seine vollkommene Umkrempelung des
menschlichen Körpers, um sie zu einer der Ihren zu machen.
Sie war leichter, als ich es mir vorgestellt hatte,
als ich sie mir über die Schulter warf. Dann begann ich zu rennen. Die Zeit
wurde knapp. Uns lief regelrecht die Zeit davon.
Es
war nur ein kleines Wäldchen, das ich durchspurtete, und als ich es durchquert
hatte, gelangte ich an einen kleinen See. Auf einer Seite war er voller Schilf,
aber direkt vor mir gab es so etwas wie einen kleinen Strand. Etwas zögernd
begab ich mich dahin.
Mittlerweile hielt ich das Mädchen in beiden Armen.
Ich hatte sie nicht mehr läger wie einen Sack Kartoffeln tragen können. Sie sah
aus, als ob sie schlafen würde. Nur spürte ich keinen Atem.
Ich nahm ihr vorsichtig eine Strähne aus dem
Gesicht ...
Die
Sonne konnte ich immer noch nicht sehen, aber ihr Licht leckte den Flanken der
Berge entlang, wie ein hungriges Tier, das gefüttert werden wollte.
Eigentlich wünschte ich sie herbei, andererseits doch nicht.
Der Himmel verlor seine dunkle Färbung. Schaute ich
hoch, sah ich nur noch sehr wenige Sterne. Sie waren alle am verblassen. Ihre
Zeit war vorbei.
Langsam, beinah schon zögerlich, legte ich das
Mädchen auf das Gras. Mir war schon klar, dass ich sie nicht aus ihrem
unheiligen Schlaf wecken konnte. Sie würde selber daraus erwachen. Aber mir gab
es der Kopf nicht zu, sie wie ein lebloses Ding zu behandeln.
Anschliessend zog ich mir die Jacke aus, legte sie
in den Sand, und die Kleine dann auf den Stoff. Dann hockte ich mich neben sie
und wartete darauf, dass die Sonne aufgehen würde.
In mir tobten Gefühle, die nicht einzuordnen waren.
Es war ein Vampir, der da geboren wurde! Obwohl sie wie ein kleines Mädchen
aussah, und wohl auch bis in alle Ewigkeiten so aussehen würde, würde sie bald
eine von ihnen werden. Ein Vampir!
Als ich mich
ihr zuwandte, musste ich mir eingestehen, dass sie eher einem Engel glich, als
einer Teufelsgestalt. Ihr blondes Haar umhüllte den Kopf wie ein Halo, das in
beginnenden Tageslicht hell zu leuchten anfing.
Sie Sonnenstrahlen waren mittlerweile fertig mit
den Bergen und näherten sich dem Talboden. Es war wolkenlos. Leicht begann
Morgenrot sich auszubreiten und verblasste gleich wieder.
Als ich mich ein weiteres Mal nach der Kleinen
umsah, sass sie knieend auf der Jacke. In mir zuckte alles zusammen und eine
innere Stimme schrie was von Revolver hochreissen und abknallen ...
... und ich tat doch nichts dergleichen. Ich
blickte wieder weg, in die Ferne, wo der Tag mit Riesenschritten näherkam,
spürte jedoch, wie sie an mich heranrutschte. Ein Hand, leicht wie eine Feder,
legte sich auf auf meine Schulter. Mein Herz schlug wie wild, und doch war es
nicht Panik, die mich befiel. Es war Angst, vor dem, was passieren würde.
Hilflosigkeit, weil mir die Hände gebunden waren. Im Magen ein Gefühl, dass ich
gleich etwas verlieren würde, das ich nie mehr zurückbekommen könnte.
Ich sah das Licht heranjagen und hätte es doch
gleich am liebsten weggejagt. Je heller es wurde, umso weniger sah ich, da
Tränen in den Augen mir die Sicht nahm.
Bevor das Licht der Sonne über den See heran war,
warf ich mich herum, nahm sie in die Arme und drückte sie ganz fest an mich.
Es tut mir leid, Gweny, dass ich dich nicht retten
konnte. Es tut mir so leid, schluchzte ich haltlos, während ich spürte, wie
sie mich ebenfalls umarmte. Ich schaukelte sie zwei, drei Mal hin und her.
Danke, Mark, hauchte sie mir in die Ohren, bevor
die Berührung verblasste und ich mich nur noch selber wiegte.
Während hinter mir der neue Tag anbrach, wurde es
kalt und dunkel in mir. Ich blickte auf meine Hände, die nur noch Stoff von
Kleidern hielten, die zuvor noch von einer kleinen Person ausgefüllt gewesen
waren. Staub lag darauf, und rieselte auch überall aus den Kleidern raus.
Oh, Gott. Nimm nicht sie, schrie ich ungehalten
gegen den Himmel. Bring sie zurück. Nimm stattdessen mich. Nimm mich. Ich
bitte dich: Nimm mich!
Immer und immer wieder kamen diese Sätze über meine
Lippen, die ich sowohl als Gebet, wie auch als Fluch aussprach. So lange und so
oft, dass ich davon müde wurde und nach einer langen Zeit schliesslich kraftlos
auf ihren leeren Kleidern zu Boden sank. Am Ufer eines kleinen und bewaldeten
Seeleins. Irgendwo ...
Als
ich wieder zu mir kam, war es dunkel. Genauso, wie es in mir auch aussah. Ein
riesiger Schmerz stach in der Brust, auf der Herzseite, und ich zitterte am
ganzen Körper. Ich wusste nicht zu sagen, ob ich mich je wieder davon erholen
würde ...
Als die Tür aufging und Licht auf mich fiel, stiess
ich einen Schrei der Überraschung aus. Die Person, die den Raum hatte betreten
wollen, zuckte zusammen, und liess ebenso einen Laut des Schreckens los. Ich
warf mich auf die Seite zumindest wollte ich das als meine Beine sich
verhederten und ich halbherzig mit dem Oberkörper auf den Boden zu liegen kam.
Mein Hinterkopf schlug auf. Es gab einen so lauten Knall, dass sie den im
Kyffhäuser noch gehört haben mussten. Jedenfalls lag ich erst mal flach. Als
ich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Augen öffnete, wurde gerade Licht
gemacht, und ich schloss sie gleich wieder geblendet.
Ah, machte ich.
Mark?, kam es von der Türe her.
Ah, tat ich erneut und etwas lauter von meinem
Unwohlsein kund.
Dann sah ich Sabine über mir auftauchen. Sie war
aufs Bett gesprungen und blickte mich nun von da obenherab an. In der einen
Hand konnte ich sehen, wie sie einen Hausschuh wie zum Schlag erhob hatte. Die
ultimative Waffe!
Was tust du da?
Es war ihr anzusehen, dass sie mit sich hadderte,
ob sie laut loslachen oder Mitleid mit mir haben sollte.
Frag mich nicht. Hilf mir lieber hoch.
Das tat sie dann auch, obwohl sie zuerst meine Hand
wegschlug, um sich dem Bein zu widmen, das sich in der Decke verhedert hatte.
Als Hinnerk im Türrahmen auftauchte, sass ich
bereits auf dem Bett und rieb mir den Hinterkopf. Wenig später folgte noch James,
der sich aber gleich wieder verzog. Wahrscheinlich war es ihm peinlich, dass
wir seine Bettmontur zu sehen bekamen: Ein seidener Schlafanzug, der über und
über mit roten Herzchen gefüllt war.
Was soll denn der ganze Tumult?, fragte Hinnerk
bissig, wobei er vorallem mich musterte, als habe er bereits den Schuldigen
gefunden.
Leute, ihr werdet nicht glauben, was ich gerade
geträumt habe.
Geträumt? Und da muckste sonen Shit?!
Wieso geträumt? fragte mich Sabine erstaunt von
der Seite her. Sie hatte sich zu mir hingesetzt und einen Arm um mich gelegt.
Ich sah sie fest an.
Ja, geträumt. Was ist daran so erstaunlich?
Du bist eine halbe Minute vor mir die Treppe hoch,
Mark. Wie kannst du da schon was geträumt haben?
Sie schaute mir direkt in die Augen, als sie dies
zu mir sagte. Erheiterung hatte dabei ihre Stimme getragen. Nur, als ich nicht
darauf einging und dem Inhalt ihrer Worte nachhing, blickte sie mich auf einmal
auch genauer an.
Und wie kommst du so schnell in deinen
Schlafanzug?
Nun war plötzlich keine Gelassenheit mehr in ihrer
Stimme festzustellen!
Mark?
Sabine sah mich auf einmal ganz komisch an. Als
wäre ich ihr plötzlich nicht mehr ganz geheuer. Den Arm, der vorhin auf meiner
Schulter lag, hatte sie schon längst weggenommen. Mir begannen sich die
Nackenhaare zu sträuben. Und ich wusste, dass sie das sah. Und weil ich das
wusste, stand ich ganz langsam auf, die Arme von mir gestreckt und nahm
Augenkontakt mit Hinnerk auf. Jedenfalls wollte ich das. Ich blickte direkt in
die Mündung einer Makarov!
Wow,
rief ich und blieb gleich regungslos stehen. Jetzt aber alles sofort
beruhigen, Leute. Ich bin es: Mark.
Über die Rimme der Knarre konnte ich das Gesicht
von Hinnerk sehen, das mich verkniffen anstarrte. Ich musste an unser Streitgespräch
denken, das wir geführt hatten. Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr so wohl in
meiner Haut. Er hatte mir mal einen Dolch durch das Herz gestossen, nur um zu
sehen, ob ich auch der richtige, prophezeite Hüter war. Klar, es war ein Ritual
gewesen, und erst noch mit einem speziellen Dolch, der das Blut von Jesu trug.
Würden meine Überlebenschancen auch so gut stehen, bei einem russischen
Revolver, aus den sozialistischen Fabriken eines Gorbatschov, oder noch früher?
Stalin vielleicht? Ich wagte es zu bezweifeln. So oder so.
Ich bin es, Mann, versuchte ich es erneut. Mach
doch irgend etwas, Hinnerk. Fuchtel doch mal mit den Händen in der Luft. Irgend
etwas! Nur, dass klar wird, dass ich ICH bin!
Es dauerte noch ein paar Sekunden, in denen mir der
Schweiss immer mehr ausbrach, bis er schliesslich die Waffe senkte und
wegsteckte.
HerrGottnochmal!, schrie ich erleichtert auf. Die
Spannung löste sich von mir mit ein paar deftigen Flüchen. Unruhig begann ich
anschliessen im Zimmer umherzulaufen.
Sowas bleibt dir, wat? Da mach ich mal son
Firlefanz samt Hokuspokus ein einziges Mal nur! und schon soll das dir
helfen, wenn dat dir genehm ist und die Scheisse bis unter die Kinnlade hast.
Ich ging gar nicht erst darauf ein. Mir war nicht
danach, seine eitle Seele zu trösten. Vielmehr, was das alles sollte, was da
geschehen war. Ich blieb vor ihm stehen:
Kannst du herausfinden, ob eine dämonische Macht
im Glückshaus war?
Kloar.
Hinnerk verschloss den Mund wie auch die Augen. Er
wusste wie ich, wann der Ernst der Lage vor allem anderen kam. Es dauerte ein
paar Sekunden, dann öffnete er sie wieder und schüttelte den Kopf.
Was ist mit dem Zimmer?, fragte Sabine vom Bett
her, auf das sie sich mit angezogenen Beinen gelegt hatte. Sie war doch wieder
etwas näher gekommen, wagte jedoch noch immer nicht, mich zu berühren.
Die Prozedur wiederholte sich.
Nichts. Das Haus ist sicher. Da kommt nichts
rein.
Wie steht es mit mir?
Breitbeinig hatte ich mich vor ihn hingestellt,
einen Arm in die Seite gedrück, den anderen auf mich selbst gerichtet. Ich
konnte ihm dabei nicht in die Augen sehen, wenn er mich auskundschaftete.
Stattdessen blickte ich zu Boden, auf meine nackten Füsse. Mit erstaunen sah
ich, dass er selber Hausschuhe trug. Jedoch solche, die mir in einer anderen
Situation durchaus ein Schmunzeln auf die Lippen gebracht hätten:
Hässchenpantoffeln. Wie nett!
Auch nichts, Mark. Aber ...
Ich wollte mich gerade erleichtert von ihm
abwenden, als mich dieses eine Wort erneut zum stehen brachte.
... vielleicht bist du irgenwohin gegangen?
Erstaunt sah ich zu Hinnerk hoch. Dann blickte ich
zu Sabine an, die meinen Blick erwiederte, nur um dann selber zu Hinnerk zu
sehen.
Echt?, fragte sie.
Alles ist möglich.
Ja, aber ... ich war zuerst hier, dann weg, und
dann plötzlich wieder hier.
Mit den Händen hatte ich immer kleine Abschnitte
dargestellt, die auch dem dümmsten klarmachen mussten, was ich mit meinen
Worten meinte.
Hinnerk winkte ab.
So kommen wir nicht weiter. Am besten erzählst du
uns alles, was du geträumt hast.
So begann ich zu erzählen.
Sehr
viel später blickten mich Hinnerk und Sabine schon nicht mehr wie ein aus dem
Zoo entsprungenes Tier an. Ich konnte sogar etwas wie Mitgefühl aus den Augen
des zottigen Kerls herausfiltern. Sabine nahm mich mehrmals in den Arm, ohne
jedoch meinen Redefluss zu unterbrechen. Es tat mir gut sie so in der Nähe zu
spüren, auch wenn es die letzen Minuten des Erlebten kaum erträglicher
machte.
Als ich endete, war es zuerst sie, die die Stille
brach:
Oh, du Armer.
Es ist so, wie ich vermutet habe, Mark, begann
Hinnerk. Du bist im Schlaf aus dem Körper getreten ...
Ja, aber all die Sachen zuvor? Die Sache mit der
knappen Minute?
Er winkte ab.
Zeit ist biegsam. Was wissen wir schon darüber.
Es geht mir vielmehr darum, dass du verstehst, dass jeder Mensch im Schlaf den
Körper verlassen kann.
Du meinst so was wie Astralreisen?, fragte ich
nach.
Nicht unbedingt in deinem Fall jetzt. Mir geht es
darum zu vermitteln, dass im Normalfall die goldene Nabelschnur Körper und
Seele verbindet. Ein schreckhaftes Ereignis kann diese zurückschnellen lassen
und zu einem abrupten Erwachen führen, das mit Angstzuständen einhergehen kann.
Was du ja auch erlebt hast.
Ich nickte dem bestätigend zu.
Hinnerk rieb sich die Hände, bevor er weiterfuhr.
Ich denke jedoch, dass sich ein Dämon deines
schlafenden Ichs bedient hat, es gefangen nahm und auch töten wollte.
Aber wie ist so etwas möglich?, kam der empörte
Ausruf vom Bett her. Sabine stellte die Frage noch vor mir.
Ihr erinert euch an unser Streitgespräch?
Allgemeines Nicken.
Diese Gefühle des Hasses ...
Er winkte ab, als ich einen Einwurf platzieren
wollte.
... haben deine Seele für die negativen Kräfte
dieser Erde sehr empfänglich gemacht, Mark. Du warst verwundbar, wie du
wahrscheinlich noch nie zuvor verwundbar warst. Vor allem, weil du mit diesen
Gefühlen zu Bett gingst. Gleich nachdem sie noch voll ihre Wirkung am ausüben
waren.
Ja, muss ich mich denn jetzt schon davor fürchten,
zu Bett zu gehen, oder was?
Es lag wieder an Hinnerk, meiner Rede Einhalt zu
geben.
Lebe dein Leben wie bisher. Nur versuche dich vor
dem Einschlafen auf andere Gedanken zu bringen. Meditation soll wahre Wunder
vollbringen, wie ich gehört habe.
Habe ich denn dafür Zeit, als Hüter?
Hinnerk musste lachen.
Mark, wenn du als Hüter überleben willst, dann
solltest du dir die Zeit nehmen. Sonst kannst du ja nicht einmal mehr zu Bett
gehen, wie du dich vorhin so direkt ausgedrückt hast.
Für ein paar Minuten liess ich mir das Gesagte
durch den Kopf gehen. Und ich war sehr dankbar dafür, dass sie mich dabei auch
in Ruhe liessen.
Was ist mit dem Mädchen?, wollte ich schliesslich
wissen.
Ehrlicherweise hob er die Schultern in die Höhe,
als er darauf Antwort gab: Keine Ahnung, Mark. Hat es vielleicht nie gegeben.
Ist vielleicht aber nun auch tot?, gab ich einer
anderen Möglichkeit ein Sprachrohr.
Möglich ist vieles. Möglich ist alles., gab er
eine seiner Weisheiten zum Besten.
Es bringt nichts, wenn du dir den Kopf darüber
zerbrichst, mien Freund. Schuldgefühle aus einer Möglich-wäre-Situation
brauchst du keine zusätzlichen.
Dem konnte ich nur zustimmen.
Schliesslich klatschte er sich auf die Schenkel und
erhob sich.
Liebe Leute, es ist wohl an der Zeit zu Bett zu
gehen, bevor James uns zum Frühstück ruft. Oder etwa Christine uns entdeckt,
wie wir so über Gott und die Welt reden, ohne ihr beisein.
Es war ein schneller Aufbruch, der nun folgte. Wir
wünschten uns alle eine gute Nacht. Hinnerk verzog sich in sein Zimmer. Sabine
blieb. Es war unser beider Schlafgemach.
Es kostete mich erhebliche Anstrengung das Licht zu
löschen, aber nach einigen Sekunden des Zögerns ging es dann. Sabine war bald
schon mal eingeschlafen, wie ich an ihren regelmässigen Atemzügen feststellte.
Und ich?
Das war vorerst die erste Nacht, wo ich Weihnacht
mit offenen Augen entgegensah. Und mein klopfendes Herz hatte einen andere
Grund, als die nahende Bescherung!
Weihnachten
verlief eigentlich normal, wenn man mal davon absah, dass es keinen Schnee gab.
Nicht mal in den Hügeln oder Abseits der Strassen. Es war ein wenig ernüchternd
so zu feiern, aber was sollte es. Machte man eben gute Miene zum bösen Spiel.
Hinnerk verschwand im Laufe des Tages und kam dann
mit einem mächtigen Baum zurück, den er anschliessend mit James Hilfe
dekorierte. Christine war voller Aufregung und quatschte die zwei Männer
ständig voll, wie sie den geschmückten Baum noch schöner machen könnten.
Schliesslich liessen sie die junge Dame voller Stolz den Stern auf den Spitz
setzen. Sie war mit ihren sechzehn Jahren (?) zwar kein Kind mehr, aber Sabine
fand, dass sie unheimlich Spass an Christine hatte, wie ihr das Fest Freude
bereitete, und sie diese Freude auch ausdrücken konnte. Sie war schon ein
spezielles Kind.
Durch das Glückshaus in Hüll erschall den ganzen
Tag über Weihnachtsmusik. Jeder durfte seine Lieder zum besten geben. Es gab
die Klassiker, aber auch Wham. Und sogar die Toten Hosen wünschten der ganzen
Welt alles Gute zum Fest, wenn auch ein wenig direkter und überlaut.
Dies war die zweite Nacht, in der ich wach blieb!
Es
dauerte eine gewisse Zeit, bis sich mein Schlafrythmus wieder einigermassen
eingependelte. Das Wachhalten forderte schliesslich seinen Tribut, und ich
schlief ein, ohne dass etwas passierte. Eine ganz normale Mütze Schlaf, für
einen entkräfteten und übermüdeten Hüter!
Von da an ging es immer besser und auch ständig
bergauf mit mir. Das Gefühlskarussel, in dem ich mich befunden hatte, verlor
seine Kraft und wurde langsamer, sodass ich im übertragenen Sinne runtersteigen
und weglaufen konnte. Es ging mir nach einiger Zeit wirklich wieder besser, und
Mitte Februar dachte ich nur noch selten an die Geschehnisse zurück.
Im April lud uns Dieter Feldmann in die Schweiz
ein. Natürlich kamen wir gerne seiner Einladung nach, auch wenn sie nur zum
Teil privater Natur war. Es gelang uns jedoch ganz gut, ein paar freie Tage
einzuschieben. Vor allem auch, weil es zu der Zeit zum Glück wieder etwas
ruhiger geworden war. Natürlich war es die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm,
aber das Wissen selber konnte diese Tage des Ausspannens nicht trüben.
Sabine und ich sahen sogar etwas von Bern, während
sich Hinnerk mit einem Problem herumschlug, das sich in Dieters Bank ergab. Wir
waren auch im Bärengraben, wo sie richtige Bären hatten, diese Berner. Man
konnte sie auch füttern die Bären und nicht die Berner.
Was wir uns auch nicht nehmen liessen, war eine
Shoppingtour unter den Lauben der Stadt. Das war schon praktisch, wenn draussen
der Regen fiel und man trotzdem immer oder meistens jedenfalls davor
geschützt war, da sich diese mehr oder weniger durch die ganze Innenstadt
zogen.
Dieter Feldmann hatte uns ein Haus am See gemietet.
Es lag in Oberhofen und man hatte davon einen wunderschönen Blick darauf und
die anschliessenden Berge. Mehr rechts gegen die Stadt Thun lag die
Stockhornkette, die einen interessanten Berg ihr eigen nannte. Von vorne sah
der wie ein Horn aus, aber vom Balkon aus, wo wir ihn eher seitlich betrachten
konnten, sah man, dass er sehr schmal geraten war. Daher auch der Name!
Dann gab es noch den Niesen, den wir direkt vor
unserer Nase hatten. Dieser sah eher wie eine übergrosse Pyramide aus.
Mehr gegen die linke Seite kamen dann die Berge,
von denen wir alle schon mal im Geografieunterricht gehörte, aber noch nie
wirklich gesehen hatten: Eiger, Mönch und Jungfrau, und was sonst noch an
Bergmassiven dazu gehörte. Es waren Namen, die mich nicht näher interessierten
und ich daher auch nicht bei Dieter näher erfragte.
Sabine verlor obsoviel Geographie bald schon mal
das Interesse, und ging sich in der Küche ein Bier holen. Ich blieb bei Dieter
stehen, der sich in seiner Aufgabe als Gastgeber wohl zu fühlen schien.
Thun wird ja gern als das Tor zum Oberland
bezeichnet. Dieter zeigte mir auf einer Karte des National Geographic, dass von
hier an, sich effektiv das Land zu wellen begann, sprich sich die Berge bis
runter nach Italien zogen. Es war sehr eindrücklich.
Wer nun aber erwartete ein richtiges Tor zu sehen,
der musste doch etwas enttäuscht sein. Ich war es auf jeden Fall. Aber
vielleicht auch, weil ich von der Stadt etwas mehr erwartet hatte. Sie war
nämlich für eine Grossstadt ziemlich klein. Nicht so, wie wir das von Hamburg
oder sogar Berlin gewohnt waren. Sogar Thuns Einkaufsmeile war ziemlich klein.
Hochgerechnet kam man vielleicht auf einen einzigen Kilometer, aber nicht mehr.
Das interessante war jedoch, dass gerade dieser Teil auf einer Art Insel stand,
der von beiden Seiten von einem Fluss umspült wurde. Der Aare. Beide Teile
hiessen gleich. Es gab also keinen A- und B-Teil. Aber vielleicht hatten sie
dem Namen aus dem Grund zwei As mitgegeben.
Über der Stadt tronte ein Schloss, mit je einem
Erker auf seiner Seite, und einer Kirche, die etwas weiter unten angebracht
war. Das Schloss fand ich für meinen Geschmack etwas kränkelnd weiss, obwohl
mich der Dieter wissen liess, dass man es gerade erst neu gestrichen habe. So
weiss soll es ausgesehen haben, als es im 14. Jahrhundert gebaut wurde. Nur wer
wollte das heute denn noch so genau wissen, da es zu der Zeit keine Fotografien
gab?
Den Ort Thun mussten wir jedes Mal durchfahren,
wenn wir zu unserem Haus in Oberhofen kommen wollten. Ich fand das etwas
spassig, da gerade auf dieser Seeseite immer so viel Verkehr herrschte. Man
versicherte mir, dass es keinen anderen, praktischeren Zugang gebe. Oder man
nehme dann gleich den langen Weg auf sich und umfahre den ganzen See, um dann
von der anderen Seite an Oberhofen zu gelangen. Was ich dann auch gleich wieder
als zu zeitraubend einstufte. Wir besassen zwar Zeit und gönnten uns ein paar
freie Tage, besassen aber doch nicht in dem Masse Zeit, dass es dafür gereicht
hätte.
Wer mich so hört, denkt vielleicht, dass mir diese
Stadt nicht gefallen hat. Den möchte ich doch eines besseren belehren. Dem war
nicht so! Im Gegenteil. Die Stadt besass Charme und war auch schön, nur kam sie
mir des öfteren etwas eng vor. Die Strassen, die durch die Altstadt führten und
die Gänge, die die Burg hochgingen, brachten doch eine beklemmende Wirkung in
mir hervor, wie ich sie nicht wirklich bis zu diesem Datum kennen gelernt
hatte.
Doch
all der Eindruck der Stadt verblasste vor dem Ereignis, von dem ich nun
erzählen will, als ich mich in der Innenstadt dem Bälliz , eines schönen
Nachmittages in die Sonne setzte, und dem Kommen und Gehen der Schweizer
zuzuschauen. Es war ein beschaulicher Tag gewesen und das Wetter hatte
mitgemacht, wie der Einheimische hier zu sagen pflegte. Es gab nichts zu tun,
und gerde dieses Nichtstun war es gewesen, das mich von Oberhofen
hierhergebracht hatte, entlang einer Seepromenade, der ich mich fern jedem
Autoverkehr, hatte widmen können.
Es war angenehm warm, sogar ohne Jacke, aber nur an
der Sonne. Und im Bewusstsein, diese Freude in den nächsten Minuten zu
verlieren, da die Sonne hinter den Gebäuden des Bälliz verschwinden würde,
genoss ich sie desto trotz.
Dann sah ich sie unerwartet und plötzlich aus einem
Geschäft herauskommen! Mir blieb vor Schreck beinahe das Herz stehen! Ich
musste zusammengezuckt sein, da mich die Blicke der anwesenden Leute im Café
anblickten, und mich mit gehobenen Augenbrauen musterten. Ein Umstand, der
zuvor ganz und gar nicht der Situation entsprochen hatte.
Ich war zuerst zu keiner Bewegung fähig. Doch dann
schnellte ich hoch und wollte schon davonpreschen, als mich jemand packte und
festhielt. Mir war schon danach zumute, die Person mit einem Kinnhacken
niederzuschlagen, als ich sah, dass es der Ober war.
HimmelHerrGott! Das Geld liegt auf dem Tisch,
brüllte ich ihn an. Ich bin doch kein Zechpreller.
Dann lief ich ihm davon. Dieses Mal liess er mich
ohne Weiteres gehen. Die stornierten Blicke der anderen Leute waren mir egal.
Während ich mich zwischen den Passanten vorbeidrängte, um immer wieder einen
Blick auf die Frau zu erhaschen, die vor mir herlief, merkte ich nach einiger
Zeit, dass ich langsam aufholte. Gut ...
Mein Gott, wenn es nun diese Frau war, die ich
vermeinte gesehen und wiedererkannt zu haben? Oder hatte ich mich so sehr
getäuscht, dass ich einer Fata Morgana aufgesessen war? Konnte es überhaupt
sein, dass es diese Person in Wirklichkeit auch gab?
Als ich mich ihr bis auf zwanzig Meter genähert
hatte, blieb sie plötzlich stehen und drehte sich um, als hätte sie bemerkt,
dass ihr jemand folgen würde. Während wir wie Felsen in der Bradung wirkten und
die Leute an uns vorbeiliefen, liess sie ihre Augen über die Menge gleiten,
traf mich und glitt dann weiter, kam wieder zu mir zurück, verharrte kurz, um
dann ein weiteres Mal vorbeizugehen. Dann blickte sie mir auf einmal direkt in
die Augen!
Und an ihrer Reaktion wusste ich sofort, dass sie
mich erkannt hatte!
Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter,
wie mich die Frau mit dem kornweizenblonden Haaren, den hohen Wangenknochen und
den himmelblauen Augen fixierte.
Langsam ging ich ein paar Schritte auf sie zu, aber
als ich sah, dass sie zu zittern begann, blieb ich stehen. Ich wollte nach ihr
greiffen und sie festhalten, aber ich war zu weit weg.
Mein Baby, hörte ich ihre angsterfüllte Stimme in
meinem Kopf, ohne dass sie den Mund bewegte.
Als sie es dann doch tat, hätte ich gewettet, dass
es genau diese Worte waren, die ich zuvor gehört hatte. Mir schwindelte. Jetzt
war es an ihr über die Distanz hinweg nach mir zu greiffen, aber es dauerte nur
kurz an, und war dann vorbei. Dann sah ich, wie sie plötzlich die Augen aufriss
und eine Hand an ihren Mund flog ...
Ich spürte ein Zupfen am Bein. Als ich mich
umwandte und wiederwillig den Augenkontakt zur Frau unterbrach, traf mich fast
der Schlag, als ich erkannte, wer da neben mir stand. Meine Beine wurden weich
und ich fiel neben dem Mädchen auf die Knie. Die Arme waren mir kraftlos
runtergefallen, als hätte jemand all meine Sehnen und Muskeln durchgeschnitten.
Gwenny?, fragte ich ungläubig.
Sie nahm mich in den Arm, drückte mich ganz fest
und sagte: Danke, Mark. ganz nah an mein Ohr.
Ich hätte losheulen können. Ach was, ich tat es!
Schluchzer lösten sich aus meiner Brust, die mir zu lange Schmerz bereitet
hatten. Vor Ergriffenheit, vor Glück, vor Freude. All die Zeit der Fragerei und
der Ungereimheit fiel von mir und ich wusste, dass wirklich alles passiert war.
Genau so, wie ich es Hinnerk und Sabine geschildert hatte.
Langsam kam wieder Leben in meine Arme. Ich konnte
sie anheben und die Kleine nun auch umarmen. Ein Glücksgefühl umgab mich auf
einmal, als würden uns eine Gruppe von Engeln beobachten, beschützen und mit
Kraft und Lebensfreude aufladen.
Dann löste sie sich von mir und ging auf ihre
Mutter zu. Ich blickte der Kleinen nach, wie sie zu ihr hinging. Die Mutter
nahm sie an der Hand und sie gingen dann ganz langsam in die entgegengesetzte
Richtung von mir, nicht ohne immer wiede zurückzuschauen.
Die Mutter liess mich nicht aus den Augen, bis sie
hundert Meter weiter unten um die Ecke eines Gebäudes verschwunden waren. Die
Kleine hatte mir als Letztes noch einmal zugewunken, bevor sie dem Druck der
Mutter nachgegeben hatte.
Ich wollte ihnen nachgehen, aber eine bezeichnende
Geste von ihr liess mich dieses Vorhaben sogleich wieder abbrechen. Sie wollte
nicht, dass ich mehr über sie erfahre. Ob zu ihrem oder meinem Schutz, konnte
ich nicht sagen.
Ein Stein hatte sich von meiner Brust gelöst, den
ich da nicht vermutet hatte. Es tat jedoch gut, dass er nun weg war!
Ich sah die Gebäude hoch, wo gerade die letzten
Sonnenstrahlen verschwanden. Dann stand ich auf und machte ich mich auf den
Rückweg nach Oberhofen.
Es drängte mich Hinnerk zu erzählen, was ich erlebt
hatte. Sabines Gesicht zu sehen, wenn ich ihr von meinem Erlebnis erzählte.
Aber in erster Linie freute es mich Hinnerk mitzuteilen, dass ich vielleicht
kein hundert Prozentiger Gläubiger war, so wie er mich in seiner Wut betitelt
hatte. Mit Bestimmtheit war ich nun kein kein Zweifler mehr. Es gab ihn, sie,
es, die Kraft Gottes, die das Universum gestaltet und gebaut hatte. Und wer war
ich, dies in Frage zu stellen? Ein kleiner Mensch nur, der einen winzigen
Beitrag leistete. Ich war gewillt, dies in Zukunft mit einem geänderten
Gewissen zu tun. Mit dem Wissen, dass es so war. Und dass es so richtig war,
Amen!
Das hiesse zwar, dass auch der Clown in irgend
einer Form existent war. Evtl. war er sogar der Traumdämon gewesen, der die
anderen und mich zu sich gerufen hatte. Er sollte bloss die Unverfrorenheit
haben und sich zeigen. Ich war bereit!
Frohe Weihnachten, Menschheit. Frohe Weihnacht,
Hüter!
ENDE