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Bericht vom Kongress der Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung (2)

IRSCLTagung 09Bericht vom Internationalen Kongress der
Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung
(IRSCL-Tagung) in Frankfurt
Teil 2: Fantasy im Fokus

Im August fand in Frankfurt am Main der zweijährlich stattfindende Kongress der IRSCL (International Research Society for Children’s Literature) statt. Vom 8. bis 12. August 2009 trafen sich in den Gebäuden der Goethe-Universität fast 400 Wissenschaftler und Wissen-schaftlerinnen aus knapp 40 Ländern, die im Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur forschen und unter dem Oberthema «Cultural Diversity» ihre Thesen und Erkenntnisse präsentierten.

 

IRSCL-TagungslogosEinen Überblick über die Themen der einzelnen Referate geben zu wollen, ist ein unmögliches Unterfangen. Um euch, liebe Zauberspiegel-Leser und -Leserinnen, einen kleinen Einblick in die in Frankfurt präsentierte Forschung über Kinder- und Jugendliteratur zu geben, werde ich eine Auswahl der Referate, an welchen ich anwesend war, kurz umreissen. Die Auswahl ist selbstredend subjektiv, da ich nur Referate, die meinen Interessen entsprechen, besucht habe. Im 1. Teil  waren Beiträge unter der Überschrift «Einblicke in andere Kulturen» zusammengestellt, der 2. Teil ist Referaten zu phantastischer Literatur gewidmet, die sich als im Trend der aktuellen Kinder- und Jugendliteraturforschung herausgestellt hat.

Hier gehts zum ersten Teil mit dem Bericht zum Kongress.

Phantastische Literatur
Wissen und Kanon
Beitrag von Christine Lötscher: Wissen, Erfahrung und Magie in der interkulturellen Begeg-nung. Hybride Formen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der zeitgenössischen phantas-tischen Kinder- und Jugendliteratur.
Dieser reichhaltige Beitrag (mein persönliches Highlight) befasste sich damit, wie Wissen in aktueller phantastischer Jugendliteratur thematisiert wird und welche Funktionen es erfüllen kann. Auffällig viele Romane erzählen von kanonischem und nicht- oder gegenkanonischem Wissen und ordnen das eine den Guten, das andere den Bösen zu. Indem die Protago-nist/innen beim Eintritt in die phantastische Welt oft in Kontakt mit «geheimem» Wissen kommen, werden hier Vorstellungen der Romantik wieder aufgegriffen, denn in der Regel wird das geheime, das «richtige» (auch als ursprünglich oder mythisch gedachtes) Wissen mit Mündlichkeit verbunden (siehe etwa die Uluyala im Klassiker «Die unendliche Geschichte»), während das schriftliche Wissen als zumindest unvollständig entlarvt wird. So kommt es zu vielfältigen kulturübergreifenden Kontakten; der Zugang zu anderen Kulturen bedeutet Mehrwissen. Romantische Konzepte sind auch darin wieder erkennbar, dass das Wissen, das für das Verstehen der phantastischen Welt notwendig ist, eben nicht angelesen werden kann, sondern erfahren werden muss. Die kindlichen Protagonisten beweisen nicht selten ein «intui-tives» Begreifen, z. B. Lyra mit dem Alethiometer in Philip Pullmans «Northern Lights». Ein weiteres interessantes Beispiel ist der persiflierende Roman «Alcatraz», wo Fragen des Wis-sen zu Fragen kultureller Identität (und Identitätsfindung) werden – die sogenannten Biblio-thekare etwa beherrschen die «Länder des Schweigens». Bemerkenswert in diesem Zusam-menhang ist auch die «Multimedialisierung» des Wissensträgers Buch: Phantastische Bücher bieten bewegte Bilder, können sprechen oder – wie in Harry Potter – beissen und kratzen und ermöglichen ihren Leser/innen (durch die «phantastische» Beseelung) Interaktivität.

Harry Potter: Epilog unangemessen?
Beitrag von Melanie Babenhauserheide: Utopische und affirmative Elemente des doppelten Happy-Ends in der Harry-Potter-Reihe
Neben der Analyse der finalen Kapitel machte dieser Beitrag Ambivalenzen des gesamten Werks deutlich, die sich durch die Darstellung der Muggel- bzw. der Zaubererwelt ergeben, die auch stark mit Stereotypen arbeitet. (Zum Beispiel: Obwohl für Harry die Zaubererwelt klar die bessere, erstrebenswerte Welt ist, wird dies etwa in der Beschreibung der Lieblosig-keit des Zaubereiministeriumgs gegenüber Muggeln wieder demontiert.) Zentral ging es um die Funktion des Epilogs in Band 7 von Harry Potter, der die utopischen Aspekte des 1. Hap-py-Ends (gleich nach dem Ende der finalen Schlacht) wieder zurücknimmt: In diesem 1. Hap-py-End eröffnet die Trauer die Möglichkeit einer lebendigen Zukunft, die die faschistoiden Zwänge überwindet (Stichworte Unfähigkeit zu trauern, Bewahren durch Zerstören) und die Differenzen versöhnt, indem etwa die (sozialen) Hierarchien aufgelöst werden. Der Epilog verwässert diesen Schluss wieder, weil er die Gesellschaft wieder in dem Zustand zeigt, der am Anfang (bzw. vor Voldemort) bereits Bestand hatte: Die vier Häuser sind klar getrennt, Kinder tragen die Namen der Verstorbenen, und so fragt sich, ob genau jene Bedingungen wieder bestehen, die Voldemorts Aufstieg erst ermöglicht hatten. Als finale Affirmation fun-giert der letzte Satz «Und alles war gut», wobei hier freilich auch die Möglichkeit besteht, dass diese Phrase ironisch zu verstehen ist.  

Tod in phantastischer Literatur
Beitrag von Sonja Loidl: Der Tod ist immer sicher? Umgangsweisen mit dem Tod in ver-schiedenen Kulturen aus der phantastischen Jugendliteratur.
Vor dem Hintergrund, dass in der phantastischen Literatur bestimmte Gattungskonventionen wirken, namentlich dass die Hauptfiguren aus ihrem Milieu gerissen werden und in eine ande-re Welt geraten, in der andere Regeln gelten, untersuchte dieser Beitrag die Ausgestaltungen des Todes in Welten, die nicht an die Gegebenheiten unserer realen Welt gebunden sind. Da die Figuren in den meisten Texten Abenteuer erleben, und Gefahr daher fester Bestandteil des Plots ist, werden die Figuren unweigerlich mit dem Tod konfrontiert. Die ,Beschaffenheit des Todes’ muss in phantastischen Welten aber erlernt werden. So gibt es etwa andere Heilungs-möglichkeiten und -chancen, verschiedene Konzepte von Leben nach dem Tod und allfälliger Rückkehr aus dem Totenreich. Selbst wenn der Tod irreversibel ist, gibt es ja zuweilen die Möglichkeit, wenn nötig doch noch ein- oder mehrmals mit den Verstorbenen in Kontakt zu treten (z. B. Harry Potter: Hier gibt es nicht nur die letzte Dumbledore-Szene, sondern auch sprechende Porträts von Verstorbenen). Das Totenreich kann verschiedene Funktionen haben kann, sei es als Paradies oder als «Übergangsstation» (z. B. «Die Brüder Löwenherz»). Die Erfindung von Figuren, die auf natürlich Weise fast nicht sterben können, bedingt oft eine gewaltsame Todesart. Für die Überlebenden bleibt die Reaktion aber meist Trauer, diese kann aber, z. B. in «Eragon», bald in Action untergehen.

«Ghost Dance»
Beitrag von Sanna Lehtonen: «If you thougth this story sour, then sweeten it with your own telling» – Cross-cultural intertextuality and a feminist poetics of rewriting in Susan Prince’s Ghost Dance.
Die vor allem in Grossbritannien recht bekannte «Ghost-Reihe» («Ghost Dance» 1994) ist eine Fundgrube für eine Interpration auf der Folie feministischer Rhetorik, wie dieser inspirie-rende Beitrag von einer Fachfrau aus dem «fernen Norden», in dem die Geschichte in einer entfernten Vergangenheit spielt, aufzeigte. Die Geschichte weist viele metatextuelle Passagen auf, die die Konstruktion der Erzählung für die Leser/innen betonen, und kombiniert frei Ele-mente aus russischen Märchen, nordischer Mythologie und Sagen der Sami. Sie changiert so zwischen De- und Rekonstruktion dieser Stoffe. Die Hauptfigur Shingebiss etwa ist nicht nur eine (feministische) Adaption der Baba Jaga, sondern wird auch zu einer Schamanin. Die Begegnung der Hauptfigur Shingebiss mit einer anderen Kultur verlangt das Reflektieren von Geschlechtspositionierungen auf verschiedenen Ebenen, vom Cross-Dressing bis zur Ver-wandlung, wenn die Protagonistin (Achtung, Spoiler!) zu Loki wird (der sich ja immer wieder mal durch Geschlechtswandel auszeichnet). «Das Andere», als das vor allem die Hexen fun-gieren, kommt dabei aber nach wie vor nicht ohne ethnische Zuschreibung aus, und so fragt sich, ob das Spiel mit Gender auch eines mit ethnischer Zugehörigkeit ist. In diesem Zusam-menhang ist auch die Frage bedeutend, wer die «Definitionsmacht» besitzt, etwa wenn der Zar durch sein Wort eine seiner Bevölkerung zweifelhafte erscheinende Figur positiv konno-tiert. Am Ende wird die Welt übrigens entgegen vielen klassischen Beispielen nicht von einer Einzelperson, sondern von einem Team gerettet.


Homepage der IRSCL 2009

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