Die sieben Schwestern - Eine Geisterjäger John Sinclair Story (Teil 3/3))
Die sieben Schwestern
Eine Geisterjäger John Sinclair Story (Teil 3/3)
Er zuckte die Achseln. "Nur Geduld. Lang ist der Weg und beschwerlich, der hinausführt aus der Hölle ans Licht", zitierte er John Milton.
"Noch ist das Paradies nicht verloren", sagte Suko.
Damian sah meinen Partner an.
"Tatsächlich? Ist das so?" Er runzelte die Stirn, tat so, als dächte er angestrengt nach.
"Vielleicht, Inspektor Suko, liegen Sie ja beide falsch, und es sind bereits sechs Herzen, die ich beisammen habe."
Sein Blick wanderte zu mir, dann wieder zu Suko. Er blickte bekümmert.
"Wobei es mir um Ihren persönlichen Verlust bei der ganzen Sache selbstverständlich leidtut, Inspektor Suko. Offenbar bin auch ich nur ein kleiner Sünder, hochmütig genug, mir den Spaß zu erlauben, meine Gegner an ihrer empfindlichsten Stelle zu treffen."
Sukos Augen wurden bedrohlich schmal. "Wovon reden Sie, Mann?"
Damian lehnte sich zurück. Bisher hatte er einen ruhigen, beinahe vernünftigen Eindruck gemacht. Doch plötzlich fing sein Blick an zu flackern, als ob lang unterdrückter Fanatismus und Wahnsinn die Fesseln der Selbstkontrolle abwarfen und sich ihren Weg an die Oberfläche bahnten.
"Für manches Herz musste ich lange suchen, bis ich den geeigneten - sagen wir - Spender gefunden hatte. Der millionenschwere Finanzkaufmann, die Frau, die sechs Siebtel ihres Lebens ohne Bewusstsein im Bett gelegen hatte. Inspektor Kopelson war in dem zusammenhang ein echter Glücksgriff."
Ich spürte, wie mir die Galle hochkam.
"Für die Schwester der Wollust aber, Luxuria, gab es indessen Herzen im Überfluss. Die Hälfte der Menschheit wäre infrage gekommen. Denn das Weib ist die Wiege aller Wollust. Das Weib und jedes Weib. Jedes Weibes Herz ist der Schwester Luxuria genehm. Jedes."
Er schwieg.
"Sehr katholisch gesprochen", ätzte ich. "Aber mit Frauen und Sex hat Ihre ehemalige Kirche ja seit jeher Probleme. Ehrlich gesagt, klingen Sie für mich gerade eher wie ein verkappter Pfaffe als wie ein Diener der Hölle."
Damian sah mich an. Er lächelte.
"Ich sage Ihnen nur, wie die Dinge liegen. Jede Frau wäre infrage gekommen." Er sah wieder Suko an. "Daher hab´ ich mich entschlossen, die Gelegenheit zu nutzen und dem Ganzen eine persönliche Note zu verleihen."
Suko blinzelte. "Wovon zur Hölle reden Sie?"
"Ich war heute morgen in Ihrer Wohnung."
Suko starrte ihn an. "Was? Wieso ..."
"Herz Nummer sechs, Inspektor. Kapieren Sie immer noch nicht? Wie hieß sie doch gleich, Ihre kleine Freundin? Shao?"
***
Es hatte mich einiges gekostet, Suko davon abzuhalten, an Ort und Stelle auf Damian loszugehen und sprichwörtlich alles aus ihm heraus zu prügeln. Suko hatte versucht, Shao telefonisch zu kontaktieren. Erfolglos. Er war gerade im Begriff, aus dem Büro zu stürmen, um zu seiner und Shaos gemeinsamer Wohnung zu fahren, als der Laborbericht aus der Forensik reinkam. Das Blut auf Damians Hemd stammte weder von ihm selbst noch von einem der bisher bekannten fünf Opfer.
"Fahr´ nachhause", sagte ich zu meinem Partner. "Aber Shao wird nicht dort sein."
"Verdammt, John." Tränen der Hilflosigkeit standen in seinen Augen.
"Damian hat sie. Ich nehme ihn mir nochmal allein vor. Unsere einzige Chance - Shaos einzige Chance - besteht darin, Damian dazu zu bringen, uns zu verraten, wo wir sie finden."
Das tat er natürlich nicht.
"Einen Scheiß werde ich, Sinclair."
Er lachte mich aus. Letztendlich war er bloß ein kleiner kaputter Sadist, der sich an Sukos Angst um die Liebe seines Lebens und an meiner brennenden Wut weidete.
Genau die Sorte Mensch, die die deutschen Philosophen, Soziologen und Psychologen Adorno, Fromm und Horkheimer als autoritären Charakter identifiziert hatten. Die menschheitsgeschichtliche Sternstunde solcher Typen schlug für gewöhnlich in faschistischen Diktaturen.
War eine solche Hölle auf Erden gerade nicht zu haben, hielt der eine oder andere sich offenbar dann eben ersatzweise ans jenseitige Original.
Irgendwo muss man ja sein Auskommen finden.
"Einen Scheiß werde ich Ihnen sagen, Oberinspektor. Aber ich mache Ihnen ein Angebot. Eines, das Sie kaum ausschlagen werden."
Damian bot an, Suko und mich zu den gesammelten Herzen zu führen.
"Machen Sie sich keine Hoffnung, dass Sie noch irgendetwas verhindern können, Sinclair. Die Wiederkehr der sieben Schwestern kann nichts und niemand Irdisches mehr aufhalten. Aber Sie dürfen dabei sein, wenn es geschieht. Nur Sie und Ihr Partner. Es wird Zeit, dass Sie eine Lektion lernen, Geisterjäger. Die Lektion nämlich, dass die Hölle am Ende immer gewinnt."
***
"Und wo soll die große Show stattfinden?", fragte Sir Powell.
Wir saßen zu dritt in seinem Büro.
"Am Hafen. Im Kellergeschoss einer leerstehenden Lagerhalle, unten bei den Docks. Sagt Damian."
Powell nickte.
"Gut. Fahren Sie mit ihm hin. Solange das Ritual nicht vollzogen ist, besteht noch Hoffnung. Tun Sie um Himmels Willen - und um alles in der Welt - alles, was nötig ist, damit es nicht dazu kommt."
"Wir werden unser Menschenmögliches tun, Sir."
Powell seufzte. "Hoffentlich wird das reichen." Er sah abwechselnd Suko und mich an.
"Ihnen beiden ist bewusst, dass all dies höchstwahrscheinlich Teil von Damians Plan ist? Dass alles genauso läuft, wie er es sich zurechtgelegt hat."
Wir nickten.
"Ja, Sir."
Sir James erhob sich, Suko und ich ebenfalls, und unser Chef schüttelte uns die Hände.
"Dann seien Sie auf alles gefasst."
"Nach allem, was wir wissen, ist Damian nach wie vor auch nur ein Mensch."
Sir James verzog das Gesicht. "Viel Glück, Gentlemen."
Das war´s. Es war alles gesagt.
Ich sah Suko an. "Bereit?"
Mein Partner nickte.
"Bringen wir´s hinter uns."
***
Die Fahrt hinunter zum Hafenviertel verlief größtenteils schweigend. Ich fuhr, Suko saß auf dem Beifahrersitz, Damian, mit Handschellen gefesselt, auf der Rückbank.
Einmal drehte Suko sich zu ihm um.
"Sie haben gesagt, Sie hätten sechs Herzen beisammen. Fehlt da nicht noch eins? Was ist mit Nummer sieben? Hochmut."
Damian schaute mit unbeteiligtem Gesicht aus dem Seitenfenster.
"Keine Sorge, Inspektor. Alle Herzen sind bereit. Kein Herz wird fehlen."
Mir fiel etwas ein, etwas, das Damian während des Verhörs gesagt hatte. Als er sich selbst als kleinen Sünder bezeichnet hatte.
Ich blickte ihn im Rückspiegel an.
"Sie haben sich vorhin selbst als hochmütig bezeichnet. Haben Sie etwa vor, ihr eigenes Herz ebenfalls in die Opferschale zu werfen, Damian? Wollen Sie sich etwa selbst opfern? Um den ganzen Ruhm der Hölle einzufahren?"
Damian wandte den Kopf, und unsere Blicke trafen sich im Rückspiegel. Sein Gesichtsausdruck war pure Verachtung.
"Sie spinnen ja total, Sinclair." Er lachte wie über einen schlechten Witz. "Als ob ich einen derartigen Schwachsinn nötig hätte."
Wir hatten das Hafengelände erreicht. Der Abend dämmerte bereits. Damian hob die gefesselten Hände, wies nach vorn.
"Ach, halten Sie sich da vorn doch bitte links."
***
Die kleine Kirche kauerte im Schatten zwischen zwei Lagerhallen. An den offenen Seiten war sie dermaßen von Büschen zu- und Efeu überwuchert, dass sie praktisch darunter verschwand.
Wer nicht wusste, dass sie hier stand, wäre achtlos an ihr vorbei gegangen oder gefahren.
Ich parkte den Wagen.
"Ich dachte, wir fahren zu einer Lagerhalle."
Damian zuckte die Achseln. "Da hab´ ich wohl gelogen."
Wir stiegen aus. Suko und ich zogen unsere Waffen.
Während der Fahrt hatte es endlich aufgehört zu regnen. Selbst die bereits tief im Westen stehende Sonne lugte gelegentlich zwischen den grauen Wolken hervor. Immerhin etwas, dachte ich.
Suko blickte mit angespanntem Gesichtsausdruck die schlecht asphaltierte Straße hinauf. In einigen zehn Yards Entfernung machte ich dort ebenfalls etwas aus. Etwas dunkles, im Sonnenlicht feucht schimmerndes.
"Was ist das?"
Mein Partner zuckte die Achseln. "Ein toter Hund."
Damian machte ein joviales Gesicht. "Wollen Sie nachsehen, ob sein Herz fehlt?"
"Gehen wir", sagte ich.
Die Kirche war total verfallen. Die Fenster zerschlagen, geborsten, zersplittert, die Bänke zertrümmert. Das Kirchenschiff stellenweise eingestürzt. Überall Dreck, Abfall, leere Flaschen, Einwegwindeln, ausgetretene Kippen, blutverkrustete Injektionsspritzen. Das einarmige Altarkreuz warf den Schatten eines Galgenbaums. Wir sahen uns um.
"Und weiter?"
Damian machte eine Bewegung mit dem Kopf.
"Hier entlang."
Neben dem Altar führte ein Gang in die Sakristei. Suko und ich zückten unsere Bleistiftleuchten und schalteten sie ein. Auch hier nur Müll und Dreck. Heruntergebrannte Kerzenstummel, schwarz verkohlte leere Konservenbüchsen. Eine versiffte Matratze. Überreste einer offenen Feuerstelle, eines Lagerfeuers. Wahrscheinlich hatten hier Obdachlose gehaust. Himmelschreiendes Elend, keine zwei Meilen vom Canary Wharf entfernt, wo in den Bankentürmen täglich mit Abermillionen Pfund Sterling jongliert wurde.
An der Rückwand eine Stahltür.
"Da lang geht´s nach unten", sagte Damian.
Ich öffnete die Tür. Dahinter führten steinerne Stufen geradewegs abwärts.
"Leider kein Licht", sagte Damian.
"Ein Jammer", sagte ich. "Dann sagen Sie nur früh genug Bescheid, wenn die Show losgeht. Nicht dass wir womöglich was verpassen."
Damian grinste wieder. "Keine Bange, Sinclair. Sie werden nichts verpassen. Gar nichts werden Sie verpassen."
"Na, dann los."
Wir ließen ihn vorgehen.
***
Nach etwa zwanzig Stufen erreichten wir einen weiten Kellerraum. Die Decke war so niedrig, dass Damian den Kopf einziehen musste. Es war kalt, und es roch nach Fäulnis und Moder.
"Wenn Sie gestatten, meine Herren, mache ich Licht."
Damian ging zwei Schritte zu einem altertümlichen Keramik-Drehschalter an der Wand neben dem Eingang. Ich hörte ein scharfes Klacken, und plötzlich erstrahlte der Raum in grellem Licht, dass von mehreren Leuchtstoffröhren unter der Decke und an den Wänden abstrahlte. Ich blinzelte. Und Suko schrie.
"Shao!"
Jetzt sah auch ich es. An der gegenüberliegenden Wand des Raums befand sie ein mit Maschendraht eingezäunter Verschlag, der vielleicht mal als Zwinger für Hunde oder Stall für sonstige Kleintiere gedient haben mochte. In dem Verschlag, hinter dem Draht, stand ein alter medizinischer Rollstuhl, und darin saß -
- Shao!
War sie tot? Ihr Kopf war nach vorn auf die Brust gesunken. Quer über die Brust verliefen Bahnen breiten, silbrigen Klebebandes. Ebenso über Hände und Unterarme, die damit an die Armlehnen des Stuhls gefesselt waren.
Suko stürzte auf seine Freundin zu. In einem Reflex schrie ich: "Nein! Nicht anfassen!"
Zu spät. Ich sah, wie Sukos Finger sich in den Maschendraht krallten, hörte ein scharfes, elektrisches Knistern, Sukos erstickten Aufschrei, und dann sank mein Partner zu Boden und blieb regungslos liegen.
Das Ganze hatte bloß drei, vielleicht vier Sekunden gedauert, doch in diesen paar Sekunden hatte ich nicht auf Damian geachtet.
Plötzlich stand er neben mir, ein kleines schwarzes Kästchen in den gefesselten Händen, aus dem vorn zwei metallisch glänzende Stifte ragten. Bevor ich noch reagieren konnte, presste er mir das Ding an den Hals, ich spürte für einen Moment die Kälte des Metalls. Dann knisterte es erneut, unglaublich nah, und mich durchfuhr ein Schlag, als hätte mir Fenris, der Herr der Werwölfe, persönlich einen gezielten Kinnhaken verpasst.
Bevor ich noch mitbekam, wie ich parterre ging, gingen bei mir sämtliche Lichter aus.
***
Als ich wieder zu mir kam, war es Nacht. Der Mond, beinah voll, schien vom sternenklaren Himmel durch das stellenweise eingestürzte Dach in die Kirche hinein.
Ich saß auf einem primitiven Holzstuhl, meine Arme mit silbrig schimmerndem Klebeband auf den Armlehnen, meine Beine an den Vorderbeinen des Stuhls fixiert. Der Stuhl stand direkt vor den Stufen, die zum Altar hinaufführten, mit Blickrichtung zu diesem und dem demolierten Kreuz dahinter, an dem kein Heiland mehr hing.
Auf dem Alter schimmerten sieben schlichte, aber prunkvolle goldene Kelche im Mondlicht. Schräg neben dem Altar stand ein Stehpult, darauf lag ein dickes, in schwarzes Leder gebundenes Buch.
Ich blickte zur Seite. Links neben mir saß Shao, immer noch an den Rollstuhl gefesselt; zu meiner Rechten Suko, auf eben solch einem Stuhl wie ich, auf eben solche Art fixiert.
Beide waren bewusstlos. Oder schlimmeres.
"Hey!", sagte ich laut in Sukos Richtung, und mein Partner zuckte kurz zusammen und hob dann benommen den Kopf. Er blickte an sich herunter, zerrte kurz an seinen Fesseln. Zwecklos.
Ich sah zu Shao, und ihr Kopf hob sich langsam von ihrer Brust. Sie wandte den Kopf, sah mich und Suko, stöhnte heiser und schluchzte auf.
"John! Suko!"
Suko schluchzte ebenfalls. "Shao, Liebes! Heiliger Buddha, ich dachte, du wärst ..."
Er verstummte.
Wir hörten Schritte, irgendwo hinter dem Altar, und aus dem Durchgang zur Sakristei schälte sich ein dunkler, hoher Schatten.
Damian.
Er trat hinter den Altar, blickte schweigend auf uns hinab. Er trug ein schwarzes Priestergewand. Der Handschellen hatte er sich entledigt. Klar, kein Kunststück, die Schlüssel hatte ich schließlich in der Tasche gehabt. Ich brauchte nicht groß rumzutasten, um zu wissen, dass er mich - und Suko - außerdem vollumfänglich entwaffnet hatte. Zumindest fast.
"Wie ich sehe, sind alle wieder wach. Gut. Bei Leuten mit schwachem Herzen - oder einer koronaren Vorerkrankung - kann der Einsatz eines Tasers bekanntlich schnell mal tödlich enden. Aber wem sag´ ich das? Sie sind ja Polizisten."
Niemand von uns antwortete. Damian verzog verächtlich das Gesicht.
"Schön. Dann erkläre ich den anwesenden Damen und Herren jetzt das Programm des Abends." Er bückte sich, hob etwas von hinter dem Altar in die Höhe und stellte es auf ihm ab.
Eine Plastikkühlbox. Wie man sie fürs Picknick und beim Camping verwendet.
"Hier haben wir die fünf menschlichen Herzen, die ich in den letzten beiden Tagen so frei war, ihren Besitzern zu entwenden. Hier" - dabei deutete er auf das schwarze Buch auf dem Pult - haben wir, wie Sie sicher schon vermutet haben werden, das sagenumwobene Liber de ressurrectione septem peccatis mortalibus, das Buch von der Auferstehung der sieben Todsünden, ein - nicht nur äußerlich - pechschwarzes Machwerk übelster, pechschwärzester Magie, das ich mir erlaubt habe aus dem Giftschrank des Heiligen Vatikan zu stibitzen und das mich befähigen wird, mittels besagter Herzen sowie ein paar weniger, genau genommen sieben, Tropfen meines eigenen kostbaren Blutes, die sieben Schwestern der Hölle zu reinkarnieren. Auf dass diese sich unters Menschenvolk mischen, Sünde, Chaos und Vernichtung stiften und somit die Apokalypse und den endgültigen Höllensturz der Menschheit initiieren und so weiter und so fort."
Damian hatte ohne Zweifel den Verstand verloren. Er blickte uns fragend an.
"So weit alles klar? Fragen?"
Wir schwiegen. Er zog eine Schnute und die Stirn kraus.
"Keine Fragen? Wirklich nicht?"
"Fünf Herzen." Suko hatte unser Schweigen gebrochen. "Was ist mit den anderen beiden?"
"Ahhh!" Damian lächelte selig und wedelte mit dem Zeigefinger. "Nun, einen Teil Ihrer Frage können Sie selbst beantworten, Inspektor Suko. Wie ich Ihnen bereits bei meiner Stippvisite in Ihrer Dienststelle mitgeteilt habe, sitzt die Spenderin des Herzens für die Schwester der Wollust ziemlich genau zwei Sitze weiter neben Ihnen."
Ich blickte zu Shao, die offenbar erst jetzt ganz verstand oder realisierte, was hier gerade vor sich ging und noch vor sich gehen sollte. Und dass sie selbst dabei ihr Leben lassen sollte. Ihre Augen weiteten sich in aufkeimender Panik.
"Und was das hochmütige Herz angeht, das Herz für die Schwester Superbia - "
Ich sah Damian an und er mich, und sein triumphierender, selbstherrlicher, großkotziger Blick ließ seine folgenden Worte wie blanken Hohn erscheinen.
"- Das Herz für die Schwester, deren Name Hochmut ist, wird Oberinspektor Sinclair persönlich beisteuern." Er zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf mich.
"Denn Sie, Sinclair, in Ihrem maßlosen Hochmut und Ihrer bodenlosen Arroganz, glauben allen Ernstes, Sie könnten sich mit Luzifer, Asmodis, der ganzen Hölle und ihren Heerscharen anlegen und diese bis aufs Blut provozieren - und kämen damit durch und ungeschoren davon." Er schüttelte entschieden den Kopf. "Daraus wird nichts, Sinclair. Wer mit dem Teufel frisst, braucht einen langen Löffel. Und wer ihm in die Suppe spuckt - "
Damian wandte sich abrupt ab und dem Pult zu.
" - der löffelt sie auch aus."
Er schlug das Buch auf.
Suko und ich sahen einander an.
"Wie machen wir´s, John?"
"Hast du den Stab des Buddha noch?"
"Hatte ich. Aber Damian hat uns zweifelsfrei gefilzt und komplett abgeschmückt, als wir ohnmächtig waren. Die Peitsche ist auch weg. Die Pistole sowieso."
"Bei mir genauso", flüsterte ich. "Pistole weg, Bumerang weg. Allerdings - "
Ich deutete mit dem Kinn auf meine Brust.
Suko nickte. "Hat es sich schon erwärmt?"
"Noch nicht." Ich blickte zu Damian. Der machte sich gerade an der Kühlbox zu schaffen. Hob den Deckel ab.
"Dürfte allerdings bloß noch eine Frage der Zeit sein. Spätestens, wenn die Schwestern auftauchen."
Suko nickte knapp.
"Hoffen wir, dass es klappt." Laut rief er Richtung Altar: "Hey, Damian!"
Damian blickte auf.
Suko wackelte mit dem Kopf. "Und was ist meine Rolle bei dem Stück?"
Damian schien kurz zu überlegen. Dann lächelte er.
"Du darfst dabei den Verstand verlieren, Chinese."
***
Damian rezitierte laut aus dem Liber. Das war kein Latein, auch kein Griechisch, Aramäisch oder Sumerisch. Es klang seltsam abgehackt, mit heulenden, langgezogenen Vokalen dazwischen.
Damian rezitierte. Dazwischen nahm er nach und nach ein Herz nach dem anderen aus der Kühlbox und legte es in einen der Kelche auf dem Altar. Als zwei oder drei der Herzen in den Kelchen lagen, zog er ein aufklappbares Rasiermesser unter seinem Talar hervor, schnitt sich in den Handballen und ließ das Blut in die Kelche tropfen. Dann trat er zurück ans Pult und rezitierte weiter.
Dafür, dass hier gerade die Apokalypse eingeläutet werden sollte, wirkte das Ganze doch recht unaufgeregt, geradezu langweilig. Zumindest, wenn man zum bloßen Zusehen verdammt war. Zu allem Überfluss schliefen mir noch so langsam aber sicher die gefesselten Arme und Beine ein.
Plötzlich zog ein scharfer Wind durch das Kircheninnere.
Und dann sahen wir sie.
Zwei, drei, vier Schatten, Schemen, verwaschen wirkende anthropomorphe Gestalten, pechschwarz und doch von innen her leuchtend, in einem intensiven Blauton, den nur einer beherrschte und praktisch zu seinem Markenzeichen gemacht hatte: Luzifer, der Fürst der Hölle.
Offenbar hatte er seine Farbsignatur an seine Töchter vererbt.
Sie kamen.
Sie materialisierten.
Ich spürte, wie das Kreuz an der Kette um meinen Hals, das Kreuz auf meiner Brust sich jäh erwärmte, so sehr, dass ich befürchtete, es würde sich mir in die Haut brennen. Dieses Kreuz war meine ultimative Waffe gegen die Mächte und Kreaturen der Finsternis. Der Prophet Hesekiel hatte es einst in babylonischer Gefangenschaft geschmiedet, und die vier Erzengel persönlich hatten ihm seinen Segen gegeben. Damian hatte Suko und mir alle magischen Waffen abgenommen. Suko den Stab des Buddha, mit dem man für fünf Sekunden die Zeit anhalten, gewissermaßen einfrieren konnte, sowie die Dämonenpeitsche, deren Riemen aus der Haut des Dämons Nyrana gezogen waren; mir den silbernen Bumerang, der zielsicher jedes schwarzmagische Ziel traf und eliminierte. Von unseren mit Silberkugeln geladenen Berettas ganz zu schweigen. Weder mit Bumerang noch Peitsche hätten wir Damian freilich beikommen können. Er war ein Mensch, die Waffen wirkten jedoch nur auf Dämonen und anderes teuflisches Gezücht. Gegen die höllischen Schwestern hätten sie uns indes womöglich wertvolle Dienste geleistet.
Nun, sei´s drum.
Kurioserweise jedoch hatte Damian mir das Kreuz gelassen. Ich konnte mir das nur damit erklären, dass er schlicht nicht wusste, was es mit diesem Artefakt für eine Bewandtnis hatte.
Eine Wissenslücke, die ich umgehend zu schließen gedachte.
Auch Damian hatte die Schemen bemerkt, die über und hinter dem Altar emanierten. Eilig legte er das fünfte Herz in den fünften Kelch und tropfte sein Blut darüber, während er, vor sich hin murmelnd, weiter rezitierte. Er schreckte sichtlich erschrocken zusammen, als plötzlich meine Stimme durchs Gewölbe der Kirchenruine dröhnte.
"Terra pestem teneto - salus hic maneto!"
Die Formel, laut gesprochen, aktivierte die volle weißmagische Macht meines Kreuzes.
Ein blendend weißer Lichtstrahl schoss von meiner Brust, auf der ich das Kreuz unterm Hemd trug, in Richtung des Altars, Damians und der Schemen.
Damian kreischte auf, und auch die Schemen schienen zu kreischen. Es klang wie das Echo eines mehrstimmigen Schreis, das aus einer anderen Dimension in die unsere hinüberschallte. Im nächsten Moment ging das Buch auf dem Pult, das unheilige Liber de ressurrectione septem peccatis mortalibus, in grell lodernden Flammen auf.
Damian sprang zurück.
Die Schemen verwischten, wurden undeutlicher, verblassten. Damian erhob die Stimme, rezitierte. Die Schemen schienen wieder zu materialisieren. Damian starrte auf das Buch, dessen Flammen gerade in sich zusammenfielen und erloschen. Er wandte sich zu mir und meinen Freunden, und blanker Hass loderte in seinem Blick.
"Upps", sagte ich jovial. "Tja, das war´s dann wohl. Schätze, das Buch ist hinüber."
Damian starrte mich an. Dann grinste er verächtlich.
"Soll das vielleicht ein Witz sein, Sinclair? Netter Versuch." Er deutete zum Pult, von dem die Asche in dicken Flocken rieselte.
"Ich hatte ja auch nur sieben Jahre Zeit, die Formel auswendig zu lernen."
Er drehte sich um, tropfte weiteres Blut in die Kelche und rezitierte dabei frei weiter.
Neben mir bemerkte Suko trocken: "Tja. Das war wohl nichts."
Ich zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen.
Uns blieb nichts weiter übrig, als zuzusehen, wie die Schemen sich wieder manifestierten. Mittlerweile waren deutlich die Körper von fünf Frauen zu erkennen. Sie trugen weite schwarze Kleider. Ihre langen schwarzen Haare schwebten um ihre Köpfe, als bewegten sie sich unter Wasser. Ich hörte auch Stimmen, weibliche Stimmen, die eine Art Gesang anstimmten.
Dann kam Damian die Stufen vom Altar hinab. In der Hand trug er einen Dolch. Die lange, gebogene Klinge funkelte im Mondlicht.
Vor mir blieb er stehen.
"Also schön, Sinclair. Bringen wir´s hinter uns. Die letzten zwei Herzen. Wer zuerst? Du oder die Frau?"
Er hob den Dolch, hielt mir die Klinge direkt vors Gesicht.
"Meine letzte gute Tat auf Erden: Ich überlasse dir die Entscheidung."
Ich war, genauso wie meine Freunde, absolut hilflos, konnte nichts tun, um das Los, das Damian für uns auserkoren hatte, noch abzuwenden. Also griff ich zu der einzigen, wenn auch völlig stumpfen Waffe, die mir noch geblieben war.
Brutalstmögliche Verbalinjurien.
"Fick´ dich ins Knie, Damian."
Damian sah mich sekundenlang mit völlig leerem Gesichtsausdruck an. Dann zuckte er die Schultern.
"Na schön. Wie du willst. Dann fang´ ich mit der Frau an. Keine Angst, sie schreit nicht lange."
Ich hörte Shao neben mir aufschluchzen, Suko schrie: "Nein! Nimm mich!"
Ich wollte die Augen schließen. In dem Moment sah ich den riesigen Schatten, der plötzlich hinter dem Altar emporwuchs. Die Schemen der höllischen Schwestern stoben kreischend auseinander, Damian drehte leicht den Kopf zur Seite, um über die Schulter zu schauen -
Da klatschte plötzlich ein gewaltiger Fangarm, feucht schimmernd, muskulös und mit handtellergroßen Saugnäpfen gespickt, in sein Gesicht, wand sich um seine Schultern, seinen Hals und riss ihn mit einer einzigen Bewegung mehrere Yards zurück.
***
Die Kirche erglomm in einem höllischen scharlachrot. Ein riesiger Kraken kauerte auf dem Altar, hatte Kelche und Herzen unter sich begraben, während seine Fangarme in die Luft schlugen. In einem davon hing Damian, der sich verzweifelt wehrte, um sich trat und versuchte, sich aus dem unnachgiebigem Griff zu befreien. Nacheinander trafen die Fangarme die flüchtigen Schemen der Schwestern, die bei der Berührung schreiend zu schwarzen Rauchwolken verdampften. Auf der Vorderseite des Kopfes des Kraken formte sich ein Gesicht, das vage menschlich wirkte.
Ich dachte, ich spinne. Ich habe den Verstand verloren, bin wahnsinnig geworden. Damian hat mir das Herz aus dem Leib geschnitten, und ich bin geradewegs zur Hölle gefahren.
Doch nichts davon war der Fall.
Sie war gekommen.
Sie war hier!
Aber ... wie?! - Wieso?!
"Lilith?!"
Die Höllenfürstin persönlich, Hure aller Huren, Luzifers große Liebe, unsterbliche Geliebte, seitdem beide, aus den paradiesischen Gefilden verstoßen, zusammen in die ewigen Schwefelklüfte verbannt worden waren.
Warum sie bei ihren dankenswerterweise eher seltenen Auftritten außerhalb der Hölle bevorzugt in Form eines riesigen Kraken erschien, war vermutlich ihr Geheimnis und würde es auch bleiben. Dass sie sich ihrem geliebten und vergötterten Höllengemahl in anderer Gestalt präsentierte, davon war fest auszugehen.
Andersherum: Wer kannte schon die intimen Vorlieben des Teufels?
"Sinclair." Die Stimme dröhnte durchs Gewölbe.
Mist. Hatte sie etwa gerade meine Gedanken gelesen?
"Lilith! Ich hab´ mich - ehrlich gesagt - selten so gefreut, dich zu sehen! Aber was verschafft uns die seltene Ehre?"
Damian zappelte immer noch in ihrem Fangarm. Er hielt noch immer den Dolch in der Hand und stach damit auf den Tentakel ein. Erfolglos. Die Klinge ritzte nicht einmal die schuppige Haut.
Lilith schwenkte den Arm, sodass Damian direkt vor ihrem Gesicht hing. Dem, was ihr Gesicht war.
"Du!", spie sie ihm entgegen. "Du wagst es, die sieben Schwestern zu beschwören? Diese sieben Gören, diese Bastarde, die mein Mann - mein Mann! - ehebrecherischerweise mit einer Anderen gezeugt hat?! Mit dieser niederen Mätze namens Ursünde? Du willst sie auf Erden wandeln lassen, auf dass sie mich täglich an die Treulosigkeit meines Gemahls - "
Hier schluchzte der riesige Kraken theatralisch, und schleimiger Geifer ergoss sich über Damian.
" - die Treulosigkeit meines geliebten Gemahls erinnern? Die ich schon fast vergessen hatte? Niemals! Niemals, hörst du?!"
Der Fangarm zog sich zusammen, und es ertönte ein vielfaches feuchtes, schmatzendes Knacken, als Damian jeder Knochen im Leib gebrochen wurde.
Dann riss Lilith das Maul auf, ich fing einen letzten Blick aus Damians Augen auf, einen Blick voller Horror, Verwunderung und Resignation.
Und Lilith stopfte sich den sterbenden Mann ins Maul, schluckte trocken und ließ einen Rülpser ab, dass der Boden bebte und das ramponierte Altarkreuz in ihrem Rücken den letzten Halt einbüßte und endgültig umkippte.
Wahrlich, man begehe nie den Fehler, eine betrogene Frau an den erlittenen Betrug zu erinnern.
Epilog
Constable Suki Bjelland schloss den Aktendeckel und schüttelte ungläubig den Kopf. Sie hatte sich einst bei Scotland Yard beworben, weil sie andere Menschen beschützen und Verbrecher jagen wollte. Stattdessen war sie in der Verwaltung gelandet, genauer im Zentralarchiv der Behörde, wo nebst anderem die schriftlichen Dienstberichte der ermittelnden Beamten eingelagert wurden. Seit fünf Jahren versauerte sie in den unterirdischen, neonkalten Katakomben des Archivs, stellte einen Antrag auf Versetzung nach dem anderen, wenn schon nicht in den Außendienst, dann doch wenigstens in den Innendienst beim Mord-, Raub- oder Drogendezernat, egal, was. Nur hier raus.
Umsonst. Vergebens.
So unnachgiebig Suki Antrag um Antrag einreichte, so unnachgiebig wurde jeder einzelne abgelehnt. Scotland Yard schien beschlossen zu haben, Constable Bjelland im Keller zwischen Meilen von Aktenregalen versauern zu lassen. Sie fühlte sich wie ein Zombie, lebendig begraben.
Die Arbeit war simpel, öde und ließ Suki viel Zeit, die sie sich mit dem Schmökern in den Berichten ihrer Kolleginnen und Kollegen im Außendienst vertrieb. Die erlebten was. Spannung, Action, Gefahr, Erfolg oder Misserfolg. Alles, was Suki schmerzlich fehlte und abging.
Eine besondere Marke waren dabei die Fallberichte aus der Abteilung von Superintendent James Powell. Immer höchste Geheimhaltungsstufe, trotzdem war manches immer noch nachträglich geschwärzt worden. Kein Wunder bei dem, was die offenbar einzigen beiden Ermittler der Abteilung zu berichten hatten.
Das meiste klang schlichtweg verrückt. Nach den Spinnereien von Leuten, die sich auf LSD ein ganzes Wochenende lang Horrorfilme reingezogen hatten und irgendwie hängen geblieben waren.
Das meiste davon, der überwiegende Großteil, klang schlicht zu fantastisch, um wahr sein zu können.
Und doch standen all diese Dinge in offiziellen Fallberichten von Scotland Yard, korrekt abgefasst von hierzu autorisiertem Personal, vom Vorgesetzten gegengezeichnet, mit Datum, Aktennummer und allem Zipp und Zapp.
Damit war der Inhalt offiziell beglaubigt.
Also musste er auch wahr sein.
Und dann, eines öden Freitagnachmittags, während sie schon auf die Uhr schielte, um bloß den pünktlichen Feierabend nicht zu verpassen, ging Constable Bjelland plötzlich das Licht aller Lichter auf. Das Licht, das ihr den Weg weisen würde, hinaus aus der Hölle des Archivs mit seinen streng geheimen, verbotenen, geschwärzten Berichten, hinein ins wahre Polizeileben.
Wenn es all diese Höllenkreaturen, mit denen es dieser Sinclair und dieser Suko alle naslang zu tun bekamen, tatsächlich gab, dann würde sie, Constable Suki Bjelland, sie auch aufspüren können. Wenn nicht im Dienst, dann eben in ihrer Freizeit. Wie sie vorgehen, wo sie suchen musste, woran man die Gegner erkannte und mit welchen Mitteln man sie bekämpfte, das wusste Suki schließlich alles hinlänglich aus den Dienstberichten der Kollegen von Abteilung X.
Und sobald sie fündig werden würde und Erfolge vorweisen konnte, nun - Superintendent Powells zwei Ermittler hatten offenbar alle Hände voll zu tun.
Eine Dritte im Boot könnte da durchaus für willkommene Entlastung sorgen.
Zumal dann, wenn sie schon reichlich theoretisches Basiswissen, basierend auf umfangreichen Insiderkenntnissen, mitbrachte.
Constable Suki Bjelland verabschiedete sich ins Wochenende.