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Der Fluch der fliegenden Schädel - Eine Geisterjäger John Sinclair Story (Teil 1/3))

FanfictionDer Fluch der fliegenden Schädel
Eine Geisterjäger John Sinclair Story (Teil 1/3)

Der schwarze Chevrolet hatte, aus London kommend, auf seinem Weg den M4 Motorway entlang westwärts Hayes und Slough hinter sich gelassen und war nun im Begriff, Maidenhead südlich zu umfahren. Weite, einsame, sonnenbeschienene Wiesen und Felder, gelegentlich unterbrochen von einem düsteren Waldstück, bestimmten die Landschaft.

Es war Sonntag, kurz nach elf Uhr morgens, im Wagen herrschte ausgelassene Stimmung.

Die vier Männer, die in ihm saßen, waren allesamt Gangster. Einer von ihnen sollte in Kürze sterben, aber das wusste er noch nicht. Die anderen drei schon, denn genau deswegen waren sie unterwegs ...

"Was soll ich mit ´ner Abwrackprämie für meinen Wagen?", nölte Tony Bracken, der am Steuer saß. "Mein Wagen ist gerade mal ein Jahr alt. Aber ´ne Abwrackprämie für meine Alte, wie wär´s damit? Die können sie meinetwegen verschrotten."

"Wieso?", fragte Frank Dolan von der Rückbank. "Was ist denn mit der? Stottert der Motor?"

"Hättest sie mal besser ab und an richtig auf Touren bringen sollen", frotzelte Milton McKenzie, der neben Frank saß.

"Hin und wieder ein Ölwechsel soll auch nicht schaden", gab schließlich auch noch William "Hillbilly" Hill vom Beifahrersitz aus seinen Senf dazu.

Tony verzog das Gesicht. "Ha, ha, leckt mich doch am Arsch."


"Wenn wir nicht bald da sind, zünde ich mir hier drin ´ne Fluppe an", maulte Milton von der Rückbank, zog ein Päckchen Luckies ohne Filter aus der Jackentasche und steckte sich eine zwischen die Lippen. Hillbilly drehte sich zu ihm um.

"Ein für alle Mal, Milton. Im Wagen wird nicht geraucht."

"Sagt wer?"

Tony schaltete sich ein. "Der Boss. Und wenn der Boss sagt, im Wagen wird nicht geraucht, dann wird im Wagen nicht geraucht."

Tonys und Miltons Blicke trafen sich im Rückspiegel. Milton machte keine Anstalten, die Fluppe aus dem Mund zu nehmen. Allerdings auch keine, sie anzuzünden.

"Dann fahr´ zu", schnaubte er schließlich und sah aus dem Seitenfenster.

Tony richtete seinen Blick wieder auf die Straße. "Dahinten ist die Abfahrt. Über die Landstraße sind´s noch zwei Meilen."

***

Sie hatten den M4 verlassen. Nach ein paar Minuten auf einer schlecht asphaltierten zweispurigen Straße bogen sie links in ein Waldstück ein.

Nochch ein paar hundert Yards weiter bestand der Weg nur noch aus von Unkraut überwuchertem, festgefahrenem Sand.

Die Blätterdächer der hohen Bäume waren so dicht, dass nur vereinzelt ein Sonnenstrahl den Waldboden erreichte. Obwohl später Vormittag war, herrschte in dem dichten Gehölz, durch das sie fuhren, beinah dämmriges Zwielicht.

"Scheiße, ist das duster hier", sprach Frank Dolan aus, was alle dachten. "Fast schon gruselig."

"Drauf geschissen", nuschelte Milton, dem nach wie vor die kalte, unangezündete Zigarette zwischen den Lippen klemmte.

Tony schaltete die Scheinwerfer des Wagens ein.

Keine zwei Minuten später rollte der Wagen unvermittelt auf eine sonnige Lichtung.

***

Tony schaltete den Motor ab, und die vier Männer stiegen aus. Vertraten sich die Beine. Sahen sich um. Milton zündete endlich seine Zigarette an, inhalierte tief und bekam prompt einen Hustenanfall.

Frank und Hillbilly grinsten. Tony blickte auf seine Armbanduhr.

"Kurz vor zwölf. Fast wie im Western."

Hillbilly drehte sich im Kreis, spähte in den sie umgebenden Wald.

"Und wo ist jetzt die Hütte?"

Tony und Frank sahen einander an. Milton ließ die Zigarette in den Staub fallen und trat sie aus.

Hillbilly sah Tony an. "Also ich seh´ hier keine Hütte."

Tony nickte. "Das liegt daran, dass es hier keine Hütte gibt, Hillbilly."

Der Angesprochene runzelte die Stirn. Sein Blick ging zu Frank, dann zu Milton.

"Ich dachte, wir treffen hier die Jungs aus Glasgow. In einer Hütte, habt ihr gesagt."

"Hillbilly." Frank trat einen Schritt auf ihn zu. Gleichzeitig griff er unter seine Jacke und zog die Beretta 8040 aus dem Schulterhalfter. Tony und Milton taten es ihm nach und zückten ebenfalls ihre Waffen.

Hillbilly starrte seine Kumpane an. Er trug ebenfalls eine Waffe, hatte jedoch blitzschnell kapiert, dass es ziemlich dumm von ihm sein würde, sie ebenfalls zu ziehen. Stattdessen fragte er betont ruhig: "Was soll das, Jungs?"

"O´Bannon weiß, dass es nicht die Schotten waren, die ihm die achthundert Mille geklaut haben." Tony trat hinter Hillbilly. "Sondern du."

Hillbilly sagte nichts. Frank trat vor ihn hin.

"Wer wusste noch davon?"

Sie sahen einander in die Augen, und Hillbilly hielt dem Blick des anderen stand. Er wusste, er würde hier und jetzt sterben. Er wusste warum, und er wusste, wer ihn töten würde. Daran gab keine Zweifel mehr, und zumindest das fühlte sich irgendwie gut an.

"Wer hat sonst noch mitkassiert?"

"Niemand. Das Geld ist in einem Schließfach. Heathrow. Den Schlüssel hab´ ich am Schlüsselbund. Rechte Jackentasche."

Frank griff hinein. Förderte den Schlüsselbund zutage. Ging das halbe Dutzend Schlüssel durch.

"Der hier?"

Er hielt Hillbilly den Schlüsselbund vors Gesicht, einen einzelnen Schlüssel zwischen den Fingerspitzen.

Hillbilly nickte.

Frank trat einen Schritt zur Seite, um nicht in der Schussbahn zu stehen, und Tony schoss Hillbilly ins Genick. Hillbilly ging in die Knie und fiel aufs Gesicht. Tony beugte sich über Hillbilly und schoss ihm eine zweite Kugel in den Nacken.

Die drei Männer blickten hinab auf den Toten. Milton spuckte aus.

"Na, schön, das war der einfache Teil. Kommen wir zum Groben."

Sie steckten ihre Waffen wieder weg und gingen zum Wagen. Milton öffnete den Kofferraum.

***

Frank und Tony hatten den schweißtreibenderen Job; aber sie beklagten sich nicht. Frank und Tony hoben unter Zuhilfenahme zweier Klappspaten der Royal Army Hillbillys Grab aus. Und vermieden es tunlichst, in die Richtung zu blicken, in der Milton ein paar Meter weiter Hillbillys Leiche bearbeitete. Anonymisierte, wie er es nannte.

Erst schnippelte, knipste und zwackte er dem Toten mit einer Geflügelschere die Fingerspitzen ab; dann brach er ihm mit einer Kneifzange sämtliche Zähne heraus. Als das erledigt war, brach er der Leiche mit einigen gezielten Hieben mit der Zange Ober- und Unterkiefer. Und schließlich pulte er ihr mit einem Kreuzschraubenzieher die Augäpfel aus.

"Wieso die Augen?", fragte Frank, der unvorsichtigerweise hingesehen hatte.

Milton sah ihn ausdruckslos an.

"Scanner."

Frank runzelte die Stirn und blickte Tony an. Der zuckte nur die Schultern.

Schon seit geraumer Weile sickerte Hillbillys Blut in den staubigen Waldboden. Aus den zwei Einschusslöchern im Nacken, aus den verstümmelten Fingern, der zertrümmerten, zerfleischten unteren Gesichtshälfte, den leer starrenden Augenhöhlen. Milton sah für einen Augenblick zu, wie sich eine dunkle Lache bildete, die der helle Sand aufzusaugen schien wie ein Schwamm.

Dann spürte er das Vibrieren.

Es schien von tief unter der Erde zu kommen. Er blickte zu Frank und Tony, die bis zu den Hüften im halb ausgehobenen Grab standen. Auch sie schienen die Erschütterung bemerkt zu haben. Sie hatten aufgehört zu graben und starrten hinab in die Grube.

Und dann geschah es.

Mit einem hohlen Knall platzte nur wenige Yards von ihnen die Erde auf. Eine Sandfontäne spritzte mehrere Yards in die Höhe und ging auf die Männer nieder. Milton schrie auf, Frank und Tony gingen in Deckung. Als sie die Köpfe wieder hoben und sich den Dreck aus den Haaren strubbeln wollten, trauten sie ihren Augen nicht. Inmitten der Lichtung, über einem schachtartigen, gut zwei Yards durchmessenden Krater, schwebten etwa in Augenhöhe der Männer drei Schädel in der Luft.

Die Schädel waren grässlich anzusehen. Pergamentartige Haut spannte sich über die Knochen, die Augen waren milchig trüb und wiesen keine Pupillen auf. Die Lippen, dünn eir Bleistiftstriche und leicht ausgefranst, waren gefletscht und entblößten schwarze, messerspitze Zahnstummel. Von den Köpfen wuchs langes, strähniges, farbloses Haar.

Es waren die Schädel dreier Frauen, das konnte man gerade noch erkennen.  

Synchron rissen die grausigen Schädel die fauligen Mäuler auf.

Und stürzten sich auf die Männer.

***

Frank reagierte als erster. Noch während der erste Schädel auf ihn zuraste, holte er mit dem Spaten aus. Er traf den Schädel mitten im Flug mit der Breitseite des Spatenblatts und drosch ihn aus der Bahn. Während der Schädel in einem weiten Bogen zurück auf ihn einschwenkte, riss Frank zum zweiten Mal an diesem Mittag seine Waffe aus dem Schulterholster.

Er legte auf den Schädel an und schoss.

Und der Schuss saß.

Die rechte Wange des heranrasenden Schädels platzte auf, er geriet kurz ins Trudeln, fing sich wieder und raste weiter auf Frank zu.

Der schoss abermals.

Der Schädel taumelte jedoch weiterhin oder aber hatte sich auf Frank eingestellt und flog absichtlich Schlangenlinien.

Franks Schuss ging daneben. Frank Dolan konnte gerade noch rechtzeitig in Hillbillys halb ausgeschaufelten Grab in Deckung gehen, als der körperlose Schädel auch schon hauchdünn über seinen eigenen hinweg sauste.

Tony hatte nicht so viel Glück. Gleich als er die Schädel erblickt hatte, war er aus dem Grab gesprungen, hatte den Klappspaten weggeworfen, die Beine in die Hand genommen und war Richtung Wald gelaufen.

Weit war er nicht gekommen. Schon nach einem Dutzend Schritte hatte der zweite Schädel ihn eingeholt und verbiss sich in Tonys Nacken. Tony strauchelte und fiel der Länge nach hin. Er rollte sich auf den Rücken und griff sich mit beiden Händen in den Nacken, um das grässliche Ding dort loszuwerden. Und dabei schrie er und schrie und schrie. Der Schädel fraß sich derweil Bissen für Bissen an Tonys Nacken nach vorn, bis er unterm Ohr direkt über der Halsschlagader saß. Ein letzter Biss, und Tonys Blut spritzte in einem dünnen, scharfen, im Sonnenlicht rubinrot funkelnden Strahl in den Staub. Tony Brackens Körper zuckte noch ein paarmal, ein letzter Spasmus rammte seine Hacken in den Sand, dann lag er still. Der Schädel hing an seinem Hals, leckte, saugte und trank, labte sich am Blut des Toten.

Milton wiederum hatte dem dritten Schädel, als der auf ihn zuschoss, die Geflügelschere ins Maul und den Schraubenzieher ins Auge gerammt. Der Schädel war kreischend an ihm vorbei geflogen und am Rande der Lichtung vor einen massiven Baumstamm gesemmelt. Milton wollte schon aufatmen, da bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung neben sich am Boden. Er sah hin - und wollte zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten seinen Augen nicht trauen.

William "Hillbilly" Hills Leiche bewegte sich! Mehr noch - sie machte Anstalten, sich zu erheben.

Milton McKenzie packte kaltes Grauen. Dann stand der Tote vor ihm. Starrte ihn aus blutigen Augenhöhlen an, während das mittlerweile schwarze Blut aus dem zerstörten Mund quoll und vom zertrümmerten Kinn herabtroff. Die Leiche hob die Arme, streckte Milton die Hände entgegen und griff nach ihm mit den blutigen Fingerstummeln.

Milton drehte sich um und rannte zum Wagen.

Frank hob den Kopf aus dem Grab und sah, was Milton vorhatte.

"Milton, warte!"

Frank sprang aus dem Grab - und stand dem toten Hillbilly gegenüber. Die Leiche wankte auf ihn zu. Die leeren blutigen Augenhöhlen stierten ihn an, die zertrümmerten, zahnlosen Kiefer mahlten. Der Leichnam gab eine Art Rülpser von sich, und Frank spritzte ein Schwall höllenschwarzen Blutes entgegen.  

Ohne groß nachzudenken, holte Frank mit dem Klappspaten aus und schlug zu. Die scharfe Kante des Blattes traf den lebenden Toten seitlich am Hals und trennte den Kopf zur Hälfte vom Rumpf. Haltlos baumelte der Schädel zur Seite, nur mehr von einer Halssehne. Frank schlug nochmal zu, und nochmal, bis der Kopf mit einem satten Schmatzen vom Rumpf flog und zur Erde fiel.

Der Rumpf fiel ebenfalls zu Boden und rührte sich nicht mehr.

Anders Hillbillys Kopf.  

Nachdem er abgerollt war, schoss er gleich wieder in die Höhe, orientierte sich offenbar kurz - und nahm dann Kurs auf Frank, der beim Sprung aus der Grube die Pistole hatte fallen lassen und nur noch den Spaten hatte, um sich zu verteidigen. Frank sah Hillbillys körperlosen Kopf auf sich zu steuern, hob den Spaten wie ein Batter seinen Baseballschläger, um Hillbilly endgültig den Rest zu geben  - als plötzlich ein Stoß von hinten Frank Dolan traf, er seitlich weg stolperte und kopfüber in das Grab zurück fiel.

Es waren die drei Köpfe gewesen, die drei Köpfe, die unvermittelt aus dem Boden empor geschleudert worden waren, verweste tote Köpfe, die sich auf Frank und seine Kameraden gestürzt hatten, von denen zumindest einer schon tot zu sein schien.

Es waren die drei Köpfe gewesen, die ihm zu dritt nebeneinander wortwörtlich in den Rücken gefallen waren und ihn umgerammt hatten.

Frank lag bäuchlings knapp einen Yard tief in der Erde. Ihm tat alles weh. Trotzdem schaffte er es noch, sich auf den Rücken zu drehen.

Was er über sich in der klaren, frischen, sonnendurchfluteten Waldluft hängen sah, raubte ihm schlicht den Verstand und ließ ihn aufschluchzen.

Vier abgetrennte Köpf, drei davon im Endstadium der Verwesung, der vierte fürchterlich zugerichtet von roher Gewalt.

Drei Weiber, ein Mann.

Mit letzterem hatte er vor gut einer Stunde noch gemeinsam im Wagen gesessen und Tony verarscht, der schon so tot war, wie Frank es - wie er hoffte - möglichst schnell sein würde.

Frank Dolan konnte nur noch die Augen schließen.

Dann stürzten sich die Schädel mit schäumenden und geifernden Mäulern auf ihn.

***

Milton hatte den Wagen erreicht, im Vorbeilaufen die Kofferraumklappe und die offenstehenden Seitentüren zugeschlagen, war auf den Fahrersitz gesprungen, hatte den Motor gestartet - und zumindest den Anfang von Franks Ende im Seitenspiegel mitverfolgt. Dann hatte er den Wagen zurückgesetzt und war wie ein Verrückter den Weg zurück gerast, den sie gekommen waren. Mit einem Auge behielt er den Rückspiegel im Blick, voller Furcht, dass die Schädel ihm womöglich folgen würden. Doch er konnte nichts dergleichen entdecken.

Seine Todesangst schwoll gerade ab, da kroch erneut Panik in ihm auf.

Was, wenn einer der Schädel sich auf der Rückbank versteckt hatte und ihm während der Fahrt sprichwörtlich in den Nacken fallen würde?

Milton bremste scharf, sprang aus dem Wagen, riss die hintere Seitentür auf und zielte mit seiner gezogenen Waffe in den Fond.

Nichts.

Er war leer.

Milton schielte in den Freiraum unter der Sitzbank. Auch nichts, außer einem Werkzeugkasten.

Er stieg wieder ein und fuhr weiter.

Als er auf die Landstraße kam, wusste er, er hatte es geschafft.

Als er auf den M4 auffuhr, war er auch beinah davon überzeugt.

***

Deputy Melanie "MC" Corbijn hatte schlechte Laune. MC hatte eigentlich immer schlechte Laune. Heute hatte sie allerdings besonders schlechte Laune. Es war Sonntag Vormittag, und sie hatte Streifendienst.

Und sie war verkatert.

Am Abend vorher, das fiel ihr jetzt wieder ein, hatte sie keine schlechte Laune gehabt. Zumindest nicht allzu schlecht. Dafür allerdings den einen oder anderen Bourbon/Cola.

Vielleicht sollte ich Alkoholikerin werden, dachte MC.

Sich den ganzen Mist hier schönsaufen.

Streifendienst. Wozu sollte das überhaupt gut sein? Ziellos durch die Gegend juckeln und dem persönlichen Elend ins Gesicht sehen.

Immerhin: Sie hatte darauf verzichtet, in der City von Maidenhead durch die Straßen zu kurven; stattdessen kreuzte sie durch die südlich gelegenen, vorgelagerten Siedlungen.

Maidenhead. Sie hasste es. Niemals wäre sie von sich aus in dieses Kaff gezogen. Und noch weniger hätte sie sich hier zum Polizeidienst verpflichtet. Nach Maidenhead konnte man als Polizistin nur strafversetzt werden. Oder man war hier geboren wie ihr Kollege Emmet Webster. Aber selbst dann hätte MC sich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit vom Acker gemacht.

Sie tuckerte gerade an einem Waldstück vorbei und überlegte, ihren Kollegen anzufunken und ihn zu bitten, in der Nähe einen Mord zu begehen, damit sie endlich was zu tun kriegte - da sah sie, dass etwas vor ihr am Straßenrand lag.


Zuerst dachte sie an ein totes Tier; dann an einen dunkelfarbigen Fußball.

Dann erkannte sie, was es war.

Sie bremste den Wagen und starrte aus dem Seitenfenster.

Es war ein Kopf.

Ein einzelner Kopf.

Von einem Mann, wenn sie sich nicht täuschte.

Übel zugerichtet.

Als sei er, als er noch auf einem Hals saß, von einem LKW gerammt und überfahren worden.

MC sprang aus dem Wagen und lief je hundert Meter die Straße auf und ab, um den Asphalt nach Blutspuren abzusuchen.

Nichts.

Sie untersuchte den Wald, der an die Straße grenzte, fand allerdings weder einen Körper noch sonstige Leichenteile.

Der Kopf sah bei näherem Hinsehen noch relativ frisch aus. Das Blut, mit dem er über und über beschmiert war, war stellenweise erst halb geronnen. Zwei, höchstens vier Stunden, schätze sie. Bis dahin dürfte er noch gelebt haben.

So schnell würden Tiere die Leiche, oder was von ihr übrig war, allerdings nicht restlos gefrssen oder fortgeschleppt haben.

Seltsam.

MC überlegte. Das Ganze konnte ein Fall von bösem Verkehrs- beziehungsweise Auffahrunfall  mit massivem Personenschaden und anschließender Unfallflucht sein. - Es könnte aber auch Mord sein.

Der korrekte Dienstweg schrieb ihr in diesem Fall vor, die Mordkommission zu verständigen, auf die Spurensicherung aus London zu warten und in der Zwischenzeit vor Ort nichts zu verändern.

Wenn es allerdings Mord war, bestand durchaus die Möglichkeit, dass der oder die Mörder mittlerweile das Fehlen des Schädels bemerkt hatten und zurückkehren würden, um ihn zu suchen.

MC verfügte zwar über eine Dienstwaffe, hatte sie abseits der Schießbahn allerdings noch nie benutzt.

Zumindest noch nie abgefeuert.

Die Aussicht, an einem Sonntag Mittag ausgerechnet in Maidenhead bei einer Schießerei mit Killern zu sterben, die so dämlich waren, den Kopf ihres letzten Mordopfers zu verlieren, kam ihr alles andere als verlockend vor.  

Also traf Deputy Melanie Corbijn eine Entscheidung.

Sie holte Gummihandschuhe aus dem Kofferraum ihres Wagen sowie einen stabilen transparenten Plastikbeutel mit Zipp-Verschluss für Beweismittel, Größe XXL.

Dann machte sie sich daran, den Kopf in den Beutel zu bugsieren, schaffte es, sich dabei nicht die Uniform zu versauen, lud den Kopf seinerseits in den Kofferraum und fuhr zurück zum Revier.  

MC hätte nur zu gern Blaulicht und Sirene eingeschaltet, um mit Vollgas, sämtliche Verkehrsvorschriften missachtend, zurück zur Wache zu rasen. Aber das hätte die Einwohner bloß unnötig verschreckt. Und heute war immerhin Sonntag.

***

Als sie aufs Revier kam, fand sie die Wachstube verschlossen. An Sonn- und Feiertagen schoben immer nur zwei der insgesamt elf Beamten der Polizeiwache Maidenhead South Dienst. Brewster, ihr Kollege, mit dem zusammen sie heute tagsüber eingeteilt war, hatte also wieder mal verpennt. Und es hing an ihr, MC, ihn gegenüber dem Commissioner entweder zu decken oder zu verpetzen.

Am liebsten hätte sie letzteres getan, aber dann wäre Brewster stinksauer auf sie gewesen. Und auf Stunk unter Kollegen konnte sie wiederum gut und gern verzichten.

Immerhin wartete niemand draußen vor der verwaisten Wache, um seinen Nachbarn anzuzeigen, weil der während der Mittagsruhe den Rasen mähte. Oder ähnlichem belanglosen Mist, mit dem die Leute sich hier gegenseitig künstlich aufregten.

MC schloss die Tür auf, holte den eingetüteten Kopf aus dem Kofferraum des Wagens und schleppte ihn in die Wachstube. Dort war in einer Ecke eine kleine Teeküche eingerichtet, Kühlschrank inklusive. MC musste ein paar Getränkedosen und nicht mehr ganz so frische Käsestücke beiseite schieben; dann platzierte sie den Kopf im oberen Kühlfach.

Sie überlegte kurz, ob sie den Schädel nicht besser im integrierten Tiefkühlfach verstauen sollte, aber erstens passte er dort schon von der Größe her nicht hinein, und zweitens sollte er ja auch nicht ewig hier im Kühlschrank lagern.

Und da MC eh schon mal in der Küchenecke stand, machte sie sich als nächstes daran, erstmal Kaffee zu kochen.

Da fiel ihr prompt etwas anderes siedend heiß ein. Wo war sie mit ihren Gedanken? Verdammter Alkohol.

Sie holte den Kopf wieder aus dem Kühlschrank und stellte ihn auf ihren Schreibtisch. Die an sich transparente Plastiktüte, in der er steckte, war bereits nach den wenigen Minuten in der Kühlung, kurz nachdem sie wieder raus war, sofort von innen beschlagen.

Beweist immerhin: Er ist noch frisch, dachte MC.

Sie zog ihr Smartphone aus der Jackentasche, schaltete die Kamerafunktion ein und legte es neben dem Kopf auf den Tisch. Dann zog sie sich Einweg-Gummihandschuhe über und ging daran, den Schädel aus der Tüte zu nesteln.

Sie wollte Fotos von ihm machen und sie gleich per Mail an die Forensiker in London schicken.

Eine Digitalkamera gab es auf dem Revier ja nicht. Es hatte mal eine gegeben. Aber die war gestohlen worden.

MC hatte den Schädel halb aus der Tüte, als etwas geschah, das ihr einen derartigen Schreck durch die Glieder jagte, dass sie die damit verbundenen körperlichen Schmerzen überhaupt nicht wahrnahm.

Unvermittelt biss der Schädel zu. Er erwischte MCs Handballen und biss mit aller Kraft hinein. Die Die zahnlosen, blutverkrusteten Kiefer bohrten sich in MCs Fleisch, fanden jedoch, da sowohl Ober- als auch Unterkiefer mehrfach gebrochen waren, keinen Halt.

MC schrie auf, riss ihre Hand aus dem Griff des Schädels und taumelte zurück, bis sie gegen den Kühlschrank stieß.

Und traute ihren Augen nicht.

Wie von Geisterhand erhob sich der Schädel von der Tischplatte. Er schüttelte die Plastiktüte ab, drehte sich einmal im Kreis und fixierte dann die einzige Person im Raum, die, vor lauter Überraschung, Schreck und Grauen sprichwörtlich gelähmt, nichts anderes tun konnte, als genauso hemmungslos zurückzustarren.

Dann setzte der Schädel sich in Bewegung. Erst langsam, jedoch permanent beschleunigend, schwebte er auf MC zu. Die starrte ihm entgegen und dachte: Er will mich küssen!

Und einen Sekundenbruchteil später: ... Oder fressen!!

Und dann war der Schädel beinahe bei ihr, und sie dachte: Nicht mit mir!!!

Und als der Schädel so dicht vor ihrem eigenen Gesicht schwebte, dass sich beider Nasenspitzen schon beinahe berührten -

- machte MC einen eleganten Ausfallschritt zur Seite und zog dabei die Kühlschranktür sperrangelweit auf.

Der Schädel schoss ungebremst in den Kühlschrank. Ein dumpfer Knall, irgendwas fiel rumpelnd um.

MC knallte die Tür zu, lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen und angelte mit dem Fuß nach dem nächstgelegenen Stuhl.

Sie klemmte die Stuhllehne unter den Griff der Kühlschranktür. Erst als sie sicher war, dass der Kühlschrank nicht mehr geöffnet werden konnte, richtete sie sich auf.

Im Kühlschrank rumorte es. Rumpeln, dumpfe Schläge.

Aber die Tür hielt.

Wie in Trance ging Deputy Melanie Corbijn zum Tisch, nahm ihr Smartphone, wählte eine Nummer, die sie noch aus ihrer Londoner Zeit auswendig kannte, hielt das Gerät ans Ohr und wartete, wobei sie den Kühlschrank nicht aus den Augen ließ.

Es rummste darin, dass manchmal der ganze Schrank erzitterte.

MC wechselte das Smartphone in die andere Hand, zog ihre Dienstwaffe, entsicherte sie und legte sie schussbereit neben sich auf die Tischplatte.

Als sich am anderen Ende der Leitung jemand meldete, schilderte MC in groben Zügen, was ihr gerade widerfahren war. Sie hörte sich dabei selbst zu und konnte kaum glauben, was sie da von sich gab. Sie wollte es nicht wahrhaben. Noch nicht.

Am anderen Ende der Leitung hörte man ihr geduldig zu und kündigte an, sie weiterzuvermitteln.

Und nochmal zwei Minuten später meldete sich eine Frau namens Glenda Perkins - und war ganz Ohr ...

***

MC hatte versucht, ihren nach wie vor abwesenden Kollegen Brewster telefonisch zu kontaktieren, aber niemanden erreicht. Also schrieb sie auf ein weißes Blatt mit rotem Filzstift BREWSTER: NICHT ÖFFNEN! LEBENSGEFAHR! ERNSTHAFT! KEIN SCHEISS! - MC - und klebte das Ganze bestens sichtbar auf die Kühlschranktür.

Mittlerweile war es im Inneren des Geräts verdächtig still geworden. MC hatte allerdings keine Probleme damit, der Versuchung zu widerstehen, hinein zu schauen.

Sie hatte dieser Glenda Perkins, die offenbar von dieser ominösen Abteilung bei New Scotland Yard war, von der MC während ihrer Zeit bei der Metropolitan gerüchteweise gehört hatte, sie hatte dieser Misses Perkins genau geschildert, wie der Schädel in der Luft geschwebt und auf sie zu geflogen war - und Misses Perkins hatte ihr versprochen, umgehend Unterstützung zu schicken. Immerhin. Sie ging davon aus, dass damit gemeint war, dass besagte Leute vom Yard oder wer auch immer den vermaledeiten Schädel fortschaffen würden. Wobei sonst hätten sie sie unterstützen sollen?

Misses Perkins hatte gemeint, MC solle am besten auf der Wache auf die Kollegen vom Yard warten, die in zwei, höchstens zweieinhalb Stunden eintrudeln würden.

Dabei hätte sie gerade alles gekonnt, aber nicht still rumsitzen und warten.

Also hatte sie beschlossen, noch einmal zur Fundstelle des Schädels zu fahren und sich dort ein zweites Mal, aber diesmal gründlich umzusehen. Vielleicht hatte sie ja etwas übersehen. Deswegen die Nachricht an der Kühlschranktür. Falls Emmett Brewster, der Trottel, eintrudelte, und sie wäre noch unterwegs, konnte er ja nicht wissen, was da Übles und Aggresives im Kühlschrank lagerte.

***

War ja klar. Ich hatte ja auch sonst nichts vor an diesem sonnigen Sonntag. Und hätte ich´s gehabt, wäre eh nichts draus geworden. Ich hatte ausgeschlafen und danach auf ein Frühstück in fester Form verzichtet. Stattdessen hatte ich mir früh bei einem Laden um die Ecke eine Portion Fish & Chips zu Mittag besorgt und trug sie gerade nachhause, als mein Smartphone maunzte.

Glenda.

Geh´ ich ran? Geh´ ich nicht ran?

Es konnte natürlich was völlig Harmloses sein.

Ein vermeintlicher Vampir, der sich letztendlich als durchgeknallter Säufer und Drogenabhängiger entpuppte.

Vermeindliche Satansjünger, die sich bloß einen Jux daraus machten, Ozzy Osborne-Platten rückwärts abzuspielen und damit die Nachbarschaft zu beschallen.

Durch die Stadt taumelnde Zombies, die sich als Überbleibsel einer ausgelassenen Betriebsfeier im Finanzviertel entpuppten.

Es konnte aber natürlich genauso gut auch was Toternstes sein.

Luzifer, Asmodis, Matthias und wie sie alle heißen. Oder Queen Mum hatte sich im Buckingham Palace gerade spontan in einen Werwolf verwandelt. (Oder, noch bedenklicher: Der Premierminister hatte sich zurückverwandelt.)

Es konnte aber auch etwas ganz anderes sein. Glenda lädt mich zum Mittagessen ein. In diesem Fall würden Fish & Chips als Lebensmittelspende an eine oder einen der Obdachlosen gehen, die es mittlerweile in jedem Londoner Stadtteil gibt, aus dem meine Kolleginnen und Kollegen von der Metropolitan sie nicht regelmäßig unter Anwendung der üblichen Maßnahmen vertrieben.

Genda? Nun, warum eigentlich nicht? Seit Jane Collins mit diesem Schnösel zusammen war, mit dem ich Blödmann sie sogar seinerzeit bekannt gemacht hatte, waren Frauen nicht mehr sonderlich präsent in meinem Leben. Zumindest nicht nahe des Zentrums.

Noch waren Fish & Chips halbwegs warm.

"Glenda, Herzallerliebste! Soll ich raten, weshalb du gerade jetzt gerade mich anrufst?"

Ich hörte sie kurz glucksen; doch ihre Stimme klang alles andere als belustigt.

"Kannst es ja mal versuchen, Herr Oberinspektor. Aber darauf kommst du mit Sicherheit nicht ..."

***

"Gut", sagte ich, nachdem alles Wichtige besprochen war. "Ich sag´ Suko Bescheid. Ich komme gerade nachhause."

"Suko weiß schon Bescheid", war Glendas Antwort.

Ach ..?

"Wieso rufst du bei solchen Sachen eigentlich immer erst meinen Partner an - und dann erst mich?"

Glenda kicherte.

"Weil ich ihn dann gleich fragen kann, wie wohl deine Laune gerade ist."

***

Also saß ich eine halbe Stunde später neben Suko auf dem Beifahrersitz des Audi, und wir düsten im Sauseschritt über den M4 westwärts Richtung eines der äußersten Vororte Londons, einer Kleinstadt namens Maidenhead.

Dort trieb angeblich ein fliegender Schädel sein Unwesen. Eine junge Polizistin hatte den corpus delicti in einem Kühlgerät dingfest machen können. Was mein Partner und ich allerdings aus Erfahrung nur allzu gut wussten: Wo sich eine derartige Absonderheit herumtrieb, gab es meistens auch noch weitere.

"Fliegende Schädel", sagte Suko, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. "Wo hatten wir so was schon mal?"

Ich hatte Suko das Steuer überlassen, da ich zumindest zu Beginn unserer Fahrt die Hände frei haben musste für Fish & Chips. Die hatte ich allerdings mittlerweile vertilgt.
 

Ich überlegte.

"Brickaville. Die Sache mit dem Karussell. Und den Vampiren."

Ich sah meinen Partner an. Der schüttelte den Kopf.

"Da bin ich nicht bei gewesen."

Das stimmte.

"Stimmt. Du warst damals zu beschäftigt damit, den Koffer zu packen für die Reise mit Bill."

Suko nickte. "Stimmt."

"Eure Asien-Rundfahrt. Bei der ich euch am Ende wieder mal rausboxen durfte."

Mein Partner schnaubte und grinste. "Mal wieder ..."

"Wahadin" sagte ich. "Der Teufelsdiakon von Java. Eine Hexe namens Tari hatte ihn wieder zum Leben erweckt. Also seinen abgetrennten Schädel."

Suko schüttelte, ohne den Blick von der Straße zu nehmen, den Kopf.

"Das war vor deiner Zeit", sagte ich. "Und du wärst eh nicht dabei gewesen. Das war auf Java, im Urlaub mit Jane."

Zwangsläufig dachte ich an Jane Collins.

Ich hörte Suko durch die Zähne pfeifen. "Java. Hört, hört."

Die Privatdetektivin, die ich hätte heiraten können. Die ich nie geheiratet hatte. Und die jetzt einen anderen hatte.

Pech.

Oder Blödheit.

Oder beides.

Und ich hatte die zwei auch noch miteinander bekannt gemacht.

Also beides.

"Wahadins Kopf hatte zweihundert Jahre oder länger in einer Schatulle auf dem Meeresgrund gelegen", rief ich mir den Fall der Hexe von Java wieder in Erinnerung.

"Puh." Suko schüttelte sich. "Der dürfte aber ziemlich gerochen haben."

Ich überlegte. "Eigentlich nicht. Er war ja die ganze Zeit über mehr oder weniger frisch geblieben. - Der Schädel lief dann die ganze Zeit auf einer Art Glaskörper durch die Gegend." Ich schüttelte den Kopf. "Das muss man sich mal vorstellen."

"Vernichtet?", fragte mein Partner knapp.

"Wie sich´s gehört", antwortete ich mit gespieltem Stolz.

"Brav", lobte Suko.

Da war doch noch was, grübelte ich.

Dann erinnerte ich mich.

"Cyrus Quant."

Suko sah mich fragend an. Ich wies auf die Straße, und er guckte prompt geradeaus.

"Das war ebenfalls vor deiner Zeit."

"War das der Typ mit den reanimierten Schrumpfköpfen?"

"Genau der."

"Bill hat mir davon erzählt."

"Stimmt. Der war dabei. Mann, das war einer unserer ersten Fälle. Lange ist´s her ..."  

Suko grinste breit, wurde aber sofort wieder ernst.

"Und womit haben wir es hier tun?"

Ich zuckte die Achseln.

"So weit Glenda mir erzählt hat, hat diese Polizisten den Kopf an einer Straße gefunden, mit aufs Revier genommen und ist dort von ihm gebissen worden. Und er kann eigenständig schweben oder fliegen."

Suko schob die Unterlippe vor.

"Also nicht viel."

Ich klopfte ihm auf die Schulter.

"Wie immer reichlich Spielraum für Überraschungen."

***

"Aber ich schwöre, das ist die Wahrheit! Genau so ist es passiert."

Mikey O´Bannon war ein großer und breiter Mann. Und er war emotional. Und gerade eben war die bei ihm vorherrschende Emotion blanke Wut. Er saß hinter seinem Schreibtisch und sah dabei aus, als wolle er jeden Moment den Mann anspringen, der davor saß.

Milton McKenzie.

Mikey O´Bannon war außerdem einer der reichsten, mächtigsten und einflussreichsten Gangsterbosse von London. Was in Anbetracht seines Gewerbes den Schluss zuließ, dass er vor keiner Brutaliät zurückschreckte, die er für angemessen hielt, und sei es aus einer puren Laune heraus.

Milton McKenzie war sich als langjähriger Angestellter von Mister O´Bannon all dessen nur allzu bewusst. Bewusst war ihm auch, dass die geplante Hinrichtung von Hillbilly Hill in Maidenhead ganz schrecklich aus dem Ruder gelaufen war, wobei er immer noch nicht so richtig kapiert hatte, was da nun im Einzelnen eigentlich vor sich gegangen war. Was er jedoch mittlerweile kapiert hatte, war, dass er, Milton McKenzie, der einzige Überlebende des ganzen Schlamassels war. - Und damit der Einzige, den O´Bannon für die ganze Chose verantwortlich machen konnte.
 

"Soll das heißen, ihr habt die Leiche nicht begraben?"

Milton zuckte die Achseln. "Wie denn?! Der war doch noch gar nicht tot! Zumindest nicht richtig. Der Kopf, Boss, der ..."

"Scheiße! Scheiße! Scheiße!" Mikey O´Bannons Stimme überschlug sich, und Milton zuckte bei jeder Silbe zusammen.

"Ich will kein Wort von dieser Fliegende-Schädel-Scheiße mehr hören!"

Er baute sich breitbeinig vor Milton auf, die geballten Fäuste in die schwabbeligen Hüften gestemmt.

"Du schnappst dir Rollo und Pinky, und dann fahrt ihr in diesen Scheißwald, verscharrt Hillbillys Kadaver und schmeißt Kopf, Finger und Zähne in die Themse. Und zwar jeden einzelnen. Zählt die Dinger nach, bevor ihr sie reinschmeißt. Und mit Frank und Tony macht ihr genau dasselbe. - Haben wir uns verstanden?!"

Milton wand sich auf seinem Stuhl.

"Boss ..."

Mikey O´Bannon starrte kurz auf Milton herab. Dann ging er seelenruhig zu seinem Schreibtisch, setzte sich dahinter, zog eine Schublade auf -

- und legte einen schweren silbernen 38er Colt auf die Tischplatte.

Die Mündung zeigte direkt auf Milton.

Mikey O´Bannon sagte nur ein Wort.

"Geh´."

Und Milton McKenzie wusste, es würde sein letztes sein. So oder so.

Also stand er auf und ging.

***

Deputy Melanie "MC" Corbijn war diesmal aus der anderen Richtung gekommen, und ihr war aufgefallen, dass der Fundort des Schädels bloß gut hundert Yards entfernt war von der Abfahrt, die von der Straße ab hinein in den Wald führte bis zum alten Richtplatz. Der war früher besonders bei Jugendlichen äußerst beliebt gewesen, da er im Grunde einfach zu finden und zu erreichen war, man andererseits dort jedoch unbeobachtet die wildesten Partys feiern konnte.

Mittlerweile fuhr die Jugend freitags und samstags nachts nach London, um Party zu machen. Am Wochenende war Maidenhead noch ausgestorbener als wochentags.

MC entschloss spontan, mal einen Blick auf den Platz zu werfen. Die Fahrt dauerte höchstens fünf Minuten.

Dass der Weg stellenweise derartig von Busch und Kraut überwuchert war, wunderte sie.

Schließlich wurde das Licht unterm dichten Blätterdach der hohen Bäume so schwach, dass MC die Scheinwerfer einschaltete.

Als sie kurz darauf die Lichtung erreichte, bot sich ihr ein Bild des Grauens.

***

Emmett Brewster hatte gnadenlos verpennt. Als er das Wachbüro aufschloss, sah er auf die Uhr. Kurz vor halb eins. Mist. Eigentlich hätte er schon um neun hier sein sollen. Aber er hatte wieder die ganze Nacht vorm Computer gesessen und getippt. Er arbeitete an seinem fünften Roman, und es ging gut voran. Sehr gut sogar. Die vier, die er davor geschrieben hatte, waren von sämtlichen Verlagen, denen er sie angeboten hatte, abgelehnt worden, und Brewster hatte auch verstanden, weshalb. Aber diesmal, das wusste er, war er auf dem richtigen Weg. Dies würde sein erstes Buch werden. Endlich.

Blöderweise konnte Emmett nur nachts schreiben. Tagsüber litt er unter chronischen Konzentrationsschwierigkeiten, die jeden Versuch, etwas Vernünftiges zu Papier beziehungsweise auf den Monitor zu kriegen, zunichte machten.

Nachts allerdings, wenn alles dunkel und still war um ihn herum, dann kam auch er zur Ruhe und konnte sich in seine Geschichte versenken und sie weiterschreiben.

Wenigstens war MC nicht auf der Wache. Wahrscheinlich auf Patrouille, dachte Emmett.

Er sah im Streifenbuch nach. Tatsächlich. Seine Kollegin hatte sich um zehn Uhr dreißig zum Streifenantritt eingetragen. Und noch nicht wieder ausgetragen. Also war sie seitdem wohl nicht mehr auf der Wache gewesen.

Dachte Emmett und checkte die Kaffeemaschine. Das Gerät war aus, die Kanne leer. Also würde er erstmal Kaffee kochen. Vielleicht würde MC sich damit kalmieren lassen. Einen gepfefferten Einlauf, zumindest in verbaler Form, würde ihm allerdings auch der beste Kaffee der Welt nicht ersparen.

Da fiel sein Blick auf die Kühlschranktür und das Blatt Papier, das an ihr befestigt war.
 

***

Wir hatten die Abfahrt vom M4 hinter uns und fuhren nun eine schmucklose Landstraße entlang auf den Ort zu. Weite Wiesen und Felder, hin und wieder ein kleineres Waldstück. Suko hatte die Adresse der Polizeiwache ins Navi eingegeben.

"Was hältst du davon, kurz bei unserer jungen Kollegin durchzuklingeln? Nur um sicherzugehen, dass sie auch auf dem Revier ist, wenn wir dort ankommen. Was in einer knappen halben Stunde der Fall sein dürfte, wenn Navigatrix nicht danebenliegt", sagte Suko.

"Okay."

Ich wählte die Nummer von Deputy Melanie Corbijn, die mir Glenda gegeben hatte. Ich wollte es schon aufgeben, hatte es sieben- oder achtmal oder noch öfter klingeln lassen, da meldete sich am anderen Ende eine Stimme. Jung, weiblich und mit einem Klang, als sei ihr gerade der Leibhaftige persönlich begegnet. Also unser alter Freund Luzifer.

Sie nannte ihren Namen, ich den meinen, und ich war versucht, sie zu fragen, ob es ihr gutginge, ließ es aber bleiben. Ich erklärte ihr, dass wir in der von Suko angegebenen Zeit beim Standort ihres Reviers eintreffen würden. Sie versicherte, sie werde dort sein. Wir verabschiedeten uns vorübergehend voneinander und legten beide auf, sie eher als ich.

"Und?", fragte mein Partner.

Ich zuckte die Achseln. "Alles gemäß Plan. Die Frau klang ein wenig neben der Spur."

Suko wackelte mit dem Kopf. "Sie ist immerhin vor kurzem von einem fliegenden Schädel attackiert worden. Nicht alle stecken das so gut weg wie wir." Er grinste.

"So weit ich weiß, hat Deputy Corbijn stattdessen den Schädel weggesteckt."

"Genau", sagte Suko. "Und darum schauen wir uns den gleich mal als erstes an.“

Mein Partner hatte den Satz kaum beendet, da krachte urplötzlich – im wahrsten Sinne des Wortes aus heiterem Himmel – etwas mit einem ohrenbetäubenden Knall mittig in die Windschutzscheibe. Sie ging zwar in tausend Scherben. Die geborstene Scheibe allerdings hielt stand, blieb am Stück und im Rahmen. Und so sah ich nur durch die gesplitterte und daher praktisch undurchsichtige Frontverglasung den dunklen Schatten, der von der eingedellten Scheibe abhob und himmelwärts verschwand.

Suko hatte derweil fachmännisch da Steuer herumgerissen und gebremst, sodass sich der Wagen einmal im Uhrzeigersinn um die eigene Achse im Kreis gedreht hatte und dann mitten auf der Straße stehen geblieben war. Da weit und breit kein anderer Wagen zu sehen war, waren wenigstens keine Unbeteiligten in Gefahr geraten.

"Was beim goldenen Buddha war denn das?“, fauchte Suko und rieb sich die Stirn. „Ein Vogel? Ein Flugzeug? Oder etwa ..."

"Bist du verletzt? Lassエ mal sehen.“

"Geht schon. Nur ein bisschen aufs Lenkrad getatscht.“

Ich lehnte mich aus dem Seitenfenster und suchte den Himmel ab. Nichts. Nicht mal ein Wölkchen.

"Ich weiß nicht. Nachdem es uns gerammt hat, ist es nach oben hin weggeflogen.“

Suki grinste matt. „Dann war es ein Ufo. Wusstest du, dass es auch für solche Sachen eine Spezialabteilung beim Yard gibt? Streng geheim natürlich. Wie bei uns.“

„Es könnte gut und gerne auch ein fliegender Schädel gewesen sein. Die Proportionen stimmten“, gab ich zu bedenken.

Suko sah nun ebenfalls aus dem Fenster nach oben.

"Wenn, dann ist er aber schnurstracks wieder weg.“

"Sieht so aus.“

Mein Partner rieb sich noch immer die Stelle über den Augen.

"Na schön“, sagte ich. "Plätzchentausch. Den Rest der Strecke fahre ich.“ Ich hatte bereits die Wagentür geöffnet, um auszusteigen.

"Aber ...“, setzte Suko an.

"Keine Widerrede. Du hast dir das Oberstübchen gewummst. Dich lass´ ich nur noch im äußersten Notfall ans Steuer.“

"Also spätestens zum Fünf-Uhr-Tee", scherzte Suko, stieg jedoch ebenfalls aus, und jeder für sich ging eine halbe Runde um den Wagen und stieg an der gegenüberliegenden Seite wieder ein.

"Was ich hatte fragen wollen“, sagte Suko, während er sich anschnallte und dabei auf die geborstene Frontscheibe deutete, „Wie willst du damit fahren?“

Ich zuckte die Achseln.

"Ich schau´ aus meinem Seitenfenster, du aus deinem. Dann haben wir zusammen praktisch Rundumsicht.“

Suko runzelte die Stirn. „Das ist nicht dein Ernst.“

„Hast du vielleicht einen besseren Vorschlag?“

Suko überlegte kurz. Dann schüttelte er den Kopf.

Ich startete den Wagen.

***

MC starrte auf die Leichen.

Drei.

Alles Männer.

Am schlimmsten sah der aus, der in dem Erdloch lag. MC spähte über den Rand der Aushebung und sah nur rohes, blutiges, schon dunkel werdendes totes Fleisch, und je weiter sie spähte, desto mehr davon. Die Grube selbst dagegen sah, auch wenn sie hierfür bei weitem noch nicht tief genug war, so doch zumindest von der Form her aus wie ein Grab.

Einer der anderen beiden Leichen fehlte der Kopf. MC zählte zwei und zwei zusammen und wusste, dass das vermisste Körperteil höchstwahrscheinlich mit dem identisch war, das auf der Revierwache im Kühlschrank lag.

Aber wie war der Schädel an die Straße gekommen? Hatten die, die das Massaker hier verübt hatten, den Schädel mitgenommen und ihn dann verloren?

Frische, mit bloßem Auge erkennbare Reifenspuren im Staub bezeugten, dass der oder die Täter mit einem Wagen gekommen und auch wieder weggefahren waren.

Hätte MC Ahnung von Reifenspuren gehabt, hätte sie gewusst, was für ein Fahrzeug der oder die Täter fuhren, und hätte eine entsprechende Suchmeldung an alle Reviere in der Umgebung rausgeben können.

Leider hatte sie null Ahnung von Reifenspuren. Die Leute von der Forensik würden die Suren später ablichten und dann im Labor automatisch mit Mustervorlagen abgleichen. Und am Ende würden sie genau sagen können, welches Modell, welches Fabrikat aus welchem Baujahr mit wie viel Mann an Bord nebst wie viel Pfund Zusatzgewicht die Ganoven am Tatort verwendet hatten. Fanden sie außerdem Farbpartikel, konnten sie auch die Farbe bestimmen. Und an irgendwas konnten sie sogar feststellen, wann besagter Wagen das letzte Mal beim TÜV war.


Was, bei allen Teufeln der Hölle, hat sich hier nur abgespielt?, dachte MC.
 

Und schrie vor Schreck laut auf, als plötzlich in mieser Soundqualität das Gitarrenriff von Hell´s Bells aus ihrer Jackentasche dröhnte.

Während sie mit zitternden Händen ihr Mobiltelefon aus der Tasche angelte und das Gespräch entgegennahm, kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, dass AC/DC als Klingelton für ein polizeiliches Diensttelefon vielleicht doch nicht gerade die beste Wahl darstellte.

Es war einer der Männer von New Scotland Yard.

Sie verabredeten, sich in einer halben Stunde auf der Wache zu treffen.

Das hieß, auch MC sollte sich mal so langsam auf den Weg machen.

Sie überlegte, was sie hier vor Ort noch tun könnte. Überlegte kurz, ob sie die Abfahrt von der Straße in den Wald mit Polizeiband absperren sollte. Aber das könnte irgendwelche Landeierkinder, die dort vorbeikamen, erst recht neugierig machen und anspornen, den Weg zur Lichtung einzuschlagen.

Die Lichtung.

Der alte Richtplatz.  

MC erschauderte. Also kein Band, und diesmal lassen wir hier alles schön ganz genau so, wie wir es vorgefunden haben. Mit Ausnahme unserer Stiefelspuren im Sand.

MC drehte sich um, ging auf ihren Wagen zu, hob´ dabei den Blick - und blieb wie angewurzelt stehen.

Über der Kühlerhaube des Wagens schwebte ein körperloser Schädel und starrte aus toten Augen feindselig in ihre Richtung.

Er hat sich irgendwie befreit!, war ihr erster Gedanke.

Irgendwie?!

Emmett, du verdammter Schafskopf!

Ein Gedanke, den sie allerdings sogleich wieder verwarf. Denn dies hier war eindeutig nicht der Kopf, den sie im Kühlschrank kaltgestellt hatte.

Dieser Schädel war der einer Frau. Der Schädel musste ziemlich lange unter der Erde gelegen haben, trotzdem war noch deutlich zu erkennen, dass die Frau, der er gehört hatte, auch zu Lebzeiten keine Schönheit gewesen war.

MC tat, was sie gelernt hatte, in solchen Situationen zu tun. Sie hoffte, dass sie sie richtig einschätze.

Blitzschnell zog sie die Waffe aus dem Holster am Hosenbund, entsicherte und legte auf den Schädel an.

***

Emmett Brewsters Augen lasen zwar die Worte auf dem Blatt Papier, das MC an die Tür des Kühlschranks geheftet hatte; indes, ihre Bedeutung kam nie in seinem Gehirn an. Zu absurd, zu deplaziert war gerade diese Nachricht oder Botschaft an dieser Stelle, als dass Emmett ihr so viel Bedeutung beimaß, dass er sich auch nur eine Sekunde mit ihrem Inhalt beschäftigte. Ganz zu schweigen davon, dass ihm in den Sinn gekommen wäre, der an sich eindeutigen Aufforderung nachzukommen.

Er wollte Kaffee trinken. Und er trank ihn immer mit sehr viel Milch. Die Milch war im Kühlschrank. Also öffnete Emmett den Kühlschrank.

Und prallte zurück und stolperte rückwärts.

Starrte auf das Ding im obersten Kühlfach.

Mein Gott, dachte er mit steigendem Entsetzen, MC, verdammt, was hast du getan?!

Er hatte immer gewusst, dass mit dieser Neuen irgendwas nicht stimmt. Von London nach Maidenhead, das stank förmlich nach Strafversetzung. Nur - strafversetzt weshalb? MC hatte nie offen darüber gesprochen.

Von Kolleginnen wie Kollegen hielt sie sich gleichermaßen fern. Und ansonsten schien sie in Maidenhead auch keine dicken Freunde zu haben. Redete sowieso immer nur davon, bald wieder weg zu sein. Zurück in London.

Und nun das!

Ein abgesägter Kopf im Kühlschrank.

MC musste komplett durchgedreht sein.

Emmett starrte immer noch den Schädel an, als der die Augen aufschlug und breit grinste.

Emmett sah es und pinkelte sich in die Hose.

Schneller, als er reagieren konnte, schoss der Schädel ihm entgegen und verbiss sich in Emmetts Gesicht, das weiche Fleisch der Wange direkt unterm rechten Jochbein.

Emmett griff nach dem Kopf, machte einen Schritt rückwärts, stolperte, setzte sich unsanft auf den Allerwertesten und prallte rücklings auf den gefliesten Boden.

Der Aufprall presste ihm jeden Kubikzentimeter Luft aus der Lunge. Emmetts Brustkorb fühlte sich an, als stünde ein PKW darauf.

Der Schädel nutzte die Gelegenheit und fraß sich Emmetts Wange hinauf. Beim Auge angekommen, stülpte er seine Lippen über die Augenlider und begann schmatzend zu saugen.

Emmett schrie und griff wieder nach dem Schädel. Aber sein Griff war zu kraftlos, er konnte das Monstrum nicht von sich loslösen.

Der Schädel saugte weiter an Emmetts Auge, Emmett spürte einen stechenden Schmerz, und dann sprang sein Augapfel aus der Höhle und verschwand im Maul des Schädels. Der biss mit mahlenden Kiefern den Sehnerv durch und zerkaute sodann mit genießerischem Gesichtsausdruck Emmetts Augapfel. Frisches rotes Blut und milchiger Sabber tropfen von seinem Kinn.

Von unsagbarem Grauen geschüttelt, sah Emmett dem Schädel mit seinem verbliebenen Auge zu. Der Schädel schluckte, und die zerkauten Reste von Emmetts Augapfel wurden durch den abgeschnittenen Hals hinabgepresst, quollen aus der zerfetzten und ausgefransten Wunde unten wieder hervor und klatschten auf die schlichten, schwarzweißen Fliesen, die auch vor dieser Schweinerei schon dringend mal wieder einen nassen Wischmopp nötig gehabt hätten.

Emmett wusste nicht, ob er würgen oder schreien sollte.

Der Schädel nahm ihm die Entscheidung ab, indem er sich mit gefletschten Zähnen abermals auf den Deputy stürzte.

***

Ohne zu zögern zog MC den Stecher durch. Der Schuss krachte, sein Echo verlor sich im Dickicht des Waldes.

MC hatte ihre Dienstwaffe zwar bislang ausschließlich auf der Übungsschießbahn abgefeuert, bei jeder vorgeschriebenen Standardübung allerdings stets zumindest die geforderte Mindestpunkt- und Trefferzahl erreicht. Im Fall der widernatürlichen Abscheulichkeit, die sie hier und jetzt aufs Korn genommen hatte, landete sie zwar keinen Volltreffer, erwischte den Schädel jedoch immerhin mit einem satten Streifschuss.

Etwas dunkles, flüssiges spritzte über Kühlerhaube und Frontscheibe des Wagens.

Der Schädel kreischte, heiser, schrill, und spuckte schwarzes Blut. Er geriet ins Taumeln und flog eine Kurve, offensichtlich im Bemühen, die Flugahn zu stabilisieren.

Das war MCs Chance. Und sie nutzte sie.

Sie sprintete zum Wagen, sprang hinein, schlug die Tür zu und startete den Motor. Während sie am Lenkrad kurbelte, um die Kurve zurück in den Wald zu kriegen, suchten ihre Augen den Himmel über ihr nach dem Schädel ab.

Da war er! In weiter Kurve flog er auf den Wagen zu. MC gab Gas und rauschte den einzigen Weg entlang in den Wald hinein.

Ein Blick in den Rückspiegel bestätigte, was sie schon befürchtet hatte: Der Schädel folgte ihr. Im Abstand von zehn, vielleicht fünfzehn Yards flog er hinter dem Wagen her, ein bösartiges, abartig gieriges Grinsen im halb verfaulten Gesicht. Die Wolken an Abgasen, die MC ihm entgegenblies, machten ihm nicht das Geringste aus.

Ganz im Gegenteil.

Für den Schädel duftete es paradiesisch, nämlich wie die Hölle.
 

MC ließ den Schädel bis auf drei Yards an den Wagen herankommen. Dann bremste sie scharf. Ihr war klar, dass das auf dem rutschigen Waldboden ein reichlich halsbrecherisches Manöver war, aber was besseres fiel ihr auf die Schnelle nicht ein.

Der Wagen schlitterte geradeaus und drohte auszubrechen, aber MC lenkte schnell genug dagegen. Der Schädel zeigte weniger gut ausgebildete Reflexe. Er knallte praktisch ungebremst in die Heckscheibe des Wagens. Das Glas splitterte, blieb aber ganz. Der Schädel rutschte die Scheibe hinab, wobei er eine hässliche bräunliche Schleifspur hinterließ, und kullerte rücklings vom Kofferraum.

MC schaltete in den Rückwärtsgang und trat das Gaspedal durch. Der Wagen schoss zurück. Ein zweifaches, deutlich spürbares Holpern zeigte an, dass MC den Schädel sowohl mit dem Hinter- als auch mit dem Vorderrad erwischt hatte.

Sie stoppte den Wagen.

Der Schädel lag einige Yards vor dem Wagen am Boden. Beziehungsweise im Boden, nachdem MC ihn überfahren und praktisch in den Untergrund hinein gestanzt hatte.

Langsam öffnete sie die Wagentür und stieg aus. Richtete die Mündung ihrer Waffe auf den Schädel und ging langsam, Schritt für Schritt, auf ihn zu.

Anderthalb Yards vor ihm blieb sie stehen.

Der Schädel selbst rührte sich nicht. Aber er war noch am Leben, wenn das, was ihn belebte, Leben genannt werden konnte.

In seinem Gesicht arbeitete es. Die gebrochene und eingedrückte Nase, das Loch im Gesicht, das von ihr übrig geblieben war, warf schwarze Bläschen. Ein Augenlid zuckte. Ein Mundwinkel verzog sich wie in Zeitlupe.

MC schoss das ganze Magazin leer. Schädel-, Fleisch- und sonst welche Stücke spritzten umher.

Was danach von dem Schädel noch übrig war, war nicht mehr als solcher erkennbar und würde nie wieder fliegen. Noch sonst etwas tun.

Dachte MC und ging zurück zum Wagen.

Den Weg zum Revier fuhr sie mit Blaulicht. So konnte sie wenigstens aufs Tempolimit pfeifen.

Sie hatte beim Losfahren nicht mehr in den Rückspiegel geguckt. Sonst wäre ihr vielleicht aufgefallen, dass ein paar der größeren Stücke, zu denen sie den Schädel zerschossen hatte, noch zuckten und pulsierten. Und MC war eh bereits auf der Landstraße Richtung Maidenhead, als die ersten Fleischfetzen und Schädelstücke anfingen, langsam aufeinander zu zu kriechen ...

Ende des ersten Teils

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