Nach Mitternacht - Eine Geisterjäger John Sinclair Story
Nach Mitternacht
Eine Geisterjäger John Sinclair Story
Wir standen auf dem obersten Dach von The Shard, der "Scherbe", Londons höchstem Gebäude, zwischen den vier spitzen Ausläufern aus Glas und Stahl, die sich wie gewaltige Messerklingen dem rabenschwarzen Himmel entgegenreckten.
Es war die finsterste Stunde der Nacht, kurz vor der Dämmerung des neuen Tages. Falls es den überhaupt noch geben würde. Wir waren hier oben, weil wir eine Verabredung hatten. Dienstlich, sozusagen. Eine, auf die wir gut und gern verzichtet hätten.
Ich drehte mich zu Suko um, der hinter mir stand, und mein Partner nickte mir zu und sagte: "Es geht los."
Ich erwiderte die Geste. "Bringen wir es zuende."
Plötzlich schien die Luft um uns herum zu flimmern, zu flackern, und vor uns erschien etwas, von dem ich immer wieder gehofft hatte, es nie wieder sehen zu müssen: ein überdimensioniertes, auf der Spitze stehendes gleichschenkliges Dreieck, in einem widernatürlichen Blau aus sich heraus leuchtend, die abartige, joviale Fratze des Höllenfürsten persönlich - das Antlitz Luzifers.
Die Fratze öffnete das Maul, und ein Stöhnen quoll heraus, so tief und niederfrequent, dass ich es mehr im Magen spürte als mit den Ohren wahrnahm. Dann öffneten sich die Augen, und zwei schwarzglühende Pupillen starrten auf uns herab.
"Da seid ihr." Das Maul verzog sich zu einem sarkastischen Grinsen. "Wieder einmal."
Ich zog den Reißverschluss meiner Lederjacke auf, riss mir den Hemdkragen auf, griff nach dem silbernen Kreuz darunter und riss kurzerhand die schmale Kette durch, an der es um meinen Hals hing. Das Kreuz war die einzige Waffe, mit der dem gefallenen Erzengel effektiv beizukommen war. Zumindest bisher.
"Sag´, was du zu sagen hast", rief ich der Fratze entgegen. "Aber bitte keine seitenlange Litanei wie bei Alighieri oder Milton. Wir haben uns hier oben schon lange genug die Ärsche abgefroren."
Ich blickte kurz zu Suko, der mir seinerseits einen leicht fragenden Blick zuwarf.
Luzifer schloss die Augen, als müsse er sich kurz besinnen. Dann ließ er seinen teuflischen Blick über die Stadt unter uns gleiten, so wie ich noch ein paar Minuten zuvor.
"Lange, Sinclair. Lange und immer wieder", dröhnte die Stimme unseres Erzfeindes. "Zu lange und zu häufig immer wieder, Suko." Luzifer schien den Kopf zu schütteln, langsam, resigniert. "Zu lange und zu häufig habt ihr alle Unternehmungen vereitelt. Alle meine Unternehmungen, die Prophezeiung zu erfüllen und mein Werk auf Erden zu beschließen."
"Dein Werk auf Erden?", hörte ich Suko neben mir rufen. "Wenn du damit Elend, Zwietracht, Verrohung und Gewalt meinst, kannst du dich doch wohl zur Zeit kaum beklagen, oder?"
"Was für eine Prophezeiung?", rief ich meinerseits der bläulich schimmernden Visage entgegen, von deren Rändern purpurne Flämmchen züngelten.
"Die Prophezeiung vom Ende aller Tage, dumme Geisterjäger", knurrte es uns entgegen. "Vom Ende aller Tage, wie es selbst in eurer verlogenen Heiligen Schrift erwähnt wird."
Ich tat verblüfft. "Nun, wenn die Schrift verlogen ist, heißt das dann aber nicht ..."
"Schweig!" Für einen Moment starrte Luzifers Fratze mich an, als ob sie mich auf der Stelle fressen wollte. Reflexartig trat ich zwei Schritte zurück und hob die Hand, in der ich das Kreuz hielt.
"Ihr habt alle Versuche, die Prophezeiung zu erfüllen, zugrunde und zunichte gemacht." Luzifer schloss wieder die Augen, als dächte er nach. "Darum werdet ihr nun die Entscheidung treffen."
Der gefallene Engel schwieg und starrte uns bedeutungsschwanger an. Er konnte wohl einfach nicht anders. Tief in seinem pechschwarz durchbluteten Herzen war er ein unverbesserlicher Poser, ein eitler Geck, der auf keinen noch so billigen Effekt verzichten wollte. Selbst wenn es um das Ende der Welt ging.
Ich seufzte. "Lass´ dir nicht alles aus der Nase ziehen ..."
Luzifer grinste. Na bitte. "Darum werdet ihr beiden die Entscheidung treffen, wer das Werk der endgültigen Zerstörung und des Untergangs in die Wege leiten wird. Ihr wählt den Vernichter!" Der Höllenfürst schnaubte, und der beißende Gestank von Schwefel ließ mich beinahe würgen. "Wählt ihn jetzt!"
Dann begann die Fratze sich zu verbiegen, zu verzerren, sie riss das Maul auf, weit, immer weiter, wölbte es nach außen, stülpte es über den gesamten zweidimensionalen Schädel - und verschluckte ihn und sich selbst.
Der Höllenfürst war fort. Zurück in seinem Fürstentum. Hoffte ich.
Ich wandte mich zu Suko um. "Wie jetzt? Das war´s? Das war alles?" Die Kette hatte ich zerrissen, daher machte ich mich daran, mein Kreuz in der Innentasche meiner Jacke zu verstauen. "Dann nichts wie weg hier. Ich brauch´ dringend eine heiße Tasse ..."
"Ich glaube, du hast nicht richtig zugehört, John." Sukos Stimme veranlasste mich, den Blick zu heben und meinen Partner anzusehen. Er sah mich ebenfalls an - und dabei alles andere als glücklich aus.
Ich dachte einen Moment nach. Ließ mir Luzifers Worte noch einmal durch den Kopf gehen. "Was hat er damit gemeint? Wir wählen den Vernichter?"
"Ich denke, er meint damit, dass wir die, nun ja, Kreatur oder was auch immer wählen sollen, die sein höllisches Vernichtungswerk in Gang setzen soll."
Ich zuckte die Achseln. "Drauf gepfiffen. - Und wenn wir uns einfach weigern?"
"So einfach wird das nicht." Mein Partner ließ seinen Blick über die Lichter der Stadt hinweg in die ferne Nacht schweifen. "Ich denke, Luzifer belauscht unsere Gedanken. Und was auch immer wir uns bei dem Gedanken daran, wie der endgültige Vernichter beschaffen sein mag, vorstellen - das wird letztendlich der Vernichter sein."
Teufel, dachte ich, nachdem ich Sukos Worte begriffen hatte, das ist allerdings ein höllischer Winkelzug.
Suko packte mich am Arm. "Wir dürfen jetzt an nichts denken, John! Verstehst du?"
Ich zuckte die Achseln. "Die meiste Zeit denke ich eh an nichts." Das dachte ich zumindest. "Zumindest an nichts bestimmtes."
"Das ist kein Witz, John!" Sukos Stimme klang geradezu beschwörend. "Hier geht es womöglich um alles oder nichts. Also mach´ deinen Kopf frei!"
"Tu´ ich ja." Er hatte gut reden. Mein Partner meditierte schließlich regelmäßig, seit frühester Jugend an. Er konnte sich ein Vakuum im Kopf wahrscheinlich herbeiatmen.
Nicht denken, dachte ich.
Im selben Augenblick erscholl plötzlich eine dröhnende, sonore Stimme. Luzifer! Suko ließ mich los, wir kreiselten herum, doch vom Höllenfürsten war ringsum nichts zu sehen. Aber zu hören. "Ihr habt gewählt! Die Wahl ist getroffen! Der Vernichter ist erwählt!"
"Moment mal!", rief ich in die uns umgebende Nacht. "Immer halblang, Luzy, alter Knabe! Hier hat niemand irgendwas oder irgendwen erwählt!"
"Der Erwählte wird die Prophezeiung erfüllen", raunte die Stimme.
"Es gibt keinen Erwählten! Weil nämlich niemand von uns ..." Dabei hatte ich mich zu Suko umgedreht. Und der Blick des Chinesen hatte mir das Blut in den Adern gefrieren und die Worte im Halse stecken lassen.
Schon in den Minuten zuvor hatte mich das vage Gefühl beschlichen, hier und jetzt so etwas wie ein Deja vu zu erleben. Bei Sukos nun folgenden Worten schien sich das Gefühl weiter zu verdichten, der Eindruck zu verstärken.
"Tut mir leid, John", murmelte mein Dienstpartner und zweitältester bester Freund, während seine Augenbrauen ein Pagodendach formten. Mit äußerst spitzem Giebel. "Ich konnte einfach nicht anders."
"Was hast du ..?"
"Ich konnte einfach nicht an nichts denken." Er kratzte sich am Kopf. "Und so hab´ ich versucht, mir das Harmloseste vorzustellen, das ich kenne. Also, ich meine ..."
Ein plötzliches, von fern herüberschallendes lautes Rumpeln, Donnern und Krachen lenkte unsere Blicke hinaus auf die Stadt, nordwärts über den Fluss hinüber Richtung Whitechapel.
Ein gewaltiger Schatten zeichnete sich dort ab, dunkler als die Nacht. Etwas Riesiges, Unförmiges, das noch anzuwachsen schien, während es sich Richtung Innenstadt und uns entgegen wälzte und dabei eine Schneise der Zerstörung hinter sich ließ. Dann erfassten die gebündelten Lichter Londons den gewaltigen Schatten und tauchten ihn in ihr unwirkliches Licht, und wir beide - Suko selbst wie auch ich - erkannten mit Schaudern und Entsetzen den kolossalen Denkfehler, der meinem Partner soeben unterlaufen war.
Das Harmloseste, das ich kenne.
"Heiliger ...", hörte ich Suko seufzen. Den Namen, der gemeinhin zu folgen pflegte, verschluckte er. Verständlich. Denn der für gewöhnlich so Angerufene verwandelte soeben, als hunderte Yards großer Vernichter materialisiert, unsere Heimatstadt in eine Trümmerwüste.
Buddha! Der Heilige Buddha. Der Erleuchtete. Der Begründer einer Weltphilosophie, die Leitfigur einer Jahrtausende alten Weltreligion.
Das Harmloseste, das ich kenne.
"Er kommt direkt auf uns zu!", brüllte ich gegen den aufkommenden heißen Sturm an. Die halbe Stadt unter uns brannte bereits lichterloh.
Mit einem einzigen Schritt überquerte das fette, schwabbelige Monstrum den Fluss. Ein seliges Grinsen im feisten Gesicht, stampfte er uns entgegen, wie ein Riesenbaby, das gerade laufen gelernt hat. Dank des bis vor kurzem höchsten Gebäudes Europas unter den Füßen waren Suko und ich in etwa auf Augenhöhe mit dem Koloss.
Ohne zu zögern zückte ich mein Kreuz. Dieser hunderte Yards große Buddha kam direkt aus der Hölle, und dorthin würde ich ihn auch zurückschicken.
Ich brüllte die Formel.
Nichts passierte.
Ich brüllte sie nochmal.
Vergebens.
Das Monstrum stand - zumindest für seine Verhältnisse - zum Greifen nah vor uns und beäugte uns wie zwei popelige Insekten, für die es sich aus Langeweile und zum Spaß gerade eine möglichst fiese Todesart ausdachte. Freundlich sah dieser Buddha definitiv nicht aus.
Also kein Kreuz. Ich schleuderte den silbernen Bumerang. Er prallte an dem monströsen Schädel ab und verschwand in der Nacht. Buddha lächelte.
Eine fette Pranke erschien an der Dachkante. Suko schlug mit der Dämonenpeitsche zu. Kein Effekt. Er zückte den Stab des - Buddha!
"Schau´ her!", brüllte mein Partner der Hölleninkarnation seines höchsten Heiligen entgegen. "Der ist von dir! Erinnerst du dich?!"
Bange Sekunden vergingen. Buddha lächelte. Dann ballte sich die gewaltige Pranke vor uns zur Faust. Hob sich langsam in die Höhe. Bereit, auf uns niederzugehen und uns unsererseits zur Hölle fahren zu lassen.
"Benutze ihn!", rief ich Suko zu. "Benutz´ den Stab! Das ist unsere einzige Chance!"
"Hab´ ich doch schon!", kam die Antwort.
"Na - und?!" Wenn Suko den Stab des Buddha, den eine irdische Reinkarnation der Monströsität vor uns einst geschaffen hatte, aktivierte, stoppte um ihn herum für fünf Sekunden buchstäblich alles. Die Zeit stand still. Nur er konnte in der Zwischenzeit aktiv agieren. Alle anderen um ihn herum bekamen von dem Effekt im Prinzip gar nichts mit.
"Na - nichts! Fünf Sekunden, Alter! Was hätte ich denn tun sollen?"
Gute Frage. Und wahrscheinlich auch die letzte, denn für uns gab es keinen Ausweg mehr. Alle Waffen, die uns zur Verfügung gestanden hatten, hatten versagt oder waren wirkungslos geblieben. Buddhas häuserblockgroße Faust schwebte über uns, um auf uns niederzugehen. Und dann waren es noch mal dreihundert Yards steil hinab bis zum Erdboden.
Ich schloss die Augen.
"Schau´ mich an!", hörte ich da plötzlich eine Stimme rufen. Die Stimme einer Frau! Einer Frau, die ich kannte!
Shao! Sukos Lebensgefährtin!
Ich drehte mich um, und dort stand sie, breitbeinig, in der Haltung einer Kriegerin, und streckte dem Monstrum vor uns die Hand entgegen, und in der Hand hielt sie - das Amulett der Amaterasu!
Auch das Amulett der Sonnengöttin, in deren Blutlinie Shao stand, war eine weißmagische Waffe. Allerdings - anders als mein christlich geprägtes Kreuz - gewissermaßen auf den asiatischen Raum geeicht.
Die Wirkung war verblüffend; und verheerend. Dem Amulett, der ihm innewohnenden positiven Kraft gelang, was all meinen und Sukos Mitteln versagt geblieben war.
Die monströse Heiligenfigur vor uns kreischte auf, warf die Arme in die Luft, dass die daran herunterhängenden Fettlappen schaukelten. Fast wie kleine Flügel, dachte ich noch. Dann hörte ich Shao schreien: "Alle Mann in Deckung!!!" Dann explodierte die Welt.
***
Als ich die Augen wieder öffnete, fand ich mich - von Kopf bis Fuß zugekleistert - in einer Lache ranzigen, stinkenden Fetts. Direkt neben meinem Kopf ging es mehr als dreihundert Yards steil in die Tiefe. Ich blickte mich um. Ein paar Yards neben mir rappelten sich Suko und Shao gerade auf die Beine. Beide ebenfalls fetttriefend wie Potato Chips frisch aus der Fritteuse.
Die Magie aus Shaos Amulett hatte den Riesen-Buddha zerfetzt wie ein gewaltiger Küchenmixer.
"Ich fühl´ mich wie die Fußmatte in einem Taxi", hörte ich meinen Partner keuchen. Und wieder bekam ich dieses seltsame, vage Gefühl von Deja vu.
Dann spürte ich die tiefen Stöße, die aus dem Gebäude unter uns kommen mussten, für einen Moment schien alles zu schwanken wie auf einem Schiff bei hohem Seegang ...
Und dann brach The Shard, die "Scherbe", dieser mehr als dreihundert Yards hohe architektonische Fingerzeig gen Himmel, dann brach - beinahe lautlos, wie es schien - die Welt unter uns zusammen.
Ich stürzte, ich fiel, und während ich fiel, begriff ich, dass dies unweigerlich das Ende war - und begann zu schreien ...
***
Im Traum, heißt es, kann man nicht sterben. Bevor man stirbt, wacht man auf.
Klatschnass in Schweiß gebadet fuhr ich aus dem Schlaf hoch. Draußen, vorm Fenster, war es tiefste Nacht. Die Leuchtanzeige des Digitalweckers zeigt vier Uhr neunzehn.
Mit zittrigen Fingern tastete ich im Dunklen nach der Wasserflasche auf dem Nachttisch und stieß sie prompt um.
Ich ließ mich zurück in die klammen Kissen fallen und schloss die Augen.
Das kommt davon, dachte ich zu mir selbst. Das kommt davon, wenn man wochentags bis nach Mitternacht fernsieht. Hollywoodkomödien aus den Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Mit albernen "Geisterjägern" in Fallschirmspringermontur, mit "Neutronenpäckchen" und Gespensterfallen in Schuhkartongröße, mit grünen Schleimkobolden und der zugegebenermaßen äußerst attraktiven Sigourney Weaver.
Nicht zu vergessen einen hunderte Yards hohen Marshmallowmann.
Das kommt davon.
Scheiß Fernsehen.