Wolpertinger! - Eine Geisterjäger John Sinclair Story
Wolpertinger!
Eine Geisterjäger John Sinclair Story
"Und Entenflügeln!"
"Verstehe ..."
"Aber das schlimmste, das aller-aller-schlimmste ..."
"Ja?"
"..."
"Was?"
"Die Zähne ... oh, mein Gott, diese Zähne ..!"
Keine Frage, Freunde, in letzter Zeit hatte unsere Abteilung bei New Scotland Yard es mal wieder mit so allerlei kuriosen bis garstigen, zumindest uns bis dato noch nicht untergekommenen Geschöpfen zu tun bekommen: vom Jersey Devil und seinem Landsmann Wendigo über Digitalzombies aus dem Darknet bis zu einem Miniatur-Gremlin in der büroeigenen Kaffeemaschine.
Was mir Inspektor Alois Mösli von der Kripo Straubing da allerdings gerade am Telefon beschrieben hatte, ließ selbst die schrägsten schwarzmagischen Gesellen aussehen wie altbackene Bettlaken-Gespenster von Anno Tobak.
Nördlich der bayrischen Stadt Straubing, genauer im Gebiet um die Oberauer Donauschleife, einem Naturschutzgebiet am Ufer von Europas längstem Fluss (zählt man die Wolga mal nicht mit), in diesem Gebiet, so Inspektor Mösli, trieb seit kurzem ein mörderischer Wolpertinger sein Unwesen.
Ja, Freunde, ihr habt richtig gelesen.
Ein Wolpertinger.
Darauf brauchte selbst ich erst mal eine Tasse meines Lieblingsgetränks.
Suko hatte prompt in einem Online-Lexikon den Artikel zum Stichwort Wolpertinger aufgerufen und deutete auf eine fotografische Abbildung auf seinem Monitor. "Es ist ein Hase. Oder Karnickel. Mit Flügeln und Geweih."
Ich nippte an Glendas mal wieder höllisch steilem Kaffee. "Laut Inspektor Mösli ist es ein Dackel. Auf gut deutsch: Dachshund."
Sukos Augen wurden schmal. "Du meinst - ein Wiener?"
Ich zuckte die Achseln und nickte ergeben. "Ein Wiener."
In England hießen Dackel wiener dog oder auch sausage dog. Wiener Würstchen auf vier Beinen, sozusagen. Die Analogie lag nahe, die Ähnlichkeit war unverkennbar.
"Oh je." Suko scrollte sich durch den Online-Artikel. "Sieh´ dir das an, John. Es kann auch eine Eule mit Hasenkopf, Entenschnabel und Mörderkrallen sein."
"Lass´ gut sein, hab´s kapiert." Uns blieb keine Wahl. - Wir mussten nach Bayern.
"Mit des Himmels Segen", hatte Superintendent Powell uns entlassen. "Aber halten Sie sich von Bocksbier und Schuhplattlern fern." Suko verzog das Gesicht, worauf Powell nachschob:" Das gilt auch für Sie, Inspektor. So weit ich weiß, sind Asiaten auf dem Münchner Oktoberfest mittlerweile die anteilmäßig am stärksten vertretene Volksgruppe."
"Was für Bocksbier und Schuhplattler gilt, gilt übrigens auch für Dirndl", gab uns Glenda noch mit auf den Weg, als wir aus Powells Büro geschlichen kamen.
***
Straubing war hässlich; die Landschaft drumherum dafür umso schöner.
Kripo-Inspektor Mösli hatte jedoch kein Auge für die Pracht der Natur. Drei Tote hatte es bereits gegeben. Die Leichen der Opfer waren alle im Naturschutzgebiet nördlich der Stadt aufgefunden worden, in freier Wildbahn sozusagen, allesamt grausam verstümmelt wie von den Zähnen eines ziemlich großen, allerdings offiziell unbekannten Raubtiers. Die Opfer waren Jogger, Spaziergänger, Radfahrerin gewesen, die nach Einbruch der Dunkelheit in der Nähe des jeweiligen Fundorts unterwegs gewesen waren.
Und dann gab es die Zeuginnen und Zeugen, zusammen ein gutes Dutzend, die kurz vor den Leichenfunden ein seltsames, ziemlich großes Tier beobachtet haben wollten. Die Beschreibungen ließen nur einen Schluss zu.
"Er ist es! Wie ich ihn am Telefon beschrieben habe, wissen Sie noch, Herr Oberinspektor? Er ist es!" Inspektor Mösli war tatsächlich davon überzeugt, dass ein riesiger menschenfressender Wolpertinger um Straubing die Runde machte. Ein an sich harmloses Fabeltier, wie gesagt ein Hase mit Geweih, eine kuriose folkloristische Randerscheinung. Jägerlatein höchstwahrscheinlich.
"Ein Dackel", sagte Mösli. "Kein Hase. Ein Dackel."
Wir studierten die Polizeiberichte.
ZEUGE: Es war ein Dackel. Aber ein Riese. Mindestens ein Meter fünfzig.
FRAGE: Lang?
ZEUGE: Hoch!
Was Suko und mir dabei bei im Rahmen eines routinemäßigen Datenabgleichs auffiel, was unseren bajuwarischen Kollegen allerdings offenbar - wohl aus mangelnder Erfahrung - entgangen war: Alle drei Leichenfunde datierten jeweils in knappem Monatsabstand auf ein oder zwei Tage nach Vollmond.
Oha!
Lag da womöglich der Hase bzw. Dackel im Pfeffer? Wenn wir mal davon ausgingen, dass die Zeugen, die das Vieh gesichtet haben wollten, nicht samt und sonders zu viel Bocksbier intus gehabt hatten, und der Wolpertinger immer nur bei Vollmond aktiv wurde, lag ein weiterer Gedanke nahe. Nämlich dass es sich bei unserem Wolpertinger nicht um einen gewöhnlichen Vollzeit-Wolpertinger handelte, sondern vielmehr um jemanden, der nur zu gewissen Zeiten die Gestalt eines Wolpertingers annahm.
Bei Vollmond nämlich.
Ein Wer-Wolpertinger gewissermaßen, analog zum Werwolf oder Wertiger.
***
Die Zeit drängte. Zwei Nächte noch, dann war wieder Vollmond. Dann auf gut Glück und Weidmanns Heil durch die weitläufigen Wälder zu pirschen in der Hoffnung, zufällig den Weg des Werwolpertingers zu kreuzen, schien ziemlich aussichtslos. Nein, wir mussten der Bestie eine Falle stellen. Oder besser noch: mehrere. Über das gesamte Gelände verteilt.
"Um einen Wolpertinger zu fangen, braucht man einen Sack, einen Holzstock, eine Kerze und etwas Salz", klugscheißerte uns Mösli beim Nachdenken dazwischen.
"Wir wollen keinen Wolpertinger fangen, sondern einen Werwolpertinger aus der Welt schaffen, Herr Inspektor."
"Das können Sie doch noch danach machen; nachdem Sie ihn gefangen haben."
Der Werwolpertinger hatte - wenn auch überproportioniert, glaubte man den bereits erwähnten Augenzeugen - die Form eines Dackels oder Dachshundes. Der Dachshund wurde extra entsprechend gezüchtet - langgezogener, schmaler Körper, kurze Beine - um in Dachsbauten einzudringen und in den Bauten auf Jagd zu gehen.
Sukos Vorschlag, strategisch verteilt den Proportionen des Werwolpertingers angepasste vermeintliche Dachsbauten als Lebendfallen anzulegen, erwies sich nach kurzem Überschlagen des dafür nötigen Aufwands allerdings als unrealisierbar.
Dann also anders. Denk´, denk´, denk´. Der Werwolpertinger als formeller Dackel war ein Hund. Hunde hassen Katzen. Und jagen sie. Wenn wir nun statt mannshoher Dachsbauten strategisch verteilt Fallgruben anlegen würden, in die wir jeweils eine miauende Katze als Lockvogel, als Köder hineintun würden - dann würde der Werwolpertinger, egal, wo er gerade auf der Suche nach einem Opfer durch den Wald schlich, auf jeden Fall eine der Katzen hören, dem Miauen nachgehen und unweigerlich in die Fallgrube stürzen. Die Gruben mussten nicht einmal sonderlich tief sein, solange sie bloß eng genug waren, dass sich der Werwolpertinger nicht strecken und herausspringen konnte. Dann hätten wir ihn.
"Und woher kriegen wir die Katzen?", fragte Suko.
"Aus den Tierheimen ringsum."
"Hm ..."
Möslis Beamte rückten aus. Katzen einsammeln. Dann ging´s ins Gehölz. Ausschwärmen und Gruben graben. Je eine Katze hinein - und einen Wärmesensor, der den Werwolpertinger anmessen würde, wenn der in die entsprechende Falle ging; und uns mit einem Signal anfunken. Grube tarnen.
Gnadenlos trieben wir Möslis Leute an. Sie fluchten. Suko und ich verstanden plötzlich kein Deutsch mehr. Sie fluchten noch mehr.
Ja, ich geb´s zu, es hat Spaß gemacht, mal den Schleifer zu spielen. Spielen zu müssen, notabene. Denn die Eile war mehr als geboten. Als alles erledigt war, dämmerte bereits der Abend. Weiß und rund wie ein Pingpongball leuchtete der Vollmond über den Kronen und Wipfeln des bayrischen Waldes.
***
Die Katzen, die als vermeintliche Werwolpertingerbeute in den Erdgruben ausharrten, hatten den ganzen Tag nichts zu fressen gekriegt. Nicht nur, weil niemand an Katzenfutter gedacht hatte; sondern mit Vorsatz. Und sie enttäuschten uns nicht. Als sich das dunkle Tuch der Nacht über die Wälder breitete, knurrten die kleinen Mägen und der ganze Forst schien widerzuhallen von gottserbärmlich klagendem Maunzen und Miauen.
Suko und ich gingen allein auf Streife. Das war abgesprochen. Wir waren mit Kreuz, Peitsche, Bumerang und Silberkugeln bestens gerüstet für eine etwaige Begegnung mit dem Ungetier. Möslis Leute dagegen hätten der Bestie unter Umständen nichts entgegenzusetzen gehabt.
Wir patrouillierten gemächlich am Südufer der Oberauer Donauschleife entlang Richtung Westen. Dann den gleichen Weg zurück. Die Nacht war klar, ruhig und friedlich. Kaum zu glauben, dass irgendwo im Dunkeln diese bizarre Ausgeburt der Hölle lauern sollte, wahrscheinlich halb wahnsinnig vor Gier nach frischen Menschen- und hoffentlich auch Katzenfleisch.
Ich weiß, es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass Katzen in Geschichten nicht zu Schaden kommen dürfen. Schon gar nicht auf grausame Art. Leider sind der Realität derartige narrative Konventionen jedoch meistens ziemlich egal.
Um kurz nach fünf Uhr morgens weckte uns der GPS-Empfänger. (Wir hatten eine kleine Pause eingelegt und es uns im Ufergras bequem gemacht.) Der Wärmesensor in einer der Fallen hatte angeschlagen. Die Grube war gerade mal anderthalb Meilen von unserem Standpunkt entfernt. Wir flitzten los!
Fünf Minuten später stand ich mit meinem Partner am Rand der Grube. In unserem Rücken dämmerte bereits der kommende Tag.
Für die Kreatur, die sich dort unten, eingeklemmt in dem engen Erdloch, wand und dabei winselte, dass es mir eiskalt den Rücken hinabrieselte, während sie gleichzeitig auf dem Katzenkadaver herumkaute wie auf einem Kaugummi, für diese Kreatur gab es nur ein einziges Attribut: widernatürlich.
Ein obszön aufgebläht wirkender Riesendackel mit einem vergleichsweise winzigen Elchgeweih und allerdings sehr schön gemusterten Entenflügeln an den Schulterblattansätzen.
Widernatürlicher ging es kaum mehr.
Das Vieh bemerkte uns, blickte auf und fing an zu knurren. Es kläffte und klang dabei wie ein Werwolf, der sich übel die Fortpflanzungsorgane geklemmt hatte.
"Nun erlös´ ihn schon", drängte Suko.
"Tu´ du es", sagte ich.
Wir schossen so gleichzeitig, dass es klang wie ein einzelner Schuss.
Ein Werwolf verwandelt sich im Tod zurück in den Menschen, der er eigentlich ist. Wir hatten stillschweigend erwartet, dass uns hier etwas ganz ähnliches blühen würde.
Umso überraschter waren mein Partner und ich von dem, was sich vor unseren Augen im Zwielicht der Morgendämmerung abspielte.
Der tote Werwolpertinger verwandelte sich tatsächlich. Allerdings nicht in einen Menschen ...
***
"Das ist ein toter Dackel. Ein stinknormaler Dackel." Inspektor Mösli starrte hinab in die Grube und verstand offensichtlich die Welt nicht mehr. "Der ist ja praktisch zu Brei geschossen."
"Jetzt ja. Als wir ihn erschossen haben, war er noch ein Werwolpertinger."
"Sind Sie sicher?"
Ich überlegte. "Nein. Denn genaugenommen war es ja gar kein Werwolpertinger, sondern ein Dackelwolpertinger. Der Wirtskörper - wenn man es so nennen will - war ja nicht der eines Menschen - von wegen Vorsilbe wer - sondern der eines Dachshundes. Oder Teckel, wie man auch sagt."
Mösli kratzte sich am Kopf. "Tja, wenn Sie meinen ..."
Wir klopften ihm zum Abschied auf die Schultern. "Kein Problem", beschied Inspektor Suko seinem ranggleichen bajuwarischen Kollegen. "Und denken Sie dran: Wenn das nächste Mal so was sein sollte - Harry Stahl vom BKA. Die Nummer haben wir Ihnen ja gegeben."
"Ja. Ja, vielen Dank."
"Ach so, eine Frage noch, aus reiner Neugier. Wozu eigentlich den Sack, den Holzstock, die Kerze und das Salz, wenn man einen Wolpertinger fangen will?"
Mösli zuckte die Achseln. "Den Sack legt man aus und stellt den Stock so in die Öffnung, dass die offen bleibt. Dann tut man das Salz in den Sack, und wenn der Wolpertinger kommt und sich das Salz holen will, fällt der Stock um und der Wolpertinger sitzt im Sack. Und weil Wolpertinger nachtaktiv sind und man sie darum nachts fangen muss, die Kerze. Ohne Kerze sieht man ja nichts."
Harmlose Folklore, wie so häufig. Bis es die ersten Toten gibt ...