Albino Devil - Leseprobe
Albino Devil
Leseprobe
Er starrte aus dem offenstehenden Fenster auf die grünen Blätter zahlloser Bäume, die sanft von einer leichten Brise geschaukelt wurden. Vögel zwitscherten und das Summen einer Biene war zu hören. Toma nahm diese an sich idyllische Szenerie aber gar nicht wahr, denn vor seinem inneren Auge liefen Bilder in einer Endlosschleife ab, die von weitaus düsterer und schrecklicherer Natur waren.
Tränen sickerten aus seinen eisblauen Augen, als er das Glas an seine Lippen führte und der Schnaps brennend wie flüssiges Feuer seine Kehle herunterlief. Toma, der von Freunden und Verwandten nur Pops genannt wurde, als er noch Freunde und Verwandte gehabt hatte, schüttelte langsam den Kopf und leerte das Glas mit einem weiteren Schluck. Dann schenkte er sich aus der danebenstehenden Flasche nach und versuchte die grausame Szene zu verscheuchen, die förmlich in seine Netzhaut eintätowiert war und mit roher Gewalt etwas in ihm zerfetzt hatte. Er sann über sein Leben nach und dachte an bessere Zeiten zurück. Damals, als er aus der Hatzeger Gegend in das Banat nach Rusca Montana gekommen war, hatte er noch so etwas wie Glück genießen dürfen. Zwar war die tägliche Arbeit im Marmor-Bergau hart gewesen, aber wenn er abends nach Hause zu seiner kleinen Familie gekommen war, wusste er, wofür er sich abrackerte. Er hatte ein einfaches Leben geführt, aber die Familienliebe zwischen ihm, seiner Frau Estera und ihrem Sohn Eugen war stark und das war viel mehr wert als materieller Reichtum. Im Laufe der Jahre war es jedoch stetig bergab gegangen und das Schicksal schien sich gegen Toma verschworen zu haben. Vielleicht gab es ja doch einen Gott, der ihn für seinen Unglauben geißelte. Erst der tödliche Autounfall von Eugen und zehn Jahre später war Estera nach langer Krankheit von ihm gegangen. Erneut liefen Toma Tränen übers Gesicht, als er daran dachte, wie seine liebe Frau für immer eingeschlafen war, während er an ihrem Bett gesessen und ihre Hand gestreichelt hatte.
Nachdem er noch einige Zeit in der maroden Baracke, die ihr Zuhause gewesen war, weiter gewohnt hatte, kündigte er schließlich den Mietvertrag, ließ sich seine mickrige Rente auszahlen und zog sich in die Einsamkeit der Bergwelt zurück. Die einfache Hütte – eine Hinterlassenschaft seines Großvaters, der ihn damals auch mit der Aussicht auf Arbeit in die Region gelockt hatte – stellte seinen einzigen Besitz dar. Zunächst genoss er das abgeschiedene, ursprüngliche Leben in der stillen Natur. Er hielt sich einige Hühner und verbrachte die Tage damit, in seiner kleinen Werkstatt zu basteln und Dinge aus Holz herzustellen, wie den Stuhl, auf dem er saß. Bald aber schon wurden dieses eintönige Dasein und die Einsamkeit zu einer Belastung. Den ganzen Tag den verstorbenen Lieben nachzutrauern, sich mit seinem eigenen voranschreitenden körperlichen Zerfall zu befassen und darüber nachzusinnen, wann der Tod einen in seine Arme schloss, konnte nicht gesund sein. Toma hatte geahnt, dass es bald mit ihm zu Ende gehen würde, wenn er weiter so vor sich hin vegetierte.
Irgendwann sprach er sich bei Mikosch aus, einem zehn Jahre jüngeren Bauern, der einmal die Woche aus dem nächsten Dorf zu ihm kam und ihn mit dem Nötigsten versorgte. Toma bezahlte ihn dafür von seiner übriggebliebenen Rente oder tauschte gegen selbst produzierte Holzprodukte oder gesammelte Waldbeeren. Als Mikosch das übernächste Mal bei ihm auftauchte, hatte er einen Deutschen Schäferhund bei sich, der Toma aus seinen dunklen Augen treudoof angaffte. Toma zierte sich zunächst, den Hund bei sich zu behalten, aber Mikosch klopfte ihm nur auf die Schulter und meinte, auf seinem Hof streunten viel zu viele Hunde herum und es würde Toma guttun, einen Freund zu haben. Kimi, wie Toma den Hund taufte, entwickelte sich dann in der Tat zu seinem treuen Gefährten und gab ihm wieder einen Lebenssinn und etwas Freude zurück. Toma bastelte ihm in der Nähe seines eigenen Betts einen geräumigen, kuscheligen Schlafplatz und nachdem er am Morgen zur Begrüßung erst mal abgeschleckt wurde, brachen die beiden zu ihren Streifzügen in die Natur auf. Dabei achtete Toma darauf, dass Kimi ihm nie zu weit wegrannte, denn er wusste um die Gefahren, die es hier im Poiana-Rusca-Gebirge gab. Braunbären und Wölfe konnten einen Schäferhund schon in Stücke reißen, aber in der über 2500 Quadratkilometer großen Gebirgslandschaft lauerte noch etwas anderes.
Schon kurz nachdem er in die Hütte gezogen war, hatte Toma es nachts gehört. Es kam von der anderen Seite des Berges, westlich von seiner Hütte. Ein langgezogenes, durchdringendes Kreischen, das Toma in Mark und Bein ging und ihm einen Schauder über den Rücken jagte, denn er kannte kein Tier, das solche Geräusche verursachte. Die regionalen Mythen waren ihm natürlich bekannt, aber er hatte sie als junger Mann als Altweibergewäsch abgetan. Geschichten über einen furchteinflößenden Albino Teufel, der nachts umging und für das Verschwinden von Menschen und Tieren verantwortlich war.
So ein Quatsch, hatte Toma gedacht. Gruselgeschichten, die man sich abends im Wirtshaus nach ein paar Schnaps erzählte. Spätestens seit gestern hatte er sich gezwungen gesehen, seine Meinung zu ändern. Er wusste noch immer nicht, was dort in den Bergen hauste, aber es musste etwas abgrundtief Böses sein. Als er vorgestern wieder mit Kimi zu einem Ausflug aufgebrochen war – diesmal war es ausnahmsweise schon spät am Nachmittag gewesen – hatte dieser plötzlich aufgeregt zu bellen angefangen und war in Richtung des nicht sonderlich hohen Gipfels westlich des Tals losgerannt. Toma hatte ihm nachgerufen, aber auch nach einer halben Stunde war Kimi nicht wieder aufgetaucht. Schließlich kehrte Toma zu seiner Hütte zurück, in der Annahme, der Hund würde schon bald nach Hause kommen. Als die Sonne sich hinter die Gipfel des Gebirges senkte und das Tal in düstere Schatten getaucht war, begann er sich aber doch Sorgen zu machen. In der Nacht wurde er immer unruhiger und ihn beschlich eine düstere Vorahnung, erst recht als das grauenerregende Kreischen wieder einsetzte. Mit der Morgendämmerung war Toma schließlich losgezogen, um Kimi zu suchen. Er kämpfte sich mit seinen altersschwachen Knochen den Berg hoch, überwand den kleinen Gebirgsbach und durchstreifte das mit Vertiefungen, Höhlen und Schluchten übersäte Plateau. Als er Kimi fand – oder das, was von ihm übrig war – spürte er die verbliebene, spärliche Lebensenergie aus sich entweichen und sackte auf die Knie, während ein unsäglicher Schmerz durch seinen Körper und seine Seele schoss. Der gehäutete und ausgeweidete Kadaver lag wie weggeschmissen zwischen zwei Büschen, die blassrosa Haut voll von Einschnitten, an deren Rändern geronnenes Blut klebte. Die Schnauze war mit roten Striemen übersät. Die dunklen Augen schienen anklagend in den Himmel zu starren. Insekten und Fliegen schwirrten um den Kadaver herum und senkten sich immer wieder auf ihn hinab. Toma brauchte mehrere Stunden, um nach Hause zurückzukehren – ein gebrochener Mann, der endgültig keine Kraft mehr hatte und auf dem Weg mehrmals zusammensackte. Erneut war ihm jemand genommen worden, den er liebte. Auf eine barbarische Weise, die ihm die Gewissheit verlieh, dass es keinen Gott geben konnte. Seine Zweifel an der Existenz eines Teufels, womöglich eines Albino Teufels, waren allerdings geringer geworden.
Aber das war nun eh egal. Toma goss den Rest vom Schnaps in sein Glas und trank es in einem Zug aus. Der Alkohol benebelte nicht etwa seine Sinne, sondern ließ ihn seltsam klar sehen und durchbrach die ohnmächtige Lethargie, die ihn seit gestern erfüllt hatte. Er hielt sich an der Tischkante fest und erhob sich schwerfällig. Dann wankte er zu einer selbstgebauten kleinen Holzkommode und öffnete eine Schublade. Er streichelte mit zittriger Hand über das sepiafarbene Bild, das eingerahmt auf der Kommode stand und ihn Arm in Arm mit Estera zeigte. Beide trugen ein leichtes Lächeln auf den Lippen, das nicht aufgesetzt war, sondern von einer echten Zufriedenheit zeugte. Toma griff nach dem alten Trommelrevolver, einer weiteren Hinterlassenschaft seines Großvaters. Toma wusste, dass die Waffe geladen war und ohne zu zögern hielt er sich den Lauf an die Stirn und drückte ab.
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Kommentare
Nur das Ende ist merkwürdig! Ein Schuß in die Stirn? Ich dachte immer in den Mund oder an die Schläfe!
Und in die Schläfe oder den Mund schießt sich jeder, da hebt sich der gute Mann mal vom Mainstream ab.